Johannes – Versuch einer Ehe zu dritt - Wolfgang Licht - E-Book

Johannes – Versuch einer Ehe zu dritt E-Book

Wolfgang Licht

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Beschreibung

Anfangs ist der Held noch ein sehr junger Mann. Der Text beginnt mit seiner Vorzeit: John hatte buchstäblich in letzter Minute von der Werbeaktion erfahren. Darin wurde jedermann aufgerufen, sich an dem Volksbau zu beteiligen, soweit er abkömmlich wäre und es nötig hätte, zu Geld zu kommen, oder auch nur dem Alltäglichen für eine Weile entkommen wollte. Vor wenigen Tagen hatte der achtzehnjährige John sein Abitur abgelegt. Der Schulden bei seinem Klavierlehrer wegen, aber auch, um sich etwas zu verdienen, hatte er sich zu der Aktion gemeldet, unter der Bedingung, als sogenannter freier Arbeiter bei einer Firma eingestellt zu werden, was ihm zugesagt wurde. Er wollte er sich am Aufbau einer Talsperre beteiligen und sollte sich in Baracke drei melden. Es erwartet ihn harte Arbeit. Und wie er im Gespräch mit Humbert, seinem Vorarbeiter, erklärt, will er Medizin studieren: Du fragst mich, hast du dich befragt, warum gerade Medizin? - Einen einzigen Grund kann ich nicht nennen, sagte John. In Wahrheit will ich den Menschen studieren. In keinem anderen Fach ist der lebendige Mensch Gegenstand des Studiums. Das reizt mich. Und John hielt übrigens die Innere Medizin für die Königin der Heilkunst. Er diskutiert mit Humbert auch, wie das Mädchen beschaffen sein soll, das er einmal heiraten will. Während des Studiums lernt er Mareen kennen, die Medizin studiert, dann auch deren Freundin Judith, die Kunst studiert: Es war, als hätte die Anwesenheit der Fremden John in einen Bann geschlagen. Als Mareen jetzt sagte: Judith, meine Freundin, schämte er sich ein wenig, dass er Mareen kaum beachtet hatte. John, sagte Mareen. Und Judith: Ich freue mich. Sie jetzt leibhaftig zu sehen. Geredet haben wir über Sie schon manches. - Als er Judiths Hand in seiner spürte, war ihm, als hätte er ihren Körper berührt. Später wird ein Ostseeurlaub geplant: Würdest du, fragte ihn Mareen eines Tages, etwas dagegen haben, dass Judith mit uns fährt? - Judith, sagte John vor Überraschung beinahe atemlos, wenn sie das will, und du. - Wir haben es bereits abgesprochen. - Wir besitzen aber nur ein Zelt, sagte John. Daraus entwickelt sich eine Beziehung zu dritt: Die Mädchen waren verschieden. Jede für sich aber eine Frau, die ihn fesselte, Herz und Sinne bewegte; und: die er begehrte. Warum das leugnen? Während er sich das zugab, und sich dazu bekannte, loderte diese Wahrheit in ihm hoch wie ein Feuer, brachen alle Mauern aus Überlegung. Abwägung und Herkömmlichem. Wird das funktionieren?

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Impressum

Wolfgang Licht

Johannes – Versuch einer Ehe zu dritt

ISBN 978-3-86394-764-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 2002 im Tauchaer Verlag.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

ERSTER TEIL: JOHNS VORZEIT

1. Kapitel

John hörte auf das Geräusch, das die Räder des Zuges auf den Stößen der Schienen machten. Ein hartes knallendes Schlagen. Eisen auf Eisen. Rücksichtslose Härte. In wechselndem Rhythmus: schneller werdend bei zunehmender Fahrt, wie von Freude getrieben; und zögernd, resignierend, bei Verlangsamung.

Er sah durch die Fenster des Abteils: gebirgiges Land, durch das sich der Zug schleppte. In den engen Kurven konnte er die bullige Dampflok der Kleinbahn sehen, mit ihren roten Rahmen und Rädern. Ein nächstes Mal die einen Halbbogen bildenden Wagen, von dem aus, in dem er saß, bis zum Ende des Zuges.

John war bei Tagesgrauen aufgestanden, um von L. nach K. zu kommen, wo er den Zug nach Fichtbach bestieg, in dem es mit einem Male voll geworden war. Voll von jungen Leuten, die offenbar aus den verschiedensten Gegenden des Landes gekommen waren, um als Bauhelfer für die entstehende Talsperre zu arbeiten, wo sie ein Nomadenleben auf Zeit führen würden.

John hatte buchstäblich in letzter Minute von der Werbeaktion erfahren. Darin wurde jedermann aufgerufen, sich an dem Volksbau zu beteiligen, soweit er abkömmlich wäre und es nötig hätte, zu Geld zu kommen, oder auch nur dem Alltäglichen für eine Weile entkommen wollte. Vor wenigen Tagen hatte der achtzehnjährige John sein Abitur abgelegt. Der Schulden bei seinem Klavierlehrer wegen, aber auch, um sich etwas zu verdienen, hatte er sich zu der Aktion gemeldet, unter der Bedingung, als sogenannter freier Arbeiter bei einer Firma eingestellt zu werden, was ihm zugesagt wurde.

Inzwischen war der Nachmittag vorüber, die Grenze zum Abend erreicht, den man an einem kühlen Lufthauch, sich verbreiternden und verlängernden Schatten ahnen konnte. Draußen zogen Fichtenwälder vorbei, die die Rücken der Berge bis zu deren Gipfeln bedeckten. Tiefblaue Flächen, von gelbgrünen, fieder- oder grätenförmigen Streifen durchbrochen. Ein Baum, einsam auf einem Vorsprung stehend, loderte im hellen Lichte gleich einer Flamme.

Eine flüchtige Bangigkeit und das Gefühl des Unbehaustseins, das John angekommen war. infolge der abendlichen Kühle, des kräftigen Geruchs nach Erde und Nadelwäldern, verging rasch, zog sich gewissermaßen zurück in die Winkel seines Gemüts. Obwohl von Natur aus nicht ängstlich, bedrückten ihn mitunter Dunkelheit und Kälte, und beim Versinken der Sonne und aufkommender Kühle befiel ihn zuweilen eine unbestimmte Melancholie, die, wohl in früher Kindheit entstanden, ein Teil seines Wesens war.

Der Bahnhof in Fichtbach war klein. Die jungen Leute, die wie John zur Talsperre wollten, waren ausgestiegen. Sie erkundigten sich bei einem Mann am Schalter nach dem Weg zur Baustelle, die sie nach etwa halbstündigem Marsch erreichten. Im Verwaltungsgebäude trennten sie sich. John erhielt den Bescheid, sich in der Baracke drei zu melden.

Er nahm den Lehmweg, der zu der genannten Baracke führte. Nach einiger Zeit sah er zwei Personen vor sich hergehen. Sie trugen lange Hosen. Ihre Haare waren kurz geschnitten. Im herrschenden Gegenlicht und aus der Ferne waren sie hinsichtlich ihres Geschlechts nicht sicher zu bestimmen. An der Art ihrer Bewegung, ihres Ganges und einer gewissen Anmut in ihrer Körperhaltung glaubte John schließlich, dass es Frauen seien. Er wollte sie aber nicht einholen und nicht anrufen. So verlangsamte er seinen Schritt etwas. Bei einer Wegbiegung hinter einer Buschgruppe waren sie plötzlich verschwunden. Als John diese Stelle erreicht hatte, sah er sie auch nicht mehr. Obwohl der Weg zur Baracke vor ihm noch lang war und schnurgerade verlief. Sie hätten, um John aus den Augen zu kommen, gerannt sein müssen. Oder sich seitlich über die Wiesen wenden, wobei sie dort stehende Bäume förmlich als Deckung hätten nehmen müssen. Vielleicht, dachte er, hatte ihm seine sich nun einstellende Müdigkeit ein Phantom vorgespiegelt?

Die Baracke lag westlich. Die eben untergegangene Sonne hatte den Himmel über dem Gebäude in ein karmesinrotes Licht getaucht, das aussah. als steige es aus der Baracke empor, werde von ihr ausgeschieden. Ihre faserige Holztür war nicht eingeklinkt. John drückte sie auf, trat ein. Doppelstockbetten in Reihe standen mit den Giebeln zur Wand an der linken Seite. In der rechten, Fenster in Holzrahmen, deren weiße Farbe ziemlich abgesplittert war. Auffällig ein rustikaler Tisch in Türnähe, der die Form eines gleichschenkligen Dreiecks hatte, aber auf vier Beinen stand. Drei unter den Ecken, ein viertes stützte seine Mitte, als müsse es der mächtigen Platte einen zusätzlichen Halt geben. Die Stühle um den Tisch waren besetzt mit jungen Männern in Johns Alter.

Vor der Fensterwand, an der Basis des Dreieck-Tisches, dessen Spitze in den Raum ragte, saßen einige in Gespräche vertieft. Drei andere hatten einen Hocker zwischen ihre Stühle gestellt, um den sie sich geschart hatten, Tarock-Karten in den Händen. Weitere saßen auf der Kante ihres Bettes oder lagen auf den Matratzen.

Unter den Kartenspielern entstand bei Johns Eintritt eine Bewegung, die aber nicht durch den Eintretenden ausgelöst wurde. Vielmehr ging es um ein Spielergebnis, das wohl strittig war. Zwei der drei Spieler blickten überrascht und empört auf den offensichtlichen Gewinner der Partie, der sich auf den Schenkel schlug und verhalten lachte. Kurz darauf sammelte einer der Verlierer das Spiel ein und steckte es in ein Behältnis, das sie auf dem Tisch liegen ließen. Worauf alle drei zu ihren Betten gingen und sich ziemlich lautlos hinlegten. Eine seltsame Lautlosigkeit, dachte John. Als erwarteten sie ein Ereignis, das mit dem Ergebnis des Spiels zusammenhing. Diejenigen, die unter den Fenstern saßen, beendeten jetzt ihren Disput. John hörte noch, wie ein mittelgroßer Brünetter sagte, er jedenfalls könne einen Sinn an sich in keiner Sache sehen. Den müsse jeder, bitte, schon selbst finden. Und John hatte plötzlich den Eindruck, der Ausspruch beziehe sich auf sein Hiersein. Ja, auf sein ganzes bisheriges Leben.

John, der in seiner Müdigkeit das alles aufzunehmen suchte, war zumute wie bei einem Eintritt in eine neue, unbekannte Welt. Um Orientierung bemüht, und willens aufgenommen zu werden. Angenommen von einer Gruppe von Leuten, die er sich als »Gesellschaft« nicht aussuchen konnte. mit der er aber auskommen muss und auch will.

