Johann Wolfgang von Goethes Prosa. Ausgewählte Werke III - Johann Wolfgang von Goethe - E-Book

Johann Wolfgang von Goethes Prosa. Ausgewählte Werke III E-Book

Johann Wolfgang von Goethe

0,0

Beschreibung

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten: Eine am linken Rheinufer ansässige deutsche Adelsfamilie, die der Einfall des französischen Revolutionsheeres zur Flucht zwang, unterhält sich auf ihrem rechtsrheinischen Gut, nach dem Vorbild Boccaccios (Decamerone, 1353), um sich von den umwälzenden Weltbegebenheiten (Erster Koalitionskrieg, 1792-1797; Belagerung von Mainz, 1793) abzulenken und auftauchende Kontroversen sowie Schwächen an Selbstzucht, Bildung und Gesinnung zu bewältigen: Zwei Schauergeschichten, zwei erotische Anekdoten (falsch verstandene Freiheit; Entsagung), zwei moralische Erzählungen (pädagogische Tendenz; höherer Begriff von Freiheit), mündend zuletzt in ein phantastisch-symbolisch-allegorisches Märchen, Bilder, Ideen und Begriffe ineinander webend, idealisch vorscheinend, gegenseitige Hilfe und Selbstaufopferung, Schönheit und Liebe vereinigt. Wilhelm Meisters Wanderjahre: »Grundstein der neuen Dichtung, des neuen Romans« (Hermann Broch, 1936)! Ein notwendig fragmentarisches, rückblickendes und vorausschauendes Bild von Goethes Zeit, Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft und des Geistes. Der 1807-1810 begonnene, 1820-1821 wiederaufgenommene, 1825-1829 neugefasste »Roman«, komplexes »Kollektivum und Aggregat«, sprengt sämtliche Regeln der Gattung, enthält Novellen (Die neue Melusine, Der Mann von 50 Jahren), Gedichte, Aphorismen, Briefe, Tagebuchseiten, Fachabhandlungen, Archivblätter sowie lose damit verknüpft die weitere Lebensgeschichte des Protagonisten. Wilhelm Meister darf nun, gemäß Auflagen der Gesellschaft vom Turm (Orden der Entsagung), nicht länger als drei Tage unter einem Dach verweilen, und kein Dritter soll ein beständiger Begleiter werden auf seiner Wanderschaft zur Erweiterung von Lebenserfahrung und Weltsicht, um Entsagung zu lernen, weil notwendig für jedes soziale Glied einer humanen Weltbevölkerung. [Joerg K. Sommermeyer]

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 942

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Orlando Syrg Taschenbuch 32019

OR

SY

TA

RAT ACBO

Reihe

Alte Tradition Azurcelesteblueoscuro

herausgegeben

von

Joerg K. Sommermeyer & Orlando Syrg

Exemplarische Werke der Weltliteratur

herausgegeben von

Joerg K. Sommermeyer

Über dieses Buch

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten: Eine am linken Rheinufer ansässige deutsche Adelsfamilie, die der Einfall des französischen Revolutionsheeres zur Flucht zwang, unterhält sich auf ihrem rechtsrheinischen Gut, nach dem Vorbild Boccaccios (Decamerone, 1353), um sich von den umwälzenden Begebenheiten (Erster Koalitionskrieg, 1792-1797; Belagerung von Mainz, 1793) abzulenken und auftauchende Kontroversen, Schwächen an Selbstzucht, Bildung und Gesinnung zu bewältigen: Zwei Schauergeschichten, zwei erotische Anekdoten (falsch verstandene Freiheit; Entsagung), zwei moralische Erzählungen (pädagogische Tendenz; höherer Begriff von Freiheit), mündend zuletzt in ein phantastisch-symbolisch-allegorisches Märchen, Bilder, Ideen und Begriffe ineinander webend, idealisch vorscheinend, gegenseitige Hilfe und Selbstaufopferung, Schönheit und Liebe vereinigt.

Wilhelm Meisters Wanderjahre: »Grundstein der neuen Dichtung, des neuen Romans« (Hermann Broch, 1936)! Ein notwendig fragmentarisches, rückblickendes und vorausschauendes Bild von Goethes Zeit, Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft und des Geistes. Der 1807-1810 begonnene, 1820-1821 wiederaufgenommene, 1825-1829 neugefasste »Roman«, komplexes »Kollektivum und Aggregat«, sprengt sämtliche Regeln der Gattung, enthält Novellen (Die neue Melusine, Der Mann von 50 Jahren), Gedichte, Aphorismen, Briefe, Tagebuchseiten, Fachabhandlungen, Archivblätter sowie lose damit verknüpft die weitere Lebensgeschichte des Protagonisten. Wilhelm Meister darf nun, gemäß Auflagen der Gesellschaft vom Turm (Orden der Entsagung), nicht länger als drei Tage unter einem Dach verweilen, und kein Dritter soll ein beständiger Begleiter werden auf seiner Wanderschaft zur Erweiterung von Lebenserfahrung und Weltsicht, um Entsagung zu lernen, weil notwendig für jedes soziale Glied einer humanen Weltbevölkerung.

Der Autor

Johann Wolfgang von Goethe, geboren am 28. August 1749 in Frankfurt am Main, gestorben am 22. März 1832 in Weimar. Den deutschen Dichterfürsten kennt jedes Kind. Sein Name ist untrennbar verknüpft mit Idealismus, Sturm und Drang, Weimarer Klassik. Über ihn allzu viele Worte zu machen, hieße Eulen nach Athen tragen. Der Frankfurter Hautevolee entstammend, sein Vater Kaiserlicher Rat ohne Amtsausübung, die Mutter Tochter des Stadtschultheißen, studiert er in Leipzig und Straßburg Rechtswissenschaft, arbeitet als Jurist in Wetzlar und Frankfurt. Nach einem nationalen Erfolg mit dem Drama Götz von Berlichingen, 1773, gelingt ihm 1774 mit dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, Schlüsselroman des Sturm und Drang, ein europäischer Erfolg, erster Bestseller deutscher Literatur, Mitauslöser von „Lesewut" und „Nachahmungsselbstmord-Epidemie". 1775 kommt er als Freund und Minister des Herzogs Carl August nach Weimar. Neben politischen und administrativen Aufgaben leitet er das Hoftheater. Umfang und Vielfalt all der Tätigkeiten bedingen eine Vernachlässigung seiner schöpferischen Fähigkeiten und führen nach einem Weimarer Jahrzehnt in die Krise. Er flieht nach Italien, wo er seine Wiedergeburt erlebt, Tasso, Iphigenie und Egmont vollendet. Nach seiner Rückkehr, von Amtspflichten weitgehend befreit, hat er nur noch repräsentativen Aufgaben nachzukommen. Goethe erschafft Lyrik, Dramen, Epik, autobiografische, kunst- und literaturtheoretische Schriften, naturwissenschaftliche Arbeiten sowie Briefe und Gespräche von literarischer Bedeutung. Wilhelm Meister begründet den deutschen Künstler- und Bildungsroman, und Faust bleibt für immer eine der größten Schöpfungen der Weltliteratur.

Der Herausgeber

Joerg K. Sommermeyer (JS), * 14.10.1947 in Brackenheim. Kindheit in Freiburg. Studierte Jura, Philosophie, Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft. Klassische Gitarre bei Viktor v. Hasselmann und Anton Stingl. Unterrichtete in den späten Sechzigern Gitarre am Kindergärtnerinnen-/Jugendleiterinnenseminar und in den Achtzigern Rechtsanwaltsgehilfinnen in spe an der Max-Weber-Schule in Freiburg. 1976 bis 2004 Rechtsanwalt in Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen in juristischen Fachzeitschriften sowie Artikel in Musikblättern. Songs, Liedtexte, Arrangements, Instrumentalmusik; 7 CDs. Prosa: Anton Unbekannt, Pathoaphysischer Antiroman, Tragigroteskenfragment, 2008/2009; Vernimm mein Schreien, 2017/2018. Lieblingsmärchen, 2017/2018. Zahlreiche Editionen u. a. von Werken Hugo Balls, Carl Einsteins, Christian Morgensterns, Heinrich Heines, Franz Kafkas und Rainer Maria Rilkes.

Orlando Syrg, Berlin, 31. Januar 2019

Inhalt

Über dieses Buch

Der Autor

Der Herausgeber

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

[Die Sängerin Antonelli]

[Das rätselhafte Pochen]

[Die Geschichte des Marschalls von Bassompierre]

[Bassompierres Geschichte vom Schleier]

[Der ehrliche Prokurator]

[Ferdinand und Ottilie]

[Das Märchen]

Wilhelm Meisters Wanderjahre

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Die Flucht nach Ägypten

Wilhelm an Natalien

Zweites Kapitel

Sankt Joseph der Zweite

Die Heimsuchung

Der Lilienstängel

Drittes Kapitel

Wilhelm an Natalien

Viertes Kapitel [Beide Freunde waren, nicht ohne Sorgfalt und Mühe]

Fünftes Kapitel [Auf dem Weg zum Schloss fand unser Freund]

Die pilgernde Törin

Sechstes Kapitel [Nach einer langen und gründlichen Ruhe]

Lenardo an die Tante

Nachschrift

Die Tante an Julietten

Juliette an die Tante

Hersilie an die Tante

Nachschrift um Nachschrift

Die Tante den Nichten

Hersilie an die Tante

Die Tante an Hersilien

Wilhelm an Natalien

Siebentes Kapitel [Am frühsten Morgen fand sich unser Freund allein]

Achtes Kapitel

Wer ist der Verräter?

