Jorge - Miguel Hirsch - E-Book

Jorge E-Book

Miguel Hirsch

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Beschreibung

Miguel Hirsch lebt seit vielen Jahren als Radiojournalist in Buenos Aires. Dort, in der Heimat- und Bischofsstadt von Jorge Bergoglio, hat er viele Menschen getroffen, die den heutigen Papst Franziskus persönlich gut kennen - Verwandte, Nachbarn, Freunde, Mitarbeiter oder Partner bei verschiedenen Projekten. Sie alle haben etwas zu erzählen von ihren Erfahrungen und Erlebnissen mit Jorge Mario Bergoglio, sei es seine Schwester, seine Jugendfreundin, sein bisheriger Sprecher, sein Weihbischof, der Bürgermeister von Buenos Aires, der Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtler Adolfo Perez Esquivel oder viele andere. Sie steuern ihre persönlichen Geschichten bei, die die menschliche Seite des neuen Papstes zeigen und ein Verstehenshintergrund für seine neue Art der Amtsführung sind - kurzweilig und erhellend von Miguel Hirsch zu einem Gesamtbild zusammengeführt.

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Seitenzahl: 160

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Miguel Hirsch

JORGE

Begegnungen mit einem, der nicht Papst werden wollte

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

unter Verwendung eines Fotos von

© dpa/picture_alliance

ISBN (E-Book) 978-3-451-80142-6

ISBN (Buch) 978-3-451-33456-6

Meiner Mutter Irene

und meinen Kindern

Bettina, Pablo und Camila gewidmet

Miguel Hirsch

Der Autor bedankt sich ausdrücklich bei folgenden Personen, die eine wertvolle Mitarbeit beim Zustandekommen dieses Buches geleistet haben: Marcelo Biasatti, Pablo Graziano, Ricardo Moscato, Elsa Kelly, German Proffen, Gisela und Maximo Stürckow, Mariano de Vedia, Andres Wertheim

Inhalt

EIN NEUER PAPST

Montag, 11. Februar 2013

Die Frage nach dem Nachfolger – aus südamerikanischer Sicht

Das Vorkonklave und die Folgen

Adios, Buenos Aires

Vorentscheidung, Wahl und erste Reaktionen

Die Welt freute sich – mit einer Ausnahme

DER JESUIT »VOM ENDE DER WELT«

Das krisenreiche Verhältnis zur Familie Kirchner

Politische Verortung

Schwere Anschuldigungen

Die entscheidende Rolle von Aparecida

Den meisten Medien ein Unbekannter

Der Rabbi und »der Dicke«

Bergoglios liebstes Revier: die Elendsviertel

Die »curas villeros«

Die Wahlheimat Flores

Erste Liebe?

Das Erlebnis der Berufung

Die Gesundheit

Das Studium

Bergoglios akademischer Weitblick

»Momo«, der Gewerkschafter

Immer wieder Deutschland

ERSTE SCHRITTE IM NEUEN AMT

Die Amtseinführung – beiderseits des Atlantiks

Die erste Reise

Ein unverkennbarer Stil

Bergoglios Denken und Handeln

Verwalter und Wirtschafter

Der Argentinier im Vatikan und der Deutsche in Buenos Aires

Ein Weggefährte

Adressaten wichtiger Botschaften

Wer bin ich, zu verurteilen?