Hau dich hin, sagte einer, offenbar John meinend, wir müssen früh raus.

Dann knipste er die Lampe aus, die über dem Dreiecks-Tisch hing.

Der Raum fiel in ein Dämmerlicht, das von einer Wandlampe im hinteren Teil des Saales kam. - Und wo soll ich mich hinhauen? - Da stand ein Mann auf, der auf dem Fußende seines Bettes gesessen hatte. Er war etwas größer als John, und obwohl die Beleuchtung spärlich war. glaubte John in dem Äußeren dieses Mannes eine entfernte Ähnlichkeit mit sich selbst zu erkennen.

Der andere trat auf ihn zu, streckte ihm die Hand her. - Humbert, sagte er.

John. - Das Bett über mir ist frei. Deine Sachen kannst du in den Schrank hier tun. - John sah jetzt, dass zwischen den Betten zwei schmale Spinde aufgestellt waren.

Schon im Einschlafen glaubte John aus dem türfernen Raumteil Flüstern und Kichern zu vernehmen, auch ein Geräusch, wie es entsteht, wenn einer sich im Bett andauernd hin und her wirft. In der Nacht erwachte er. Er hatte das Gefühl, dass ein Körper ihm nahe sei. Von schwerer Müdigkeit betäubt, versuchte er die Augen zu öffnen. Er hatte Angst, schon aufstehen zu müssen, wozu er sich nicht in der Lage wähnte. Plötzlich nahm er in Höhe seiner Augen etwas wahr, das einer weiblichen Brust ähnelte. Bevor er sich der Erscheinung richtig bewusst wurde, verschwand sie wieder. Mit einem Schlage war er völlig wach. Doch nur Dunkelheit umgab ihn. Schließlich beruhigt und wieder mit normalem Herzschlag, drehte er sich auf die andere Seite, sicher, dass ihn ein Traum genarrt hatte. Eine Wunschvorstellung womöglich. Im Zusammenhang mit Gedanken an die zwei »verschwundenen« Frauen am Abend.

Humbert war es, der ihn anrief, am Arme rüttelte. - Höchste Zeit! - John sah auf seine Uhr: 4.30. Vor den Fenstern stand noch die Nacht. Die Lampe an ihrer Kette über dem Tisch gab grelles Licht. John kam es vor. als habe sie gestern Abend nur mit halber Kraft geleuchtet. Er war nicht der letzte, der sein Bett verließ. Einer weigerte sich sogar, aufzustehen. - Eine Schinderei, sagte er. Und ein anderer: Mach doch was du willst, worauf der Liegende sofort aus dem Bett sprang.

Draußen war es kalt. John fröstelte. Seine Haut zog sich zusammen, sodass sich seine Brustwarzen am rauen Stoff des Baumwollhemdes schmerzhaft rieben. Die Finsternis verbarg den Verlauf des steinigen unebenen Weges, der voller Pfützen und Schlaglöcher war. In der Kantine gab es heißen Kaffee, den sie aus Keramiktöpfen tranken. Als John mit anderen die Kantine verließ, hatte sich Grau in die Nachtschwärze gemischt, die über den Hügeln stand. Und mit einem Mal befand er sich am Rande der östlichen Erhebung, die die rechte Flanke des Sperrwerkes bildete. Vor ihm, in der Tiefe, zog sich der Grund, die Sohle der mächtigen Anlage hin.

Dieser Grund oder Schacht war von zahllosen elektrischen Lampen erhellt, deren Licht die Erd- und Lehmschichten in einen rötlichen Schein tauchte. Das sieht ja aus wie ein Höllenpfuhl, dachte John. Jenseits des Grundes, der den künftigen Stauraum bilden würde, stieg die noch dicht bewaldete Westwand des Tales an, von felsigen Formationen durchsetzt. Eine dunkle Wand, die sich bis zum Grat des Berges hinzog.

Der Weg führte nun in steilen Windungen in die Tiefe. John wurde mit anderen Ankömmlingen vom Vorarbeiter, einem kräftigen Mann in brauner Cordhose, kariertem Hemd, schwarzem lockigem Haar und ernstem Gesicht, der Gruppe zugeteilt, in der auch Humbert arbeitete. Ihre Aufgabe war es, Lehm, der von flachbordigen Eisenbahnwaggons hergebracht worden war, auf Feldloren zu laden und zur Staumauer zu transportieren.

Sie schaufelten Lehm in ihre Lore, ein eisernes Gefährt mit hohem Bord. Der Lehm klebte an den Zinken der Grabschaufeln. Sie schlugen den Stiel der Schaufel, nachdem sie sie über die Kante der Lore gehoben hatten und umgedreht, auf den Rand, damit der Lehm abfiel. - Genug, sagte Humbert. Sie traten hinter die Lore, um sie mit gestreckten Armen und gebeugtem Oberkörper vor sich herzuschieben. Dabei mussten sie auf die Schwellen der Schienen achten, um nicht darüber zu stolpern. Plötzlich bekam die Lore Fahrt. John wollte sie zurückhalten, indem er sie an sich zog, doch sie riss ihn fort, sodass er sie loslassen musste. Indessen hatte Humbert einen starken Holzknüppel aus einer Halterung gehoben und vor die hinteren Räder geschoben. John hatte die Lore wieder erreicht, als Humbert ihm zurief: Schiebe! Jetzt müssen wir schieben, den Schwung nutzen, sonst rollt sie wieder zurück. - John sah nun, dass die Gleise der Feldbahn, die eben noch nach unten gerichtet waren, auf einer schiefen Ebene nach oben führten, bis sie aufhörten. Sie hielten die Lore an. Humbert zeigte John, wie man die Kippvorrichtung bedienen musste. Der Haufen Lehm, der nun neben den Gleisen lag, erschien John winzig im Vergleich zu der massigen Basis des Erddammes, der wiederum erst wenige Meter über dem Grund aufragte. Ein Förderband brachte den angelieferten Lehm nun auf die Kante des langsam wachsenden Dammes. John sah sich jetzt gewissermaßen dem »Kern« des Absperrwerkes gegenüber. Hier, so schien ihm, war auch die hellste Zone des Erdwerkes. Aber auch der seltsame, unerklärliche rötliche Schein war hier am deutlichsten ausgebildet. John glaubte für einen Augenblick, dass der Lehm oder die von schwarzem fruchtbaren Mutterboden befreite erdige Masse eine rötlich leuchtende Substanz enthielte. Was zu denken natürlich absurd war. Es entstand der Eindruck, dass, wie man in zunehmender Tiefe wachsende Temperaturen kennt, hier, im Zentrum dieser Anlage ihre Leuchtkraft zunähme. So, als näherte man sich dem Inneren einer ungeheuerlichen Höhle oder befände sich bereits darin. In diesem Licht herrschte auch, wie es John vorkam, eine seltsame Entpersönlichung aller Menschen und Dinge. Die Bewegungen der Arbeitenden wirkten eingelernt, glichen mechanischen Abläufen; ihre Kleidung, sonst bunt, erschien dunkel, ohne Binnenzeichnung. Reden und Rufe waren wie Kommandos. Nur auf den Gesichtern spiegelte sich der rötliche Schein. Man hörte das Quietschen der Feldbahnen, ihr Holpern, wenn sie über Stöße fuhren. Dazwischen ragte, wie eine Statue, die Silhouette eines Ingenieurs oder Bauleiters auf, der, in der Stellung eines mit allen Sinnen Horchenden, den Fortgang des Baues zu verfolgen schien. Das alles unter einem Himmel, der mit Sternen bedeckt war und über dem Bau ein tintiges Blau zeigte, das schon ins Kobaltfarbene überging. John, durch die ungewohnte Anstrengung und Schlafmangel überreizt, fühlte sich gestimmt, die Wirklichkeit des Bergwerkes mit unwirklichen, traumähnlichen Einbildungen zu vermischen. - Was ist wirklich, sagte er zu Humbert. dass wir hier arbeiten, natürlich, aber was bedeutet das für mich, für dich; was empfindet man, hier unten, dem Schoß der Erde nahe. - Los, träume nicht herum. - Sie brachten ihre Lore auf eine Drehscheibe, um sie dann auf einem zweiten Gleis zum »Mutterberg« zurückzuführen, wo sie sie von Neuem beluden. Einmal sprang die gefüllte Lore aus den Schienen und kippte um. Da kam auch schon die nächste Lore. Mit Mühe konnte sie angehalten werden. Ihre Besatzung, es waren zwei der Tarockspieler von gestern Abend, kam zu helfen. Zu viert leerten sie das Behältnis, hoben das Gefährt wieder auf die Schienen. - Man merkt, dass du dein Lebtag keine Schaufel angefasst hast, sagte einer der Spieler. - Deshalb denkt er sich auch alles hier unwirklich, sagte Humbert spöttisch.

Es war hell! Mit einem Male war das rötliche Licht verschwunden. Der Himmel hellgrau und blau, die Sterne verblasst. Die Sonne, hinter dem östlichen Hügel aufgestiegen, hatte die Region um die Staumauer ins Sandfarbene versetzt. Die Kleidung der Arbeiter, wieder bunt, Cord. Baumwolle wieder als Material erkennbar, die Gesichter fleischfarben in den verschiedensten Nuancen. Ihre Lore stand schon auf dem Gleis, als Humbert John anrief. Er solle sich einmal die Personen am Hang ansehen, der sich vom Rand der Grube emporzog. John sah zwischen den Stümpfen abgeholzter Bäume Arbeitende, die Hacken schwangen und auf den Boden schlugen. Er sah sie von hinten und hatte den Eindruck, sie glichen den beiden Frauen, die er am Abend seiner Ankunft auf dem Weg zur Baracke glaubte gesehen zu haben. - Ja, sagte Humbert, der die Verblüffung in Johns Miene wahrgenommen hatte, es sind Frauen, Mädchen. - Mädchen? hier, mit Hacken? - Sie heben den Mutterboden ab, bringen ihn weg. Dort wird später die östliche Wand des Speicherbeckens sein. - Und wo wohnen sie? - In einer Baracke hinter der Kantine. - Gibt es ... Kontakte, fragte John zögernd. - Natürlich, sagte Humbert. stieß die Grabschaufel in den Lehm. John beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Auch jetzt am Tage, im Sonnenlicht fiel ihm diese Ähnlichkeit Humberts mit sich selbst, John, auf. Wiederum, ähnlich konnte man es nicht nennen. Ähnlichkeit bedeutet ja auch nur teilweise Übereinstimmung. Worin stimmten ihre Gesichtszüge überein. Die Bögen der Brauen, der Winkel des Augenschnitts? Der Mund! Ja, der Mund wäre austauschbar. Die Einkerbung der Oberlippe unter der Nase, der Lippenschwung. Unwillkürlich stellte er sich vor, was eine Frau empfände, würde sie von Humbert'schen Lippen geküsst. Schlösse sie dann die Augen und John küsste sie, würde sie einen Unterschied fühlen? Schweiß war ihm in die Augen geraten. Er bewegte heftig den Kopf, um den obskuren Gedanken zusammen mit dem Ausgeschwitzten abzuschütteln. Er beschleunigte den Rhythmus seiner Schaufelwürfe, kam ins Keuchen. Da sagte Humbert, es sei besser gleichmäßig, aber ausdauernd zu arbeiten, als mal schnell und dann wieder vor sich hinzustarren.