Neuntes Kapitel [Der Mantelsack war schnell gepackt]

Zehntes Kapitel [Vater und Sohn waren, von einem Reitknecht begleitet]

Elftes Kapitel

Das nussbraune Mädchen

Zwölftes Kapitel [Auf einem kurzen und angenehmen Weg war Wilhelm]

Zweites Buch

Erstes Kapitel [Die Wallfahrenden hatten nach Vorschrift den Weg genommen]

Zweites Kapitel [An der Hand des Ältesten trat nun unser Freund]

Drittes Kapitel [Der Angewöhnung des werten Publikums zu schmeicheln]

Der Mann von fünfzig Jahren

Viertes Kapitel [Der schönen Witwe machte unser Major einen Morgenbesuch]

Fünftes Kapitel [Heftiges Pochen und Rufen an dem äußersten Tor]

Sechstes Kapitel

Wilhelm an Lenardo

Wilhelm an den Abbé

Siebentes Kapitel [Nachdem unser Freund vorstehende Briefe abgelassen]

Lenardo an Wilhelm

Der Abbé an Wilhelm

Zwischenrede

Achtes Kapitel [Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst überlassenen]

Neuntes Kapitel [Wilhelm wurde darauf vom Gehilfen und Aufseher]

Zehntes Kapitel

Hersilie an Wilhelm

Elftes Kapitel

Wilhelm an Natalien

Betrachtungen im Sinne der Wanderer [Kunst, Ethisches, Natur]

Drittes Buch

Erstes Kapitel [Nach allem diesem, und was daraus erfolgen mochte]

Zweites Kapitel

Hersilie an Wilhelm

Drittes Kapitel [Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange]

Viertes Kapitel [Des andern Morgens beizeiten trat Friedrich mit einem Heft]

Fünftes Kapitel

Lenardos Tagebuch

Sechstes Kapitel [Als der Abend herbeikam und die Freunde in einer]

Die neue Melusine

Siebentes Kapitel

Hersilie an Wilhelm

Achtes Kapitel [Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen]

Die gefährliche Wette

Neuntes Kapitel [Der höchst bedeutende Tag war angebrochen]

Zehntes Kapitel [Unter dem Schlussgesang richtete sich ein großer Teil]

Nicht zu weit

Elftes Kapitel [Lenardo sowohl als Odoard waren einige Tage sehr lebhaft]

Zwölftes Kapitel [Die zu Odoardos Vortrag angesetzte Frist war gekommen]

Dreizehntes Kapitel [Eine vollkommene Stille schloss sich an diese lebhafte]

Lenardos Tagebuch [Fortsetzung]

Vierzehntes Kapitel [Unser Freund las mit großem Anteil das Vorgelegte]

Fünzehntes Kapitel [Makarie befindet sich zu unserem Sonnensystem in einem]

Sechzehntes Kapitel [Der Amtmann jenes Schlosses, das wir]

Siebzehntes Kapitel

Hersilie an Wilhelm

Achtzehntes Kapitel [Nun glitt der Kahn, beschienen von heißer Mittagssonne]

Aus Makariens Archiv

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

[Die Horen, Tübingen 1795]

Durchgesehen und revidiert von Joerg K. Sommermeyer

In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichneten Personen bedroht waren, denen man zum Verbrechen machte, dass sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten und mancher Vorteile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.

Die Baronesse von C., eine Witwe von mittleren Jahren, erwies sich auch jetzt auf dieser Flucht, wie sonst zu Hause, zum Troste ihrer Kinder, Verwandten und Freunde entschlossen und tätig. In einer weiten Sphäre erzogen und durch mancherlei Schicksale ausgebildet, war sie als eine treffliche Hausmutter bekannt, und jede Art von Geschäft erschien ihrem durchdringenden Geiste willkommen. Sie wünschte vielen zu dienen, und ihre ausgebreitete Bekanntschaft setzte sie instand, es zu tun. Nun musste sie sich unerwartet als Führerin einer kleinen Karawane darstellen und verstand auch diese zu leiten, für sie zu sorgen und den guten Humor, wie er sich zeigte, in ihrem Kreise auch mitten unter Bangigkeit und Not zu unterhalten. Und wirklich stellte sich bei unseren Flüchtlingen die gute Laune nicht selten ein; denn überraschende Vorfälle, neue Verhältnisse gaben den aufgespannten Gemütern manchen Stoff zu Scherz und Lachen.

Bei der übereilten Flucht war das Betragen eines jeden charakteristisch und auffallend. Das eine ließ sich durch eine falsche Furcht, durch ein unzeitiges Schrecken hinreißen, das andere gab einer unnötigen Sorge Raum, und alles, was dieser zuviel, jener zuwenig tat, jeder Fall, wo sich Schwäche in Nachgiebigkeit oder Übereilung zeigte, gab in der Folge Gelegenheit, sich wechselseitig zu plagen und aufzuziehen, sodass dadurch diese traurigen Zustände lustiger wurden, als eine vorsätzliche Lustreise ehemals hatte werden können.

Denn wie wir manchmal in der Komödie eine Zeitlang, ohne über die absichtlichen Possen zu lachen, ernsthaft zuschauen können, dagegen aber sogleich ein lautes Gelächter entsteht, wenn in der Tragödie etwas Unschickliches vorkommt, so wird auch ein Unglück in der wirklichen Welt, das die Menschen aus ihrer Fassung bringt, gewöhnlich von lächerlichen, oft auf der Stelle, gewiss aber hinterdrein belachten Umständen begleitet sein.

Besonders musste Fräulein Luise, die älteste Tochter der Baronesse, ein lebhaftes, heftiges und in guten Tagen herrisches Frauenzimmer, sehr vieles leiden, da von ihr behauptet wurde, dass sie bei dem ersten Schrecken ganz aus der Fassung geraten sei, in Zerstreuung, ja in einer Art von Abwesenheit die unnützesten Sachen mit dem größten Ernst zum Aufpacken gebracht und sogar einen alten Bedienten für ihren Bräutigam angesehen habe.

Sie verteidigte sich aber, so gut sie konnte; nur wollte sie keinen Scherz, der sich auf ihren Bräutigam bezog, dulden, indem es ihr schon Leiden genug verursachte, ihn bei der alliierten Armee in täglicher Gefahr zu wissen und eine gewünschte Verbindung durch die allgemeine Zerrüttung aufgeschoben und vielleicht gar vereitelt zu sehen.

Ihr älterer Bruder Friedrich, ein entschlossener junger Mann, führte alles, was die Mutter beschloss, mit Ordnung und Genauigkeit aus, begleitete zu Pferde den Zug und war zugleich Kurier, Wagenmeister und Wegweiser. Der Lehrer des jüngern, hoffnungsvollen Sohnes, ein wohlunterrichteter Mann, leistete der Baronesse im Wagen Gesellschaft; Vetter Karl fuhr mit einem alten Geistlichen, der als Hausfreund schon lange der Familie unentbehrlich geworden war, mit einer ältern und jüngern Verwandten in einem nachfolgenden Wagen. Kammermädchen und Kammerdiener folgten in Halbchaisen, und einige schwerbepackte Brancards, die auf mehr als einer Station zurückbleiben mussten, schlossen den Zug.

Ungern hatte, wie man leicht denken kann, die ganze Gesellschaft ihre Wohnungen verlassen, aber Vetter Karl entfernte sich mit doppeltem Widerwillen von dem jenseitigen Rheinufer; nicht dass er etwa eine Geliebte daselbst zurückgelassen hätte, wie man nach seiner Jugend, seiner guten Gestalt und seiner leidenschaftlichen Natur hätte vermuten sollen; er hatte sich vielmehr von der blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freiheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wusste und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit großer Lebhaftigkeit verehrt wurde.

Wie Liebende gewöhnlich von ihrer Leidenschaft verblendet werden, so erging es auch Vetter Karl. Sie wünschen den Besitz eines einzigen Gutes und wähnen alles übrige dagegen entbehren zu können. Stand, Glücksgüter, alle Verhältnisse scheinen in Nichts zu verschwinden, indem das gewünschte Gut zu Einem, zu Allem wird. Eltern, Verwandte und Freunde werden uns fremd, indem wir uns etwas zueignen, das uns ganz ausfüllt und uns alles übrige fremd macht.

Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung und verhehlte sie nicht in Gesprächen. Er glaubte umso freier sich diesen Gesinnungen ergeben zu können, als er selbst ein Edelmann war und, obgleich der zweite Sohn, dennoch ein ansehnliches Vermögen zu erwarten hatte. Eben diese Güter, die ihm künftig zufallen mussten, waren jetzt in Feindes Händen, der nicht zum Besten darauf hauste. Dem ungeachtet konnte Karl einer Nation nicht feind werden, die der Welt so viele Vorteile versprach und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Äußerungen einiger Mitglieder beurteilte. Gewöhnlich störte er die Zufriedenheit der Gesellschaft, wenn sie ja derselben noch fähig war, durch ein unmäßiges Lob alles dessen, was bei den Neufranken Gutes oder Böses geschah, durch ein lautes Vergnügen über ihre Fortschritte, wodurch er die anderen desto mehr aus der Fassung brachte, als sie ihre Leiden, durch die Schadenfreude eines Freundes und Verwandten verdoppelt, nur umso schmerzlicher empfinden mussten.

Friedrich hatte sich schon einige Mal mit ihm überworfen und ließ sich in der letzten Zeit gar nicht mehr mit ihm ein. Die Baronesse wusste ihn auf eine kluge Weise wenigstens zu augenblicklicher Mäßigung zu leiten. Fräulein Luise machte ihm am meisten zu schaffen, indem sie, freilich oft ungerechterweise, seinen Charakter und seinen Verstand verdächtig zu machen suchte. Der Hofmeister gab ihm im Stillen recht, der Geistliche im Stillen unrecht, und die Kammermädchen, denen seine Gestalt reizend und seine Freigebigkeit respektabel war, hörten ihn gerne reden, weil sie sich durch seine Gesinnungen berechtigt glaubten, ihre zärtlichen Augen, die sie bisher vor ihm bescheiden niedergeschlagen hatten, nunmehr in Ehren zu ihm aufzuheben.

