Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In Jules Vernes Roman Die geheimnisvolle Insel liegt das legendäre Unterseeboot Nautilus eingeschlossen in einer Grotte unter der Insel Lincoln. Dort findet Kapitän Nemo den Tod. Aber ist das wirklich das Ende der Geschichte? Kapitän Blunt glaubt nicht an Nemos Tod und begibt sich auf die Suche nach dem verhassten indischen Prinzen. Doch er ist nicht der einzige Jäger. Die New York Times hat eine Prämie von einer Million Dollar ausgesetzt für den, der die Insel und die Nautilus findet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 171
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ned Land
TÖTET NEMO!
In dieser Reihe bisher erschienen:
1601
Ned LandHarpunierer
Tötet Nemo!
Neue Abenteuer der
© 2016 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-971-3
„Das glaube ich nicht!“ Obwohl der Mann nur flüsterte, hielten seine Gefährten unwillkürlich den Atem an. Es war einfach unmöglich, dass sich ein Fremder hier eingeschlichen hatte. Und doch: Hier war ein Unbekannter in der Höhle unterwegs.
„Das Sicherheitssystem muss versagt haben! Jeder Fremde wäre beim Betreten der Insel sofort erfasst worden! Habt ihr alles überprüft?“
Die anderen antworteten kaum vernehmbar.
„Selbstverständlich, jeden Morgen und jeden Abend. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass sich ein Fremder auf der Insel befindet.“
Acht Augenpaare folgten der Gestalt, als sie durch die Höhle lief. Sie war hinter dem U-Boot hervorgekommen und duckte sich jetzt immer wieder hinter den natürlichen Felsvorsprüngen, die es in der riesigen Grotte gab. Jede Deckung nutzte der Eindringling, wohl wissend, dass man ihn entdeckt hatte.
„Jeder Zweifel ist vollkommen ausgeschlossen?“, flüsterte Nemo.
„Das ist niemand von uns, Kapitän“, lautete die leise Antwort.
Kapitän Nemo hob das Gewehr mit der besonderen Zielvorrichtung, erfasste die Gestalt und folgte dem davon huschenden Wesen auf seinem Weg. In dem Okular auf dem Gewehrlauf erschien das gedämpfte Licht der Höhle in einem hellgrünen Schimmer, und plötzlich leuchtete ein winziger Punkt auf. Nemo zögerte keine Sekunde, krümmte den Zeigefinger und wusste im gleichen Augenblick, dass er getroffen hatte. Der Schuss brach sich unter der Felsendecke mit Donnergetöse, hallte mehrfach nach und verebbte dann.
Die Männer applaudierten, während einer von ihnen an die Stelle eilte, an der eben noch die dunkle Gestalt war. Gelächter folgte ihm, als er mit einer starken Lampe den felsigen Boden ableuchtete.
„Hier ist niemand!“, rief der Mann den anderen zu.
„Lass es gut sein, Ali, du hast es einfach nicht verstanden.“
Vorbei war es mit der Rücksichtnahme, alles redete durcheinander. Der Eindringling war doch von dem Schuss niedergestreckt worden. Hatte er sich in Luft aufgelöst?
„Robur, Sie sind ein Genie!“ Nemo drehte sich zu dem Erfinder an seiner Seite und drückte ihm die Hand. „Aber das ist nichts weiter als ein Zeitvertreib. Morgen müssen Sie beweisen, dass Sie das Lob zu Recht erhalten.“
„Oui, mon capitaine“, antwortete der Erfinder hoch erfreut. „Das wird genauso funktionieren, verlassen Sie sich auf mich.“
Die anderen Männer sahen ihrem Kapitän nach, als er die Schießanlage verließ und zurück auf die Nautilus ging. Dann räusperte sich einer von ihnen und klopfte Robur auf die Schulter. „Ich habe keine Ahnung, wie du das machst, Robur, aber der Kapitän hat wirklich nicht übertrieben – du bist ein Genie!“
„Natürlich, daran besteht ja wohl kein Zweifel“, ließ sich jetzt auch der Deutsche vernehmen. „Als du deine Erfindung vor gut einem Jahr vorgestellt hast, konnte ich nicht begreifen, wie man ein plastisches Bild eines Menschen so darstellen kann, dass es sich bewegt und offenbar auch Töne von sich geben kann. Aber diese Vorführung – alle Achtung, Robur. Das sah nicht nur echt aus, sondern schon sehr unheimlich. Und als der Kapitän geschossen hatte, war ich wirklich überzeugt davon, dass er dort einen heimlichen Besucher unserer Anlage erschossen hat.“
„Wir werden alle täglich mit dieser Vorrichtung arbeiten, meine Herren, das ist der ausdrückliche Wunsch des Kapitäns. Die Zeit der Langeweile ist vorbei. In wenigen Tagen werden wir die Pforten des Gefängnisses aufbrechen, und die Nautilus wird wieder Fahrt aufnehmen. Bis dahin ist noch viel zu tun. Ich verlasse mich auf Ihre Unterstützung am morgigen Tag“, erläuterte Robur.