Habt ihr sie schon geküsst, fragte John. Humberts Bemerkung überhörend. Man hat, sagte Humbert und sah ihn an, den Stiel seiner Schaufel auf der Lorenkante absetzend.

Sie schoben die Lore an. - Wie lange bist du schon hier, fragte John. - Ein paar Wochen, seit März. - John sah nach unten, um nicht wieder über eine Schwelle oder einen Stein zu stolpern, der mitunter auf den Schienen lag. - Und warum überhaupt? - Was hast du gesagt, rief Humbert. - Der Grund, warum du hier bist. - Um Geld zu machen. Glaubst du, irgendjemand ist verrückt danach, an einer Talsperre zu werkeln. Von einigen Idealisten abgesehen. Und was ist dein Grund? - Ich habe Schulden. - Humbert lachte. Da bist du gar nicht freiwillig hier. - John schwieg.

Die erste Schicht war zu Ende. Nach dem Essen in der Kantine sagte Humbert, du redest von Schulden. Wie wäre es mit einer zweiten Schicht. Oder bist du zu schlapp dazu. - Was, bis 10.00 Uhr abends? - Nein, ich kenne den Vorarbeiter. Er verschafft uns eine Arbeit, die für jeden mit 8 Stunden zu Buche schlägt, gleich, wie viel Zeit wir dazu benötigen. Dabei ist er, glaube ich, großzügig. Er lässt uns zum Beispiel einen Waggon Lehm abladen. Das schafft man zu zweit in 4 Stunden. Gutgeschrieben wird aber jedem das Doppelte.

John nickte. Es ist gut. Er kommt mit. Dabei fällt es ihm nicht leicht. Sein Körper schmerzt, wenn er geht, sich bückt, einen Arm winkelt. Das sagt er nicht. Leugnet es vor sich selbst. Außerdem weiß er, was Training bewirkt. Man kann alles trainieren. Vor allem seinen Willen. Nachgeben oder Widerstehen. Er will widerstehen.

Der Vorarbeiter schien Humberts Arbeitseifer zu schätzen. Sah ihn anerkennend an. John hatte Teil an dem Lob, obwohl der Blick des Poliers ihn nur streifte. Der Gleisanschluss der Reichsbahn reichte bis zu einer ehemaligen Ziegelei, die jetzt stillgelegt worden war. - Da, der Niederflurwagen! er zeigte mit der Hand hin. Ihr bekommt jeder 8 Stunden. Meldet mir, wenn ihr fertig seid.

Die Arbeit war leichter, als John erwartet hatte. Die Borde des Niederflurers waren niedrig. Sie konnten den Lehm leicht herauswerfen. Nur die Sonne machte ihnen zu schaffen.

Von ihrem Standort aus hatten sie einen Blick auf die Staumauer. Es gab keinen rötlichen Schein mehr über der Grube. Die Hänge zeigten im Sonnenweiß staubiges Grün. Der schon abgetragene Mutterboden hatte fleckige Flächen freigelegt, die dem Hang das Aussehen eines feilkranken Tieres gaben. Eine Häutung hatte stattgefunden. Humbert hatte aufgehört zu schaufeln. Er blickte nach der Sperre. - Der Bach, sagte er sinnend, den man aufstauen will. Es ist ein reißender Bach. Er hat ziemliches Gefälle. Ich war an seinem Bett. In der alten Landschaft. Grüne Ufer, farnbestanden. Königskerzen. Kuhschellen. Adonisröschen. Ich habe auf einem umgestürzten Baum gesessen. Von Insekten umgeben, die ich besser hören als sehen konnte. Ein Raunen, Rauschen, als leide ich an Ohrgeräuschen. Sonnengesprenkel. Steine, von der Sonne aufgeheizt. Von Eidechsen besetzt. Ich kam mir vor, als sei ich wieder ein Kind. Eigentümliches Gefühl, eine Landschaft zum Anfassen, im natürlichen Rhythmus. Gewissermaßen Leben per sé. Funktionierend ohne Plan. Sich immer wieder herstellend aus sich selbst heraus. Das macht ehrfürchtig. - Er stieß leicht mit dem Schuh gegen die Schaufel: Nun gut. Es wird verschwinden, dieses Paradies. Es wird abgesäuft werden. In Kürze. Für einen höheren Zweck. Ach Gott, wir kennen die Litanei. Was bleibt uns, als Welt zu verbrauchen. Sehen wir das Ergebnis unserer Arbeit. - Er schlug mit ausgebreiteter Hand auf die Kuppe des Schaufelstiels: Eine neue Formung. Den stürzenden, unbewehrten Bach in einen ruhigen tiefen See verwandeln. Das gibt uns das Gefühl von Macht. Menschlicher Gestaltungswille gegen die planlosen Prozesse, zufälligen Ergebnisse mechanischer Kräfte, die doch blindlings wirken. Er sagte es geringschätzig. - Ein kleiner Gott also, sagte John spöttisch. Ich denke, du bist wegen des Geldes hier. - Der Mensch tut, was er tut, doch nicht aus einem einzigen Grunde, dazu ist er viel zu kompliziert. Dass er dazu neigt, für seine Handlungen immer nur einen Grund zu nennen, ein Ziel anzugeben, muss man nicht so ernst nehmen.

John hatte bisher keine Gelegenheit, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu erproben. Er war ein guter Speerwerfer, hatte schon große Flüsse durchschwommen. Der Mannschaft seiner Klasse war er als tüchtiger Volleyballspieler bekannt. Er war 177 Zentimeter groß. Insgeheim wäre er gern größer gewesen und von beträchtlicherer körperlicher Kraft. In Humbert sah er den Stärkeren. Humberts plastisch geformte Muskulatur entsprach Abbildungen aus Illustrierten. Ein Krauler: Wassertropfen sprühten und sprangen von den gespannten harten Muskeln an Schultern und Armen. Das kantige Gesicht. Kantig, Das war das Wort. Kantig wirkte die Silhouette von Humbert, wie er jetzt gegen den staubbraunen Hintergrund des Stauwerkes stand. Das Kinn gereckt, den Kopf etwas nach hinten gekippt, den Blick nach oben gerichtet, als fanden seine Augen ein Ziel, einen Gegenstand in der hitzeflirrenden Luft, etwas jedenfalls, was John nicht sah, nicht sehen konnte.

Kantig. Aber auch entfleischt, skelettiert, wie es John bei sich nannte. Allzu unverhüllt. Kraft pur. Roh. Ja, roh wirkten die athletischen Körper. Das sollte natürlich nicht heißen, dass John und seinesgleichen im Körperlichen weniger Kraft besaßen. Aber, vielleicht doch weniger? Zweifel blieben. Keine Zweifel selbstverständlich darüber, dass ein Schluss von der herkulischen Gestaltung Humbertscher Individuen auf ihre geistige Potenz unzulässig sei. John war eher bereit, das Gegenteil anzunehmen. Wohl noch im Nachgang zu seinen Gedanken über Muskelkraft und Geist sagte er jetzt zu Humbert, dass er hoffe, immatrikuliert zu werden. - Weißt du, wie lange das dauern kann, bis man etwas erfährt? - Nein, sagte Humbert und schaufelte weiter. - Und was willst du studieren? - Ich studiere schon. - Ach. - Malerei und Grafik. Übrigens auch Philosophie. - Zwei Fakultäten. Geht denn das? - Ich muss mich entscheiden. Das Prorektorat verlangt es. - Was wirst du machen? - Etwas ganz anderes. - John hörte auf zu arbeiten, kreuzte die Arme über den Stiel der Schaufel, sah Humbert an. - Medizin, sagte der. - Ich auch! - Es klang wie ein Ruf. Da werden wir uns wiedersehen, zusammen bleiben. John war plötzlich voller Freude. Auch Humbert freute sich. - Wenn meine Umschreibung klappt, sagte er, und du angenommen bist. - Aber warum wolltest du erst Maler werden? - Medizin ist auch eine Kunst, Humbert lachte. Heilkunst. - So gesehen, ist jeder Beruf Kunst. - Du fragst mich, hast du dich befragt, warum gerade Medizin? - Einen einzigen Grund kann ich nicht nennen, sagte John. In Wahrheit will ich den Menschen studieren. In keinem anderen Fach ist der lebendige Mensch Gegenstand des Studiums. Das reizt mich. - Ich sehe die praktische Seite, sagte Humbert, Medizin ist ein intelligentes Handwerk. Bisher habe ich Pinsel und Griffel gebraucht, um etwas zu formen, künftig benutze ich Skalpell, Nadel und Faden, um verunstaltete oder beschädigte Formen wieder herzustellen. Das ist für mich auch ein ästhetischer Vorgang, wie bei der Malerei. - Da werden wir jedenfalls keine Konkurrenten sein. - Für mich das Funktionelle, die Physiologie; für dich das Gestaltete, Anatomie, Pathologie.

Humbert drehte die Schaufel um, um den Rest des Lehms zusammenzukratzen. Ein Geräusch entstand, dass John nicht ertragen konnte. Blech auf Blech. Er wollte die Hände gegen die Ohren pressen. Mit Anstrengung unterließ er es. Man kann sich gewöhnen. Gewöhne dich! Humbert redete, während er den Lehm zusammen kratzte. - Ich kann dich kaum verstehen!

Der Vorarbeiter erschien, um zu sehen, wie weit sie gekommen sind. - Heute hat es lange gedauert, sagte er tadelnd. Die Reichsbahn lässt sich die Standzeiten der Waggons nämlich teuer bezahlen.