Die Bedürfnisse des Tages, die Hindernisse des Weges, die Unannehmlichkeiten der Quartiere führten die Gesellschaft gewöhnlich auf ein gegenwärtiges Interesse zurück, und die große Anzahl französischer und deutscher Ausgewanderten, die sie überall antrafen und deren Betragen und Schicksale sehr verschieden waren, gaben ihnen oft zu Betrachtungen Anlass, wie viel Ursache man habe, in diesen Zeiten alle Tugenden, besonders aber die Tugend der Unparteilichkeit und Verträglichkeit zu üben.

Eines Tages machte die Baronesse die Bemerkung, dass man nicht deutlicher sehen könne, wie ungebildet in jedem Sinn die Menschen seien, als in solchen Augenblicken allgemeiner Verwirrung und Not. »Die bürgerliche Verfassung«, sagte sie, »scheint wie ein Schiff zu sein, das eine große Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke, über ein gefährliches Wasser auch selbst zu Zeiten des Sturms hinüberbringt; nur in dem Augenblicke, wenn das Schiff scheitert, sieht man, wer schwimmen kann, und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zugrunde. – Wir sehen meist die Ausgewanderten ihre Fehler und albernen Gewohnheiten mit sich in der Irre herumführen und wundern uns darüber. Doch wie den reisenden Engländer der Teekessel in allen vier Weltteilen nicht verlässt, so wird die übrige Masse der Menschen von stolzen Anforderungen, Eitelkeit, Unmäßigkeit, Ungeduld, Eigensinn, Schiefheit im Urteil, von der Lust, ihrem Nebenmenschen tückisch etwas zu versetzen, überallhin begleitet. Der Leichtsinnige freut sich der Flucht wie einer Spazierfahrt, und der Ungenügsame verlangt, dass ihm auch noch als Bettler alles zu Diensten stehe. Wie selten, dass uns die reine Tugend irgendeines Menschen erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben wird!«

Indessen man nun mancherlei Bekanntschaften machte, die zu solchen Betrachtungen Gelegenheit gaben, war der Winter vorbeigegangen. Das Glück hatte sich wieder zu den deutschen Waffen gesellt, die Franzosen waren wieder über den Rhein hinübergedrängt, Frankfurt befreit und Mainz eingeschlossen.

In der Hoffnung auf den weiteren Fortgang der siegreichen Waffen und begierig, wieder einen Teil ihres Eigentums zu ergreifen, eilte die Familie auf ein Gut, das an dem rechten Ufer des Rheins in der schönsten Lage ihr zugehörte. Wie erquickt fanden sie sich, als sie den schönen Strom wieder vor ihren Fenstern vorbeifließen sahen, wie freudig nahmen sie wieder von jedem Teil des Hauses Besitz, wie freundlich begrüßten sie die bekannten Mobilien, die alten Bilder und jeglichen Hausrat, wie wert war ihnen auch das Geringste, das sie schon verloren gegeben hatten, wie stiegen ihre Hoffnungen, dereinst auch jenseits des Rheines alles noch in dem alten Zustande zu finden!

Kaum erscholl in der Nachbarschaft die Ankunft der Baronesse, als alle alten Bekannten, Freunde und Diener herbeieilten, sich mit ihr zu besprechen, die Geschichten der vergangenen Monate zu wiederholen und sich in manchen Fällen Rat und Beistand von ihr zu erbitten.

Umgeben von diesen Besuchen, ward sie aufs Angenehmste überrascht, als der Geheimrat von S. mit seiner Familie bei ihr ankam, ein Mann, dem die Geschäfte von Jugend auf zum Bedürfnis geworden waren, ein Mann, der das Zutrauen seines Fürsten verdiente und besaß. Er hielt sich streng an Grundsätze und hatte über manche Dinge seine eigene Denkweise. Er war genau im Reden und Handeln und forderte das gleiche von andern. Ein konsequentes Betragen schien ihm die höchste Tugend.

Sein Fürst, das Land, er selbst hatten viel durch den Einfall der Franzosen gelitten; er hatte die Willkür der Nation, die nur vom Gesetz sprach, kennengelernt und den Unterdrückungsgeist derer, die das Wort Freiheit immer im Munde führten. Er hatte gesehen, dass auch in diesem Falle der große Haufe sich treu blieb und Wort für Tat, Schein für Besitz mit großer Heftigkeit aufnahm. Die Folgen eines unglücklichen Feldzugs sowie die Folgen jener verbreiteten Gesinnungen und Meinungen blieben seinem Scharfblick nicht verborgen, obgleich nicht zu leugnen war, dass er manches mit hypochondrischem Gemüte betrachtete und mit Leidenschaft beurteilte.

Seine Gemahlin, eine Jugendfreundin der Baronesse, fand nach so vielen Trübsalen einen Himmel in den Armen ihrer Freundin. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten sich miteinander gebildet, sie kannten keine Geheimnisse voreinander. Die ersten Neigungen junger Jahre, die bedenklichen Zustände der Ehe, Freuden, Sorgen und Leiden als Mütter, alles hatten sie sich sonst teils mündlich, teils in Briefen anvertraut und hatten eine ununterbrochene Verbindung erhalten. Nur diese letzte Zeit her waren sie durch die Unruhen verhindert worden, sich einander wie gewöhnlich mitzuteilen. Um so lebhafter drängten sich ihre gegenwärtigen Gespräche, um desto mehr hatten sie einander zu sagen, indessen die Töchter der Geheimrätin ihre Zeit mit Fräulein Luise in einer wachsenden Vertraulichkeit zubrachten.

Leider ward der schöne Genuss dieser reizenden Gegend oft durch den Donner der Kanonen gestört, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm. Ebenso wenig konnte bei den vielen zuströmenden Neuigkeiten des Tages der politische Diskurs vermieden werden, der gewöhnlich die augenblickliche Zufriedenheit der Gesellschaft störte, indem die verschiedenen Denkungsarten und Meinungen von beiden Seiten sehr lebhaft geäußert wurden. Und wie unmäßige Menschen sich deshalb doch nicht des Weins und schwer zu verdauender Speisen enthalten, obgleich sie aus der Erfahrung wissen, dass ihnen darauf ein unmittelbares Übelsein bevorsteht, so konnten auch die meisten Glieder der Gesellschaft sich in diesem Falle nicht bändigen; vielmehr gaben sie dem unwiderstehlichen Reiz nach, anderen wehe zu tun und sich selbst dadurch am Ende eine unangenehme Stunde zu bereiten.

Man kann sich leicht denken, dass der Geheimrat diejenige Partei anführte, welche dem alten System zugetan war, und dass Karl für die entgegengesetzte sprach, welche von bevorstehenden Neuerungen Heilung und Belebung des alten, kranken Zustandes erhoffte.

Im Anfang wurden diese Gespräche noch mit ziemlicher Mäßigung geführt, besonders da die Baronesse durch anmutige Zwischenreden beide Teile im Gleichgewicht zu halten wusste; als aber die wichtige Epoche herannahte, dass die Blockade von Mainz in eine Belagerung übergehen sollte, und man nunmehr für diese schöne Stadt und ihre zurückgelassenen Bewohner lebhafter zu fürchten anfing, äußerte jedermann seine Meinungen mit ungebundener Leidenschaft.

Besonders waren die daselbst zurückgebliebenen Klubisten ein Gegenstand des allgemeinen Gesprächs, und jeder erwartete ihre Bestrafung oder Befreiung, je nachdem er ihre Handlungen entweder schalt oder billigte.

Unter die ersten gehörte der Geheimrat, dessen Argumente Karl am verdrießlichsten fielen, wenn er den Verstand dieser Leute angriff und sie einer völligen Unkenntnis der Welt und ihrer selbst beschuldigte.

»Wie verblendet müssen sie sein«, rief er aus, als an einem Nachmittag das Gespräch sehr lebhaft zu werden anfing, »wenn sie wähnen, dass eine ungeheure Nation, die mit sich selbst in der größten Verwirrung kämpft und auch in ruhigen Augenblicken nichts als sich selbst zu schätzen weiß, auf sie mit einiger Teilnahme herunterblicken werde! Man wird sie als Werkzeuge betrachten, sie eine Zeitlang gebrauchen und endlich wegwerfen oder wenigstens vernachlässigen. Wie sehr irren sie sich, wenn sie glauben, dass sie jemals in die Zahl der Franzosen aufgenommen werden könnten! – Jedem, der mächtig und groß ist, erscheint nichts lächerlicher als ein Kleiner und Schwacher, der in der Dunkelheit des Wahns, in der Unkenntnis seiner selbst, seiner Kräfte und seines Verhältnisses sich jenem gleichzustellen dünkt. Und glaubt ihr denn, dass die große Nation nach dem Glück, das sie bisher begünstigt, weniger stolz und übermütig sein werde als irgendein anderer königlicher Sieger? – Wie mancher, der jetzt als Munizipalbeamter mit der Schärpe herumläuft, wird die Maskerade verwünschen, wenn er, nachdem er seine Landsleute in eine neue, widerliche Form zu zwingen geholfen hat, zuletzt in dieser neuen Form von denen, auf die er sein ganzes Vertrauen setzte, niedrig behandelt wird. Ja es ist mir höchst wahrscheinlich, dass man bei der Übergabe der Stadt, die wohl nicht lange verzögert werden kann, solche Leute den Unsrigen überliefert oder überlässt. Mögen sie doch alsdann ihren Lohn dahinnehmen, mögen sie alsdann die Züchtigung empfinden, die sie verdienen, ich mag sie so unparteiisch richten, als ich kann.«