Der Weltjugendtag: Geburtsstunde des Pontifikats

Perspektiven

Anmerkungen

Zum Autor

EIN NEUER PAPST

Montag, 11. Februar 2013

In der Wohnung von Alejandro Russo klingelte am frühen Morgen das Handy. Der Rektor der Kathedrale von Buenos Aires traute der Botschaft zunächst nicht. »Der Papst ist zurückgetreten«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine Viertelstunde früher, um 11.54 Uhr MEZ, hatte die Deutsche Presse-Agentur dpa per Blitzmeldung folgende Nachricht in die Welt gesetzt: »Papst Benedikt XVI. gibt Pontifikat am 28. Februar auf.« Die Welt hielt den Atem an. Sieben Minuten später folgte die Klarstellung der dpa: Papst Benedikt XVI. habe bei einem Treffen mit Kardinälen in einer lateinisch gehaltenen Rede angedeutet, wegen seiner angeschlagenen Gesundheit sein Amt zum 28. Februar abgeben zu wollen. Radio Vatikan sprach im deutschen Programm – eine von 39 Sendesprachen – vom Amtsverzicht des Papstes. Es wurde vor allem eine Frage diskutiert: Warum sah sich Joseph Ratzinger plötzlich nicht länger in der Lage, die Weltkirche zu regieren? War Benedikt XVI. krank oder am Ende seiner Kräfte? War er ins Visier der Mafia geraten? Oder hatte er Petri Stuhl geräumt, um es auf diese Weise den Kurienmitgliedern heimzuzahlen, die ihm mit Skandalen und Unterlassungen das Regieren so erschwert hatten?

In Buenos Aires, in 13.000 Kilometern Entfernung, feierten die Argentinier an diesem heißen Montagmorgen den Karneval. Millionen Menschen hatten die Brückentage Montag und Dienstag zwischen dem Wochenende und dem Aschermittwoch dazu genutzt, einen Kurzurlaub einzulegen. Die pulsierende Hauptstadt Argentiniens, der kulturelle Mittelpunkt Südamerikas, mit ihren fast drei Millionen Einwohnern war wie leergefegt. Eine Geisterstadt. Alejandro Russo setzte sich sofort nach Erhalt der Nachricht mit dem Kardinal der Erzdiözese Buenos Aires, dem Jesuiten Jorge Mario Bergoglio, in Verbindung.

»Eminenz, der Papst ist zurückgetreten. Wissen Sie etwas davon?«

Den als Sohn italienischer Einwanderer am 17. Dezember 1936 in Buenos Aires geborenen Bergoglio, der 1958 als damals 22-Jähriger in das Noviziat des Jesuitenordens eingetreten war, erreichte der Anruf in dem kleinen, einfachen Dienstzimmer, das er an der Kathedrale hatte, nur 100 Meter vom Regierungspalast (der Casa Rosada) entfernt, also direkt an der Plaza de Mayo, mitten im Regierungsviertel der argentinischen Hauptstadt.

»Ich bekomme einen Anruf nach dem anderen, aber aus Rom hat mich bislang noch niemand informiert. Weißt du Näheres?«, fragte Bergoglio bei Russo nach.

»Ich habe die Papstrede gerade im Fernsehen gesehen.«

»Wo bist du jetzt?«

»Bei mir zu Hause. Ich liege im Bett.«

»Dann zieh dich an und komm zu mir ins Büro.«

Russo brauchte keine halbe Stunde, um die Calle San Martín 42 zu erreichen und durch einen kleinen Nebeneingang zu Bergoglios Dienststelle zu gelangen. Der Kardinal, dessen Wohnung sich im gleichen Gebäude, dem Sitz des Erzbischofs von Buenos Aires, befand, telefonierte gerade.

»Grazie, grazie«, hörte er Bergoglio sagen.

»Warum bedankst du dich?«, fragte Russo.

»Sie wollen für mich beten«, erwiderte Bergoglio und bezog sich damit auf die letzten Worte seines Gesprächspartners aus dem Vatikan: »Pregiamo per te.« Einigen in Rom war bekannt, dass Bergoglio seit seiner Bischofsernennung immer um ein Gebet bat. Es ist eines seiner Markenzeichen, mit dem er zum Ausdruck bringen möchte, dass er sich der Grenzen seines Wirkens bewusst ist und sich stets auf Gottes Hilfe angewiesen weiß.

Joseph Ratzinger habe eine revolutionäre Geste vollbracht, die einen Umschwung in der Geschichte des Vatikans bedeuten würde – so Bergoglios erste Stellungnahme, die er Russo nach Beendigung seines Telefonats anvertraute.