Auf dem Weg zur Baracke sagte Humbert, als setzte er Johns Betrachtungen fort: Es ist ein Kreuz, sich entscheiden zu müssen. Am Anfang heißt es, du hättest unendliche Möglichkeiten. Alles kannst du werden. Und du glaubst es. Weil du bewusst lebst, hast du Vorlieben bei dir entdeckt. Ich zum Beispiel zeichnete viel, sang gerne und dachte nach über die Welt. Ich habe wie ein Schwamm tausend Poren. In jeder versteckt sich der Keim eines Wunsches. Jedenfalls, mit getroffener Wahl, mit der Entscheidung für eine Sache schnitt ich den Faden aller anderen Wünsche, weiterer Möglichkeiten ab. Entscheidest du dich für eine Frau, sind dir die anderen versagt. Beschließt du, in den Kaukasus zu reisen, kannst du nicht gleichzeitig in Sardinien sein. - Aber nacheinander. - Ja, nacheinander. Das ist es wohl. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich, bevor es zu spät ist, noch einmal das Fach wechsle. Man sollte überhaupt wandlungsfähig bleiben.

John hatte angestrengt gearbeitet. Anstatt hungrig zu sein, war ihm übel. Er sah flüchtig auf die Tarock-Spieler. Einer von ihnen, mittelgroß, mit harten schmalen Lippen, trug, wie immer, ein dunkles kragenloses Hemd mit kurzen Ärmeln, eine Cordhose, die ein breiter geflochtener Ledergürtel über den Hüften zusammenhielt. Er war es, der seine beiden Mitspieler am Dreieckstisch zusammenbrachte. Und, wie jeden Abend, mit dem Rücken zum Fenster, die Disputierer. Einer hielt irgendeine Rede. - Man müsse Nachsicht üben, sagte er jetzt. - Das gerade fände er nicht, verkündete ein anderer. Verantworten müsse einer, was er tut und sagt. - John hörte die Reden, als wäre ein Pfropf in seinem Ohr, oder als befinde er sich in einem Raum, dessen Wände dicke Polster trugen, schallschluckendes Material. Der Eiferer, er fand, der zuletzt gesprochen hatte, sei ein Eiferer, rief noch einmal: Verantworten, wobei er das Wort in Silben zerlegte, um seine Bedeutung zu steigern. John klopfte mit gekrümmten Fingern auf die Tischplatte. Eine Begrüßungsart unter Bauleuten, wie er inzwischen gelernt hatte. Gut auch, dass er auf diese Weise nichts zu sagen brauchte. Erlösend beinahe.

Offenbar war er, nachdem er sich ins Bett gelegt hatte, sofort eingeschlafen. Er hatte noch die Hosen an. Er begriff nicht, dass tiefe Nacht war. Eben hatte er doch noch gehört, wie der in der waldgrünen Joppe, Morenz hieß er, etwas über die Notwendigkeit von Zeitnutzung gesagt hatte: Besonders in unseren Jahren! Und eben noch hatte einer der Tarock-Spieler den Oberkörper zurückgeworfen, die Augen zur Decke, mit Fäusten vor sich auf die Tischplatte geschlagen. Das bumsende Geräusch hatte er doch noch im Ohr. Ohne Zweifel, das Geräusch war noch da: mal stärker, mal schwächer. Er drehte den Kopf zur Seite, wollte aufstehen. Die Hose ausziehen. Schon hingen seine Beine über der Bettkante. Da sah er die Bewegungen im benachbarten Unterbett. Die in einem karierten Bezug steckende Decke bewegte sich. Aufbäumend, zuckend. Am Kopfende Haare wie Drahtgeflechte. Gesichtslos. Nur Tuch und Haare. Wie eine riesige Qualle. Und das schlagende Knarren, sonst kein Laut. John legte sich wieder hin. Er konnte sich nicht gut danebenstellen und seine Hose ausziehen. Eine Weile lag er starr, bis er merkte, dass er den Atem anhielt. Zog dann seine Hose im Liegen aus. Ein Gefühl, als seien seine Leisten geschwollen. Ein einschießender Drang. Dass die sich das erlaubten. Inmitten der anderen. Wie sie bloß hereingekommen ist. Sein Rücken schmerzte. Das Geräusch war nicht mehr deutlich zu hören. Er hielt wieder den Atem an. Nichts zu hören. Da, ein dumpfes Plumpsen. Im trüben Schein der Türlaterne sah er einen huschenden Schatten. Eine Katze! Das war eine Katze. Er blickte vorsichtig in das Unterbett. Sah gerade noch, wie jemand aus dem Bett glitt. Dann den Rücken einer sich bückenden Frau. Wahrscheinlich zog sie sich die Schuhe an. Sie war bekleidet, strich ihren Rock glatt. Er war zum Ersticken enttäuscht. Gehörte ihr die Katze? Hat sie sie mitgebracht, um, falls sie entdeckt würde, behaupten zu können, sie hätte ihre Katze gesucht. Was ging ihn das schließlich an.

Am folgenden Abend fühlte er sich nicht so geschwächt wie gestern, wo die Erschöpfung auch seine Fühlfähigkeit beeinträchtigt hatte und keinen Gedanken fassen ließ. Er hatte Humbert nichts von dem nächtlichen Vorfall erzählt. Er wollte sich in keiner Richtung erklären, auch nicht für albern gelten, dass er dergleichen überhaupt erwähnenswert fände.

Er lag in Kleidern auf seinem Bett und las. Nach einem bestimmten Lesepensum pflegte er den Blick vom Buch zu nehmen, und das Gelesene zu überdenken. Das tat er auch jetzt und war von dem, was er am Tisch sah, höchst irritiert. Neben einem Hocker zwischen Tür und Tisch stand ein nackter Mann, der sich wusch. Es war einer der Disputierer. Seine Haut war bleichweiß. Er wirkte durch das seitlich vom Fenster her einfallende Licht besonders plastisch. Gewissermaßen geteilt in eine etwas hellere, schimmernde Hälfte und eine mehr graue, glanzlose, die im Schatten lag. Auf dem Hocker stand eine weiße Emailleschüssel voller Wasser, das, zum Teil verschüttet, auf dem gedielten, schwärzlichen Fußboden dunkle Lachen gebildet hatte. Der Manu hatte sich ausgiebig benetzt. Fuhr sich mit einem Waschlappen, den er häufig in die Schüssel tauchte, über den Leib, wobei Spritzer und ganze Güsse um ihn herum förmlich regneten. Jetzt griff er nach einem Stück Seife und begann sich damit einzureiben. Worauf er, diesmal mit zur Höhle geformten Händen, Wasser schöpfte und die Schicht der Seife damit zum Schäumen brachte. Aus der Ferne sah sein Körper nun aus, wie mit Flaum bedeckt. Nach Gesicht, Ohren, Achseln, Bauch nahm er, wie es John schien, mit besonderer Sorgfalt sein Gemächt vor. Der auch jetzt in seine grüne Joppe gekleidete Morenz, der gern die Rolle eines Arbeiter elgantiarum spielte, sagte einen missbilligenden Satz zu dem Eingeschäumten, worauf dieser mit heller Stimme ausrief, das sei sein Glied, damit mache er, was er wolle. Die Art des Mannes hatte nichts Provozierendes. John hatte eher die Empfindung, einer feierlichen Handlung beizuwohnen; einer »Reinigung« im religiösen Sinn. Purgatio. Das Wort bedeutete auch Rechtfertigung. Gerechtfertigt das So-Seiende. Vielleicht bereitet sich dieser Mann vor für die kommende Nacht.

2. Kapitel

Das Haus, in dem die Frauen wohnten, war keine Baracke, wie Humbert, wohl einen Slogan gebrauchend, gesagt hatte. In Wahrheit war es ein ehemaliges Herrenhaus. Seine Fassade bestand aus Klinkersteinen, die mit einem grünen Material verfugt waren. Die Gesimse der Fenster aus beigefarbenem Sandstein. Der Eingang als Tor gefügt. Links und rechts des Portals standen Figuren aus Porphyr, die nicht eindeutig bestimmbare Tier- oder Sagengestalten darstellten. Im linken Teil des Erdgeschosses war die Küche untergebracht. Einen Schlafsaal gab es nicht. Die Mädchen schliefen in Zimmern des Hauses. Im allgemeinen befanden sich in jedem der unterschiedlich großen Räume drei Betten. Eisengestelle sollten sie haben, hatte John sagen hören.

Das Haus war umgeben von einem ehemaligen Park, von dem nur noch einige Buchen und Eiben übrig geblieben waren und die verrosteten Reste eines übermannshohen Ziergitters. Vor ihm wuchsen drei Fichten.

Der Sonntag war arbeitsfrei. Sonderschichten aber wären möglich gewesen. Humbert hatte noch versucht, John zu überreden. Doch John verweigerte sich. In der Frühe schon verließ er das Lager. Er wollte das Land sehen, in dem er jetzt lebte. Das Gebirge. Die Natur war sein Tempel, in dem er sich sammeln, über sich nachdenken konnte. In ihm wirkten die Erlebnisse des Arbeits- und Lagerlebens. Seine Sinne waren damit belastet, nicht mehr frei. Er war wie ein in Gang gesetztes Pendel, das, nach einer Richtung gelenkt, nun in die Gegenrichtung zurückschwingen musste.

Er folgte einem Pfad, der aus dem Talkessel heraus, durch Wiesen in einen dichten Wald führte. Der Anstieg hatte ihn erhitzt. Aus der Sonne in die Schattenwelt des Waldes gelangt, erschien ihm dieser dunkler, als er in Wirklichkeit war. Seine Sinne waren unwillkürlich angespannt. Knacken im Unterholz und das Rascheln zwischen Farnen veranlassten ihn, stehen zu bleiben. Zwischen Stämmen und Gräsern vermeinte er Tiere wahrzunehmen oder von ihnen bewegte Pflanzen. Doch da war nichts. Im Weitergehen kamen wieder die Vorkommnisse der letzten Nächte vor Augen. Im Helldunkel des Waldes, seinem Licht- und Schattengesprenkel bildeten sich die erlebten Szenen in seiner Fantasie weiter aus. In einem Strahlenbündel der Sonne plötzlich aufleuchtende Ruten, gebuchtete und knorpelige Wölbungen an Gehölzen, bemooste Steine, die violetten Farben eines Feldes voller Nachtschattengewächse, Veronica spicata. John nahm den Geruch des Waldbodens auf, atmete den in der stickigen Wanne verdunstenden Tau. Ihm war, als ginge er in einer Traumwelt.

Der dumpfe Klang seiner Schritte auf dem Fußpfad, helles Klirren, wenn er einen Stein wegstieß. Gesumme von Insekten als Grundton wie ein ewiges Raunen, darin das Surren einer Hummel, die an seinem Ohr vorbeiflog, das Zirpen von Grashüpfern. Das Ensemble der Geräusche untermalte seine Einbildungen, die ihm halbe Sätze und Ausrufe entlockten. Er denkt, und sieht so: Frauenkörper in verschiedenen Stellungen; gewölbte Hüften, Brüste. Pflanzen und Hölzer leihen ihm ihre verwechselbaren Wuchsformen als Material; helfen ihm, seine eingebildeten Geschöpfe aus den realen Formen der Natur zu bilden.