»Unparteiisch!« rief Karl mit Heftigkeit aus; »wenn ich doch dies Wort nicht wieder sollte aussprechen hören! Wie kann man diese Menschen so geradezu verdammen? Freilich haben sie nicht ihre Jugend und ihr Leben zugebracht, in der hergebrachten Form sich und anderen begünstigten Menschen zu nützen! Freilich haben sie nicht die wenigen bewohnbaren Zimmer des alten Gebäudes besessen und sich darinnen gepflegt; vielmehr haben sie die Unbequemlichkeit der vernachlässigten Teile eures Staatspalastes mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt darin zubringen mussten; sie haben nicht, durch eine mechanisch erleichterte Geschäftigkeit bestochen, dasjenige für gut angesehen, was sie einmal zu tun gewohnt waren; freilich haben sie nur im Stillen der Einseitigkeit, der Unordnung, der Lässigkeit, der Ungeschicklichkeit zusehen können, womit eure Staatsleute sich noch Ehrfurcht zu erwerben glauben; freilich haben sie nur heimlich wünschen können, dass Mühe und Genuss gleicher ausgeteilt sein möchten! Und wer wird leugnen, dass unter ihnen nicht wenigstens einige wohldenkende und tüchtige Männer sich befinden, die, wenn sie auch in diesem Augenblick das Beste zu bewirken nicht imstande sind, doch durch ihre Vermittlung das Übel zu lindern und ein künftiges Gutes vorzubereiten das Glück haben; und da man solche darunter zählt, wer wird sie nicht bedauern, wenn der Augenblick naht, der sie ihrer Hoffnungen vielleicht auf immer berauben soll!«

Der Geheimrat scherzte darauf, mit einiger Bitterkeit, über junge Leute, die einen Gegenstand zu idealisieren geneigt seien; Karl schonte dagegen diejenigen nicht, welche nur nach alten Formen denken könnten und, was dahinein nicht passe, notwendig verwerfen müssten.

Durch mehreres Hin- und Widerreden ward das Gespräch immer heftiger, und es kam von beiden Seiten alles zur Sprache, was im Laufe dieser Jahre so manche gute Gesellschaft entzweit hatte. Vergebens suchte die Baronesse, wo nicht einen Frieden, doch wenigstens einen Stillstand zuwege zu bringen; selbst der Geheimrätin, die als ein liebenswürdiges Weib einige Herrschaft über Karls Gemüt sich erworben hatte, gelang es nicht, auf ihn zu wirken, umso weniger, als ihr Gemahl fortfuhr, treffende Pfeile auf Jugend und Unerfahrenheit loszudrücken und über die besondere Neigung der Kinder, mit dem Feuer zu spielen, das sie doch nicht regieren könnten, zu spotten.

Karl, der sich im Zorn nicht mehr kannte, hielt mit dem Geständnis nicht zurück, dass er den französischen Waffen alles Glück wünsche und dass er jeden Deutschen auffordere, der alten Sklaverei ein Ende zu machen; dass er von der französischen Nation überzeugt sei, sie werde die edlen Deutschen, die sich für sie erklärt, zu schätzen wissen, als die Ihrigen ansehn und behandeln und nicht etwa aufopfern oder ihrem Schicksal überlassen, sondern sie mit Ehren, Gütern und Zutrauen überhäufen.

Der Geheimrat behauptete dagegen, es sei lächerlich zu denken, dass die Franzosen nur irgendeinen Augenblick bei einer Kapitulation oder sonst für sie sorgen würden; vielmehr würden diese Leute gewiss in die Hände der Alliierten fallen, und er hoffte sie alle gehangen zu sehen.

Diese Drohung hielt Karl nicht aus und rief vielmehr, er hoffe, dass die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Ernte finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde. Dazu fügte er einige sehr starke Vorwürfe, welche den Geheimrat persönlich trafen und in jedem Sinne beleidigend waren.

»So muss ich denn wohl«, sagte der Geheimrat, »mich aus einer Gesellschaft entfernen, in der nichts, was sonst achtungswert schien, mehr geehrt wird. Es tut mir leid, dass ich zum zweiten Mal, und zwar durch einen Landsmann vertrieben werde; aber ich sehe wohl, dass von diesem weniger Schonung als von den Neufranken zu erwarten ist, und ich finde wieder die alte Erfahrung bestätigt, dass es besser sei, den Türken als den Renegaten in die Hände zu fallen.«

Mit diesen Worten stand er auf und ging aus dem Zimmer; seine Gemahlin folgte ihm; die Gesellschaft schwieg. Die Baronesse gab mit einigen, aber starken Ausdrücken ihr Missvergnügen zu erkennen; Karl ging im Saale auf und ab. Die Geheimrätin kam weinend zurück und erzählte, dass ihr Gemahl einpacken lasse und schon Pferde bestellt habe. Die Baronesse ging zu ihm, ihn zu bereden; indessen weinten die Fräulein und küssten sich und waren äußerst betrübt, dass sie sich so schnell und unerwartet voneinander trennen sollten. Die Baronesse kam zurück; sie hatte nichts ausgerichtet. Man fing an, nach und nach alles zusammenzutragen, was den Fremden gehörte. Die traurigen Augenblicke des Loslösens und Scheidens wurden sehr lebhaft empfunden. Mit den letzten Kästchen und Schachteln verschwand alle Hoffnung. Die Pferde kamen, und die Tränen flossen reichlicher.

Der Wagen fuhr fort, und die Baronesse sah ihm nach; die Tränen standen ihr in den Augen. Sie trat vom Fenster zurück und setzte sich an den Stickrahmen. Die ganze Gesellschaft war still, ja verlegen; besonders äußerte Karl seine Unruhe, indem er, in einer Ecke sitzend, ein Buch durchblätterte und manchmal drüber weg nach seiner Tante sah. Endlich stand er auf und nahm seinen Hut, als wenn er weggehen wollte; allein in der Türe kehrte er um, trat an den Rahmen und sagte mit edler Fassung: »Ich habe Sie beleidigt, liebe Tante, ich habe Ihnen Verdruss verursacht; verzeihen Sie meine Übereilung, ich erkenne meinen Fehler und fühl ihn tief.«

»Ich kann verzeihen«, antwortete die Baronesse; »ich werde keinen Groll gegen dich hegen, weil du ein edler, guter Mensch bist; aber du kannst nicht wiedergutmachen, was du verdorben hast. Ich entbehre durch deine Schuld in diesen Augenblicken die Gesellschaft einer Freundin, die ich seit langer Zeit zum ersten Mal wiedersah, die mir das Unglück selbst wieder zuführte und in deren Umgang ich manche Stunde das Unheil vergaß, das uns traf und das uns bedroht. Sie, die schon lange auf einer ängstlichen Flucht herumgetrieben wird und sich kaum wenige Tage in Gesellschaft von geliebten alten Freunden, in einer bequemen Wohnung, an einem angenehmen Ort erholt, muss schon wieder flüchtig werden, und die Gesellschaft verliert dabei die Unterhaltung ihres Gatten, der, so wunderlich er auch in manchen Stücken sein mag, doch ein trefflicher, rechtschaffener Mann ist und ein unerschöpfliches Archiv von Menschen- und Weltkenntnis, von Begebenheiten und Verhältnissen mit sich führt, die er auf eine leichte, glückliche und angenehme Weise mitzuteilen versteht. Um diesen vielfachen Genuss bringt uns deine Heftigkeit; wodurch kannst du ersetzen, was wir verlieren?«

KARL: »Schonen Sie mich, liebe Tante: ich fühle meinen Fehler schon lebhaft genug; lassen Sie mich die Folgen nicht so deutlich einsehen.«

BARONESSE: »Betrachte sie vielmehr so deutlich als möglich! Hier kann nicht von Schonen die Rede sein; es ist nur die Frage, ob du dich überzeugen kannst. Denn nicht das erste Mal begehst du diesen Fehler, und es wird das letzte Mal nicht sein. O ihr Menschen, wird die Not, die euch unter ein Dach, in eine enge Hütte zusammendrängt, euch nicht duldsam gegeneinander machen? Ist es an den ungeheuren Begebenheiten nicht genug, die auf euch und die Eurigen unaufhaltsam losdringen? Könnt ihr so nicht an euch selbst arbeiten und euch mäßig und vernünftig gegen diejenigen betragen, die euch im Grunde nichts nehmen, nichts rauben wollen? Müssen denn eure Gemüter nur so blind und unaufhaltsam wirken und dreinschlagen wie die Weltbegebenheiten, ein Gewitter oder ein anderes Naturphänomen?«

Karl antwortete nichts, und der Hofmeister kam von dem Fenster, wo er bisher gestanden, auf die Baronesse zu und sagte: »Er wird sich bessern, dieser Fall soll ihm, soll uns allen zur Warnung dienen. Wir wollen uns täglich prüfen, wir wollen den Schmerz, den Sie empfunden haben, uns vor Augen stellen; wir wollen auch zeigen, dass wir Gewalt über uns haben.«

BARONESSE: »Wie leicht doch Männer sich überreden können, besonders in diesem Punkte! Das Wort Herrschaft ist ihnen ein so angenehmes Wort, und es klingt so vornehm, sich selbst beherrschen zu wollen. Sie reden gar zu gerne davon und möchten uns glauben machen, es sei wirklich auch in der Ausübung Ernst damit; und wenn ich doch nur einen einzigen in meinem Leben gesehen hätte, der auch nur in der geringsten Sache sich zu beherrschen imstande gewesen wäre! Wenn ihnen etwas gleichgültig ist, dann stellen sie sich gewöhnlich sehr ernsthaft, als ob sie es mit Mühe entbehrten, und was sie heftig wünschen, wissen sie sich selbst und anderen als vortrefflich, notwendig, unvermeidlich und unentbehrlich vorzustellen. Ich wüsste auch nicht einen, der auch nur der geringsten Entsagung fähig wäre.«