Noch am Vortag hatte er, wie stets, Klartext geredet und die Argentinier dazu aufgerufen, dem »Imperium des Geldes« und dessen teuflischen Auswirkungen abzuschwören und sich dem Wechsel zu öffnen. »Langsam gewöhnen wir uns daran, über die Medien die traurige Realität der heutigen Gesellschaft verkündet zu bekommen. Wir leben mit einer tödlichen Gewalt zusammen, einer Gewalt, die uns umbringt und Familien auseinanderdividiert, einer Gewalt, die Kriege und Konflikte schürt«,1 hatte er zu Beginn der Fastenzeit erklärt.

Die Frage nach dem Nachfolger – aus südamerikanischer Sicht

In Brasilien, dem größten Land Südamerikas, galt seit der Bekanntgabe des Rücktritts von Benedikt XVI. Dom Odilo Pedro Kardinal Scherer aus der Megalopolis São Paulo als einer der aussichtsreichsten Anwärter auf den Stuhl Petri. Der Nachfahre deutscher Einwanderer aus dem Saarland, der außer Deutsch und Portugiesisch auch Englisch und Französisch beherrscht, 2007 in den Kardinalsstand berufen wurde und die größte brasilianische Diözese leitet, galt als konservativ und weltgewandt. Wegen des Weltjugendtages, der im Juli 2013 in Rio de Janeiro stattfand, schaute man mit besonderem Interesse auf den jüngsten der fünf Kardinäle, die Brasilien zur Papstwahl zum Konklave entsandte – schließlich würde die Stadt am Zuckerhut zum Ziel der ersten Auslandsreise des neuen Heiligen Vaters werden. Zwar wusste in Brasilien vor Mitte März noch niemand, ob der neue Würdenträger beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro die Massen auf Portugiesisch begrüßen würde – aber heißt es nicht im Volksmund, dass Gott ein Brasilianer sei?

Die Brasilianer ihrerseits sahen in Kurienkardinal Leonardo Sandri, der mit 69 Jahren sechs Jahre älter als Kardinal Scherer und neben Jorge Mario Bergoglio zweiter argentinischer Kardinal im Konklave war, ebenfalls einen ernstzunehmenden Kandidaten. Sandri, der bereits als Nuntius in Mexiko und Venezuela gewesen war, hatte in seiner damaligen Position als Substitut im vatikanischen Staatssekretariat in der Nacht vom 2. April 2005 die traurige Aufgabe zu erfüllen, auf dem Petersplatz den Tod von Johannes Paul II. zu verkünden. Sandri wurde 2007 von Benedikt XVI. zum Kardinal ernannt.

Jorge Bergoglio, stärkster Konkurrent von Joseph Ratzinger beim Konklave von 2005, wurde 1997 zum Erzbischof von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal ernannt. Er galt wegen seines Alters von 76 Jahren eher als ein Außenseiter für die Nachfolge des zurückgetretenen Papstes. Bergoglio hatte Benedikt XVI. bereits im Dezember 2011 seinen Amtsverzicht angeboten. Längst hatte der Jesuit geplant, in die Residenz für ältere Priester zu gehen, in das schlichte Heim in der Straße Condarco im Stadtteil Flores, wo er geboren wurde. Aber Benedikt XVI. entschied anders und verlängerte Bergoglios Amtszeit als Erzbischof dieser großen Diözese um weitere zwei Jahre – weit mehr als eine päpstliche Höflichkeitsgeste, die in solchen Situationen üblich ist. Trotzdem rechnete der Argentinier im Innern fest damit, noch im Laufe des Jahres 2013 aus diesem Amt entlassen zu werden, auch wenn er gegenüber seinen engsten Mitarbeitern durchaus nicht den Anschein erweckte, wegen seines Alters oder aus gesundheitlichen Gründen abdanken zu müssen.