Wolllust schießt in ihm auf wie die Flamme aus einem trockenen Strohhaufen. Er fühlt sich schwer von Lust. Will hinsinken. Mit seinem Körper Gräser und Erde bedecken. Der Duft der sonnenwarmen Erde assoziiert die Gerüche von Leibern. Die Laute verstärken sich. Vielmehr ein neuer Ton kommt hinzu. Hebt sich aus dem Gemurmel des Waldes. Ein Plätschern, rinnendes Rauschen. Und fast wäre er hineingestolpert. In einem schmalen Tal schäumt ein rasch fließender Bach. Seine Ufer sind abschüssig. Er fließt abwärts, einem Grunde zu. Offenbar befindet sich John weit weg und oberhalb der Sperre. Es ist die Warre.

Seine ihn umtreibenden, Blut erhitzenden Fantasien! Der Brand der Sonne auf der Haut. John rutscht die Böschung hinab. Gerät mit einem Fuß ins Wasser. Der kiesige Grund des Fließes schimmert durch das klare perlende Wasser, dessen Oberfläche in der Strömung kleine Wirbel bildet. Er nimmt den Fuß zurück, zieht Schuhe und Strümpfe aus, Hemd und Hosen, wobei sich der Slip an ihm verhakt. Das Wasser ist eisig. Er legt sich bäuchlings hinein. Der Kälteschock lässt ihm den Atem stocken. Instinktiv will er ans Ufer. Zwingt sich unter die Wirkung des eisigen Fließes. Bis er vor Frost zittert. Er steigt aus dem Bach. Wandert weiter. Mit beruhigten Sinnen. An nichts denkend. Da endet der Wald. Er hat die Wand der nördlichen Schlucht erreicht. Vor seinen Blicken tiefer gelegenes Land. Ein Meer von Gipfeln. Wie die Speerspitzen eines Kriegsheeres. Der Abgrund ist nicht durchgängig steil. An seinen Rändern weicht der Wald nach beiden Seiten zurück. Wie sich öffnende Schenkel, ln der Mitte zwischen ihnen, in etwa 30 Meter Tiefe, eine Felskuppe, deren Oberfläche mit Moosen und Gräsern bedeckt ist. Und: Da war doch ein Körper! Ein menschengroßer heller Körper inmitten der Pflanzen. John hockte sich an den Rand des Abhangs, beschattete seine Augen. Das Bild des hellen Körpers hatte ihn mit einem Schlage wieder in wilde Unruhe versetzt. Er fühlte sich wie von Flammen umlodert. Das war doch eine Frau! Bewegte sie sich nicht auch? Spürte er die Folgen eines Sonnenschadens in seinem Kopf? Nein. »Sie« war gekommen. Lag ihm im Wortsinn zu Füßen. Nicht ihm, dem Himmel. Badete sich in Luft. Das Bild blieb seltsam ungenau. Körperlinien, die sich zu Beinen, Bauch hätten formen müssen, verzweigten sich, waren unterbrochen, ineinander geflochten. Wer weiß, was er da sah und für eine Frau hielt. Er schüttelte den Kopf, wie man Wassertropfen abschüttelt. Aber nicht, um in dem flimmernden Licht die Konturen der Erscheinung besser erkennen zu können, er wollte sie eher verkennen. Ein Mädchen zu sehen, hatte er gehofft. Es musste ein Mädchen sein. Mit fahler Haut, üppigen Formen. John kniff die Lider so, bis ihm das Bild in Teile zerfiel, die seinen Vorstellungen, Wünschen dienten. Er kniete sich auf, senkte seinen Blick über die eingebildete Gestalt auf der Felskuppe. Fasste sich an. Heftig. Bis es ihn kochend durchzuckte und er wie erlöst mit gekrümmtem Rücken nach vorn kippte. Danach fühlte er sich, wie immer nach solchen Prozeduren, miserabel. Ein Gefühl aus Scham und Selbstverspottung machte ihm den Kopf dumpf. Der Körper auf dem felsigen Vorsprung hatte seine Lage nicht verändert. John, nicht mehr von Fantasien erhitzt, konnte an der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstandes nicht mehr zweifeln. Es war ein vom Wind zerzauster und geformter Heuhaufen, von einem schwarzen Band umschlungen und vielfach gegliedert. John sah an sich herab. Würde aus dieser Tat eine Frucht der Mandragora wachsen? Mit grünlich gelben Blüten, gelben runden Beeren. Zauberkräftig. Ihre Ingredienzien könnten gleich denen der Tollkirsche wohl einen Rausch hervorrufen. Eine Trübung des Bewusstseins, der Wahrnehmung. Könnten eine Sinnestäuschung bewirken, wie sie ihm soeben widerfahren war. Besonders, wenn die Bereitschaft eines Herzens, sich in einen Rausch versetzen zu lassen, der Wirkung der Droge entgegenkommt. Hatte er unterwegs womöglich von solchen Beeren genascht?

Der Rückweg dauerte länger, als John erwartet hatte. Es war ihm, als wären es bis zu dem Bach nur wenige Schritte gewesen. Und vom Bach zum Waldrand nur ein Katzensprung. Jetzt dehnte sich der Weg. Den Bach hatte er offenbar verfehlt. Vielleicht den richtigen Rückweg überhaupt. Die Sonne sank. Nachtkühle kam auf. Da merkte er plötzlich, dass vor ihm auf dem bislang dunklen Pfad, den er eher mit den Füßen ertastet, als gesehen hatte, ein Schatten auf dem hell gewordenen Grund erschien. Es war sein eigener Schatten, wie er nach flüchtigem Erschrecken feststellte. Zurückblickend, sah er einen außergewöhnlich großen rötlichen Mond zwischen den nachtschwarzen Zweigen und Blättern der Bäume, die im Gegenlicht eine Vielzahl geometrischer Strukturen, grafischer Zeichen bildeten. Deutbar als symbolische Konfigurationen, sibyllinische Kürzel. In Wahrheit nur eine ständige Verschiebung der Sehebenen während des Gehens. Sein Schatten wurde kürzer und schärfer. Der Mond war höher gestiegen, hatte seine rötliche Färbung verloren. Und wieder unerwartet, John hatte sich schon mit der schieren Endlosigkeit des Weges abgefunden, da hatte er den Waldrand erreicht, der eine Lichtung begrenzte: eine abfallende Wiese, wie John nun sah. Und: Vor ihm lag das Lager wie in Scheinwerferlicht getaucht. Der Mond, eine gleißende Scheibe, schien durch die Intensität seiner Strahlkraft vorgewölbt, zur Kugel geworden, die er ja auch war. John, der sich, erstaunt über die ungewöhnliche Helligkeit des Trabanten, umgedreht hatte, um ihn zu betrachten, wurde geblendet wie sonst nur von der Sonne. Alle Sternbilder im Umkreis des Mondes waren infolge der abgestrahlten Helligkeit wie ausgelöscht.

Er klinkt die angeschienene Tür, deren Bestandteile in diesem Licht wie vergrößert erscheinen: Das Schlüsselloch, die Klinke, die Wetterleiste, die sechs Quadrate der Füllung; jedes einzelne wiederum eingeleistet. Da sieht er die Katze mit den weißen Pfoten, ihre Barthaare wie beschneit. Sie sieht zu ihm auf, streicht an seinen Beinen entlang, windet sich zwischen seinen Knöcheln. Er muss achtgeben, sie nicht zu treten.

Die anderen haben gerade ihre üblichen Beschäftigungen beendet, bereiten sich vor, zur Nacht. - N'Abend, sagt er. Sie blicken ihn an, flüchtig. Es ist, als sprächen sie seinen Gruß nach. Morenz, den Kragen seiner grünen Joppe hochgeschlagen, als käme er aus der Kälte, hat vor dem Fenster gesessen, das sie geöffnet haben. Morenz also gibt ihm jetzt einen Briefumschlag. Er ist unbeschrieben. Ein weißer rechteckiger Umschlag. - Den hat wohl die Katze gebracht? - Welche Katze. - Na, die manchmal hier ist. - Ich habe noch nie eine Katze gesehen. Eines der Mädchen hat ihn mir gegeben. - Woher weiß sie denn, wie ich heiße. - Was weiß ich. Sie weiß es eben. - Vielleicht arbeitet sie in der Lohnbuchhaltung, so ein Tarockspieler. Er lacht meckernd. - Aber vielleicht meint sie mich gar nicht? Hat mich verwechselt. - Die verwechseln uns nicht. - Womöglich sollst du getauft werden: wieder der Spieler. - Oder bist du's schon. John blickte nach Humbert, der ihn ansah, als wollte er herausfinden, welche Antwort John geben würde. - Getauft, sagte John schließlich, nein, das bin ich nicht. - Das dachten wir uns, sagte Morenz. - Ihr steckt wohl alle unter einer Decke. John sagte es abweisend, um seine Verblüffung zu überspielen. - Unter einer Decke, rief der zweite Spieler lachend, du hast’s erfasst. John öffnete den Umschlag. Er enthielt eine Karte mit einem Pflanzenmotiv. Eine Wurzel war abgebildet. Vielmehr, mehrere Wurzeln, von weißlicher Farbe, fleischfarben, könnte man sagen, die sich in- und umeinander verschlungen hatten. Sie waren rettichartig gestaltet. Gehörten zu einem Strunk aus Stielen mit Blättern und Beeren. Gelben. John starrte die Karte aus dünner Pappe an, von einem plötzlichen Erkennen übermannt. Was er sah, war doch ganz und gar unwahrscheinlich. Gegen alles Denkbare, jede Logik. Er hatte das Bild einer Alraunenwurzel vor sich. Seine Rückenhaut zog sich förmlich zusammen. Er kam sich wie entblößt vor. Konnte jemand um seine Gedanken wissen. Gar voraussehen, was ihm auf seinem Gang zum Abgrund widerfahren war? Was sollten die Fragen über Taufe und das Gelächter bei der Feststellung, sie steckten alle unter einer Decke? Du meine Güte, was er bloß zusammendachte. Das Bild. Es war ein Zufall. Wie alles im Grunde Zufall ist, obwohl man es Vorsehung nennt, Planung auch, Vorausschau.

John war mit dem Brief in der Hand vor die Tür der Baracke gegangen. Das Licht drinnen war einfach zu dunkel, um eine unbekannte, womöglich schwer leserliche Schrift zu entziffern. Da merkte er, dass die Karte gefaltet war, sich aufklappen ließ. Eine Skizze war aufgezeichnet. Der Grundriss eines Hauses mit seinen Zimmerfluchten. Davor, perspektivisch als Aufriss, drei markante Bäume. Fichten oder Tannen vor einem Gitter. Als zöge jemand einen Vorhang beiseite, begriff John, dass das Haus gemeint war, in dem die Mädchen wohnten. Die Baumgruppe war ihm aufgefallen und im Gedächtnis geblieben.