HOFMEISTER: »Sie sind selten ungerecht, und ich habe Sie noch niemals so von Verdruss und Leidenschaft überwältigt gesehen als in diesem Augenblick.«

BARONESSE: »Ich habe mich dieser Leidenschaft wenigstens nicht zu schämen. Wenn ich mir meine Freundin in ihrem Reisewagen, auf unbequemen Wegen, mit Tränen an verletzte Gastfreundschaft sich zurückerinnernd denke, so möcht ich euch allen von Herzen gram werden.«

HOFMEISTER: »Ich habe Sie in den größten Übeln nicht so bewegt und so heftig gesehen als in diesem Augenblick.«

BARONESSE: »Ein kleines Übel, das auf die größeren folgt, erfüllt das Maß; und dann ist es wohl kein kleines Übel, eine Freundin zu entbehren.«

HOFMEISTER: »Beruhigen Sie sich, und vertrauen Sie uns allen, dass wir uns bessern, dass wir das Mögliche tun wollen, Sie zu befriedigen.«

BARONESSE: »Keineswegs; es soll mir keiner von euch ein Vertrauen ablocken, aber fordern will ich künftig von euch, befehlen will ich in meinem Haus.«

»Fordern Sie nur, befehlen Sie nur!« rief Karl, »und Sie sollen sich über unseren Ungehorsam nicht zu beschweren haben.«

»Nun, meine Strenge wird so arg nicht sein«, versetzte lächelnd die Baronesse, indem sie sich zusammennahm; »ich mag nicht gerne befehlen, besonders so freigesinnten Menschen; aber einen Rat will ich geben, und eine Bitte will ich hinzufügen.«

HOFMEISTER: »Und beides soll uns ein unverbrüchliches Gesetz sein.«

BARONESSE: »Es wäre töricht, wenn ich das Interesse abzulenken gedächte, das jedermann an den großen Weltbegebenheiten nimmt, deren Opfer wir leider selbst schon geworden sind. Ich kann die Gesinnungen nicht ändern, die bei einem jeden nach seiner Denkweise entstehen, sich befestigen, streben und wirken, und es wäre ebenso töricht als grausam zu verlangen, dass er sie nicht mitteilen sollte. Aber das kann ich von dem Zirkel erwarten, in dem ich lebe, dass Gleichgesinnte sich im Stillen zueinander fügen und sich angenehm unterhalten, indem der eine dasjenige sagt, was der andere schon denkt. Auf euren Zimmern, auf Spaziergängen, und wo sich Übereindenkende treffen, eröffne man seinen Busen nach Lust, man lehne sich auf diese oder jene Meinung, ja man genieße recht lebhaft die Freude einer leidenschaftlichen Überzeugung. Aber, Kinder, in Gesellschaft lasst uns nicht vergessen, wie viel wir sonst schon, ehe alle diese Sachen zur Sprache kamen, um gesellig zu sein, von unseren Eigenheiten aufopfern mussten und dass jeder, solange die Welt stehen wird, um gesellig zu sein, wenigstens äußerlich sich wird beherrschen müssen. Ich fordere euch also nicht im Namen der Tugend, sondern im Namen der gemeinsten Höflichkeit auf, mir und andern in diesen Augenblicken das zu leisten, was ihr von Jugend auf, ich darf fast sagen, gegen einen jeden beobachtet habt, der euch auf der Straße begegnete.

Überhaupt«, fuhr die Baronesse fort, »weiß ich nicht, wie wir geworden sind, wohin auf einmal jede gesellige Bildung verschwunden ist. Wie sehr hütete man sich sonst, in der Gesellschaft irgendetwas zu berühren, was einem oder dem anderen unangenehm sein konnte! Der Protestant vermied in Gegenwatt des Katholiken, irgendeine Zeremonie lächerlich zu finden; der eifrigste Katholik ließ den Protestanten nicht merken, dass die alte Religion eine größere Sicherheit ewiger Seligkeit gewähre. Man unterließ vor den Augen einer Mutter, die ihren Sohn verloren hatte, sich seiner Kinder lebhaft zu freuen, und jeder fühlte sich verlegen, wenn ihm ein solches unbedachtsames Wort entwischt war. Jeder Umstehende suchte das Versehen wiedergutzumachen – und tun wir nicht jetzo gerade das Gegenteil von allem diesem? Wir suchen recht eifrig jede Gelegenheit, wo wir etwas vorbringen können, das den anderen verdrießt und ihn aus seiner Fassung bringt. O lasst uns künftig, meine Kinder und Freunde, wieder zu jener Art zu sein zurückkehren! Wir haben bisher schon manches Traurige erlebt – und vielleicht verkündigt uns bald der Rauch bei Tage und die Flammen bei Nacht den Untergang unserer Wohnungen und unserer zurückgelassenen Besitztümer. Lasst uns auch diese Nachrichten nicht mit Heftigkeit in die Gesellschaft bringen, lasst uns dasjenige nicht durch öftere Wiederholung tiefer in die Seele prägen, was uns in der Stille schon Schmerzen genug erregt. – Als euer Vater starb, habt ihr mir wohl mit Worten und Zeichen diesen unersetzlichen Verlust bei jedem Anlass erneuert? Habt ihr nicht alles, was sein Andenken zur Unzeit wieder hervorrufen konnte, zu vermeiden und durch eure Liebe, eure stillen Bemühungen und eure Gefälligkeit das Gefühl jenes Verlustes zu lindern und die Wunde zu heilen gesucht? Haben wir jetzt nicht alle nötiger, eben jene gesellige Schonung auszuüben, die oft mehr wirkt als eine wohlmeinende, aber rohe Hilfe; jetzt, da nicht etwa in der Mitte von Glücklichen ein oder der andere Zufall diesen oder jenen verletzt, dessen Unglück von dem allgemeinen Wohlbefinden bald wieder verschlungen wird, sondern wo unter einer ungeheuren Anzahl Unglücklicher kaum wenige, entweder durch Natur oder Bildung, einer zufälligen oder künstlichen Zufriedenheit genießen?«

KARL: »Sie haben uns nun genug erniedrigt, liebe Tante; wollen Sie uns nicht wieder die Hand reichen?«

BARONESSE: »Hier ist sie, mit der Bedingung, dass ihr Lust habt, euch von ihr leiten zu lassen. Rufen wir eine Amnestie aus! Man kann sich jetzt nicht geschwind genug dazu entschließen.«

In dem Augenblick traten die übrigen Frauenzimmer, die sich nach dem Abschied noch recht herzlich ausgeweint hatten, herein und konnten sich nicht bezwingen, Vetter Karl freundlich anzusehen.

»Kommt her, ihr Kinder!« rief die Baronesse; »wir haben eine ernsthafte Unterredung gehabt, die, wie ich hoffe, Friede und Einigkeit unter uns herstellen und den guten Ton, den wir eine Zeitlang vermissen, wieder unter uns einführen soll; vielleicht haben wir nie nötiger gehabt, uns aneinanderzuschließen und, wäre es auch nur wenige Stunden des Tages, uns zu zerstreuen. Lasst uns dahin übereinkommen, dass wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen! Wie lange haben wir belehrende und aufmunternde Gespräche entbehrt, wie lange hast du uns, lieber Karl, nichts von fernen Ländern und Reichen erzählt, von deren Beschaffenheit, Einwohnern, Sitten und Gebräuchen du so schöne Kenntnisse hast! Wie lange haben Sie« (so redete sie den Hofmeister an) »die alte und neue Geschichte, die Vergleichung der Jahrhunderte und einzelner Menschen schweigen lassen? Wo sind die schönen und zierlichen Gedichte geblieben, die sonst so oft aus den Brieftaschen unsrer jungen Frauenzimmer zur Freude der Gesellschaft hervorkamen? Wohin haben sich die unbefangenen philosophischen Betrachtungen verloren? Ist die Lust gänzlich verschwunden, mit der ihr von euren Spaziergängen einen merkwürdigen Stein, eine, uns wenigstens, unbekannte Pflanze, ein seltsames Insekt zurückbrachtet und dadurch Gelegenheit gabt, über den großen Zusammenhang aller vorhandenen Geschöpfe wenigstens angenehm zu träumen? Lasst alle diese Unterhaltungen, die sich sonst so freiwillig darboten, durch eine Verabredung, durch Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bei uns eintreten! Bietet alle eure Kräfte auf, lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein! Und das alles werden wir – und noch weit mehr als jetzt – benötigt sein, wenn auch alles völlig drunter oder drüber gehen sollte. Kinder, versprecht mir das!« – Sie versprachen es mit Lebhaftigkeit. – »Und nun geht, es ist ein schöner Abend; genieße ihn jeder nach seiner Weise, und lasst uns beim Nachtessen seit langer Zeit zum ersten Mal die Früchte einer freundschaftlichen Unterhaltung genießen!«