Der Gedanke, dass sich die Zukunft des Kardinals außerhalb von Buenos Aires abspielen könnte, war den meisten Vertrauten von Jorge Bergoglio völlig fremd. Zu tief war Bergoglio in den Sitten und Gebräuchen seiner geliebten Geburtsstadt verwurzelt. Es gab jedoch auch Stimmen, die dem Kardinal in Europa dennoch nicht unerhebliche Chancen einräumten, darunter die Mitglieder der argentinischen Bischofskonferenz. So hatte deren Sprecher, Federico Walls, schon wenige Stunden nach dem historischen Rücktritt von Papst Benedikt XVI. erklärt, dass Bergoglio in ganz Lateinamerika ein sehr respektierter Kandidat sei.2 Während bei den Buchmachern in der britischen Hauptstadt der Name von Jorge Bergoglio weit abgeschlagen auf Platz 44 zu finden war, hatten offenbar einige wenige in den kirchlichen Kreisen von Buenos Aires den Kardinal nicht gänzlich abgeschrieben.

Warum auch sollte Jorge Mario Bergoglio dieses Mal erneut am Votum der Kardinäle scheitern? Schließlich war der Argentinier vielen der Kardinäle, die am letzten Konklave vor acht Jahren teilgenommen hatten, sehr gut in Erinnerung geblieben. Schon damals galt der Südamerikaner einigen italienischen wie französischen Medien als weltoffener, behutsamer Vermittler.

Die Regierung in Buenos Aires, wie es hieß, favorisierte den kanadischen Kardinal Marc Ouellet, den Präfekten der Kongregation für die Bischöfe und Vorsitzenden der Kommission für Lateinamerika. Für die meisten Kurienkardinäle galt Bergoglio zunächst als Außenseiter. Nicht so für den Kardinalbischof und Leiter des Konklaves Giovanni Battista Re, einen engen Freund und starken Befürworter seiner Kandidatur. Re könnte hinsichtlich einer Mehrheitsfindung eine entscheidende Rolle auf dem Weg Bergoglios zum Oberhaupt der katholischen Kirche gespielt haben. Viele Kardinäle begrüßten, dass der Argentinier über keine eigene Lobby verfügte. Nach Auskunft der ehemaligen Menschenrechtlerin Alicia Oliveira – einer langjährigen Freundin und Vertrauten von Bergoglio, deren jüngster Sohn sein Patenkind ist – soll es um Héctor Aguer, den Erzbischof der argentinischen Provinzhauptstadt La Plata, Kreise gegeben haben, die seine Kandidatur kolportierten. Oliveira kennt Bergoglio seit Anfang der 70er-Jahre und ist auf Einladung von Cristina Kirchner zur Amtseinführung nach Rom in der Präsidentenmaschine mitgeflogen.

Der neue Papst solle ein Lateinamerikaner sein, hörte man unisono in den wichtigsten Hauptstädten des Subkontinents. Schließlich sei dies nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch ein tragfähiger Kompromiss, sollte bei den Wahlgängen im Konklave eine Pattsituation entstehen.

Eine knappe Woche vor seinem ursprünglichen Abflugdatum zum Konklave erklärte Bergoglio seinem Assistenten Russo: »Alejandro, ich habe meinen Flug nach Rom vom 1. März auf den 26. Februar vorverlegt.«

Alejandro Russo, einem Experten für kanonisches Recht, zufolge hat der Kardinal diese Entscheidung nicht begründet. Es bleibt ein Rätsel, warum Bergoglio ursprünglich erst am 2. März 2013 in Rom eintreffen sollte. Schließlich war seit Ratzingers Rücktrittsankündigung vom 11. Februar bekannt, dass die offizielle Verabschiedung, an der alle Kardinäle teilnehmen konnten, für den 28. Februar vorgesehen war. Möglicherweise hielt Bergoglio es zunächst für nicht notwendig, beim Rücktritt von Benedikt XVI. dabei zu sein. Schließlich lag der Papst nicht im Sterben. Wäre dies der Fall gewesen, hätte sein persönliches Erscheinen eine andere Bedeutung gehabt.

