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Jungmädelgeschichten ist eine Kurzgeschichten Sammlung der deutschen Schriftstellerin Else Ury. Tauche ein in eines der zahlreichen Abenteuer und erfahre mehr über die Geschichte der zwei Geschwister Ruth und Anni, in welcher eine der zwei Schwestern Kinderhirtin wird. Oder gehe mit Ilse auf die Reise nach Berlin, wo sie zu ihrer Cousine zieht - die ebenfalls Ilse heißt. Diese und noch viele weitere spannende Geschichten warten in diesem Buch.-
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Seitenzahl: 249
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Else Ury
Saga
Jungmädelgeschichten
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1923, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726884586
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Es ging heute recht lebhaft in der vierten Klasse zu. Still war es nie in der Zwischenpause. Das summte stets wie in einem Bienenstock durcheinander. Aber heute mußte doch wohl noch etwas Besonderes los sein. Der größte Teil der Schülerinnen hatte sich um eine zierliche Blondine geschart und sprach in sichtbarer Aufregung auf sie ein. Die hielt sich lachend die Ohren zu.
»Kinder, nicht mehr als sechse auf einmal! Seid doch bloß mal einen Augenblick ruhig, sonst kann ich euch eure Frage doch unmöglich beantworten. Ja – also sie kommt. Morgen schon. Mein Onkel bringt sie zu uns, weil die Reise von Ostpreußen mächtig weit ist. Sie heißt Ilse, gerade so wie ich, nach einer gemeinsamen Tante. Ein Jahr ist sie älter als wir. Aber Muttchen meint, wer weiß, ob sie die Reife für die dritte Klasse hat, weil sie eine Kleinstadtschule bisher besuchte. Ach, wißt ihr, eigentlich wünsche ich, sie wäre noch nicht weiter als wir und käme in unsere Klasse. Ich freue mich schrecklich auf sie. Immer habe ich mir eine Schwester gewünscht. Und eine Kusine, die zwei Jahre oder noch länger im Hause bleibt, ist beinahe ebenso gut.« Die lebhafte Ilse vollführte vor Freude über die in Aussicht stehende Hausgenossin einen Luftsprung. Dabei trat sie Trude Berg auf den Fuß, was diese zu einem schmerzhaften Quieken veranlaßte, über das die anderen in lautes Lachen ausbrachen.
Keiner vernahm die mißbilligenden Worte des eintretenden Lehrers. »Sind wir denn hier in einer Mädchenschule oder auf einem Jahrmarkt?« Keiner sah, wie ärgerlich Professor Reuter das Katheder bestieg und sich schneuzte. Erst als es von dort oben mit verdoppelter Tonstärke herabklang: »Ilse Klein, wenn du weiter Vortrag halten willst, bin ich wohl hier überflüssig!« stob alles entsetzt auseinander. Hui – man sah im Augenblick nichts weiter als ein Knäuel von durcheinanderstrampelnden Beinen, von drängenden, stoßenden Armen, von fliegenden hellen und dunklen Zöpfen. Und dann war das Mädchenknäuel im Nu entwirrt, alles saß brav und sittsam auf seinem Platz, als ob niemals Jahrmarktstumult in der IV M geherrscht.
Ilse Klein war der Mund vor Schreck offen geblieben. Sie war so erstarrt, daß sie gar nicht daran dachte, ihren Platz einzunehmen.
»Hast du die Absicht, wie Lots Ehefrau die Stunde über als Bildsäule dort stehenzubleiben, Ilse?« Professor Reuter machte schon wieder einen seiner beliebten Späße.
Die Klasse wieherte vor Vergnügen, erfreut, daß der Lehrer wieder guter Laune war.
