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Die in allen Weltreligionen diskutierten Vorstellungen von Wiedergeburten nutzt Wolfgang Licht, um aus der Zeit vom Deutsch-Französischem Krieg bis zum Ende des 2. Weltkrieges zu erzählen. Den zeitgenössischen angehenden Mediziner Pascal lässt er als Wiedergeborenen die militärischen Auseinandersetzungen und das damit verbundene aufwühlende Elend erleben. Diese Schilderungen gehen mit ihren drastischen Details häufig bis an die Grenze des Erträglichen. Breiten Raum nehmen auch die Darstellungen unterschiedlichster Strömungen und Einstellungen in der deutschen Bevölkerung zu den historischen Ereignissen dieser Epoche ein. Als Pendant zu den Kriegsszenen berichtet der Autor in idyllischen Bildern vom lebensfrohen Dasein Pascals mit seiner Freundin und weiteren, ihm nahe stehenden Menschen in den Friedenszeiten des 19. und 20. Jahrhunderts. Auf wirksame Weise trägt dieser Kontrast dazu bei, jegliche kriegerische Handlung zu verabscheuen.
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Seitenzahl: 330
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Wolfgang Licht
Pascal
Ein Leben mit Wiedergeburten
ISBN 978-3-95655-778-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 2016 im Tauchaer Verlag.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Wir schreiben das Jahr 2013: Ein Sommergewitter war abgezogen. Das Pflaster der Straße, auf der Pascal mit anderen Touristen ging, dampfte noch.
Die Gruppe war am Körnerplatz angekommen. Der Platz lag unterhalb des Straßenniveaus. Man musste, um zu ihm zu gelangen, breite Steinstufen hinabsteigen.
Der Stadtführer blieb stehen, um den Touristen vom Leben Theodor Körners zu erzählen, dessen Denkmal auf einem Rondell inmitten einer Wiese stand. Das Denkmal war, des Dunstes wegen, der sich über der Niederung gebildet hatte, nicht deutlich zu erkennen.
Das aber war nicht der Grund, warum Pascal dem Redner plötzlich ins Wort fiel: Entschuldigen Sie bitte, aber hier hat doch immer ein Gebäude mit einem Zwiebelturm gestanden. Wieso ist es verschwunden, oder verwechsle ich jetzt diesen Platz mit einem anderen? - Was für ein Gebäude meinen Sie denn, fragte der Stadtführer freundlich. - Ich meine die Villa, die hier stand, die aussah wie ein Schloss. Sie besaß einen Zwiebelturm mit einem Kupferdach. - Hier hat tatsächlich einmal eine solche Villa gestanden. Sie ist aber vor etwa 100 Jahren abgerissen worden, nachdem ein Brand sie zerstört hatte. - Vor 100 Jahren? Das ist doch unmöglich. Ich selbst habe sie noch deutlich vor Augen. - Meines Wissens hat hier nach der Abgerissenen keine neue Villa oder ein anderes ähnliches Gebäude gestanden. Wie sah denn die Villa oder das Schloss aus, das Sie meinen?
Pascal beschrieb nun sein erinnertes Gebäude in allen Einzelheiten, nannte sogar das Wappen über dem mit Skulpturen versehenen Portal. Es war ein Wappen mit verschlungenen Symbolen, aus denen ich nicht schlau wurde. Ich bin aber auch kein Heraldiker, setzte er hinzu. Hm, machte der Stadtführer: Ich bin von Haus aus Historiker, kenne die Geschichte dieser Stadt, in der ich übrigens auch geboren bin. Die Villa, die Sie beschrieben haben, gleicht tatsächlich jener, die damals abgerissen wurde.
Der Sprecher, ein mittelgroßer Mann mit glattem dunklem Haar, in dem sich schon graue Strähnen zeigten, sah Pascal an: In seiner Miene zeigten sich Erstaunen und Befremden gleichzeitig.
Ein junger Mann in Pascals Alter, der wie die übrigen Touristen das Gespräch verfolgt hatte, sagte jetzt: Sind Sie vielleicht ein Wiedergeborener? In seiner Stimme war kein Spott.
Pascal, den die Auskunft des Stadtführers, der sich der Gruppe als Dr. Keller vorgestellt hatte, ziemlich verwirrte, schwieg. Er achtete wenig auf die weiteren Ausführungen Dr. Kellers. Die später vorgestellten Objekte nahm er kaum wahr.
Er war verunsichert. Begann seinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr zu trauen. Er war erst vor kurzem von einer Meningo-Enzephalitis genesen, die mit Halluzinationen einhergegangen war. Könnte es sein, dass ein Schaden bei ihm zurückgeblieben war? Aber, dachte er weiter, durch eine Gedächtnis- oder Wahrnehmungsstörung kann einem doch nicht das Bild einer Villa vorgegaukelt werden, die vor 100 Jahren tatsächlich existiert hatte, und zwar exakt, wie ihm Dr. Keller bestätigt hatte.
Die Führung war zu Ende. Nachdem Dr. Keller die Teilnehmer entlassen hatte, kam er nochmals auf Pascal zu: Ihre Schilderung geht mir nicht aus dem Sinn, sagte er in einem Ton, als überlege er, was von dem Vorgang zu halten wäre.
Ich werde heute nochmals in das Stadtarchiv gehen und genau hinsehen, wie die fragliche Villa ausgesehen hat. Pascal erwiderte, dass er von dem Ergebnis der Nachforschung gern unterrichtet wäre. Sie vereinbarten, dass sie sich morgen gegen sechzehn Uhr im »Caffebaum« treffen wollten.
Pascal studierte Medizin im 10. Semester. Er bewohnte in der Talstraße ein möbliertes Zimmer, das ihm eine ältere Wirtin vermietet hatte. Das Zimmer war geräumig. Ein Schreibtisch stand am Fenster. Pascals Blick fiel auf eine Linde. Sie nahm ihm zwar Licht, aber ihres Wuchses und der Blätterpracht wegen war sie ihm lieb.
Er stützte sich mit beiden Armen auf die Fensterbank und vertiefte sich in den Anblick des Baumes. Wie alt wird er sein, dachte er. Da fiel ihm ein, was der Volksmund von einer Linde sagt: 300 Jahre kommt sie, 300 Jahre steht sie und 300 Jahre vergeht sie.
Diese Sommerlinde könnte also durchaus 1000 Jahre alt sein. Vielleicht hat er sie sogar früher schon einmal gesehen? Früher. Ob er, Pascal, ein Wiedergeborener sei, hatte ihn der junge Mann am Körnerplatz gefragt.
Das Bild der verschwundenen Villa kam ihm wieder vor Augen. Er hatte es am helllichten Tage »wiedergesehen«. Morgen würde er von Dr. Keller Näheres über das ominöse Haus erfahren.
Er fühlte sich jetzt seltsam erschöpft. Ihm war, als kehre die überstandene Krankheit zurück. Nach einem letzten Blick auf die Linde ging er zeitig zu Bett.