Russo interpretiert Bergoglios Handeln folgendermaßen: »Er hörte auf meine Empfehlung. An einem Samstag (dem 23. Februar) informierte mich Bergoglio von seiner Entscheidung, den Flug nach Rom früher anzutreten. Er wolle nun am 26. Februar und nicht erst am 1. März abfliegen. Es sehe nicht gut aus, wenn der Erzbischof an der Verabschiedung des Papstes nicht teilnehmen würde. So kam es, dass Bergoglio seinen Flug vorverlegte.«

Hat also Bergoglio seine Meinung geändert und entschieden, früher nach Rom zu fliegen, weil er sich, wie Alejandro Russo behauptet, auf seinen Ratschlag verlassen hat? Möglich wäre auch, dass er mit seiner Präsenz einflussreiche Kurienkardinäle irritieren wollte, in deren Augen der Argentinier den Ruf eines rebellischen »enfant terrible« hatte. Sein Verhältnis zur Kurie war jedenfalls, abgesehen von wenigen Ausnahmen, traditionell belastet.

Die Beziehung zwischen Joseph Ratzinger und Jorge Mario Bergoglio galt dagegen als ausgezeichnet. Bergoglio hat den deutschen Papst immer sehr geschätzt. Das Kirchenoberhaupt aus Bayern und der Kardinal aus Buenos Aires teilten viele Ansichten. So stimmte Bergoglio mit Benedikt XVI. insbesondere darin überein, dass sich die Kirche in ihren Ämtern und Strukturen der Gegenwart anzupassen und grundsätzlich zu verschlanken habe. Benedikt XVI. bezeichnete dieses Programm während seiner vielbeachteten »Vermächtnisrede« in Freiburg, die er im Rahmen seines Deutschlandbesuches im September 2011 hielt, mit dem bis heute weder richtig verstandenen noch hinreichend interpretierten Begriff der »Entweltlichung« der Kirche.

Dieser Gedanke trifft den Nerv von Jorge Bergoglios Überzeugung und seines jahrelangen Handelns. Im Gegensatz zu dem Deutschen mangelte es Bergoglio allerdings nicht an der Kraft, grundlegende Reformen auch durchzusetzen – im Gegenteil: Als Papst hat Franziskus gleich zu Beginn seines Pontifikats die Initiative der »Entweltlichung« mit der klaren Richtungsvorgabe einer armen Kirche für die Armen aufgegriffen, und zwar mit der Aufforderung, dass die »Entweltlichung« beim Einzelnen zu beginnen und sich im Sinne der Nächstenliebe auch auf den Einzelnen zu beziehen habe. Über seinen verehrten Vorgänger Benedikt XVI. äußerte sich Franziskus am Tag nach seiner Wahl vor dem Kardinalskollegium in den höchsten Tönen. Der Deutsche habe »die Kirche mit seiner Lehrtätigkeit, seiner Güte, seiner Führerschaft, seinem Glauben, seiner Bescheidenheit und seiner Sanftmut bereichert und gestärkt«.

Damit bekannte sich Franziskus von Anfang an ganz klar zu Person und Werk Benedikts XVI. und nahm zugleich vorweg, dass die Kontinuität zwischen den beiden Päpsten in wichtigen Fragen – wie beispielsweise im Hinblick auf das Verhältnis zu den Traditionen oder den familiären und sozialen Werten – gewährleistet sein würde. Heute ist Bergoglio darüber glücklich, Ratzinger in seiner unmittelbaren Nähe zu haben: »Es ist, als würde ich den Großvater zu Hause haben, aber den weisen Großvater.«

Ein intimer Kenner Bergoglios, Erzbischof Víctor Fernandez, urteilt: »Auch wenn beide sehr unterschiedlich sind, so stimmen Bergoglio und Ratzinger darin überein, dass die Kirche auf ein maßgeschneidertes Christentum für die einzelnen Individuen verzichten muss. Bergoglio macht sich möglicherweise größere Sorgen in Bezug auf den praktischen Relativismus, der sich in einem egoistischen Individualismus widerspiegelt.« Eine Kirchenlehre auf Bestellung wird es also auch unter Papst Franziskus nicht geben.