Ilse schoß das Blut in die zarten Wangen und das Wasser in die Blauaugen. Sie war ein etwas empfindliches junges Fräulein. »Das liegt im Alter«, pflegte die Mutter ihr Töchterchen in Schutz zu nehmen, wenn der große Rolf die jüngere Schwester mit ihren »Schleusen« aufzog. Aber Ilse war bei all ihrer Liebenswürdigkeit doch wohl etwas »wässeriger«, als man das sonst zwölfjährigen jungen Damen zubilligen kann. Auf das englische exercise, das gerade durchsprochen wurde, tropfte es feucht. Ilse wischte den klaren Kristalltropfen rasch mit dem Handrücken fort, damit ihre Nachbarinnen nicht erst sehen sollten, daß sie den Scherz des Lehrers und das Lachen der Klasse krummgenommen hatte. O weh – die Tinte verlöschte, ein blauschwarzer Schmierakel zierte die Arbeit. Nun war Ilse von Natur aus ja nicht gerade hervorragend mit Ordnungsliebe gesegnet, aber sie hatte sich besondere Mühe mit der englischen Übersetzung gegeben, da sie maßgebend für das Osterzeugnis sein sollte. Unwillkürlich und ihr selbst kaum bewußt stieg ein weniger freundliches Empfinden gegen die neue Kusine in Ilses Seele auf. Die war doch eigentlich ganz allein an dem Mißgeschick schuld.
Aber nachher auf dem Heimwege, als die Mädel es nicht besser machten als der Schwarm Spatzen, die sie durch ihre Tritte vom Fahrdamm aufscheuchten, und gerade so durcheinander schwirrten und piepsten, da malte Ilse Klein das Zusammenleben mit der neuen Kusine wieder in den herrlichsten Farben aus, so daß sich Anni Rotter, ihre erklärte Beste, doch bewogen fühlte zu äußern: »Na, hoffentlich stört deine geliebte Kusine nicht unsere Freundschaft.«
»Wie kannst du bloß so etwas denken, Anni! Meine Kusine ist sicher furchtbar nett. Und du hast dann eben zwei beste Freundinnen«, entschied Ilse.
»Zwei beste gibt's nicht – da mußt du natürlich zwischen ihr und mir wählen.« Die Anni fühlte sich bereits zurückgesetzt, trotzdem die Nebenbuhlerin noch irgendwo da oben in Ostpreußen saß.
Ilse überlegte nicht lange. Mit ungestümer Herzlichkeit umschlang sie Annis schmales Figürchen: »Du bleibst meine allerbeste Freundin, Anni – denn die Ortelsburger Ilse wird doch meine Schwester.«
Das sah die Anni denn auch ein, und ein Kuß besiegelte das erneute Freundschaftsbündnis, trotz der Autohupe, die störend dazwischen fuhr.
Ilses Amt war es daheim, den Tisch zu decken, denn sie sollte sich schon frühzeitig an haustöchterliche Pflichten gewöhnen. Wie oft hatte die Mutter es ihr gezeigt, wie man einen Tisch ordentlich und zierlich deckt; aber Ilse warf meist genial alle bestehenden Regeln über den Haufen. Die Messerbänkchen galoppierten willkürlich wie durchgegangene Gäule neben den Tellern dahin, die Bestecks zeigten die merkwürdigsten geometrischen Figuren, die Servietten wiesen nach allen Himmelsrichtungen, und das Salzfaß – glänzte meist durch Abwesenheit.
Auch heute blickte der Vater über die Brille hinweg vielsagend auf dem Tische umher. »Ich sehe was, was nicht da ist«, sagte er schließlich scherzhaft, als Ilse munter ihre Suppe weiter löffelte.
»Was nicht da ist, Vater?« Das Töchterchen hielt lachend inne. »Ach, ich weiß schon, was du meinst.« Sie wurde ein bißchen rot, ließ sich aber trotzdem mit Gemütsruhe ihre Suppe weiter schmecken.
»Kann man behaupt nich sehen, wenn's nich da ist«, stellte das vierjährige Nesthäkchen Heini ernsthaft fest.
»Ei, Ilse, vielleicht bequemst du dich dazu, das Vergessene zu holen«, mahnte die Mutter.
»Das Faultier lebt in Afrika,
Doch ist's auch oft woanders da«,
deklamierte Rolf anzüglich, als Ilse sich nun langsam von ihrem Stuhl erhob.