Kaum hatte er sich auf seinem Lager ausgestreckt, fiel er in einen seltsamen Traum. Was er in diesem langen Traum erlebte, erschien ihm aber als Wirklichkeit, als reales Geschehen. Er hatte nicht das mindeste Traumgefühl. Die Welt in seinem Traum war farbig, die Bilder scharf, die Handlung logisch, wenn sie auch kein Kontinuum war.
In seinem »Traum« hatte er sich, von der Schule kommend, verspätet, weil er mit seinem Freund Ferdinand ein längeres Gespräch geführt hatte, in dem es um Pascals Schwester Lucie ging.
Etwas atemlos betrat er jetzt das Esszimmer. Die Familie saß bereits um den runden Tisch, der, wie üblich zum Mittagessen, durch zwei ausgezogene Mittelplatten verlängert worden war. Pascal liebte dieses Biedermeiermöbel wegen seines schelllackpolierten Mahagonifurniers. Es stammte aus Norddeutschland. Er bedauerte jedes Mal, dass die schöne Maserung durch die mittags aufgelegte Damastdecke verdeckt wurde.
Der Vater saß neben der Mutter an der rechten Breitseite des Tisches, die Schwester ihnen gegenüber. Der Stuhl neben ihr war für Pascal bestimmt. In dieser Sitzordnung wurden alle Mahlzeiten eingenommen.
Pascal setzte sich, nachdem er einen Gruß gegen die Anwesenden gesagt und um Entschuldigung für sein Zuspätkommen gebeten hatte.
Pascal hatte heute Geburtstag. Er wurde 18 Jahre alt. Ausgerechnet heute gab es eine Mathearbeit, sagte Pascal leichthin. Er wollte die durch sein Zuspätkommen entstandene Verärgerung seines Vaters, der absolute Pünktlichkeit verlangte, mildem. - Du musst es als Ehre ansehen, als Geschenk zu deinem Geburtstag. Und: Bist du mit dem Ergebnis zufrieden? - Das erfahren wir erst übermorgen. - Na, du wirst doch deine eigene Arbeit selbst einschätzen können. - Natürlich. Aber man macht doch manchmal Fehler, ohne sie zu bemerken oder man hat einen falschen Lösungsansatz verwendet.
Inzwischen war das Dienstmädchen Martha eingetreten und stellte die Terrine auf den Tisch. Die Mutter gab nun die Suppe auf die Teller.
Pascal bemerkte heute zum ersten Mal, dass der Vater, der auf seine letzten Worte nichts erwidert hatte, sehr gerade saß. Ohne die mit Leder bezogene Lehne seines Stuhles zu berühren, führte er den Löffel mit gewinkeltem Ellenbogen zum Munde. Das gab ihm eine gewisse Steifheit. Die Mutter dagegen beugte sich gewissermaßen dem Löffel entgegen und hielt ihn ein wenig seitlich, um die Suppe aufzunehmen. Dabei blickte sie unverwandt auf ihren Teller.
Lucie, die Schwester, strich ihren Löffel jedes Mal am Tellerrand ab, bevor sie ihn zum Munde führte. Er, Pascal, war offenbar der einzige Ungeschickte. Von seinem Löffel tropfte häufig Suppe auf den Tellerrand und manchmal auch auf die Serviette. Verwunderlich, dachte er, dass ihm das Essverhalten der Familie heute zum ersten Mal bewusst wurde.
Während der Mahlzeit wurden nur belanglose Bemerkungen getauscht. Der Vater wünschte so genannte »Problemdiskussionen« während den Mahlzeiten nicht. Deshalb sagte er erst, nachdem das Dessert verzehrt war, zu Pascal, heute Abend wollen wir uns gemütlich zusammensetzen und über deine Zukunft sprechen. Er stand vom Tisch auf, was ihm die Familie nachtat. Er wünschte allen noch einen guten Tag und verließ das Esszimmer, wobei er der Mutter den Vortritt ließ.
Wenig später klopfte Pascal an das Zimmer seiner Schwester und trat sogleich ein. Lucie saß an ihrem Schreibtisch, hatte gerade Schulhefte aus einem Fach genommen, das sie wieder verschloss. Der zierliche Schreibtisch, der einen Aufsatz besaß, war, wie alle Möbel in diesem Zimmer, weiß lackiert. Das verstärkte die Helle, die durch ein großes, nach dem Garten gelegenes Zimmer ohnehin einfiel. Ich habe etwas für dich, sagte Pascal mit einer verschwörerischen Miene. Er nahm einen Brief aus seiner Jackentasche und gab ihn der Schwester. - Von Ferdinand, fügte er hinzu. Das Gesicht Lucies rötete sich flüchtig. Hat er etwas gesagt, fragte sie den Bruder, der neben ihr stehen geblieben war. - Er wartet auf Antwort. Lucie nahm einen Brieföffner aus einer Schale, zögerte einen Augenblick, worauf Pascal demonstrativ einen Schritt zurücktrat. Dann las sie das Geschriebene.
Dabei hatte sie den Mund leicht geöffnet, ihre Blicke huschten über die Zeilen. Schließlich faltete sie den Brief zusammen, behielt ihn aber in der Hand. - Sag ihm, dass ich komme, Freitag, sechzehn Uhr am Pavillon.
Lucie und Ferdinand liebten sich. Doch der Vater sah ihre Verbindung nicht gern. Er hatte das nicht direkt gesagt. Aber während eines Theaterbesuchs mit seiner Tochter bemerkte er in einer Pause, er könne sich nicht vorstellen, dass Lucie mit einem Mann glücklich werden könne, dessen Familie eine kulturelle Bildung nicht fordere. Er machte diese Bemerkung wohl, weil Pascal ihm einmal gesagt hatte, sein Freund Ferdinand lehne das Theater ab, weil es den Menschen eine Welt vorspiele, die unsere heutigen Probleme außen vor ließe. Dabei besuchte der Herr Professor das Schauspielhaus nur äußerst selten. Er hatte den Ausspruch Ferdinands wohl auch nur als Vorwand benutzt. In Wahrheit glaubte er, dass sich Menschen von einer »niederen« Herkunft nicht mit Angehörigen »höherer Schichten« verbinden sollten. Als Lucie dieses Gespräch Ferdinand übermittelte, sagte dieser: Ihr Herr Vater vergisst wohl, dass noch im vorigen Jahrhundert nur Adlige Offiziere werden konnten.
Die Mutter teilte die Standesvorurteile ihres Gatten nicht. Sie selbst stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie, die ihren Ursprung in Russland hatte. Ihr Vater besaß ein vier Hektar großes Land in der Nähe von Smolensk. Er hatte den Besitz wegen der Kriegswirren unter Napoleon verkauft und war mit seiner Familie nach Deutschland gezogen, wo er sich als Getreidegroßhändler niederließ.