Der Mann, den sie Ali genannt hatten, stand vor den anderen und schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. „Kann mir das bitte mal jemand erklären? Wo ist der Mensch geblieben, auf den der Kapitän geschossen hat?“
„Ali – es hat keinen Menschen gegeben. Das war eine optische Täuschung!“, antwortete ein großer, kräftiger Mann aus dem Halbdunkel am Anleger. „Erinnerst du dich nicht an La Stilla, die verstorbene Opernsängerin?“
„Natürlich. Vor einem Jahr hat Robur von ihr bewegte Bilder gezeigt, so, als würde sie noch leben“, erwiderte Ali.
„Richtig. Und wir konnten sie singen hören. Das war die Vorstufe, und jetzt hat er das alles perfektioniert und in eine große Anlage für uns eingebaut. So können wir testen, wie schnell wir sind – und ganz ungefährlich auf einen Eindringling schießen. Verstehst du das jetzt, Ali?“
Als Antwort kam von dem gedrungenen, muskulösen Mann nur ein Brummen.
Das Wasser in der riesigen Höhle schien hier schwarz und grenzenlos tief zu sein, ganz langsam bewegte sich die Oberfläche, und fast unwirklich waren die sanften Bewegungen des riesigen U-Bootes, das hier verankert war. Aus den großen Fenstern der Brücke und aus den Seitenfenstern kam das einzige Licht in diesem Bereich der Höhle.
Die Männer betraten den Anleger, auf den mit großen Buchstaben das Motto Nemos gemalt war: Mobilis in mobile – Beweglich im Beweglichen.
Die beiden orientalisch gekleideten Männer richteten sich auf. Das schwere Gerät stand endlich so, wie es sich der Dritte von ihnen vorgestellt hatte. Es war ein seltsames Trio, das sich auf dem Hügel der Insel um eine in der Sonne golden glänzende Maschine bemühte.
Eben streckte sich der untersetzte, aber sehr muskulöse Orientale und rieb sich über den bloßen Oberkörper, um den Schweiß abzustreifen. Der andere richtete sich hoch auf und bot einen seltsamen Anblick. Wer ihn von nahem betrachtete, erkannte die stark ausgeprägten indianischen Gesichtszüge. Der Mann war mindestens 1,90 Meter groß, ebenfalls sehr muskulös, aber mit einem Leinenhemd bekleidet. Umso größer war der Kontrast zu dem Dritten, der sich jetzt über die Maschine beugte. Karl Friedrich von Greifenberg legte auch auf der einsamen Insel Wert auf korrekte Kleidung. An diesem heißen Tag war er lediglich bereit, sein Jackett abzulegen und arbeitete nun in Weste und mit schneeweißem Hemd, dessen Manschetten einmal umgeschlagen waren.
„Jetzt den Spiegel, aber Vorsicht!“, gab er eben die nächste Anweisung.
Der Indianer griff in die Holzkiste, zog einen Gegenstand hervor und wickelte ihn aus der dicken Filzverpackung. Dann reichte er die glänzende Scheibe an den Deutschen, der sie gleich darauf in eine Halterung an der Maschine einrasten ließ.
„Wie viel Zeit benötigst du, Fritz?“, erkundigte sich der Indianer.
„Etwa eine halbe Stunde. Du kannst dem Kapitän Bescheid sagen, es ist alles für den Schuss bereit.“
Der Indianer brummte nur etwas, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Hügel hinunter an den Strand zurück. Hier lag das kleine Boot, mit dem die drei Männer ihre Ausrüstung transportiert hatten. Er griff die Ruder auf und stieß das Boot vom Ufer ab, überwand mit wenigen Schlägen den leichten Wellengang und erreichte das Riffatoll. Der Wind stand günstig. Ahmik richtete den kleinen Mast auf, eine leichte Brise ergriff die Leinwand, das Boot nahm Fahrt auf und umrundete die Insel mit leicht schäumender Bugwelle.