Ein Puff war die Antwort. »Als ob Jungs nich auch Salzfässer holen könnten!« Ilse war unzufrieden mit der Weltordnung, die den Frauen den hauswirtschaftlichen Anteil überlassen hatte. »Na, von morgen an ist ja die andere Ilse da, Gott sei's getrommelt und gepfiffen! Dann brauche ich mir wenigstens nicht allein mehr ein Bein auszureißen«, frohlockte sie.
Mehrstimmiges Gelächter folgte.
»So sieht jemand aus, der sich ein Bein ausreißt!« Rolf schüttelte sich vor Lachen. »Du nimmst es dir ja nett vor, die Ilse Große als deinen Pudel abzurichten. Die wird sich bedanken.«
»Wird sie gar nicht. Schwestern helfen sich gegenseitig, nur Brüder sind eklig«, gab Ilse prompt zurück.
»Ist mich auch eklig, Ilse?« erkundigte sich Klein-Heini mit treuherzigen Kinderaugen. Aller Ärger bei Ilse verrauchte und sie schloß den Kleinen so ungestüm in die Arme, daß er wie eine Maus zu pfeifen begann.
»Nich so eklig doll lieb haben!« Heini angelte mit Armen und Beinen aus der ihm unbequemen schwesterlichen Umarmung heraus. Die Suppe schwippte dabei aus dem Teller, zum Glück nur auf die Wachstuchdecke, die Klein-Heinis Platz auszeichnete.
Aber die Mutter schüttelte doch den Kopf über ihr ungestümes Töchterchen. »Ilse, setz' dich auf deinen Platz. Du weißt, der Vater liebt bei Tisch Ruhe und Harmonie. Hoffentlich wird die große Ilse einen günstigen Einfluß auf dich, Wildfang, ausüben.«
»Auch in puncto Ordnung recht wünschenswert«, mischte sich Rolf ganz unnötigerweise ein.
Als Quittung stieß Ilse heimlich unter dem Tisch mit dem Fuß nach ihm, um die Harmonie des Mittagtisches so wenig wie möglich zu beeinträchtigen.
Rolf war der beste Boxer in der Obertertia. Er begann denn auch sogleich seinen kunstgerechten Angriff. Der Vater mußte ganz energisch dazwischenfahren. Die Harmonie des Familienkreises war gestört.
»Schämt ihr euch denn gar nicht, eurem Vater die Mittagsstunde, seine einzige Erholungszeit am Tage, derart zu verderben«, rügte die Mutter ärgerlich.
Ilses Tränen flossen. »Na, wenn der dumme Rolf immer anfängt!«
»Wer hat zuerst mit dem Bein gestoßen, liebes Kind?« Rolf sprach in salbungsvollem Richterton, der »das liebe Kind« aufs neue reizte. Sicher wäre es wieder zu Handgreiflichkeiten gekommen, wenn die Mutter nicht »gesegnete Mahlzeit« gewünscht hätte. »Ilse, bringe Heini ins Bettchen und räume dann deinen Schrank für die große Ilse aus.« So – die feindlichen Parteien waren getrennt.
»Rolf, du mußt die Ilse nicht immer aufziehen. Sie kann das nun mal nicht vertragen. Das liegt so in ihren Jahren«, stellte der Vater seinem Ältesten vor.
»Müssen wir ihr abgewöhnen, die Empfindsamkeit«, entschied der weise Sprößling.