Unter den Zimmern war keines mit einer Kennung versehen. Keines hatte ein Zeichen, ein Kreuz, einen Pfeil oder sonst ein Symbol. Er hielt den Riss nahe vor Augen und wieder in der ausgestreckten Hand. Er blieb blass. Die Farbe der Tinte oder des Bleistifts, die der Schreiber oder die Schreiberin verwendet hatte, vermochte sich in der Mondgrelle nicht als Kontrast darzustellen, hatte vielmehr die Tendenz zur Assimilation mit dem Weiß des Papiers, auf das sie aufgetragen war. Seltsam, dass die Linien der Zeichnung und eine womöglich doch vorhandene Schrift kaum noch erkennbar waren. Wo man doch die weißen Barthaare einer Katze zählen könnte. Wo ist sie überhaupt hingegangen?

Er beschloss, sich so, wie er ging und stand, auf den Weg zu dem Haus zu machen. Bedenken, ob diese Stunde die rechte sei, falls die Botschaft überhaupt als Aufforderung zu einem Besuch zu verstehen wäre, tat er ab. Der Absender hätte dazu ein Wort sagen müssen. Wortlosigkeit ließ jede Deutung zu.

Er war auch schon nicht mehr Herr seiner Empfindungen. Es war ihm einen Augenblick lang zumute, als sei er gar nicht in der Baracke gewesen. Habe den Brief plötzlich in der Hand gehabt, die Botschaft empfangen. Ja, als habe jemand seinen Gang zum Abgrund verfolgt, seine Täuschung und seine Niederlage mit angesehen, und wolle ihm nun den Weg zu einem wirklichen Ziel weisen, anstatt zu einem inkarnierten Heuhaufen,

Der Weg zum ehemaligen Herrenhaus war abschüssig und vielfach gewunden. Dass er wie ein silberner Bach aussah, war wohl dem tonigen Untergrund geschuldet, der, im Tau genässt, diese helle Spiegelung hervorrief. Die Feuchte war wohl auch Ursache dafür, dass John zuletzt ins Rutschen und Schleudern geriet.

Da lag es. Das Haus. Von links her mit einem rötlichen Schein überzogen. Dieses Licht rührte wohl von den Lampen der Talsperre her, die noch auf große Entfernung sichtbar blieben. Das Gitter ohne Tor, die Gewände aus Porphyr schienen im Widerschein zu glühen. Die Haustür, die beiden Skulpturen, Fabelwesen aus Frosch und Gryphen, lagen im Dunkel. John lief, ohne seine Gangart zu verlangsamen. Er öffnete die unverschlossene Tür. Das Mondlicht flutete durch die Öffnung, ihm gewissermaßen nach, einen blinkenden Teppich bildend. Er stieg, dem Plan folgend, in den ersten Stock. Über Steintreppen, deren Kanten von häufigem Begehen ausgeschliffene Mulden aufwiesen, kam er in einen dielenbelegten Gang, den Lichtreste aus verschiedenen Quellen eher im Dunkeln ließen, als dass sie Orientierung zuließen. Die Reihen der Türen, gleichförmig und ohne irgendein Zeichen, der Skizze entsprechend. Keine stand offen, wenigstens einen Spalt breit. Und: eine dröhnende Stille. Herz im Halse! War er verraten worden. Was lauerte hinter den Türen: Spott, das Sich-unsagbar-lächerlich-Machen?

Er klinkte die erste Tür. Sie war verschlossen. Die zweite. Verschlossen.

Das war der Schlüssel. Das Unverschlossene! Die fünfte Tür ließ sich so leicht öffnen, dass John, der sich zunehmend heftiger gegen die Türen gestemmt hatte, beinahe in das Zimmer hineingestürzt wäre. Der Mond hatte seine Stellung in der abgelaufenen Zeit verändert, strahlte aber mit unverminderter Intensität durch das Fenster des Zimmers auf John, dass dieser, für einen Augenblick geblendet, nur undeutlich drei Betten wahrnahm. Er hielt sich die Hand vor die Augen und drehte sich langsam um die eigene Achse. Zwei der Betten standen je links und rechts neben der Tür, ein drittes unter dem Fenster.

Bevor er erkennen konnte, ob die Betten leer seien oder belegt, hörte er eine weibliche Stimme: Komm! setz dich zu mir. - Die Stimme kam aus dem linken Bett neben dem Eingang. Er ging darauf zu. Darin lag ein Mädchen. Es lächelte, hob das Deckbett mit beiden Händen an und schob es, John anblickend, langsam von sich weg. Er hockte sich vor sie hin, sah ihr ebenfalls ins Gesicht; sah aus den Augenwinkeln, wie sie ihren Körper immer mehr entblößte. Sie war nackt. - Keine Fragen, nicht wahr, sagte sie. Ich habe dich gerufen. Du bist gekommen. Das genügt. - Woher kennst du mich, fragte John doch. - Ich kenne dich nicht, ich will dich erst erkennen. Wir haben Boten, die sind verlässlich. - Wir? Fragte John wieder. - Du stellst schon die zweite Frage. Bist du gekommen, um mich zu. .. befragen? Ihr Ton war ironisch. Obwohl ihr Körper völlig reglos blieb, hatte es den Anschein, als wolle sie sich John entziehen, seinem Andrängen ausweichen. Er begriff, dass sie nicht glühte wie er, ja, dass sie auf den Versuch mit ihm eher neugierig war.

Scham. Hatte er Scham abzulegen zusammen mit seiner Hose? Er setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie hatte einen schönen Körper. Noch niemals hatte er ein Mädchen so gesehen. Diese Pracht! Und mit dem Jubel drängte sein Gefühl für den eigenen Körper auf einen einzigen Punkt hin, um sich gleichzeitig über seine Haut vom First bis zu den Zehen auszubreiten. Sein Atem ging stockend und stoßend, wurde hörbar. Als wäre er in eiskaltes Wasser gefallen oder hätte sich verbrüht. Ihr Gesicht, von dunklen Haaren gerahmt. Ein Ausdruck, als beobachte sie ihn nachdenklich. Der gewölbte Mund. Die zarten Linien der Schultern, Taille, Hüften. Der dunkeldichte Schoß, die geschwungenen Formen der Schenkel.

Da hob sie ihm die Arme entgegen. Er legte sich zu ihr. Es war als risse ein Damm. Berste ein übervolles Gefäß. Die Weichheit ihrer Glieder, ihres runden Bauches. Ihr Duft. Preisgabe. Wie sich sein Körper fühlend einfügte in den ihren, umfugt wurde. Spiel der Glieder. Der Zungen. Die Verschlingungen. Hebungen. Verbiegungen. Das Werfen des Kopfes. Die Urlaute dann und die aufreizenden Geräusche der Friktionen.

Wildheit. Ekstase. Die Veränderung ihrer Stimme ins Heißere, Schrille, dann wieder die dunklen Ach's und Du's. Ihre Forderung nach heftigeren Bewegungen, derberen Griffen. Und dass er auf sie warten solle.

Wenn eine Pflanze fühlen würde und ihre Gefühle benennen, könnte sie den Zustand beschreiben, in dem sie sich befindet, unmittelbar bevor ihre Knospen aufplatzen.

Mit einer verzweifelt-übermenschlichen Anstrengung stemmte John sich jetzt hoch, fiel dann auf den Leib des Mädchens. Den Nachhall seines unartikulierten Schreis noch in den Ohren. Er ruhte, den Kopf zwischen ihren Brüsten. Ihre Hand lag auf seinem Haar.

Die eingetretene Stille wirkte, als hielte der mondhelle Raum den Atem an.

Plötzlich fühlte John sich an der Schulter berührt, während die Hand seiner Partnerin auf seinem Haar unverrückt blieb. Diese fremde Hand strich über seinen Rücken, hielt eine Weile an seinen Lenden still, um dann über sein Gesäß zu fahren. John überkam ein Gefühl der Unwirklichkeit. Er verharrte in seiner Stellung, das Gleiten der Hand erfühlend, die jetzt seine Schenkel erreichte. Er versicherte sich, dass das Mädchen immer noch sein. Johns. Haar anfasste, ihren anderen Arm unbeweglich neben ihrem Körper hielt. Seine Wahrnehmungen mussten also Täuschungen sein. Nachwirkungen des überreizten, aufgeputschten Tastsinns seiner Haut. Er erwartete jeden Augenblick das Ende dieser offensichtlichen Halluzinationen. Gedankenloses Reden dachte er. Es wurde tatsächlich geredet. Aber nicht seine Partnerin sprach und beileibe nicht er selbst.

Da berührten ihn Lippen. Kein Zweifel. Dieser Raum barg weitere Personen. Mit einem Ruck und von einem leichten Schrecken durchzuckt, drehte John sich herum. Neben ihm stand ein anderes Mädchen; jenes, das ihn berührt hatte, und hinter ihm, im Gegenlicht des immer noch blendenden Mondes, sah er, den Schattenriss eines zweiten, vielmehr nun dritten Mädchens, Im gleichen Augenblick, als er sie bemerkte, setzte sich die zweite auf die Kante seines Bettes. - Rück' mal ein bisschen, sagte sie und versuchte, ihn zur Seite zu schieben; während seine bisherige Partnerin sich von ihm wegdrehte und im Begriff stand, das Bett freizugeben. Und mit dem Bett wohl auch ihn, John. Das zweite Mädchen trug ein Hemd aus derbem Stoff, das nicht einmal ihre Hüften bedeckte. Das dritte, inzwischen herangekommen, war unbekleidet. Es stellte sich an eine Seite des Bettes und beugte sich über ihn, bis ihre Brüste sein Gesicht berührten. Zugleich hatte sich die im Hemd rittlings auf seinen Schoß gesetzt, und ihre Knie berührten seine Flanken.

- Du warst gut, sagte eine von ihnen. Du kannst es auch mit uns treiben. Wenigstens mit einer, wenn du schon zu müde bist für alle beide. - Johns Kraft war noch nicht verbraucht. Seine erste Begegnung mit einer Frau, die erste Eruption, war die Reaktion auf ein Übermaß an angestauter Lust. In der kurzen Ruhephase hatte schon eine Art Sammlung stattgefunden, die neues Begehren erzeugte.