Neben der Felsennadel ließ der Indianer das Segel fallen, machte mit der einfachen Pinne einen Bogen und hielt mit der Strömung direkt auf die Höhlenöffnung zu. Noch während das kleine Boot in langsamer Fahrt den Eingang passierte, richtete sich der Indianer auf und manövrierte sein Fahrzeug an dem riesigen Stahlkörper entlang, der hier vertäut war.
Dann hielt er sich an einer der mächtigen Seitenflossen fest und blickte zur Kommandobrücke, von der eben ein schlanker, hochgewachsener Mann langsam zu ihm herunter schritt. Kapitän Nemo hatte leicht ergrautes Haar, ging aber kerzengerade und sprang mit einem eleganten Sprung in das Boot, der seinen durchtrainierten Körper bewies. Er hatte das Boot kaum zum Schaukeln gebracht, und Ahmik stieß sofort wieder ab, bewegte die Ruder und trieb das Fahrzeug aus der Höhle. Für einen Moment musste er geblendet die Augen schließen, als sie das Dämmerlicht der Höhle verließen und in das Sonnenlicht fuhren. Gleißend fielen die Strahlen der bereits senkrecht am wolkenlosen Himmel stehenden Sonne auf das azurblaue Wasser der kleinen Lagune.
Aber keiner der beiden Bootsinsassen hatte einen Blick für die Schönheit der Natur, die sich auch in der reichen Unterwasserwelt hier im kristallklaren Wasser erblicken ließ. Wenig später scharrte der Bug wieder auf dem weißen Sandstrand, und Nemo war bereits unterwegs, ehe der Indianer das Boot noch an einem Stein sichern konnte. Gleich darauf schritt er hinter ihm den Hügel hinauf, auf dem die beiden anderen Männer neben der Maschine warteten.
Nemo nickte ihnen kurz zu, dann trat er neben den Deutschen.
„Kapitän“, sprach ihn von Greifenberg an, „es ist alles für Sie bereit. Die Sonne steht genau im Zenit, der Spiegel kann die Energie bündeln. Wenn Sie hier bitte Platz nehmen, dann ist alles andere ein Kinderspiel.“
Nemo sah kurz auf die längliche Maschine, die nur ganz entfernt an einen Gewehrlauf erinnerte. Dann nahm er Platz auf dem Klapphocker, der für ihn bereit stand, klemmte sich das Schulterstück ein, visierte über den Lauf und suchte mit dem Zeigefinger den Druckpunkt.
Er war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit alles an dieser insgesamt gewaltigen Maschine ineinander lief und sich bewegte. Schon beim Anheben des Schulterstückes bemerkte er das leichte Summen, und als er den körperlichen Kontakt gefunden hatte, übertrug sich ein leichtes Vibrieren auf seinen Körper.
„Was macht Sie so sicher, Kapitän Blunt?“ Der Steuermann warf noch einmal einen zweifelnden Blick auf die Karten, die sein Kapitän auf dem Tisch ausgebreitet hatte. „Ich meine, es steht doch überhaupt nicht fest, dass es die Insel gibt. Und wir segeln nun schon seit zwei Wochen auf diesem Kurs und sind weit mehr als tausend Seemeilen von Neuseeland unterwegs. Da befindet sich keine bislang unentdeckte Insel.“
Blunt warf seinem Steuermann einen belustigten Blick zu.
„Wie viele Inseln wurden in der letzten Zeit durch Zufälle entdeckt, Steuermann?“
Der Mann zuckte die Schultern. „Ich habe keine Ahnung, Käpt’n. Ich habe jedenfalls noch nie eine neue Insel entdeckt, und ich fahre nun schon meine dreißig Jahre zur See.“
Blunt schlug mit der flachen Hand auf die Seekarte.
„Das ist auch der Grund, weshalb ich dich angeheuert habe, Billy. Vertrau deinem Käpt’n und seinem Instinkt. Und natürlich der alten Karte der Amerikaner. Wir holen uns Nemos Schätze von der Insel. Und sollte er noch in seinem verdammten U-Boot stecken, werden wir ihn töten, verstehst du mich? Er hat mir alles genommen, und jetzt werde ich es ihm endlich heimzahlen. Wir haben nur ein Ziel vor uns: Die Insel, und damit die unermesslichen Schätze dieses angeblichen Prinzen. Und dann werde ich ihn mir vorknöpfen – ich persönlich – und ihn töten. Das wird meine Rache sein, für alles, was ich seit unserer ersten Begegnung erleben musste.“
Blunt strich in einer nervösen Geste durch seinen struppigen Bart und fuhr über die feuerrote Narbe, die sein Gesicht entstellte.