Inzwischen hatte Ilse schon wieder gegen diesen Fehler zu kämpfen. Klein-Heini und sie waren die besten Freunde. Heini hing voll Zärtlichkeit an der großen Schwester, und diese war lieb und sorgsam mit ihm wie ein Mütterchen. Jeden Mittag, wenn Heini ins Bett marschierte, zog sie ihn aus, tollte wohl noch ein bißchen mit ihm und erweckte ihn nach zweistündigem Schlaf wieder mit Scherz und Kuß zu neuem Leben. Die Sorge für das Nesthäkchen nahm sie der Mutter schon seit geraumer Zeit ab, wenn auch die Sachen des Kleinen von ihr wie Kraut und Rüben durcheinander geworfen wurden. Heute äußerte der undankbare kleine Schlingel: »Nu will mich nie mehr von dir ausgezieht werden. Morgen und alle Tage muß mich die neue Ilse ausziehen.«
Ilses zwölfjährige Empfindsamkeit meldete sich sofort. Sie dachte nicht daran, daß sie kindischer war als der Kleine, den natürlich wie alle Kinder das Neue reizte. »Na, dann kannst du ja auch sehen, wer dich heute ins Bett bringt – ich nicht!« Sprach's, und davon war sie, den Kleinen im Nachthöschen mit einem halb aufgeschnürten Stiefel plärrend zurücklassend. Gerade als die Mutter erschreckt das Zimmer betrat, war Heini im Begriff, gestiefelt sein Bettchen zu besteigen. Natürlich war die Mutter aufs neue auf Ilse ärgerlich, nicht minder über die auf dem Fußboden herumgestreuten Sachen des Kleinen. Aber als sie dann in Ilses Zimmer trat, das die beiden Kusinen künftig gemeinsam bewohnen sollten, schlug sie erst recht die Hände über den Kopf zusammen.
Himmel, wie sah es dort aus! Ilse hatte ihren Schrank der mütterlichen Weisung gemäß leer gemacht. Saubere Wäsche und getragene Schürzen, Bücher, meist mit zerrissenem Einband, Hefte, Zopfbänder, ein abgebissener Pfefferkuchen, der noch von Weihnachten her vergessen war, angefangene, schmutzige Stickereien, die in den tiefsten Tiefen des Schrankes ein tatenloses Dasein geführt, ein kleiner Ball, Federhalter, Würfel und Nummern von irgendwelchen Gesellschaftsspielen, alles lag bunt durcheinander in einem fast unentwirrbaren Knäuel auf der Erde.
»Ilse, ich bin recht unzufrieden mit dir«, machte die Mutter ihrem Unmut Luft. »Nichts kannst du, großes Mädchen, ordentlich machen. Schau nur, wie du hier die teuren Sachen alle verdorben hast. Du bist doch wirklich alt genug, um zu wissen, wie schwer es dem Vater wird, Neues anzuschaffen. Was soll die Ortelsburger Ilse nur von deiner Liederlichkeit denken! Tante Martha schrieb mir, ihre Ilse sei ein sauberes und ordnungsliebendes Kind. Ich hoffe viel von ihrem guten Einfluß auf dich.«
»Geliebte Mutter, schilt nicht! In fünf Minuten ist hier wieder die wunderbarste Ordnung.« Ilse begann sogleich die »wunderbarste Ordnung« herzustellen, indem sie mit beiden Händen vom Fußboden zusammenraffte, was sie nur packen konnte, und es in den leeren Kommodenkasten spedierte, der künftig ihre Habseligkeiten bergen sollte.
»Ilse – um's Himmels willen! – Die Mutter wußte nicht, ob sie lachen oder böse sein sollte. »Das nennst du Ordnung? Jetzt bitte ich mir aus, daß du die saubere Wäsche hübsch sorgsam in dem untersten Kasten verwahrst. In den zweiten kommen deine Haarbänder, Handschuhe, sonstige Kleinigkeiten und Spiele. Und in den obersten ordnest du dir deine Bücher. Sonst macht die Ilse gleich wieder kehrt, wenn sie dieses wüste Durcheinander erblickt.«
»Mutterchen, stell' mir bloß die Ilse Große nicht immer als Tugendschaf hin. Tugendschafe sind unausstehlich. Dann soll sie lieber gleich auf ihrer ostpreußischen Weide bleiben«, rief das Töchterchen eifrig.
»Ich wünschte, daß du etwas mehr von dieser Unausstehlichkeit hättest, mein Kind«, lächelte die Mutter schon wieder. Ihre Ilse verstand es, durch ihr liebenswürdiges Wesen sie stets wieder zu entwaffnen, wenn sie auch eben noch Gott weiß wie aufgebracht über sie gewesen war. Auch jetzt strich Frau Klein liebkosend über Ilses blondes Kraushaar.
»Muß ich als Wächter daneben stehen, oder kann ich mich darauf verlassen, Ilse, daß du alles, wie es sich gehört, zum Empfang von Kusine Ilse herrichten wirst?« fragte sie eindringlich.