Die Reize der Mädchen überschwemmten seine Sinne. Er war wie geblendet. Der Anblick der gleichsam in den lustvollsten Posen vielfach gespiegelten Frauenkörper traf ihn wie Peitschenhiebe. Und es waren keine Spiegelbilder. Vielmehr Körper zum Anfassen, Zugreifen.

Die Sitzende bog jetzt den Kopf weit zurück, stützte sich mit den Händen auf seine Schenkel, stieß leise Rufe aus. gedehnte Vokale. Offensichtlich genoss sie den Mann John. Die über ihn gebeugt Stehende fasste nach Johns Hand, die sie an ihren Leib führte. Diese Hand, mit dem Intellekt der Lust begabt, wurde zur Sucherin und Finderin eines Körpers, der auf diese Weise gesucht und gefunden werden wollte. Indessen hatte Johns erste Partnerin sich hinter die Stehende gestellt und deren Brüste umfasst; sich dabei herabgebeugt zu John und seinen keuchenden Mund geküsst. Drei auf einmal, sagte sie in Pausen zwischen den Küssen, ist schwierig. - Nicht mehr, ich .... rief John und versuchte sich unter der Reiterin hinweg zu drehen. Doch sie hielt ihn mit ihren Schenkeln weiterhin fest. Schließlich ließ sie von ihm ab und vertauschte ihren Platz mit der Dritten - Nimm ihn dir, sagte sie, er funktioniert noch.

Alles, was sie sagten, sprachen sie mit leiser, weicher Stimme. Gewissermaßen in einem lauten Flüstern. Leicht und weich waren auch ihre Bewegungen, Körperbiegungen, die Windungen ihrer Leiber und Gliedmaßen.

Es war schließlich eine Konstellation eingetreten, die die wechselseitige Berührung aller Beteiligten ermöglichte. Sie waren gewissermaßen zu einem Überkörper geworden, der auch ein gemeinsames Fühlen zustande brachte. Unita Mystica. Durch jede Berührung fühlten sich alle berührt. Jedes Gefühl teilte sich den Gefühlen der anderen mit. Steigerte ihre Lust wechselseitig. Ihre gemeinsame Fantasie hatte ihnen die Choreografie dieses erotischen Tanzspiels eingegeben.

Sie trieben es bis zur buchstäblichen Erschlaffung. Körper und Gliedmaßen verblieben schließlich in der Phase einer Bewegung, die sie gerade ausführen wollten. Es war, als seien sie von einer plötzlich einsetzenden Paralyse befallen. Dann sank, rollte, krümmte sich jedes in irgendeine Lage auf ein Bett. Und Tiefschlaf übermannte sie augenblicklich.

John erwachte. Er lag immer noch auf dem Bett links neben der Tür. Das Zimmer war durch eine Lichtquelle, die John nicht gleich erkennen konnte, in Dämmer getaucht. Das Licht kam von der Wand her, vor der das dritte Bett stand. Es war eine viel zu tief angebrachte Leuchte. Sie wirkte vor der weiß gekalkten Wand wie die ewige Lampe vor einem Altar. Das Bett, wie auch das zweite neben Johns, war sorgfältig in Ordnung gebracht. Das Zimmer sonst leer. Für einen Augenblick musste er überlegen, wie er in dieses Zimmer gekommen war. Bis ihm Bild um Bild der vergangenen Nacht wieder gegenwärtig war.

Auf seiner Uhr sah er, dass es 4.30 Uhr war. Es wäre sinnlos, jetzt noch in die Baracke zu gehen. Seine Chance war, so schnell wie möglich in den Frühstücksraum zu gelangen, wo er die anderen treffen würde. Er sprang aus dem Bett. Seine Sachen fand er auf einem Stuhl. Er zog sich an. Vorsichtig öffnete er die Tür. Blickte in den Gang. Als er keinen Menschen sah, trat er rasch hinaus. Erschrocken sah er. dass der Gang zur Küche führte, die er, wie er sich jetzt erinnerte, durchqueren musste, um aus dem Haus zu kommen. In der Küche saßen Frauen um einen langen Tisch. Sie frühstückten, ohne sich um ihn zu kümmern Aus den Augenwinkeln versuchte er Gesichter zu erkennen, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Doch an die Züge jener Mädchen konnte er sich ohnedies nicht mehr genau erinnern. Jetzt, am Tage. Er hatte den Eindruck, sie seien einander ähnlich, wie Schwestern. Da rief ihn eine Braunhaarige mit hellen Augen an: Guten Morgen, der Herr. - Ihre Stimme klang spöttisch. - Guten Morgen, sagte er, sie anblickend. Doch ihre Miene blieb gleichgültig. Vor dem Frühstücksraum angekommen, traf er auf Männer aus der Baracke. Er mischte sich unter sie und trat ein.

Als er sich auf seinen Platz am Tisch fallen lassen wollte, saß die Katze auf seinem Stuhl und sah ihn schnurrend an. Man könnte abergläubisch werden, sagte er zu Humbert, die scheint es auf mich abgesehen zu haben. Doch Humbert ging nicht darauf ein und stellte ihm auch keine Fragen, obwohl er seine Abwesenheit in der Nacht bemerkt haben musste.

Heute hatten sie Elektrorammen zu bedienen. Die Apparate glichen einer flachen Fußbank. Man musste sie an zwei Griffen führen. Von einem Elektromotor angetrieben, schlugen die kleinen Hämmer in rascher Folge auf den Boden. Sie dienten dazu, Lehm und Erde der wachsenden Staumauer zu verfestigen, zu verdichten.

Es war in diesen frühen Morgenstunden noch ziemlich dunkel. Der Himmel war heute mit Sternen bedeckt, ein Mond nicht mehr sichtbar. Dafür gaben die Leuchten auf der Baustelle eine starke Helligkeit. Jede Einzelheit war gut erkennbar. Aber, ähnlich wie im Mondlicht, waren die Gegenstände, die Linien und Flächen der Landschaft mit durchsichtigen Schatten überzogen, die eine seltsam unwirkliche Atmosphäre erzeugten. Die Grube selbst lag wieder in einem rötlichen Schein. Er kam wohl durch die Einfärbung der Lampengläser zustande, vor allem aber durch die hier zinnoberfarbene Tönung der Erde. In diesem Licht arbeitete John lieber als unter der Sonne, deren Strahlung Illusionslosigkeit bewirke, wie er einmal zu Humbert sagte.

Konnte er die Ereignisse der vergangenen Nacht illusionslos sehen? Wollte er es? Man kann alles zerreden. Das Rattern der Ramme. Ihre hochfrequenten Stöße. Ihre Wirkung auf die Erde, die gleichsam der Ramme nach unten und seitlich auswich, bis sie ihre Lockerheit verlor, sich, wie vorgesehen, verdichtete; keinen Spielraum mehr hatte.

Johns Selbstgefühl war erstarkt, hatte sich gewissermaßen verdichtet, wie die bearbeitete Erde. Er fragte sich nicht, warum die Mädchen ihn erwählt hatten. Ausgewählt sein, genügt. Er will den Jubel in seinem Gemüt nicht ersticken. Es gibt Begriffe, die, einmal gebraucht, die Seele verätzen, sogar den Himmel. Sie waren ihm lieb, standen ihm nahe, diese Mädchen. Sie gefielen ihm. Ihre Unbändigkeit. Sie waren nicht zu bändigen. Aller Bande los. Aber auch in der zweiten Bedeutung des Wortes: überaus stark. Er glaubte, sich an ihr Jauchzen zu erinnern. Ein leises Jauchzen. Das gibt es. Er hatte es gehört. - Pass auf, rief Humbert, du schiebst das Ding auf meine Füße! An was denkst du denn? - An Allgemeines. - Sie nahmen sich, was sie wollten. Hat sie seine Unbedarftheit in diesen Dingen gereizt? Kann man sie einem Menschen ansehen? Eine Frage wollte er sich nicht stellen: Das Wort Liebe hat eine zu komplexe Bedeutung. Aber wenn er auf sein Herz hörte, wie man sagt: sie waren ihm lieb, sehr lieb. Es ging eine sympathische Anmutung von ihnen aus. Ihr Gehabe, ihre Redeweise, die Natürlichkeit ihrer Hingabe an die Lust. Wenn sie sich hingegeben haben, dann ohne sich herzugeben. Sie haben sich ausgebreitet, um aufzunehmen. Ihn, John. Wie eine Pflanze Licht. Er würde einen Bund mit ihnen schließen, der unauflösbar sein müsste.

Man konnte diese Ramme nicht ohne Unterbrechung bedienen. Immer öfter musste John das Gerät, das, wie ein Kobold, die Tendenz hatte, zurückzuwandern, wieder zu sich heranziehen.  Pause, rief er, sich Humbert zuwendend, der 5 Meter von ihm weg seine Ramme führte. - Wann ist denn endlich Pause! Da kam Franz,der Vorarbeiter. Er hielt ein Maßholz in der Hand, das er mit Hammerschlägen in den Boden trieb: Gut, das reicht. Ihr müsst 10 Meter weiter nach rechts gehen. - Humbert ließ seine Arme kreisen. Die Vibration ist ganz schön stark, sagte er.

Und wieder begann das Rattern der Maschinen. Der rötliche Schein über dem Baugrund war längst ins Gelbe umgeschlagen. Die Sonne sandte nun grelle Helle und Wärme, die zunehmend unangenehmer wurde.

3. Kapitel

An diesem Tage hatte Franz keine zweite Schicht für sie vorbereitet. John war das recht. Humbert lud John ein, mit ihm einen Spaziergang in die Umgebung des Tales zu machen. Er wollte erkunden, wie weit sich der spätere Stausee ausdehnen würde. Sie waren auf einer Anhöhe angekommen. von der aus man die Sperre gut übersehen konnte, doch John hatte kaum einen Blick dafür. Ihn beschäftigten die Erlebnisse im Herrenhaus, über die er gern mit Humbert gesprochen hätte. Als Humbert auf die schon ansehnliche Höhe der Staumauer hinwies, sagte John, ohne darauf einzugehen, wie soll das Mädchen beschaffen sein, das du einmal heiraten willst? - Humbert sah ihn eigentümlich an. Warum fragst du das. Und gerade jetzt? - Ach, nur so, aus keinem Grund. - Da muss ich nachdenken, sagte Humbert. - Anders gefragt, was gefällt dir an einem Mädchen. - Das ist schon besser, und Humbert fuhr fort: Ich könnte Eigenschaften nennen. Womöglich nach Geld gehen, da fügt sich manches von selbst, er lachte. - Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Geld etwas mit Liebe zu tun hat. - Von Liebe war je auch nicht die Rede. Du hast gefragt, was mir an einem Mädchen gefällt. Deshalb muss ich sie doch nicht gleich lieben. - Das habe ich aber vorausgesetzt. - Im Ernst, sagte Humbert, Schönheit ist es, auf die ich setze. Sie ist ein nie nachlassender ästhetischer Reiz. Und: Schönheit erzeugt Wohlgefallen an der Person, die sie besitzt. - Sie ist vergänglich. - Du vergehst mit ihr. Und unter den Schichten, Ablagerungen der Zeit erblickst du auch in der alten Dame ihre ehemalige Schönheit. Vielmehr, sie hat nur andere Formen angenommen. Wie es eine Schönheit der Jugend gibt, kennen wir eine des Alters. Und noch etwas.