***
Pascal traf Ferdinand in der Druckerei seines Vaters. Der Freund saß in einem kleinen bretterverschalten Raum, der dem Vater als Büro diente und korrigierte Druckfahnen. Pascal war, als er ihn über die Schrift gebeugt vorfand, leise an ihn herangetreten und hinter ihm stehen geblieben. Dabei versuchte er, über die Schulter des Freundes spähend, den Text der Druckvorlage zu entziffern. Plötzlich gab Ferdinand einen Laut von sich und drehte sich blitzschnell um, als wolle er sich gegen einen Feind wappnen. Ach du bist es, rief er erleichtert. - Fürchtest du dich etwa, sagte Pascal ironisch. - Fürchten! Das ist nicht das richtige Wort. Aber ich habe Briefe bekommen von Leuten, die mir drohen. Es hängt mit meinem Engagement für die Sozialdemokraten zusammen. Ich habe dir ja erklärt, dass es eine Gründungsversammlung gegeben hat, in der Bebel gesprochen hatte. Ich war nicht dabei, habe aber für die Partei geworben. Überall dort, wo es sich gerade ergab. Plötzlich stand er auf, legte beide Hände auf Pascals Schultern: Zuerst gratuliere ich dir zu deinem Eintritt in die Welt vor 18 Jahren. Die Zukunft möge für dich glücklich sein. Und für uns, fügte er leise hinzu. - Danke, sagte Pascal, und umarmte den Freund kräftig. Ich wollte dir nur Lucies Antwort überbringen. Sie kommt, Freitag 16.00 Uhr, in den Pavillon. Danke, erwiderte Ferdinand, ich freue mich. Aber entschuldige, ich muss die Bögen noch fertig korrigieren. Sie kommen in die Abendausgabe der »Wallstätter Nachrichten«; du kannst dich inzwischen in der Druckerei umsehen. - Ich sage deinem Vater guten Tag, erwiderte Pascal. Ich habe ihn gerade zwischen den Maschinen gesehen.
Der Vater hatte ihn aber schon erblickt und streckte ihm, als er heran war, beide Hände entgegen, die Pascal sogleich ergriff. Sichtlich bewegt, sagte auch der Vater: Schön, dass du auf der Welt bist.
Dann drehte er sich um, entnahm einem Fach eine dünne Mappe, die er Pascal überreichte. - Ferdinand und ich haben für dich ein kleines Präsent produziert. Pascal schlug die in blaues Bütten gehüllte Mappe auf. Sie enthielt einen Faksimile-Druck von Goethes Handschrift »Der Erlkönig«. - Ferdinand hat die Handschrift aufgegabelt und wir haben sie gedruckt. - Danke, danke, sagte Pascal, und umarmte nun auch den Vater.
Der Vater war groß wie Ferdinand, hatte die gleichen dichten schwarzen Haare wie sein Sohn, buschige Brauen, und, wie Pascal fand, schöne braune Augen, die förmlich leuchteten, wenn er sein Gegenüber aufmerksam ansah.
Von Ferdinand wusste er, dass dessen Vater 47 Jahre alt war. Jetzt war er dabei, die metallenen Lettern in die Rahmen zu setzen. Es roch nach Druckerfarben und auf der Zunge hatte Pascal einen metallenen Geschmack.
Gibt es interessante Neuigkeiten, fragte er leichthin. Der Vater legte die Lettern zurück, atmete tief auf: Es gibt zwei Schwerpunkte, sagte er schließlich. Da ist einmal der Konflikt mit Frankreich. Wie du wissen wirst, ist der spanische Königsthron verweist. Wilhelm will ihn mit einem Hohenzollern besetzen. Frankreich fühlt sich von einer preußisch-deutschen Vorherrschaft bedroht. Was heißt übrigens »Deutschland« und »Frankreich« in diesem Zusammenhang? Diese Begriffe umfassen ja nicht die Gesamtheit der jeweiligen Bevölkerung dieser Länder. Es geht immer nur um die Interessen von Gruppen, die nur vorgeben, das Wohl des Landes und somit das der Bevölkerung im Auge zu haben. Und auch die Bevölkerung ist doch nicht homogen. Sie besteht aus Schichten, Gruppen. Ein Krieg! Ich will nicht davon reden. - Er schüttelte sich.
Du sprachst von zwei Schwerpunkten, sagte Pascal in das folgende Schweigen hinein. - Ja, der zweite sind die Auseinandersetzungen zwischen, sagen wir einmal, der Oberschicht und den Massen. Diese wenig Begüterten wollen mitentscheiden, wenn es um die Belange geht, die die ganze Gesellschaft berühren, also auch sie. Zwar gibt es Wahlen. Aber das Drei-Klassen-Wahlrecht zementiert die Herrschaft der Besitzenden.
Er machte eine Pause und fuhr dann fort: Es hat sich eine neue Partei gebildet. - Ich weiß, Ferdinand hat mir davon erzählt. - Du solltest einmal so eine Versammlung besuchen. - Ich werde es mir überlegen. Pascal sagte es zögernd, was der Vater sehr wohl bemerkte und nicht weiter von der Sache redete.
Pascal hielt die Auffassungen von Vater und Sohn für eine idealistische Schwärmerei Er selbst hielt grundsätzliche Veränderungen in der Gesellschaft nicht für nötig. Im Gegenteil, er fürchtete sie. Ohnehin waren ihm so genannte politische Diskussionen unangenehm, weil sie in seinen Augen nur jeweils einseitige Theorien bedienten. Ihn verdrossen zwar die Standesvorurteile seines Vaters und dessen Umgang mit seinesgleichen in dem Klub, zu dem er ihn einmal mitgenommen hatte. Aber dagegen stand die Mutter, die ja auch der besitzenden Klasse angehörte, und dennoch in allen Menschen »achtenswerte Geschöpfe Gottes« sah, wie sie sich ausdrückte.
***
Pascal hatte sich von Ferdinand und dessen Vater verabschiedet und die Druckerei verlassen. Es wehte ein kühler Wind, aber das war nicht der Grund, warum er rascher lief. Er war mit Nadin, seiner heimlich Geliebten, am Gellert-Berg verabredet. Das war ein Hügel am Rande der Stadt, auf dessen Gipfel eine Schlossruine stand, die sich ein adliger Grundbesitzer hatte errichten lassen. Der Edelmann war verstorben, ohne Erben zu hinterlassen, und der Gellert-Berg war städtisches Eigentum geworden.
Am Fuße des Berges angekommen, setzte sich Pascal auf einen Findling, der von ehemaligen Gletschern aus Skandinavien hierher geschoben worden war. Er wartete auf Nadin.
Der kühlende Wind hatte nachgelassen, aber der Himmel blieb bedeckt. Nur hin und wieder zeigte sich die Sonne als milchige Scheibe hinter dünnem Gewölk. Er dachte an Nadin, stellte sich vor, wie er sie küssen, lieben wollte.
Er verließ den Stein, lief auf der schrägen Wiese auf und ab. Um diese Zeit gab es hier nur wenige Passanten. Deshalb hatten sie sich an diesem Ort verabredet. Endlich sah er sie am Ende der Straße. Er eilte ihr entgegen, auch sie lief jetzt schneller. Als sie, etwas außer Atem, vor ihm stand, umarmte er sie, presste sie an sich. Nadin war kleiner als er, hatte blonde, glatte Haare wie Lucie, aber braune Augen, die er jetzt küsste.