Dann deutete der Kapitän auf eine weitere Seekarte, die durch nautisches Besteck daran gehindert wurde, sich wieder zusammenzurollen. Das Papier war alt und fleckig, manches der handgezeichneten Details kaum noch mit dem Auge erkennbar. Die Umrisse der eigenartig geformten Insel waren jedoch deutlich genug. Der mächtige Vulkan schien sie zu beherrschen und zugleich der Insel ein unverkennbares Aussehen zu geben.
Der Steuermann wollte sich gerade abwenden und auf das Deck zurückgehen, als direkt vor ihm die Kajütentür aufgerissen wurde und der Bootsmann aufgeregt ausrief: „Käpt’n, können Sie bitte mal an Deck kommen?“
Blunt sah überrascht auf. „Habt ihr Land gesichtet?“, fragte er.
„Nein, Käpt’n, aber Nebel“, antwortete der Bootsmann.
„Nebel? Hast du getrunken?“ Blunt musterte seinen Bootsmann kurz, aber der sah ihn ernst an und deutete nach oben. Mit raschen Schritten eilte der Kapitän auf das Deck zu seinem Zweiten Steuermann. Viele der Matrosen standen auf der Steuerbordseite und starrten über das ruhige Meer.
Der Ozean spiegelte die Sonne vom wolkenlosen Himmel mit tausenden von Lichtreflexen, die dazu beitragen konnten, die Sicht zu beeinträchtigen. Aber was Blunt am Horizont erblickte, verschlug ihm den Atem.
„Nebel! Das ist doch nicht möglich! Wir haben bestes Wetter, das Barometer zeigt keine Veränderung an – und dort ist eine dichte, weiße Nebelbank?“ Gleich darauf griff er nach dem Fernglas, stellte es für seine Augen ein und warf einen erneuten Blick in die Ferne.
„Habe ich richtig gesehen, Käpt’n?“, wollte der Bootsmann wissen.
„Schon gut“, brummte Blunt als kurze Antwort, ohne das Glas abzusetzen. Was hatte das zu bedeuten? Die Wetterverhältnisse in diesen Breitengraden ließen keine Nebelbildung zu, und wenn hier eine so deutlich erkennbare weiße Nebelwand war, dann musste das eine besondere Ursache haben. Ein Verdacht stieg in ihm auf. Er stellte das Glas auf die Ablage zurück und wandte sich zu seinem Zweiten Steuermann.
„Kurs auf die Nebelbank beibehalten. Vor der Wand beidrehen. Das kann eine ganz andere Ursache haben.“
„Was meinen Sie mit anderer Ursache?“, wollte der Erste Steuermann, der ebenfalls an die Reling getreten war, wissen.
Blunt warf ihm einen kurzen Blick zu, dann deutete er auf den Horizont.
„Dort liegt die Insel.“
Billy griff das Glas, drehte an den Gläsern und setzte es wieder ab.
„Ich kann nichts erkennen, nur Nebel.“
„Der die Insel verbirgt, Billy.“
„Lincoln Island?“
„Sicher. Oder die Ile Lincoln, wie der Franzose schrieb. Oder, wie sie wohl richtig heißt: Vulcania.“
Damit stapfte Blunt zum Niedergang und war gleich darauf unter Deck verschwunden.
„Vulcania!“ Der Bootsmann schnaubte verächtlich durch die Nase. „Glaubst du das, Billy?“
Der Steuermann blieb die Antwort schuldig.
Die Seahunter machte auch mit wenig Wind in den Segeln gute Fahrt. Der schlanke Viermaster mit Klipper-Takelung glitt elegant durch die kristallklare Flut und hatte sich innerhalb der vergangenen Stunde der Nebelbank rasch genähert. Kapitän Tomas Blunt stand wieder auf dem Deck seines Schiffes und musterte die weißgraue Wand, die nicht den Eindruck erweckte, dass man sie einfach durchkreuzen konnte und danach wieder im strahlenden Sonnenschein weitersegelte. Als er jetzt das Fernglas mit einem entschlossenen Ruck absetzte und seine angetretene Mannschaft musterte, huschte ein gefährliches Lächeln über sein von einer breiten Narbe entstelltes Gesicht. Der lange, schwarze Vollbart trug mit dazu bei, ihm ein diabolisches Aussehen zu verleihen. Wer Kapitän Blunt einmal gesehen hatte, meinte, einem der alten Seeräuber begegnet zu sein. Und so falsch war dieser Eindruck auch nicht.