Er hob die Hand abwehrend gegen John, als wolle er weitere Einwände abwehren. Streit und Hass gibt es in jeder Ehe. Um so schneller ist er überwindbar, sind ihre Folgen gering oder gar aufgehoben, wenn ein Blick auf die von aller Zwietracht unberührte Schönheit dich von Neuem bezaubert. Und wie ist es mit dir, was gefallt dir an ihnen? - John antwortete nicht gleich. Er scheute sich vor Humbert, seine innersten Gefühle zu offenbaren. Er fürchtete dessen Spott oder auch nur Einwände. Auch war sein Verhältnis zu Mädchen zwiespältig. In seiner Fantasie hielt er sie für wesensgleich mit sich selbst, artverwandt. Partner im Geistigen. Sie waren ihm Quelle der Lebensfreude. Triebkraft für jedes Wirken in der Welt. So wollte er Beziehungen mit vielen haben. Sollte die Entscheidung für eine bedeuten, alle anderen von sich weisen zu müssen, käme er sich vor wie gefesselt, erstickt. Als müsste er Hunger und Durst leiden wie Tantalus in der Unterwelt: Zweige mit Früchten vor sich, die zurückschnellten wenn er sie pflücken wollte. In einem See stehend, dessen Wasser sich ihm entzog, wenn er sich bückte, um zu trinken. Sein Lebensmut sänke, so glaubte er, und die Weit würde ihm gleichgültig werden. - Frauen sind für mich das Salz der Erde, sagte er schließlich leise.

Sie schwiegen lange. Bis John sagte, du kennst sicher den »Zauberberg«?

Ja. - Und den »Tannhäuser«? Er wollte noch etwas sagen in Bezug auf das seltsame Leuchten auf dem Grunde der Talsperre, als Humbert drängte: Was ist mit dem »Zauberberg«? - Erinnerst du dich der Szene, wo Hans Castorp ins Gebirge geht und in Tagträume verfällt. In ihnen verschieben sich die Zeiten, die Welten. Menschen, Frauen und Männer in weißen Gewändern lustwandeln in einer paradiesischen Landschaft. Und die Einfärbung in der Gefühlswelt des Träumenden ist durchaus panerotisch. wie mir scheint. Er erwacht dann in der Kälte, geht zurück in die reale Welt des Kurbetriebes. - Ich glaube, auch für uns ist es Zeit, zurückzugehen in die reale Welt der Baustelle und der Baracken.

Unmerklich hatte sich in John das Gefühl von der physischen Beschaffenheit seines Körpers verändert. Es schien ihm, als ob mit der Zunahme seiner Muskelfasern an Zahl und Stärke, heimlich hatte er seinen Bizeps umspannt und ihm einen Zuwachs ansehen wollen, auch Substanzen entstanden wären, die sein Wohlgefühl steigerten, sein Gemüt festigten.

Franz hatte ihnen diesmal eine unangenehme Arbeit aufgegeben. Sie sollten Zement aus einem geschlossenen Waggon entladen, der zudem in einer Halle stand, deren Tore geschlossen gehalten werden mussten. Die beiden schwangen sich über einen eisernen Tritt in das Innere des Waggons, dessen seitliche Schiebetüren geöffnet waren. Der Boden war mit losem Zement bedeckt, der ihnen bis über die Knöchel reichte. Im vorderen und hinteren Teil hatte man ihn in Säcke verpackt, die in mehreren Lagen gestapelt waren. Jeder Sack wog einen Zentner.

Im ersten Anschauen glaubten sie, eine leichte Arbeit vor sich zu haben. Man würde zuerst die Säcke hinausbringen und danach den Zement mittels Schaufeln nach draußen befördern.

Vorsichtig begannen sie, die Schippen unter die pulvrige Masse zu schieben. Schlierenartige Fähnchen bildeten sich, schlängelten sich aufwärts. Sie hielten die Schaufel erst waagerecht aus dem Waggon, senkten sie dann gegen den Boden der Halle und kippten sie schnell um. Der Zement fiel und zerplatzte auf dem Grund wie ein explodierendes Geschoss. Ein wolkiger Schwaden entstand. Sie sahen einander an. Jetzt hatten sie die Art dieser Arbeit erkannt. Nach den nächsten Würfen war der Boden schon nicht mehr unter den aufsteigenden Staubgebirgen zu erkennen. - Es hat keinen Zweck, sagte Humbert, wenn wir es langsam machen. Um so länger müssen wir den Staub inhalieren. Sie warfen den Zement nun so rasch wie möglich hinaus. Der Staub schwelte wie eine erstickte Flamme. Schwaden in schrägen Bahnen flirrten in der Sonne, die durch das vergitterte Fenster in der Hallenwand einfiel. Staub hatte sich auf ihren Zähnen festgesetzt, die Zunge wie einen Pilzrasen besetzt. - Du siehst aus wie ein Müller, sagte Humbert. - Der Eisenboden des Waggons war endlich zum Vorschein gekommen. Nun mussten die Säcke weggetragen werden. Auch hier erwies es sich als unmöglich, jeden einzelnen Sack aus dem Wagen zu bringen und alle auf dem Hallenboden zu stapeln, wie sie es sich anfangs vorgenommen hatten. Es blieb nur, die Säcke zur Tür zu schleppen und dann hinauszuwerfen. Auf dem Boden zerplatzten sie. Man konnte das Papier dann aus dem Haufen herausziehen und ablegen. Der mehlige Staub hatte sich mit dem Schweiß auf Gesicht und Hals zu einer Kruste verbunden, die wie eine krümelige Masse auf der Haut lag, unter die vom Zement steif gewordenen Hemden, die Gürtel der Hosen vordrang. - Da haben wir uns ja auf etwas eingelassen, sagte Humbert. Und: ich muss erst mal raus. - Er stieg aus dem Waggon. John folgte ihm. Sie tasteten sich bis zur Tür der Halle, entriegelten sie und traten ins Freie. Allmählich bekamen sie wieder genügend Luft.

Das Schlimmste stand aber noch bevor. Der lose Zement aus den hinteren und vorderen Abschnitten des Waggons musste bewegt werden. Sie schaufelten das Pulver zuerst in die Mitte, wo es noch im Wagen sich in eine Staubbombe verwandelte, um später, in einem zweiten Arbeitsgang, den wieder zusammengesinterten Zement erneut aufzunehmen und nach draußen zu befördern. Bald verdichtete sich der im Waggon hochgewirbelte Staub dermaßen, dass Atmen kaum noch möglich war. Die Bindehäute der Augen hatten sich entzündet. Die Atemwege waren verklebt. Sie hatten schon geraume Weile ihre Taschentücher vor Mund und Nase gehalten und beschlossen nun, sich behelfsmäßige Atemmasken anzufertigen. Sie verließen die Halle. John nahm ein zweites Taschentuch, nässte es in einem nahen Wasserfass. Humbert tat es ihm nach. Dann banden sie die Tücher vor Mund und Nase. Liefen zurück. Die Entladung ging voran, aber sie mussten die Abstände der Erholung immer mehr verkürzen.

Da geschah es. Humbert lehnt sich plötzlich an die Wand des Waggons, stützte sich auf den Stiel der Schaufel, den Rumpf gebeugt, stieren Blicks. Völlig erschöpft blieb er einfach stehen. Er funktionierte nicht mehr. John arbeitete allein weiter. Schaufelte. Die Staubbomben platzten. Das Staubluftgemisch wurde so dicht, dass er am Sehen gehindert wurde. Und plötzlich, es hatte sich im Unbewussten wohl schon eine Zeit lang entwickelt, begann John sich überlegen zu fühlen.

Halte er sich verändert, war er verändert worden? Sein Selbst gewissermaßen befreit von Einengung durch den Vorgang in jener Nacht, den man durchaus »Einweihung« hätte nennen können, Initiation. Er hatte eine Metamorphose erlebt.

Humbert hatte ihm einmal gesagt, dass er sich, wie alle Männer, nach der Liebe ziemlich leer fühle und eigentlich nur den Wunsch habe, sich auszustrecken, die Augen zum Himmel. Das war, als sie die umgekippte Lore wieder aufgerichtet und in die Schienen der Feldbahn gehievt hatten. John hatte in diesem Augenblick das rötliche Licht über der Baustelle besonders stark empfunden. Und plötzlich stand ihm die Hörselberg-Szene aus »Tannhäuser« vor Augen, und er hatte gedacht, dass Humbert zum Insassen des Hörselberges nicht getaugt hätte. Das war es ja, was John im Innersten fühlte: Sinnesrausch und Leidenschaft als Mittel, aus seiner Haut zu gelangen, seine eigenen Grenzen zu sprengen.

Am Ende dieses Tagewerkes nahm Humbert noch einen der letzten Säcke auf und warf ihn aus dem Wagen. Sie verließen die Halle, wie man einen Kerker verlässt, um den Weg in die Freiheit zu nehmen. Vor der Tür, die sie nun offen ließen, blieben sie stehen und blickten in den abendlichen Himmel, den ein wässriges Blau füllte, wie Tränen die Augen eines Greises. Die krustige Schicht des Zements war wie eine metallische Rüstung, die ihre Körper schiente, die Atmung behinderte. Nur der Mund blieb offen. Durch ihn fuhr reine Luft wie durch ein Rohr in ihre Lungen, und wieder heraus. - Immerhin, wir qualmen nicht, sagte John, obwohl man denken könnte, Staub ströme aus uns heraus.

Im Begriff, den Waschraum zu betreten, erkannten sie. dass der Zement auf Kleidung und Schuhen sich in der Feuchte in eine zerstörerische Paste verwandeln würde. So zogen sie sich draußen aus, gingen nackend, ihr Zeug in der Hand, zu einem Baumstumpf. Schlugen ihre Kleidung dagegen, dass es stiebte. Dann betrachteten sie sich gegenseitig. - Bei dir klumpt sich das Zeug auch noch im Fell fest, sagte Humbert.

Es war aber so, dass John seine Körperbehaarung zu diesem Zeitpunkt nicht mochte und sich zu dem Ideal eines gut gebildeten Körpers eine glatte Haut hinzudachte.