»Eine Frau, ein Wort! Unser Zimmer soll mustergültig aussehen!« versprach Ilse bereitwillig.
»Aber nicht nur von außen, Kind. Vor allem die Schränke und Schubfächer. Ich schaue alles nach«, mahnte die Mutter noch im Hinausgehen.
»Kannst du auch, Muttichen!« Und ehe die Tür noch ins Schloß fiel, hing Ilse der Mutter am Hals. »Nun bist du doch nicht mehr böse auf mich, Muttichen?« Das konnte Ilse nicht ertragen, wenn jemand, und ganz besonders die Mutter, ärgerlich auf sie war.
Sie setzte ihre Ehre darein, ihr Wort einzulösen. Wenn sie wirklich mal versucht war, irgendeinen Gegenstand rasch zu »pfeffern«, wie der Fachausdruck lautete, anstatt ihn ordentlich an seinen Platz zu legen, gedachte sie geschwind des Versprechens, das sie ihrer Mutter gegeben. Aber sie hatte dafür auch die Genugtuung, daß die Mutter sich lobend äußerte: »Sieh einer bloß an! Wenn du willst, kannst du schon. Nun sorg' auch dafür, daß es so hübsch ordentlich bleibt, mein Herzchen.«
Ja, das war ungleich schwerer. Ordnung machen ist schon unbequem – Ordnung halten aber für gewisse Leute ganz unmöglich. Ilse wußte wirklich nicht, wie es kam, daß das so schön aufgeräumte Zimmer, als sie am nächsten Nachmittage den andern nach zum Bahnhof stürmte, durchaus nicht mehr so tadellos ausschaute, wie am Tage zuvor. Woran lag das nur? Es stand doch sogar ein Primelsträußchen in einer Vase auf dem Tische.
Ilse hatte nicht viel Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Denn wie meist, war sie erst im letzten Augenblick aufgebrochen. Da hatte sie natürlich die Schürze auf einen Stuhl geschleudert, anstatt sie an den Garderobenhaken zu hängen. Auf einem anderen lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie gerade gelesen, während der Inhalt der Schulmappe auf dem Arbeitspult ausgebreitet liegen blieb. Die Handschuhe hatte sie, da sie noch nicht an die neue Ordnung gewöhnt war, nicht gleich gefunden und statt dessen den Kasten mit Zopfbändern herausgerissen. Zum Einpacken war es zu spät, Ilse hatte wieder mal bis auf die letzte Minute »geschmökert«. Daß dies alles dem Zimmer aber nicht zur besonderen Zierde und Ordnung gereichte, kann man sich denken.
Solche Ruppigkeit – immer hatten die Eisenbahnzüge sonst Verspätung; aber gerade heute, wo Ilse atem- und handschuhlos, zwei Minuten nach der Frist mit schiefgerutschtem Hut am Bahnhof erschien, schnaufte ihr die Lokomotive mit glotzenden Laternenaugen schon schadenfroh entgegen. In dem Menschengewühl entdeckte Ilse zuerst gar nichts, nicht einmal Vater, Mutter und die Brüder. Denn die ganze Familie hatte sich zur Einholung feierlich auf dem Bahnhof eingefunden. Schließlich aber tauchte doch Rolfs bunte Gymnasiastenmütze irgendwo auf, neben ihm ein ziemlich großes, breitschulteriges Mädchen, dem er vetterlich galant den Handkoffer trug. Heini zog es noch vor, im Schutze von Vater und Mutter mit dem Onkel zu folgen. Die neue Ilse hatte seinen Erwartungen nicht entsprochen, da sie gar nicht von ihm Notiz genommen hatte.
Noch eine stand enttäuscht. Ilse blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die näherkommende Kusine, der sie mit so unbändiger Freude entgegengesehen.