Das Vorkonklave und die Folgen

Der scheidende Papst traf zu seiner letzten Amtshandlung am 28. Februar 2013 um 11.00 Uhr in der Sala Clementina mit 144 von 208 Kardinälen zusammen, darunter auch mit Jorge Mario Bergoglio. Bis auf den kurzen, zwölf Sekunden dauernden Gruß kam es allerdings an diesem Vormittag zu keiner persönlichen Unterredung zwischen beiden. Das erste, fernmündliche Gespräch zwischen dem scheidenden und dem gerade gewählten, den wartenden Menschen auf dem Petersplatz aber noch nicht verkündeten Papst fand schon wenige Minuten nach der internen Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 13. März 2013 statt und dann nochmals am darauffolgenden Tag. Haben Ratzinger und Bergoglio schon vor der Verabschiedung von Benedikt XVI. miteinander kommuniziert? War die Terminänderung von Bergoglios Romreise in irgendeiner Form für seine Wahl ausschlaggebend?

Am ersten Tag der Sedisvakanz, dem 1. März 2013, wurden die Kardinäle von Angelo Sodano, dem Dekan des Kardinalskollegiums, aufgefordert, sich für die Vorbereitungen auf das Konklave am 4. März in Rom zu versammeln, um den 266. Nachfolger Petri zu wählen. Das Verhältnis zwischen Sodano und Bergoglio war noch nie ein gutes. Der argentinische Journalist, Buchautor und Bergoglio-Biograf Sergio Rubin flog von Buenos Aires zum Vorkonklave und verbrachte insgesamt 32 Tage in der italienischen Hauptstadt. Rubin fiel schon vor der Papstwahl auf, dass Bergoglios Gesichtsausdruck nach seiner Rede im Vorkonklave am 7. März 2013 von Tag zu Tag ernsthafter wurde – als hätte der argentinische Kardinal geahnt, was wenige Tage später auf ihn zukommen sollte. Nach den Angaben Rubins wurde Bergoglios knappe Rede über die Lage der Weltkirche und die bevorstehenden Aufgaben des künftigen Papstes von den circa 175 versammelten Kardinälen mit großem Beifall aufgenommen. Dazu später mehr.

Die acht Tage dauernde Sitzung des Kollegiums sollte dazu dienen, das künftige Profil des neuen Papstes zu skizzieren, erzählt Bergoglios Biograf, der den Onlinedienst »Valores Religiosos« leitet, eine Nachrichtenagentur, die täglich verlässliche Kircheninformationen aus Argentinien und dem Vatikan bekanntgibt. Die Mehrheit der Kardinäle habe darauf Wert gelegt, dass der zu wählende Pontifex ein Mann sein sollte, der gut mit den Medien umzugehen weiß, ohne dabei zu einem bloßen »Medienprodukt« zu verkommen. Der neue Papst sollte kommunizieren können, klare Visionen haben und Charisma ausstrahlen. Nach Rubins Meinung besteht kein Zweifel daran, dass Bergoglio gut positioniert ins Konklave hineinging, auch wenn er – Rubin – im Gespräch zugab, dass er selbst seinem Freund aus Buenos Aires keine Chancen eingeräumt hatte, zum Nachfolger Ratzingers gekürt zu werden.