Komm, sagte er dann. Er war erregt, begehrte sie. Sie gingen einen Wiesenpfad entlang, der ziemlich steil in die Höhe führte, sich schließlich verlor. Sie erreichten jetzt einen Sandweg, der sich in Windungen bis zum Gipfel des Hügels hinzog und vor der Ruine endete.
Durch das Steigen und seine Begierde erhitzt, zog er Nadin stürmisch heran, nestelte an ihrem Rock. Während sie ihn nun selbst ablegte, zog er sein Jackett aus und half Nadin, sich darauf zu legen. Das geht doch nicht, sagte sie leise, wenn Leute kommen. Man kann doch alles einsehen. - Heute kommen keine Leute. Und: wenn schon.
Auch Nadin begehrte ihn und umarmte ihn. In diesem Augenblick hatte sich das Wolkengespinst vor der Sonne aufgelöst und sie strahlte von einem plötzlich kobaltblauen Himmel. Wenn das kein Zeichen ist, rief Pascal, nachdem sie ihre Lust gestillt hatten. - Ein Zeichen für was? - Für eine frohe Zukunft für uns. Nadin schwieg. Sie kleideten sich wieder an. Und Pascal bewunderte wieder ihren Körper. Sie war schlank, hatte feste runde Brüste, eine schmale Taille, geschwungene Hüften und wohlgeformte Beine. Vor der Ruine gab es eine Steinbank. Sie setzten sich nebeneinander und fassten sich an den Händen. Ich habe dir noch nicht einmal gratuliert. - Du hast mir das schönste Geschenk gegeben, das es für mich auf der Welt gibt, rief Pascal emphatisch, und küsste ihre Hand. Du hast den Sonnenschein ein Zeichen genannt, ein Zeichen für unsere Zukunft, die du dir glücklich wünschst. Sie schwieg, blickte über das Land, das sich um den Berg erstreckte. Jetzt ist alles wunderbar friedlich, sagte sie: Ich habe Angst, dass es nicht so bleibt - Wie kommst du darauf? fragte Pascal. In seiner Stimme schwang Ironie mit. - Mein Vater redet immer von einer Bedrohung, die von den Franzosen ausginge. Und Ulfried, der in einem Schützenverein mittut, will endlich nicht nur auf Scheiben schießen müssen. Nach einer Pause fragte Pascal, wie alt ist Ulfried eigentlich? - Er ist vor einem Monat 21 geworden. - Ich dachte, er will einmal die Werkstatt seines Vaters übernehmen. Oder sich eine eigene anschaffen. Da kann er doch keinen Krieg gebrauchen. Und nach einer Weile: Denkt Gotthold auch so? - Ja, unsere ganze Familie. Sie meinen, Deutschland müsse nach zwei Kriegen, die noch kein einiges Vaterland gebracht hätten, endlich die Reichseinheit erringen, sonst wären alle Opfer in den bisherigen Kriegen umsonst gewesen. Zudem verehren sie Wilhelm, den sie ihren König nennen und gern als Kaiser von Deutschland sehen würden. Aber lassen wir das. Sie sprechen auch gut von dir. Sie wissen, dass du heute Geburtstag hast und möchten dir gern gratulieren. Kannst du nicht einmal bei uns vorbeikommen? - Natürlich, gern. Heute geht es aber nicht mehr. Mein Vater will mit mir reden. Wahrscheinlich über meine Zukunft. Aber übermorgen? - Gut, ich werde es ihnen sagen. Sie kletterten noch eine Weile in der Ruine herum. Und Nadin sagte: Verrückt, sich hier eine Ruine bauen zu lassen. - Das gehört eben zum Lebenszuschnitt manches Adligen, erwiderte Pascal.
***
Nach dem Abendbrot sagte der Vater, an Pascal gewandt: Machen wir es uns im Wohnzimmer bequem. Lucie, die wusste, dass der Vater mit Pascal reden wollte, bat, in ihr Zimmer gehen zu dürfen, was ihr erlaubt wurde.
So saßen sie zu dritt in den Sesseln des Wohnzimmers.
Eine Stehlampe mit einem orangefarbenen Schirm gab ein dämpfendes Licht. Pascal war froh, dass auch die Mutter bei ihm war, die an diesem Abend in eine Tournüre gekleidet war, die ihre Taille betonte.
Der Vater trug ein graues Sakko, dazu eine dunkelgraue Hose. Eine blaue Krawatte schmückte seine Brust. Im Gegensatz zur herrschenden Mode war er bartlos. Sein kurz geschnittenes dunkelblondes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, was Pascal heute besonders auffiel. Auf dem runden Tisch standen drei Gläser, die der Vater jetzt mit Wein füllte, nachdem er die Flasche der Mutter vorgezeigt und dann aus seinem Glas gekostet hatte. - Ein Riesling aus dem Weingut »Rebner«, Jahrgang 1860, bemerkte er beiläufig.
Mein lieber Sohn, sagte er in feierlichem Ton: Lass uns auf deine Zukunft trinken. Alle ergriffen ihre Gläser und stießen sie leicht gegen Pascals.
Mutter und ich wünschen dir eine glückliche Hand bei all deinen Unternehmungen. In einem Monat wirst du dein Matura haben, und danach die Universität beziehen. Bist du noch entschlossen, Arzt zu werden? - Ja, selbstverständlich, erwiderte Pascal. Ich wüsste nichts Besseres. Die feierliche Art des Vaters, dessen Worte er bei sich »gestelzt« nannte, hatte ihn verlegen gemacht, und seine Stimme klang etwas belegt. Für mich jedenfalls, fügte er noch hinzu. Du weißt, so der Vater weiter, dass du dich damit in den Dienst von Kranken stellst, deren Genesung dein Denken und Handeln bestimmen muss. In dieser Art redete er noch eine Weile weiter.
Das Gesicht des Vaters hatte sich leicht gerötet. Er beugte sich im Reden gegen den Sohn vor. Gleich einem Missionar wollte er seinem Sohn seine Berufsauffassung wie ein Vermächtnis überbringen.
In einer Gesprächspause fiel die Mutter ein: Du wirst auch einmal eine Familie gründen wollen. Lass dich bei der Wahl deiner künftigen Gattin weder von Begierden noch von Schönheit leiten. - Worauf der Vater in beinahe eiferndem Ton hinzufügte: Bedenke auch, dass deine Erwählte deinem gesellschaftlichem Stand angehört. Standesunterschiede schlagen sich auch in unterschiedlichen Lebensvorstellungen nieder.
Die Mutter lehnte sich jetzt in ihrem Sessel zurück, sagte: Was der Vater gemeint hat, kann manchmal zutreffen, aber ich finde, dass es bei der Wahl eines Lebenspartners vor allem auf dessen Persönlichkeit ankommt, auf seinen Charakter. Und ich bin sicher, dass Pascal, sie sah ihm dabei in die Augen, dafür einen Sinn hat. Er ist ja schließlich auch mein Sohn. Das sagte sie leichthin und mit einem Lächeln. Wohl auch, um dem Anflug von Unmut in des Gatten Miene zu begegnen.