„Mr Collins, sind die Kanonen bereit?“
„Aye, Sir!“, antwortete ihm sein Kanonier mit tiefer Stimme und salutierte dazu, als wäre er an Bord eines englischen Kriegsschiffes.
„Jeder Mann weiß, was er zu tun hat. Sofort nach dem Segelmanöver werden die Maßnahmen durchgeführt. Denkt daran, um was es bei dieser Fahrt geht, unterschätzt dabei nicht Euren Gegner.“ Noch ein finsterer Blick in die Runde, dann nickte Blunt zufrieden. Diese Mannschaft war ein Glücksfall. Seit Jahren hatte er die Männer nach ihren Fähigkeiten ausgesucht und in zahlreichen Gefahren auf den Weltmeeren erprobt. Sklaven aus Afrika, Schmuggelfahrten während des letzten Krieges, Überfälle auf reich beladene Handelsschiffe, das war ihr Geschäft. Bislang sehr erfolgreich. Aber jetzt wollte Blunt einen Gegner herausfordern, wie ihn noch niemand erlebt hatte.
Tomas Blunt warf einen letzten Blick auf die Nebelwand, dann nickte er dem Ersten Steuermann zu. Kommandos tönten über das Deck, Leinwände wurden gerafft, die Seahunter verlangsamte ihre Fahrt und beschrieb einen großen Bogen. Dann lag sie in der leichten Dünung vor der weißgrauen Wand längsseits.
Geschmeidig öffneten sich die Geschützpforten und entblößten eine Doppelreihe 24-Pfünder.
Die Matrosen eilten an die Reling, lösten die Taue für die montierten Netze und ließen sie mitsamt den daran befestigten Gewichten in die klare Flut hinuntergleiten. Der Bootsmann beobachtete, wie die Blasen daran aufstiegen und an die Wasseroberfläche stiegen.
„Alles bereit, Käpt’n“, meldete er.
„Schön. Wir werden abwarten, was passiert. Unser Gegner hat den ersten Schlag.“
Tomas Blunt lehnte sich an die Schanz, während seine Gedanken an die letzten Ereignisse vor ihrer Fahrt zurückeilten.
Die Männer wurden auf eine harte Geduldsprobe gestellt.
„Professor Pierre Aronnax? Monsieur, bitte, einen Moment!“
Der ältere Herr in Frack und Zylinder drehte sich im Gehen um und warf seinem Gegenüber einen unfreundlichen Blick zu. Was er erblickte, veranlasste ihn nur, seine Schritte zu beschleunigen. Schon hatte er seine Haustüre erreicht, den Schlüssel in der Hand. Hastig drehte er ihn zweimal herum und stieß die Tür auf, als ihn sein Verfolger auch schon eingeholt hatte.
Der Professor wandte sich halb gegen den kräftigen Seemann und wollte ihn von sich stoßen, als er einen heftigen Schlag gegen den Kopf verspürte und ohnmächtig zusammenbrach. Der Seemann fing seinen Körper geschickt auf und schob ihn durch die geöffnete Tür in das Haus. Mit dem Fuß trat er nach dem heruntergefallenen Zylinder, der auf diese Weise ebenfalls im Flur landete. Gleich darauf drückte er die Tür hinter sich zu, schleppte seine schwere Last in ein großes Zimmer und legte den Ohnmächtigen auf einer Ottomane ab. Aronnax versank geradezu in den zahlreichen, weichen Kissen, mit denen diese Liege ausgestattet war. Noch immer hatte er sich nicht gerührt, und der Seemann zog ungerührt die Vorhänge zu, bevor er auf einem Stuhl gegenüber der Ottomane Platz nahm.
„Wasser!“, stöhnte der Professor, als er die Augen aufschlug und sich verwundert umsah. Dann erkannte er sein Gegenüber und wollte sich mit einer schnellen Bewegung aufsetzen. Aber der Schlag war kräftig genug, um noch immer zu schmerzen, und mit einem erneuten Stöhnen sank der Meeresbiologe in die Kissen zurück.