So ging die Gesellschaft auseinander; nur Fräulein Luise blieb bei der Mutter sitzen: sie konnte den Verdruss, ihre Gespielin verloren zu haben, nicht so bald vergessen und ließ Karl, der sie zum Spaziergang einlud, auf eine sehr schnippische Weise abfahren. So waren Mutter und Tochter eine Zeitlang still nebeneinander geblieben, als der Geistliche hereintrat, der von einem langen Spaziergange zurückkam und von dem, was in der Gesellschaft vorgekommen war, nichts erfahren hatte. Er legte Hut und Stock ab, ließ sich nieder und wollte eben etwas erzählen; Fräulein Luise aber, als ob sie ein angefangenes Gespräch mit ihrer Mutter fortsetzte, schnitt ihm die Rede mit folgenden Worten ab: »Manchen Personen wird denn doch das Gesetz, das eben beliebt worden ist, ziemlich unbequem sein. Schon wenn wir sonst auf dem Lande wohnten, hat es manchmal an Stoff zur Unterredung gemangelt; denn da war nicht so täglich wie in der Stadt ein armes Mädchen zu verleumden, ein junger Mensch verdächtig zu machen; aber doch hatte man bisher noch die Ausflucht, von ein paar großen Nationen alberne Streiche zu erzählen, die Deutschen wie die Franzosen lächerlich zu finden und bald diesen, bald jenen zum Jakobiner und Klubisten zu machen. Wenn nun auch diese Quelle verstopft wird, so werden wir manche Personen wohl stumm in unserer Mitte sehen.«

»Ist dieser Ausfall etwa auf mich gerichtet, mein Fräulein?« fing der Alte lächelnd an. »Nun, Sie wissen, dass ich mich glücklich schätze, manchmal ein Opfer für die übrige Gesellschaft zu werden. Denn gewiss, indem Sie bei jeder Unterhaltung Ihrer fürtrefflichen Erzieherin Ehre machen und Sie jedermann angenehm, liebenswürdig und gefällig findet, so scheinen Sie einem kleinen bösen Geist, der in Ihnen wohnt und über den Sie nicht ganz Herr werden können, für mancherlei Zwang, den Sie ihm antun, auf meine Unkosten gewöhnlich einige Entschädigung zu verschaffen. Sagen Sie mir, gnädige Frau«, fuhr er fort, indem er sich zur Baronesse wandte, »was ist in meiner Abwesenheit vorgegangen? Und was für Gespräche sind aus unserem Zirkel ausgeschlossen?«

Die Baronesse unterrichtete ihn von allem, was vorgefallen war. Aufmerksam hörte er zu und versetzte sodann: »Es dürfte auch nach dieser Einrichtung manchen Personen nicht unmöglich sein, die Gesellschaft zu unterhalten und vielleicht besser und sicherer als andere.«

»Wir wollen es erleben«, sagte Luise.

»Dieses Gesetz«, fuhr er fort, »enthält nichts Beschwerliches für jeden Menschen, der sich mit sich selbst zu beschäftigen wusste; vielmehr wird es ihm angenehm sein, indem er dasjenige, was er sonst gleichsam verstohlen trieb, in die Gesellschaft bringen darf. Denn, nehmen Sie mir nicht übel, Fräulein, wer bildet denn die Neuigkeitsträger, die Aufpasser und Verleumder als die Gesellschaft? Ich habe selten bei einer Lektüre, bei irgendeiner Darstellung einer interessanten Materie, die Geist und Herz beleben sollten, einen Zirkel so aufmerksam und die Seelenkräfte so tätig gesehen, als wenn irgendetwas Neues, und zwar eben etwas, das einen Mitbürger oder eine Mitbürgerin heruntersetzt, vorgetragen wurde. Fragen Sie sich selbst, und fragen Sie viele andere: Was gibt einer Begebenheit den Reiz? Nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluss, den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsere Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt, unser Gefühl nur leicht berührt und unsern Verstand völlig in Ruhe lässt. Jeder Mensch kann ohne die mindeste Rückkehr auf sich selbst an allem, was neu ist, lebhaften Anteil nehmen; ja, da eine Folge von Neuigkeiten immer von einem Gegenstand zum anderen fortreißt, so kann der großen Menschenmasse nichts willkommener sein als ein solcher Anlass zu ewiger Zerstreuung und eine solche Gelegenheit, Tücke und Schadenfreude auf eine bequeme und immer sich erneuernde Weise auszulassen.« – »Nun!« rief Luise, »es scheint, Sie wissen sich zu helfen; sonst ging es über einzelne Personen her, jetzt soll es das ganze menschliche Geschlecht entgelten.«

»Ich verlange nicht, dass Sie jemals billig gegen mich sein sollen«, versetzte jener; »aber soviel muss ich Ihnen sagen: wir anderen, die wir von der Gesellschaft abhängen, müssen uns nach ihr bilden und richten, ja wir dürfen eher etwas tun, das ihr zuwider ist, als was ihr lästig wäre, und lästiger ist ihr in der Welt nichts, als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert. Alles, was dahin zielt, muss man ja vermeiden und allenfalls das im Stillen für sich vollbringen, was bei jeder öffentlichen Versammlung versagt ist.«

»Für sich, im Stillen, mögen Sie wohl allenfalls manche Flasche Wein ausgetrunken und manche schöne Stunde des Tages verschlafen haben«, fiel Luise ihm ein.

»Ich habe nie«, fuhr der Alte fort, »auf das, was ich tue, viel Wert gelegt; denn ich weiß, dass ich gegen andere Menschen ein großer Faulenzer bin; indessen hab ich doch eine Sammlung gemacht, die vielleicht eben jetzt dieser Gesellschaft, wie sie gestimmt ist, manche angenehme Stunde verschaffen könnte.«

»Was ist es für eine Sammlung?« fragte die Baronesse.

»Gewiss nichts weiter als eine skandalöse Chronik«, setzte Luise hinzu.

»Sie irren sich«, sagte der Alte.

»Wir werden sehen«, versetzte Luise.

»Lass ihn ausreden«, sagte die Baronesse; »und überhaupt gewöhne dir nicht an, einem, der es auch zum Scherze leiden mag, hart und unfreundlich zu begegnen! Wir haben nicht Ursache, den Unarten, die in uns stecken, auch nur im Scherz Nahrung zu geben. Sagen Sie mir, mein Freund, worin besteht Ihre Sammlung? Wird sie zu unserer Unterhaltung dienlich und schicklich sein? Ist sie schon lange angefangen? Warum haben wir noch nichts davon gehört?«

»Ich will Ihnen hierüber Rechenschaft geben«, versetzte der Alte. »Ich lebe schon lange in der Welt und habe immer gern auf das achtgegeben, was diesem oder jenem Menschen begegnet. Zur Übersicht der großen Geschichte fühl ich weder Kraft noch Mut, und die einzelnen Weltbegebenheiten verwirren mich; aber unter den vielen Privatgeschichten, wahren und falschen, mit denen man sich im Publikum trägt, die man sich insgeheim einander erzählt, gibt es manche, die noch einen reineren, schönern Reiz haben als den Reiz der Neuheit, manche, die durch eine geistreiche Wendung uns immer zu erheitern Anspruch machen, manche, die uns die menschliche Natur und ihre inneren Verborgenheiten auf einen Augenblick eröffnen; andere wieder, deren sonderbare Albernheiten uns ergötzen. Aus der großen Menge, die im gemeinen Leben unsere Aufmerksamkeit und unsere Bosheit beschäftigen und die ebenso gemein sind wie die Menschen, denen sie begegnen oder die sie erzählen, habe ich diejenigen gesammelt, die mir nur irgendeinen Charakter zu haben schienen, die meinen Verstand, die mein Gemüt berührten und beschäftigten und die mir, wenn ich wieder daran dachte, einen Augenblick reiner und ruhiger Heiterkeit gewährten.«

»Ich bin sehr neugierig«, sagte die Baronesse, »zu hören, von welcher Art Ihre Geschichten sind und was sie eigentlich behandeln.«

»Sie können sich leicht denken«, versetzte der Alte, »dass von Prozessen und Familienangelegenheiten nicht öfters die Rede sein wird. Diese haben meistenteils nur ein Interesse für die, welche damit geplagt sind.«

LUISE: »Und was enthalten sie denn?«

DER ALTE: »Sie behandeln, ich will es nicht leugnen, gewöhnlich die Empfindungen, wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweit, glücklich oder unglücklich gemacht, öfter aber verwirrt als aufgeklärt werden.«

LUISE: »So? Also wahrscheinlich eine Sammlung lüsterner Späße geben Sie uns für eine feine Unterhaltung? Sie verzeihen mir, Mama, dass ich diese Bemerkung mache; sie liegt so ganz nahe, und die Wahrheit wird man doch sagen dürfen.«

DER ALTE: »Sie sollen, hoffe ich, nichts, was ich lüstern nennen würde, in der ganzen Sammlung finden.«

LUISE: »Und was nennen Sie denn so?«

DER ALTE: »Ein lüsternes Gespräch, eine lüsterne Erzählung sind mir unerträglich. Denn sie stellen uns etwas Gemeines, etwas, das der Rede und Aufmerksamkeit nicht wert ist, als etwas Besonderes, als etwas Reizendes vor und erregen eine falsche Begierde, anstatt den Verstand angenehm zu beschäftigen. Sie verhüllen das, was man entweder ohne Schleier ansehen oder wovon man ganz seine Augen wegwenden sollte.«

LUISE: »Ich verstehe Sie nicht. Sie werden uns doch Ihre Geschichten wenigstens mit einiger Zierlichkeit vortragen wollen? Sollten wir uns denn etwa mit plumpen Späßen die Ohren beleidigen lassen? Es soll wohl eine Mädchenschule werden, und Sie wollen noch Dank dafür verlangen?«

DER ALTE: »Keins von beiden. Denn erstlich, erfahren werden Sie nichts Neues, besonders da ich schon seit einiger Zeit bemerke, dass Sie gewisse Rezensionen in den gelehrten Zeitungen niemals überschlagen.«

LUISE: »Sie werden anzüglich.«

DER ALTE: »Sie sind Braut, und ich entschuldige Sie gerne. Ich muss Ihnen aber nur zeigen, dass ich auch Pfeile habe, die ich gegen Sie brauchen kann.«