Und noch etwas, sagte der Vater jetzt, offenbar entschlossen, das Gespräch wieder an sich zu ziehen: Dass du rechten Glaubens bist, wissen wir, jedenfalls glauben wir, es zu wissen. Dabei sah er den Sohn prüfend an, mit einem Ausdruck, als sei er sich seiner Annahme nicht ganz sicher. - Du meinst den Protestantischen? fragte Pascal, dem der Ton des Vaters missfiel. - Ja, natürlich, erwiderte dieser, sagen wir lieber den Christlichen. Und Pascal, etwas widerspenstig: Auch die Katholiken sind Christen. - Und die Russisch-Orthodoxen, fuhr die Mutter dazwischen. Pascal dachte, so wie sie ihr Anliegen vorbrachte, schien sie die vom Vater erwähnten Glaubensfragen für nicht so wichtig zu halten, dass man sie in die Zukunftsproblematik des Sohnes hätte einbringen müssen. Der Vater erwiderte nichts. Er goss Frau und Sohn die Gläser wieder voll und sein eigenes.
Pascal schien es, als ob sich der Vater noch gerader setzte, den Rücken gegen die Stuhllehne drückte, als bereite er sich auf eine Auseinandersetzung vor.
Du weißt, sagte er, den Sohn anblickend, dass ich bei Königgrätz dabei war unter Moltke und der persönlichen Führung König Wilhelms. Die preußische Armee hatte große Verluste erlitten. Ich war damals noch Oberstabsarzt. Habe die schlimmen Folgen dieser Schlacht in den Lazaretten gesehen. Es haben sich Szenen abgespielt, die mich noch heute erschüttern. - Er machte eine Pause, den Blick ins Leere. Schließlich siegten die Unseren über die Österreicher. Dieser »Deutsche Krieg« war der Zweite, der den von Bismarck gewollten deutschen Nationalstaat schaffen sollte. Bismarck entschied sich für die kleindeutsche Lösung. So genannt, weil sie Deutsch-Österreich, Lichtenstein, Luxemburg und die Deutsch-Schweiz ausschloss. Also nicht den ganzen deutschen Sprachraum umfasste. Durch den Sieg im deutschen Krieg erzielte Bismarck einen großen innenpolitischen Erfolg. Der Sieg löste eine Welle der Euphorie im Volke aus. Die preußischen Abgeordneten billigten ihm sogar nachträglich Straffreiheit zu, weil er ohne gesetzlichen Haushalt regiert hatte.
Kriege, sagte der Vater plötzlich, und ließ jegliches Pathos aus, das er unwillkürlich in seine Stimme gelegt hatte.
Kriege, wiederholte er, sind schrecklich. Aber uns bleibt nichts, als weiterhin für einen deutschen Nationalstaat zu kämpfen. Er sah den Sohn jetzt fest an. Ich erwarte von dir, dass auch du dich mit deiner ganzen Person dafür einsetzen wirst.
Er hatte diesen Satz wie einen Befehl ausgesprochen. Gegen diesen Satz gab es keinen Widerspruch.
Rechnest du mit einem neuen Krieg, fragte die Mutter, und ihre Miene war voller Abwehr. - Noch haben wir unseren Staat nicht, antwortete der Vater heftig. Und Frankreich verfolgt Bismarcks Bestreben mit Argwohn. Aber lassen wir das. Er fasste nach Pascals Hand: Ich freue mich, dass du dich für das Medizinstudium entschieden hast. Vielleicht wählst du später noch die Chirurgie.
Er ergriff jetzt die Weinflasche, hielt sie sich vor Augen, blickte dann auf die Gläser und stellte die leere Flasche wortlos ab.
Pascal erwartete, dass der Vater die Tafel aufhebe, da sagte dieser: Ich möchte dir, lieber Sohn, noch etwas sagen. Er hielt eine Weile inne, den Sohn ansehend, als wolle er sich dessen Aufmerksamkeit versichern, und fuhr dann fort: Du willst doch im Laufe deines Berufslebens anerkannt und geachtet werden. Das wirst du zweifellos vor allem durch deine Arbeit erreichen. Es gibt aber noch eine Komponente, die einen großen, ja manchmal einen entscheidenden Einfluss auf deine Karriere hat. Das ist dein Umgang mit Menschen, mit bestimmten Menschen. Es gibt in unserer Gesellschaft Kräfte, die an der Stabilität unseres Landes nicht interessiert sind, sondern Veränderungen zu ihren Gunsten wollen. Du musst achtgeben, dass du nicht in die Nähe solcher Menschen gerätst. Und: Er strich sich über das Kinn, ich habe die Befürchtung, dieser Ferdinand, mit dem du dich häufig triffst, könnte die Liebe zu deinem Vaterland, sagen wir, erschüttern.
Ferdinand ist ein Patriot, entgegnete Pascal mit Schärfe, nur hat er das ganze Volk vor Augen und nicht nur eine Kaste.
Das Gesicht des Vaters hatte sich gerötet. Aus deinen Worten erkenne ich, wie weit sein Einfluss schon auf dich gewirkt hat. Der Vater schien ernstlich verstimmt. Er beherrschte sich aber und fuhr, ohne auf Pascals Einwand einzugehen, fort: Ich habe dich schon einmal in unseren Klub mitgenommen. Ich bitte dich nun, diese Besuche zu wiederholen. Dort wirst du wahre Patrioten kennen und schätzen lernen.
Und ich, sagte die Mutter jetzt, will dich einmal in das Land meiner Eltern locken. Sie sagte es rasch, als wolle sie die entstandene Missstimmung auflösen. Meine Eltern hatten, wie du weißt, ein großes Gut in der Nähe von Smolensk. Dort hat mein Vater deine Großmutter geheiratet, die in Smolensk geboren wurde. Ich selbst würde dieses Gut gern noch einmal besuchen, und ich lade dich ein, mich dorthin zu begleiten.
An der Miene seines Vaters konnte Pascal ablesen, dass dieser von den Plänen seiner Frau nichts gewusst hatte. Aber der Vater überwand sein Erstaunen und Befremden und sagte: Diese Überraschung ist dir geglückt. Und: Ich hoffe nur, dass du in deiner Planung auf Pascals Studium Rücksicht genommen hast. - Ja, rief Pascal, sprang auf und umarmte die Mutter.
Auf dem Wege zu seinem Zimmer traf er auf Lucie. Sie war aufgeregt, fasste den Bruder am Arm, sagte: Ich habe vorhin im Vorübergehen den Namen Ferdinand gehört. Was hat Vater über ihn gesagt? Ich habe nichts Näheres verstanden, da ich nicht stehen bleiben wollte. - Du wolltest keine Lauscherin sein, was? Dabei legte er den Arm um die Taille seiner Schwester: Es muss uns gleich sein, sagte er, was Vater von unseren Freunden denkt. Wir müssen uns, Gottlob, nicht danach richten. Schließlich wird Ferdinand einmal Jurist und kann sich gegen mögliche Anfeindungen leicht wehren. - Und wenn die Eltern deine Beziehungen zu Nadin entdecken? - Das ficht mich erst recht nicht an. Übrigens, wie war denn euer Treffen im Pavillon? Ich meine, gab es etwas Wichtiges, was er dir sagen wollte? Außer, natürlich, dass er dich liebt. - Und ich liebe ihn auch! Sehr. Aber komm in mein Zimmer und rede leise.