„Hören Sie mir zu, Professor!“, drang eine dunkle, raue Stimme an das Ohr des Wissenschaftlers. „Ich komme gleich zur Sache. Und Sie sollten sich Ihre Antworten gut überlegen, es könnte sonst sehr schmerzhaft für Sie werden.“
„Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir? Wie kommen Sie dazu, mich vor meiner eigenen Haustüre niederzuschlagen und dann hier einzudringen? Ich verlange von Ihnen auf der Stelle, dass …“
Der Professor brach ab und starrte auf die mehrläufige Pistole, die ihm der Seemann direkt vor das Gesicht hielt.
„Falsch, ganz falsch, Professor Aronnax. Sie haben überhaupt nichts zu fordern. Wenn Sie nicht bereit sind, mit mir zu reden, werde ich meinen Fragen Nachdruck verleihen müssen, auch wenn ich persönlich körperliche Gewalt ablehne.“ Bei diesen Worten verzog sich das wettergebräunte Gesicht des Seemannes zu einem höhnischen Lachen. Der Mann hatte eine unangenehme Art an sich, und die furchtbare Narbe quer über sein Gesicht war feuerrot und verlieh ihm ein dämonisches Aussehen. Offenbar versuchte er gerade, mit seinem wuchernden, schwarzen Bart diesen Anblick etwas zu mildern, aber die Narbe begann auf der rechten, unteren Kinnhälfte und lief quer über die Nase bis zur linken Stirnseite. Der kräftige Hieb, der sie verursachte hatte, musste die Nase zertrümmert haben, und der Arzt, der sich anschließend daran versucht hatte, war offenbar kein Meister seines Faches gewesen.
„Was wollen Sie? Ich habe kein Geld im Haus, und kann Ihnen nur eine Kleinigkeit aushändigen, die ich bei mir trage.“
Mit einer verächtlichen Bewegung wischte der Seemann durch die Luft. „Geld interessiert mich nicht. Oder sagen wir besser: Im Moment nicht. Es geht vielmehr um eine Landkarte.“
„Was für eine Landkarte? Ich bin Meeresbiologe und kein Landkartenzeichner, Monsieur. Sie müssen sich in der Person irren.“
Bedrohlich schwenkte die Pistole des Seemannes erneut vor sein Gesicht, dann senkte sich die Waffe plötzlich und Aronnax verspürte einen unangenehmen Druck auf seinem Knie.
„Halten Sie mich nicht zum Narren, Professor. Ich will die Landkarte, in der Sie die Position der Lincoln-Insel eingetragen haben.“
Der Wissenschaftler spürte, wie sich der Druck der Pistole drohend verstärkte. Fieberhaft eilten seine Gedanken in alle Richtungen, um eine glaubhafte Ausrede zu finden. Ein Blick in das vor Wut verzerrte Gesicht des Seemannes genügte jedoch, um zu antworten:
„Sie meinen die Ile Lincoln?“
„Auch Vulcania genannt, Herr Professor. Sind Sie nun davon überzeugt, dass ich mich auskenne? Aber genug des Geschwätzes. Sagen Sie mir, wo sich die Karte befindet, oder ich zerschieße dieses Knie zuerst, danach das andere. Wie lange können Sie diese Schmerzen wohl aushalten? Und Sie werden für immer zum Krüppel, Professor. Also, überlegen Sie, ob Sie mir Ihr Geheimnis anvertrauen wollen. Keine Sorge, es befindet sich bei mir in den besten Händen.“
Aronnax stöhnte leise auf und deutete mit der rechten Hand auf ein Bücherregal neben der Tür.
„Dort drüben, in der zweiten Reihe, hinter der Buchreihe. Dort ist eine kleine Kiste, in der sich die Karte befindet. Der Schlüssel dazu befindet sich hier an meiner Uhrenkette. Aber es ist völlig unsinnig, was Sie vorhaben. Die Karte ist nicht nur sehr ungenau, sondern sehr viel später aus dem Gedächtnis heraus gezeichnet.“
Während er noch sprach, riss ihm der Seemann bereits mit brutaler Gewalt die Uhrenkette aus dem Knopfloch, richtete sich auf und drehte sich zu dem Regal um.
In diesem Augenblick krachte ein Schuss, der Seemann wirbelte auf dem Absatz herum und fiel gegen die Bücherwand. Ein Blutfleck breitete sich auf seinem Hemd aus, dann hatte er sich gefangen und hob die Hand mit der mehrläufigen Pistole.