BARONESSE: »Ich sehe wohl, wo Sie hinauswollen; machen Sie es aber auch ihr begreiflich.«

DER ALTE: »Ich müsste nur wiederholen, was ich zu Anfang des Gesprächs schon gesagt habe; es scheint aber nicht, dass sie den guten Willen hat aufzumerken.«

LUISE: »Was braucht's da guten Willen und viele Worte! Man mag es besehen, wie man will, so werden es skandalöse Geschichten sein, auf eine oder die andere Weise skandalös und weiter nichts.«

DER ALTE: »Soll ich wiederholen, mein Fräulein, dass dem wohldenkenden Menschen nur dann etwas skandalös vorkomme, wenn er Bosheit, Übermut, Lust zu schaden, Widerwillen zu helfen bemerkt, dass er davon sein Auge wegwendet, dagegen aber kleine Fehler und Mängel lustig findet und besonders mit seiner Betrachtung gern bei Geschichten verweilt, wo er den guten Menschen in leichtem Widerspruch mit sich selbst, seinen Begierden und seinen Vorsätzen findet; wo alberne und auf ihren Wert eingebildete Toren beschämt, zurechtgewiesen oder betrogen werden; wo jede Anmaßung auf eine natürliche, ja auf eine zufällige Weise bestraft wird; wo Vorsätze, Wünsche und Hoffnungen bald gestört, aufgehalten und vereitelt, bald unerwartet angenähert, erfüllt und bestätigt werden? Da, wo der Zufall mit der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit spielt, hat er am liebsten seine stille Betrachtung, und keiner seiner Helden, deren Geschichten er bewahrt, hat von ihm weder Tadel zu besorgen noch Lob zu erwarten.«

BARONESSE: »Ihre Einleitung erregt den Wunsch, bald ein Probestück zu hören. Ich wüsste doch nicht, dass in unserem Leben – und wir haben doch die meiste Zeit in einem Kreise zugebracht – vieles geschehen wäre, das man in eine solche Sammlung aufnehmen könnte.«

DER ALTE: »Es kommt freilich vieles auf die Beobachter an und was für eine Seite man den Sachen abzugewinnen weiß; aber ich will freilich nicht leugnen, dass ich auch aus alten Büchern und Traditionen manches aufgenommen habe. Sie werden mitunter alte Bekannte vielleicht nicht ungern in einer neuen Gestalt wieder antreffen. Aber eben dieses gibt mir den Vorteil, den ich auch nicht aus den Händen lassen werde: man soll keine meiner Geschichten deuten!«

LUISE: »Sie werden uns doch nicht verwehren, unsre Freunde und Nachbarn wiederzuerkennen und, wenn es uns beliebt, das Rätsel zu entziffern?«

DER ALTE: »Keineswegs. Sie werden mir aber auch dagegen erlauben, in einem solchen Falle einen alten Folianten hervorzuziehen, um zu beweisen, dass diese Geschichte schon vor einigen Jahrhunderten geschehen oder erfunden worden. Ebenso werden Sie mir erlauben, heimlich zu lächeln, wenn eine Geschichte für ein altes Märchen erklärt wird, die unmittelbar in unserer Nähe vorgegangen ist, ohne dass wir sie eben gerade in dieser Gestalt wiedererkennen.«

LUISE: »Man wird mit Ihnen nicht fertig; es ist das beste, wir machen Friede für diesen Abend und Sie erzählen uns noch geschwind ein Stückchen zur Probe.«

DER ALTE: »Erlauben Sie, dass ich Ihnen hierin ungehorsam sein darf. Diese Unterhaltung wird für die versammelte Gesellschaft aufgespart. Wir dürfen ihr nichts entziehen, und ich sage voraus: alles, was ich vorzubringen habe, hat keinen Wert an sich. Wenn aber die Gesellschaft nach einer ernsthaften Unterhaltung auf eine kurze Zeit ausruhen, wenn sie sich, von manchem Guten schon gesättigt, nach einem leichten Nachtisch umsieht, alsdann werd' ich bereit sein und wünsche, dass das, was ich vorsetze, nicht unschmackhaft befunden werde.«

BARONESSE: »Wir werden uns denn schon bis morgen gedulden müssen.«

LUISE: »Ich bin höchst neugierig, was er vorbringen wird.«

DER ALTE: »Das sollten Sie nicht sein, Fräulein; denn gespannte Erwartung wird selten befriedigt.«

Abends nach Tische, als die Baronesse zeitig in ihr Zimmer gegangen war, blieben die Übrigen beisammen und sprachen über mancherlei Nachrichten, die eben einliefen, über Gerüchte, die sich verbreiteten. Man war dabei, wie es gewöhnlich in solchen Augenblicken zu geschehen pflegt, in Zweifel, was man glauben und was man verwerfen sollte.

Der alte Hausfreund sagte darauf: »Ich finde am bequemsten, dass wir dasjenige glauben, was uns angenehm ist, ohne Umstände das verwerfen, was uns unangenehm wäre, und dass wir übrigens wahr sein lassen, was wahr sein kann.«

Man machte die Bemerkung, dass der Mensch auch gewöhnlich so verfahre, und durch einige Wendung des Gesprächs kam man auf die entschiedene Neigung unserer Natur, das Wunderbare zu glauben. Man redete vom Romanhaften, vom Geisterhaften, und als der Alte einige gute Geschichten dieser Art künftig zu erzählen versprach, versetzte Fräulein Luise: »Sie wären recht artig und würden vielen Dank verdienen, wenn Sie uns gleich, da wir eben in der rechten Stimmung beisammen sind, eine solche Geschichte vortrügen; wir würden aufmerksam zuhören und Ihnen dankbar sein.«

Ohne sich lange bitten zu lassen, fing der Geistliche darauf mit folgenden Worten an: »Als ich mich in Neapel aufhielt, begegnete daselbst eine Geschichte, die großes Aufsehen erregte und worüber die Urteile sehr verschieden waren. Die einen behaupteten, sie sei völlig ersonnen, die anderen, sie sei wahr, aber es stecke ein Betrug dahinter. Diese Partei war wieder untereinander selbst uneinig; sie stritten, wer dabei betrogen haben könnte. Noch andere behaupteten, es sei keineswegs ausgemacht, dass geistige Naturen nicht sollten auf Elemente und Körper wirken können, und man müsse nicht jede wunderbare Begebenheit ausschließlich entweder für Lüge oder Trug erklären. Nun zur Geschichte selbst:

Eine Sängerin, Antonelli genannt, war zu meiner Zeit der Liebling des neapolitanischen Publikums. In der Blüte ihrer Jahre, ihrer Figur, ihrer Talente fehlte ihr nichts, wodurch ein Frauenzimmer die Menge reizt und lockt und eine kleine Anzahl Freunde entzückt und glücklich macht. Sie war nicht unempfindlich gegen Lob und Liebe; allein von Natur mäßig und verständig, wusste sie die Freuden zu genießen, die beide gewähren, ohne dabei aus der Fassung zu kommen, die ihr in ihrer Lage so nötig war. Alle jungen, vornehmen, reichen Leute drängten sich zu ihr, nur wenige nahm sie auf; und wenn sie bei der Wahl ihrer Liebhaber meist ihren Augen und ihrem Herzen folgte, so zeigte sie doch bei allen kleinen Abenteuern einen festen, sicheren Charakter, der jeden genauen Beobachter für sie einnehmen musste. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Zeit zu sehen, indem ich mit einem ihrer Begünstigten in nahem Verhältnisse stand.

Verschiedene Jahre waren hingegangen, sie hatte Männer genug kennengelernt und unter ihnen viele Gecken, schwache und unzuverlässige Menschen. Sie glaubte bemerkt zu haben, dass ein Liebhaber, der in einem gewissen Sinn dem Weibe alles ist, gerade da, wo sie eines Beistandes am nötigsten bedürfte, bei Vorfällen des Lebens, häuslichen Angelegenheiten, bei augenblicklichen Entschließungen, meistenteils zu nichts wird, wenn er nicht gar seiner Geliebten, indem er nur an sich selbst denkt, schadet und aus Eigenliebe ihr das Schlimmste zu raten und sie zu den gefährlichsten Schritten zu verleiten sich gedrungen fühlt.

Bei ihren bisherigen Verbindungen war ihr Geist meistenteils unbeschäftigt geblieben; auch dieser verlangte Nahrung. Sie wollte endlich einen Freund haben, und kaum hatte sie dieses Bedürfnis gefühlt, so fand sich unter denen, die sich ihr zu nähern suchten, ein junger Mann, auf den sie ihr Zutrauen warf und der es in jedem Sinne zu verdienen schien.

Es war ein Genueser, der sich um diese Zeit einiger wichtiger Geschäfte seines Hauses wegen in Neapel aufhielt. Bei einem sehr glücklichen Naturell hatte er die sorgfältigste Erziehung genossen. Seine Kenntnisse waren ausgebreitet, sein Geist wie sein Körper vollkommen ausgebildet, sein Betragen konnte für ein Muster gelten, wie einer, der sich keinen Augenblick vergisst, sich doch immer in anderen zu vergessen scheint. Der Handelsgeist seiner Geburtsstadt ruhte auf ihm; er sah das, was zu tun war, im Großen an. Doch war seine Lage nicht die glücklichste; sein Haus hatte sich in einige höchst missliche Spekulationen eingelassen und war in gefährliche Prozesse verwickelt. Die Angelegenheiten verwirrten sich mit der Zeit noch mehr, und die Sorge, die er darüber empfand, gab ihm einen Anstrich von Traurigkeit, der ihm sehr wohl anstand und unserem jungen Frauenzimmer noch mehr Mut machte, seine Freundschaft zu suchen, weil sie zu fühlen glaubte, dass er selbst einer Freundin bedürfe.