Wichtiges, sagte sie, im Zimmer angelangt: Er fragte mich, ob ich seine Frau werden wolle. - Ich dachte, das bist du schon. Pascal lachte sie an. Lucie ging nicht darauf ein. - Heiraten können wir ja erst, wenn er sein Studium beendet hat, und er fragte mich, ob ich solange warten wolle. Lucie hatte nur die Nachttischlampe angezündet, deren Schein ihr Gesicht erhellte, aber das Zimmer im Halbdunkel beließ. Wie lange wird sein Studium dauern, fragte sie ein wenig zaghaft. - Jedenfalls Jahre, erwiderte Pascal. Und du glaubst, du könntest euer Verhältnis, eure Liebe meine ich, solange geheim halten? - Das müssen wir abwarten. Zudem hoffe ich, Vater wird seine Meinung über Ferdinand ändern. - Aber Ferdinand nicht die seine, was den Zustand der Gesellschaft angeht. - Lucie schwieg. Im Lampenlicht spiegelte ihre Miene Bestürzung und Trauer. Was willst du eigentlich machen während dieser ganzen Zeit? - Ich werde ein Lehrerinnenseminar absolvieren. Das ist für mich die einzige Möglichkeit, mich weiter zu bilden. Viel lieber möchte ich Medizin studieren.
Du musst es machen wie Dorothea Exleben aus Quedlinburg oder Charlotte von Siebold-Heidenreich. Die wurden von ihren Arzteltern ausgebildet. Vater würde das wohl ablehnen. - Da hast du sicher recht. Pascal lachte höhnisch.
Du siehst, ich kann nur Lehrerin werden. Ach, Pascal, du hast Glück, ein Junge zu sein. - Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht: Ich könnte weinen.
Die Geschwister waren aufgestanden und Lucie ging ans Fenster, sah hinaus und sagte: Dunkel, wie meine Zukunft.
Da umarmte Pascal die Schwester, schlaf gut, sagte er und verließ rasch das Zimmer.
***
Die Reicherts besaßen ein kleines Haus in der Hermanngasse. Oswald Reichert war Schlossermeister. Er hatte seine Werkstatt im Haus eingerichtet, in dem die Familie auch wohnte.
Pascal blieb eine Weile vor dem kunstgeschmiedeten Eingangstor stehen, um es zu betrachten. Wie ihm Nadin erzählte, hat es ihr Bruder Ulfried gemacht. Es war sein Gesellenstück, wie sie sagte. Er ist ein wirklicher Künstler, dachte Pascal. Und so einer soll sich einen Krieg wünschen? Als gäbe es eine Spaltung seiner Natur in eine künstlerische und eine kriegslüsterne, nationalistische Person. Unbegreiflich!
Da wurde die Haustür geöffnet und Nadin trat in den Vorgarten. Sie hatte gesehen, wie Pascal das Werk ihres Bruders betrachtete und sagte jetzt: Nicht wahr, er hat Geschick! Und als Pascal erwiderte, ja, wirklich, sagte sie: Und nun ist ihm das passiert. - Was passiert? - Er hat auf dem Schießstand einen Kameraden angeschossen. Sie sagte leise und rasch: Komm jetzt.
Im Wohnzimmer fand Pascal die ganze Familie mit Ausnahme der Hausfrau vor. - Sie ist zu Siegbert in die Klinik gefahren, erklärte Nadin. - Das ist schön, dass Sie uns besuchen, sagte Oswald Reichert: Wir gratulieren Ihnen von Herzen zu Ihrem Geburtstag und wünschen Ihnen ein erfolgreiches Studium. Leider trübt Ulfrieds Unfall unsere Freude über Ihren Besuch. Das werden Sie verstehen. Ulfried stand so, dass ihm das Tageslicht ins Gesicht fiel. Er war größer als Pascal, wirkte schlank, trotz breiter Schultern. Er war sichtlich verstört, hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Sein kurzer Schnurrbart, der bis zu den Lippenwinkeln reichte, verstärkte den Ausdruck von schmerzlicher Trauer. Seine Augen unter den dichten schwarzen Brauen blickten Pascal an, scheinbar ohne ihn wahrzunehmen. Vielleicht lag das aber auch daran, dass er, wie es Pascal schien, ein wenig nach innen schielte. Er war blass, als stünde er unter Schock.
Ich weiß ja noch gar nicht, was passiert ist, sagte Pascal, ein wenig hilflos, um das Schweigen zu durchbrechen, das sich wie eine Lähmung verbreitet hatte.
Nadin war es dann, die den Hergang des Unfalls berichtete, nur hin und wieder von einer Bemerkung Ulfrieds oder Gottholds unterbrochen.
Es war gestern passiert. Wie an jedem Mittwoch trafen sich die Mitglieder des Schützenvereins »Heimat« auf dem Gelände des Schießstandes. Sie traten an, um auf Scheiben zu schießen. - Auf was denn sonst, warf Gotthold ein. Nadin atmete hörbar und fuhr fort: Die Schützen waren ausgelassen, scherzten miteinander. Besonders ausgelassen waren Ulfried und sein Freund Siegbert Und dann geschah es. - Sie wandte sich an ihren Bruder: Was sagtest du zu ihm? - Und Ulfried: Ich sagte: jetzt bist du ein Franzose. - Ja, fiel Gotthold ein: Jetzt bist du ein Franzose, sagte Ulfried und legte auf ihn an. - Wie konntest du das tun, fuhr Oswald Reichert dazwischen: Da gibt es doch Vorschriften! - Ja, aber das entscheidende war, Ulfried hatte sein Gewehr nicht gesichert! - Unglaublich, sagte der Vater wieder: Angelegt auf einen Kameraden und das Gewehr nicht einmal gesichert. - Das habe ich doch nicht gewusst, schrie Ulfried jetzt: Ich hatte doch geglaubt, es sei gesichert. Ich kann das selbst nicht verstehen. Ich fühlte doch, dass der Sicherungshebel eingerastet war. - Und dann kam er an den Abzug, sagte Gotthold, und der Schuss ging los. - Um Gottes willen, rief Pascal unwillkürlich: Und Siegbert? - Siegbert wurde an der Schulter getroffen, verlor aber nicht das Bewusstsein. Er wurde sofort in die Klinik gebracht. - Hat Ihr Herr Vater davon erzählt? fragte Oswald Reichert - Nein. Oder doch. Nicht direkt. Er kam gestern Abend spät aus der Klinik heim und sagte beiläufig zur Mutter, er habe heute einen jungen Mann mit einer Schussverletzung operiert. Zum Glück sei der Patient nicht lebensgefährlich verletzt worden. Vielleich hat er der Mutter Einzelheiten erzählt, aber Lucie und ich waren nicht dabei.