Nachdem aber Bergoglio zum Papst gewählt worden war, ging er sogleich daran, die Kurienreform in die Wege zu leiten – schließlich hatten fast alle Kardinäle im Vorkonklave die Notwendigkeit einer Reform des Verwaltungsapparats hervorgehoben. Als Geniestreich bezeichnet Rubin in diesem Zusammenhang die Schaffung eines achtköpfigen Gremiums mit Kardinälen aus aller Welt – sieben von ihnen von außerhalb Roms –, um dem Papst bei den anstehenden Neuerungen beratend zur Seite zu stehen. Papst Franziskus setzte in erster Linie auf den Kommissionsleiter, den Kardinal von Tegucigalpa in Honduras, Óscar Rodríguez Maradiaga, einen allseits anerkannten Sachwalter, der politisch eher dem rechten Lager zugeordnet wird. Der Erzbischof von Santiago de Chile, Francisco Javier Errazuriz, und Reinhard Kardinal Marx von München und Freising, der unter anderem die Aspekte der von Papst Franziskus sehr geschätzten Katholischen Soziallehre in die Diskussionen einbringen soll, gehören zum engsten Beraterkreis, der Anfang Oktober 2013 zu einem ersten Arbeitstreffen zusammenkam. Bei der zweiten Zusammenkunft Anfang Dezember 2013 entschied der achtköpfige Kardinalsrat die Einrichtung einer Kinderschutzkommission, die sich insbesondere der Opferhilfe für missbrauchte Kinder und der Prävention von Pädophiliefällen widmen soll. Sergio Rubin sieht darin ein deutliches Signal dafür, dass sich Franziskus nicht mehr nur wie seine Vorgänger auf den Rat der Verantwortlichen in den Dikasterien der römischen Kurie verlassen wird.

Diese »outsiders«, wie der Papst seine Kommissionsmitglieder nennt, haben ihrerseits weitere Stimmungsbilder eingeholt und repliziert. Die Vorgehensweise, Meinungen und Vorschläge der Basis miteinzubeziehen, dient wiederum der Kollegialität, wodurch eine weitere Forderung der Kardinäle während des Vorkonklaves in die Tat umgesetzt wird. Lückenlos und ungefiltert sollen die Informationen sein, die den Papst erreichen. Franziskus lasse sich von der Vatileaks-Affäre nicht abschrecken, sagt Rubin, er werde daraus Konsequenzen ziehen. Die Tatsache, dass Bergoglio das Gästehaus Santa Marta und nicht die herrschaftliche Wohnung im dritten Stock des Apostolischen Palastes mit dem traumhaften Blick über den Petersplatz und Rom vorgezogen hat, solle auch als ein klares Zeichen dafür interpretiert werden, dass der Papst keine besondere Nähe zur Kurie sucht. Die notwendigen Veränderungen in der Kurie werde Franziskus im Verlauf von 2014 durchführen. Die sanfte Revolution, die er Rubin zufolge plant, werde den Papst viel Zeit und Kraft kosten. Der Pontifex sei sich über die Herausforderung und die damit zusammenhängenden Widerstände völlig im Klaren und beabsichtige deshalb, in Zukunft weniger zu verreisen.

Adios, Buenos Aires

Am Vortag seiner Romreise hatte er noch in den Nachmittagsstunden mit seiner elf Jahre jüngeren Schwester Maria Elena, genannt Mariela, telefoniert, neben ihm die einzige noch Lebende unter den ursprünglich fünf Geschwistern. Alberto Horacio, Óscar Adrián und Marta Regina sind bereits verstorben. Ihre Mutter war seit der Geburt von Marta Regina gelähmt, der Vater starb im Alter von 51 Jahren an einem Herzversagen. José Luis Narvaja, Cousin des Kardinals und ältester Sohn der verstorbenen Marta Regina, ist ebenfalls als Priester bei den Jesuiten tätig.

»Wenn ich zurück bin, reden wir in Ruhe. Sei brav und pass auf dich auf. Hasta la vuelta, wir sehen uns, wenn ich zurück bin.« Keine Sekunde hat Maria Elena daran geglaubt, dass der geliebte Bruder ihr bescheidenes Haus im Vorort Ituzaingo nie wieder besuchen würde. Wir werden sie später zu Wort kommen lassen.

Der Direktflug nach Rom sollte an diesem Dienstag pünktlich starten. Alejandro Russo hatte an jenem Morgen noch einige kleinere Besorgungen für Kardinal Bergoglio erledigt.

»Hoffentlich erinnern Sie sich noch an mich, wenn Sie auf dem Balkon des Vatikans als neuer Papst verkündet werden.«