Er hatte sie bisher nur an öffentlichen Orten und bei Gelegenheit gesehen; sie vergönnte ihm nunmehr auf seine erste Anfrage den Zutritt in ihrem Haus, ja sie lud ihn recht dringend ein, und er verfehlte nicht zu kommen.

Sie versäumte keine Zeit, ihm ihr Zutrauen und ihren Wunsch zu entdecken. Er war verwundert und erfreut über ihren Antrag. Sie bat ihn inständig, ihr Freund zu bleiben und keine Anforderungen eines Liebhabers zu machen. Sie eröffnete ihm eine Verlegenheit, in der sie sich eben befand, und worüber er bei seinen mancherlei Verhältnissen den besten Rat geben und die schleunigste Einleitung zu ihrem Vorteil machen konnte. Er vertraute ihr dagegen seine Lage an, und indem sie ihn zu erheitern und zu trösten wusste, indem sich in ihrer Gegenwart manches entwickelte, was sonst bei ihm nicht so früh erwacht wäre, schien sie auch seine Ratgeberin zu sein, und eine wechselseitige, auf die edelste Achtung, auf das schönste Bedürfnis gegründete Freundschaft hatte sich in Kurzem zwischen ihnen befestigt.

Nur leider überlegt man bei Bedingungen, die man eingeht, nicht immer, ob sie möglich sind. Er hatte versprochen, nur Freund zu sein, keine Ansprüche auf die Stelle eines Liebhabers zu machen und doch konnte er sich nicht leugnen, dass ihm die von ihr begünstigten Liebhaber überall im Wege, höchst zuwider, ja ganz und gar unerträglich waren. Besonders fiel es ihm höchst schmerzlich auf, wenn ihn seine Freundin von den guten und bösen Eigenschaften eines solchen Mannes oft launig unterhielt, alle Fehler des Begünstigten genau zu kennen schien und doch noch vielleicht selbigen Abend, gleichsam zum Spott des wertgeschätzten Freundes, in den Armen eines Unwürdigen ausruhte.

Glücklicher- oder unglücklicherweise geschah es bald, dass das Herz der Schönen frei wurde. Ihr Freund bemerkte es mit Vergnügen und suchte ihr vorzustellen, dass der erledigte Platz ihm vor allen anderen gebühre. Nicht ohne Widerstand und Widerwillen gab sie seinen Wünschen Gehör. ›Ich fürchte‹, sagte sie, ›dass ich über diese Nachgiebigkeit das Schätzbarste auf der Welt, einen Freund, verliere.‹ Sie hatte richtig geweissagt; denn kaum hatte er eine Zeitlang in seiner doppelten Eigenschaft bei ihr gegolten, so fingen seine Launen an, beschwerlicher zu werden; als Freund forderte er ihre ganze Achtung, als Liebhaber ihre ganze Neigung und als ein verständiger und angenehmer Mann unausgesetzte Unterhaltung. Dies aber war keineswegs nach dem Sinn des lebhaften Mädchens; sie konnte sich in keine Aufopferung finden und hatte nicht Lust, irgendjemand ausschließliche Rechte zuzugestehen. Sie suchte daher auf eine zarte Weise seine Besuche nach und nach zu verringern, ihn seltener zu sehen und ihn fühlen zu lassen, dass sie um keinen Preis der Welt ihre Freiheit weggebe.

Sobald er es merkte, fühlte er sich vom größten Unglück betroffen, und leider befiel ihn dieses Unheil nicht allein: seine häuslichen Angelegenheiten fingen an, äußerst schlimm zu werden. Er hatte sich dabei den Vorwurf zu machen, dass er von früher Jugend an sein Vermögen als eine unerschöpfliche Quelle angesehen, dass er seine Handelsangelegenheiten versäumt, um auf Reisen und in der großen Welt eine vornehmere und reichere Figur zu spielen, als ihm seine Geburt und sein Einkommen gestatteten. Die Prozesse, auf die er seine Hoffnung setzte, gingen langsam und waren kostspielig. Er musste deshalb einige Mal nach Palermo, und während seiner letzten Reise machte das kluge Mädchen verschiedene Einrichtungen, um ihrer Haushaltung eine andere Wendung zu geben und ihn nach und nach von sich zu entfernen. Er kam zurück und fand sie in einer anderen Wohnung, entfernt von der seinigen, und sah den Marchese von S., der damals auf die öffentlichen Lustbarkeiten und Schauspiele großen Einfluss hatte, vertraulich bei ihr aus und ein gehen. Dies überwältigte ihn, und er fiel in eine schwere Krankheit. Als die Nachricht davon zu seiner Freundin gelangte, eilte sie zu ihm, sorgte für ihn, richtete seine Aufwartung ein, und als ihr nicht verborgen blieb, dass seine Kasse nicht zum Besten bestellt war, ließ sie eine ansehnliche Summe zurück, die hinreichend war, ihn auf einige Zeit zu beruhigen.

Durch die Anmaßung, ihre Freiheit einzuschränken, hatte der Freund schon viel in ihren Augen verloren; wie ihre Neigung zu ihm abnahm, hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn zugenommen; endlich hatte die Entdeckung, dass er in seinen eigenen Angelegenheiten so unklug gehandelt habe, ihr nicht die günstigsten Begriffe von seinem Verstand und seinem Charakter gegeben. Indessen bemerkte er die große Veränderung nicht, die in ihr vorgegangen war; vielmehr schien ihre Sorgfalt für seine Genesung, die Treue, womit sie halbe Tage lang an seinem Lager aushielt, mehr ein Zeichen ihrer Freundschaft und Liebe als ihres Mitleids zu sein, und er hoffte, nach seiner Genesung in alle Rechte wieder eingesetzt zu werden.

Wie sehr irrte er sich! In dem Maße, wie seine Gesundheit wiederkam und seine Kräfte sich erneuerten, verschwand bei ihr jede Art von Neigung und Zutrauen, ja er schien ihr so lästig, als er ihr sonst angenehm gewesen war. Auch war seine Laune, ohne dass er es selbst bemerkte, während dieser Begebenheiten höchst bitter und verdrießlich geworden; alle Schuld, die er an seinem Schicksal haben konnte, warf er auf andere und wusste sich in allem völlig zu rechtfertigen. Er sah in sich nur einen unschuldig verfolgten, gekränkten, betrübten Mann und hoffte völlige Entschädigung alles Übels und aller Leiden von einer vollkommenen Ergebenheit seiner Geliebten. – Mit diesen Anforderungen trat er gleich in den ersten Tagen hervor, als er wieder ausgehen und sie besuchen konnte. Er verlangte nichts weniger, als dass sie sich ihm ganz ergeben, ihre übrigen Freunde und Bekannten verabschieden, das Theater verlassen und ganz allein mit ihm und für ihn leben sollte. Sie zeigte ihm die Unmöglichkeit, seine Forderungen zu bewilligen, erst auf eine scherzhafte, dann auf eine ernsthafte Weise und war leider endlich genötigt, ihm die traurige Wahrheit, dass ihr Verhältnis gänzlich vernichtet sei, zu gestehen. Er verließ sie und sah sie nicht wieder.

Er lebte noch einige Jahre in einem sehr eingeschränkten Kreise oder vielmehr bloß in der Gesellschaft einer alten, frommen Dame, die mit ihm in einem Hause wohnte und sich von wenigen Renten erhielt. In dieser Zeit gewann er den einen Prozess und bald darauf den anderen; allein seine Gesundheit war untergraben und das Glück seines Lebens verloren. Bei einem geringen Anlass fiel er abermals in eine schwere Krankheit; der Arzt kündigte ihm den Tod an. Er vernahm sein Urteil ohne Widerwillen, nur wünschte er seine schöne Freundin noch einmal zu sehen. Er schickte seinen Bedienten zu ihr, der sonst in glücklicheren Zeiten manche günstige Antwort gebracht hatte. Er ließ sie bitten; sie schlug es ab. Er schickte zum zweiten Mal und ließ sie beschwören; sie beharrte auf ihrem Sinn. Endlich, es war schon tief in der Nacht, sendete er zum dritten Mal; sie ward bewegt und vertraute mir ihre Verlegenheit an, denn ich war eben mit dem Marchese und einigen anderen Freunden bei ihr zum Abendessen. Ich riet ihr und bat sie, dem Freund den letzten Liebesdienst zu erzeigen; sie schien unentschlossen, aber nach einigem Nachdenken nahm sie sich zusammen. Sie schickte den Bedienten mit einer abschlägigen Antwort weg, und er kam nicht wieder.

Wir saßen nach Tisch in einem vertrauten Gespräch und waren alle heiter und guten Muts. Es war gegen Mitternacht, als sich auf einmal eine klägliche, durchdringende, ängstliche und lange nachtönende Stimme hören ließ. Wir fuhren zusammen, sahen einander an und sahen uns um, was aus diesem Abenteuer werden sollte. Die Stimme schien an den Wänden zu verklingen, wie sie aus der Mitte des Zimmers hervorgedrungen war. Der Marchese stand auf und sprang ans Fenster, und wir andern bemühten uns um die Schöne, welche ohnmächtig dalag. Sie kam erst langsam zu sich. Der eifersüchtige und heftige Italiener sah kaum ihre wieder aufgeschlagenen Augen, als er ihr bittere Vorwürfe machte. ›Wenn Sie mit Ihren Freunden Zeichen verabreden‹, sagte er, ›so lassen Sie doch solche weniger auffallend und heftig sein.‹ Sie antwortete ihm mit ihrer gewöhnlichen Gegenwart des Geistes, dass, da sie jedermann und zu jeder Zeit bei sich zu sehen das Recht habe, sie wohl schwerlich solch traurige und schreckliche Töne zur Vorbereitung angenehmer Stunden wählen würde.