Nicht lebensgefährlich! rief Oswald Reichert, hörst du! Pascal, der Ulfried aus den Augenwinkeln beobachtete, erstaunte über den abrupten Stimmungswechsel, der sich in der Miene des jungen Mannes zeigte. Eben noch niedergeschlagen, ja, verzweifelt. Er hatte vor sich hin gemurmelt: Das Blut, das viele Blut. Offenbar war ihm der Anblick des verletzten Freundes nicht aus dem Sinn gekommen, veränderte sich jäh. Seine Blässe wich. Freude, Erleichterung, ein Gefühl der Erlösung spiegelte sich in seinen Zügen.
Nadin ging zu ihm, umarmte ihn, sagte: Danke deinem Schutzengel - Ulfried stöhnte leise. Pascal glaubte, das Glitzern von Tränen in seinen Augen zu erkennen. - Der hatte auch einen, sagte Nadin.
Sie redeten nun alle auf einmal. Pascal wurde wieder und wieder bedrängt, die Worte seines Vaters zu wiederholen. Endlich war die Mutter zurückgekommen. Sie hatte Siegbert besuchen können. - Er ist außer Gefahr, sagte sie. Die ganze Familie und Pascal brachen in Jubelrufe aus. Schließlich rief die Mutter: Jetzt haben wir zwei Gründe für eine kleine Feier. Den guten Ausgang von Ulfrieds Unfall und natürlich Pascals Geburtstag.
Bald saßen alle um den großen Tisch, den Nadin inzwischen gedeckt hatte. - Sie müssen zulangen, sagte die Mutter zu Pascal und legte ihm selbst ein Stück von der Buttercremetorte auf seinen Teller. Am Schluss der Kaffeestunde sagte die Muter zu Nadin: Weiß Pascal schon von dem Wettbewerb, an dem Ulfried sich beteiligt hat, und dass er vielleicht einen Preis bekommt? - Nein, erwiderte Nadin: Aber das soll Ulfried selbst erzählen.
Ulfried bekam einen Hustenanfall vor Aufregung und begann zögernd von seiner Arbeit an dem Objekt zu berichten: Es handelt sich um einen Balkon für ein historisches Gebäude, der ein kunstgeschmiedetes Geländer erhalten soll. Ich habe das Modell entworfen und in Vaters Werkstatt angefertigt. - Vielleicht sehen Sie es sich einmal an, fragte der Vater an Pascal gewandt. - Gern, sehr gern, so Pascal.
Es war, als sei Ulfried mit dem Betreten der Werkstatt in eine ihm vertraute Welt gelangt, die ihm Schutz bot und seinen Unfall vergessen ließ. Fast tonlos sagte er nur: Hier, und zeigte auf das Modell des Balkons, das auf einer hölzernen Werkbank aufgestellt war. Pascal, dem man gewissermaßen einen Ehrenplatz eingeräumt hatte, stand vor den anderen allein vor dem Modell und war überwältigt: Das ist ja ein Meisterwerk, sagte er schließlich. Das Balkongeländer war an der Vorderseite nach außen vorgewölbt. Seine Fläche bestand aus dünnen vertikal angeordneten Stäben, die nach beiden Seiten mit floralen Elementen versehen waren. Beim näheren Hinsehen erkannte Pascal, dass sie Blätter darstellten. Blätter von verschiedener Form und Größe. Man konnte glauben, in ein beblättertes Astwerk aus Eisen zu blicken. Die beiden seitlichen Flächen waren stärker vorgewölbt. Dadurch wurde der Eindruck verstärkt, ein lebendiges Blätter- und Astwerk vor sich zu haben. Das Ganze war mit Metallbändern wie von einer Kopf- und Fußleiste eingefasst.
Pascal hatte sich zu Ulfried umgedreht, der mit angespanntem Gesicht seitlich von seinem Vater stand, und streckte ihm unwillkürlich beide Hände entgegen. - Ich gratuliere dir, sagte er bewegt. Ich freue mich, dass du den Preis bekommen wirst.
Ich komme noch ein Stück mit, sagte Nadin, als Pascal sich in der Diele von den Reicherts verabschiedet hatte. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen. Ein lauer Wind ging und verwehte Nadins Haar, das sie sich ein paarmal aus der Stirn strich. - Es ist heute, im März, schon erstaunlich warm, sagte Pascal. Dann schwiegen sie eine Weile. Nadin hatte ihre Hand unter Pascals Arm geschoben. Sie dachte wohl an Ulfrieds Schießunfall, denn sie sagte plötzlich: Jetzt hat er erlebt, wie es ist, auf Menschen statt auf Scheiben zu schießen. - Ob sich an seiner Einstellung zum Krieg etwas ändert? fragte Pascal. - Ich weiß es nicht, erwiderte Nadin: Der Vater, aber auch Gotthold nehmen den Vorfall lediglich als Unfall. Gotthold vermutet sogar einen technischen Defekt an dem Gewehr. Keiner erwähnte Ulfrieds Schießmotiv. - Schießmotiv? - Ulfried hatte doch gesagt: Jetzt bist du ein Franzose. Danach schwieg sie. Ein Schweigen, von dem Pascal glaubte, sie überlege eine Sache, die auszusprechen schwierig wäre. Und dann sagte sie sehr leise: Ich glaube, ich muss es dir sagen: An irgendeiner Stelle des Berichtes, den er dem Vater gab, sagte er, wenn es nur ein Franzose gewesen wäre, aber es war eben kein Franzose. Dabei stampfte er mit dem Fuß auf.
Die Straßenlampen waren angegangen. Pascal blieb abrupt unter einer Laterne stehen. Ihr Schein fiel auf Nadins Gesicht, und er sah, dass sie weinte. Er ist doch mein Bruder, sagte sie schluchzend. Pascal küsste sie und sie umschlang ihn heftig. - Das hat er wohl auch aus Trotz gesagt, meinte Pascal begütigend: Immerhin hat er heute von vergossenem Blut gesprochen. Sie gingen weiter. Nadin schmiegte sich an ihn. Schaufenster warfen ihr Licht über den Bürgersteig. Viele Fenster an den Häuserfronten waren erleuchtet. Menschen eilten hin und her. Kutschen fuhren; ihre Laternen erhellten die Fahrbahn. Nadin blieb stehen, schaute in den Himmel: Sieh mal, der Orion! Und plötzlich: Ich habe solche Angst, dass es Krieg geben könnte.
***
Am kommenden Sonntag trafen sich Nadin und Pascal mit Lucie und Ferdinand zu einer Bootsfahrt auf der Plathe. Vor dem Bootsverleih beratschlagten sie, was für ein Boot sie nehmen wollten. Pascal war für ein zweisitziges Ruderboot für jeweils ein Paar, aber Ferdinand und vor allem Lucie fanden es besser, wenn sie in einem Boot fahren würden. Schließlich mieteten sie ein großes Ruderboot für vier Stunden. Ferdinand übernahm die Ruder: Fürs erste, wie er sagte
Pascal wollte das Steuer bedienen, aber Lucie verlangte das Amt für sich. Auf diese Weise konnte sie Ferdinand ins Gesicht sehen. Zwischen ihnen und nebeneinander saßen Nadin und Pascal. - Dafür, dass ihr euch ins Gesicht sehen könnt, fassen wir uns an den Händen, rief Nadin fröhlich und ergriff Pascals rechte Hand. So glitten sie eine Weile schweigend dahin. Der Fluss machte hier zahlreiche Biegungen. Ein lauer Wind kräuselte seine Oberfläche, in der sich ein blaufarbener Himmel spiegelte, zusammen mit dem tausendfältigen Grün der Büsche, Bäume und hohen Gräser, die seine Ufer säumten.
Pascal wurde allmählich unruhig. Eine Unruhe seiner Muskeln gewissermaßen, die das Stillsitzen ausgelöst hatte. Er hatte plötzlich die Vorstellung, er sei der Ruderei nicht gewachsen, lasse es zu, dass Ferdinand ihm unter die Arme greifen müsste. Solcher Art Gedanken kamen ihm mitunter, wenn er Menschen bei körperlicher Arbeit antraf. Da kam ihm manchmal sogar sein Studium fad vor, als führe es am wirklichen Leben vorbei. Diese Anderen lebten von ihrer Hände Arbeit, und ich? Was tue ich? Aber solche Stimmungen dauerten nicht an.
Er sah nun auch, wie sich mit der Zeit die Ruderarbeit auf Ferdinand auswirkte. Kleine Schweißtropfen bedeckten seine Stirn, und hin und wieder spannte er seine Kaumuskeln an. Als Ferdinand einen weit in den Fluss ragenden Ast einer Weide umfahren wollte, drohte ihm die hier stärkere Strömung vom Kurs abzubringen. Er packte die Ruder kraftvoll, um sich gegen die Strömung zu behaupten.
Da sagte Pascal: Es ist genug, lass mich mal ran. Dass Ferdinand ihm ohne Widerrede sogleich die Ruder überließ, überraschte ihn, und er fühlte eine Art Genugtuung. Es war dann nicht leicht, in dem schwankenden Kahn die Plätze zu tauschen.
Und ich, rief Nadin unmutig: Soll ich wieder nur dasitzen und mich fahren lassen? Es wäre nur billig, wenn ich mit Lucie tauschte. Und so geschah es auch.
Es waren heute nur wenige Boote auf dem Fluss. Das Blau über den Wipfeln hatte sich eingetrübt, als sie den »Wassergott« erreichten. Die Gaststätte war auf Pfählen errichtet worden, die bis in die Flussmitte reichten. Sie stiegen auf einer hölzernen Leiter bis zu einer Plattform, die dem Eingang der Stätte vorgesetzt war, und betraten den Gastraum. Im Inneren herrschte Stimmenlärm. Etwa zwanzig junge Männer saßen an einer langen Tafel, die aus aneinandergerückten Tischen bestand. Es waren offenbar Studenten der hiesigen Universität, die hier zusammengekommen waren, um ein Gelage abzuhalten. Ihre farbigen, runden Mützen wiesen sie als Korpsstudenten aus. Die Ankömmlinge sahen sich flüchtigen Blicken ausgesetzt. Zwei der Studenten, die den Blick auf den Fluss hatten, hoben ihre Gläser den neuen Gästen entgegen, wobei sie Pfiffe ausstießen, die offenbar den Mädchen galten. Nadin wies auf einen Ecktisch am Fenster, an den sie sich setzten. Auf einer Schiefertafel vor der Theke waren Tagesgerichte angeschrieben. Alle vier wählten das Fischgericht: Rotbarschfilet mit Kartoffelsalat. - Und was trinken wir? - Auch Bier, sagten die Mädchen gleichzeitig.
Nach einer Weile äußerte Pascal: Ärgerlich, dass ausgerechnet heute diese Lärmhelden unseren »Wassergott« besetzt halten. Die Reden der bierseligen Studenten waren in der Tat immer lauter und heftiger geworden. Einzelne Redner suchten ihre Thesen durch großen Stimmaufwand verständlich zu machen und gegen andere durchzusetzen Dann wieder schienen alle einer einzigen Meinung zuzustimmen und sie mit einem förmlichen Triumphgeschrei zu verkünden. Das war so, als ein dunkelblonder Bursche mit einem Backenbart und breiten Schultern schrie: Es sollte endlich einen Waffengang gegen Frankreich geben. Sämtliche Studenten sprangen von ihren Sitzen auf und brachen in ein frenetisches Geschrei aus. Ein ziemlich beleibter Kommilitone stieg auf einen Stuhl, schob seine bebänderte Mütze in den Nacken und rief: Es lebe die Einheit unseres Vaterlandes. Bei all dem wurden einige Humpen umgeworfen und Bier ergoss sich über die polierte, hölzerne Tischplatte; bildete Pfützen und tropfte schließlich an den Rändern des Tisches herunter.
Ein kleiner, schlanker Student schrie: Wir sollten hier und jetzt unseren König auffordern, endlich gegen Frankreich zu ziehen. - Ein Jubel setzte ein. Sie riefen nach dem Wirt, dass er ihnen Papier und Federn bringe, um sogleich ihre Forderung verfassen zu können.
Ferdinand, der schon eine Weile mit zunehmender Erregung die Debatte verfolgt hatte, konnte wohl jetzt nicht mehr ruhig bleiben. Er legte sein Besteck auf den Teller, stemmte beide Hände auf den Tisch und rief den Studenten zu: Ich staune, dass Sie sich so lautstark zu Preußen bekennen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass Sie beziehungsweise Ihre damaligen Kommilitonen zusammen mit deren Professoren die Annahme jener Verfassung gefordert hatten, die von der Nationalversammlung in der Paulskirche erarbeitet worden war. Der Preußenkönig war es, der sie und damit den deutschen Nationalstaat vehement abgelehnt hatte. - Das ist Geschichte, schrie einer der Studenten zurück. Es war ein großgewachsener, schlanker Mann mit dunklem Lockenhaar, das seitlich aus seiner bunten Mütze hervorquoll. - Wollen Sie etwa leugnen, dass Frankreich heutzutage die Einheit Deutschlands mit scheelen Augen betrachtet, ja, sie verhindern will? - Der deutschen Einheit wegen sind schon zwei blutige Kriege geführt worden. Meinen Sie wirklich, dass der deutsche Nationalstaat nur durch weiteres Morden erreicht werden kann? rief Ferdinand wütend. Morden! Habt ihr das gehört, schrie der Große.
Nach einer plötzlich eingetretenen Stille, in der man jetzt nur das Tropfen des Bierhahnes vernahm, brach Tumult los. Studenten sprangen auf, Stühle stürzten um. Die Worte Verräter, Franzosenfreund und der Fischfresser solle sich schämen, waren deutlich aus dem ohrenbetäubenden Lärm heraus zu hören.