Das war sie also. Ziemlich vierschrötig erschien sie Ilse, breit in den Schultern und in den Hüften. Und sehr gesprächig schien sie auch nicht zu sein. Wenigstens trottete sie stumm neben dem nicht viel lebhafteren Rolf her, der doch sonst ganz gewiß nicht auf den Mund gefallen war. Ilse empfand den lebhaften Wunsch, ihr Inkognito zu bewahren und in dem Menschenmeer wieder unterzutauchen. Da hatten Heinis Augen sie aber schon erspäht. Er riß sich von der Hand der Mutter los und eilte jubelnd auf die Schwester zu.
»Da ist meine Ilse! Du darfst mich immer ausziehen, Ilse, nich die olle neue Ilse!« Die ganze unbarmherzige Kinderkritik lag in diesen Worten.
Ilse blickte erschreckt auf die Kusine, ob die Heinis häßliche Worte nicht auch vernommen? Aber deren Gesicht sah völlig bewegungslos drein. Ilses warmes Herz trieb sie, die Schuld des kleinen Bruders wieder gutzumachen. Äußerlich war die Kusine ja nicht sehr einnehmend. Aber innerlich konnte sie doch ein ganz famoses Mädel sein.
»Guten Tag, Ilse.« Die kleinere trat an die größere heran und hob sich auf die Zehenspitzen, um ihr den Willkommenskuß zu geben. Aber da die Kusine ihr nicht entgegenkam, sondern steif stehen blieb, verpuffte der Kuß in der Luft. Dies veranlaßte Rolf zu einem dröhnenden Gelächter, hinter dem er seine Verlegenheit verbarg, da er mit der neuen Kusine nichts anzufangen wußte. Wieder empfand Ilse es feinfühlend, daß dieses Lachen die Neuangekommene verletzen mußte. Sie machte noch einmal einen Versuch.
»Ich habe mich ganz furchtbar doll auf dich gefreut, Ilse. Du dich auch auf mich?« fragte sie ein wenig beklommen.
In den grauen Augen der fremden Kusine leuchtete es warm auf. Sie nickte. Sprechen tat sie noch immer nicht. Inzwischen hatte sich der Ortelsburger Onkel seines Nichtchens bemächtigt.
»Ei, Ilschen, wir kennen uns doch noch, janz jewiß.« Diesmal verpuffte der Kuß nicht in der Luft. »Siehst du, da hast sie, meine Krabbe. Nu müßt ihr auch hübsch Freundschaft zusammen halten. Unsere Illa ist noch 'n bißchen schichtern, aber das wird sich hier in Barlin schon lejen.« Der Onkel redete ausgesprochen ostpreußisch, was auf die Kleinschen Kinder sehr komisch wirkte.
Ilse Klein nahm Ilse Großes Arm. »Wir wollen Schwestern sein, ja?« flüsterte sie, denn Rolf brauchte das doch nicht zu hören.
Wieder erfolgte keine Antwort. Aber Ilses Arm wurde bejahend gedrückt. Das war immerhin ein Entgegenkommen. Ilses hochgespannte Erwartungen waren bereits so zusammengeschrumpft, daß sie schon dafür dankbar war. Munter plauderte sie drauflos. Sie nannte die Namen der Straßen und Plätze, die man durchschritt, machte die Kusine auf ein oder das andere stattliche, öffentliche Gebäude aufmerksam und erklärte die Statuen auf den Plätzen, soweit ihre eigenen Kenntnisse reichten. Es machte ihr ungeheuren Spaß, den Fremdenführer zu spielen. Sie merkte es noch nicht einmal, daß die Größere abgespannt von der langen Reise und all dem Neuen, was auf sie einstürmte, gänzlich teilnahmslos alles über sich ergehen ließ.
Rolf gab der Schwester einen heimlichen Stoß. »Du – die ist ja doof!« flüsterte er nicht allzu laut in seiner derben Jungenart.
Ilse schielte erschreckt zur anderen Ilse. Aber die sah durchaus nicht gekränkt aus. Sie hatte den wenig netten Berliner Ausdruck wohl kaum verstanden.
Der Weg vom Bahnhof nach Haus war eigentlich gar nicht weit. Wie schnell hatte Ilse ihn sonst auf dem Heimweg durchstürmt. Jetzt schien er ihr endlos, trotzdem sie eigentlich daran gewöhnt war, das große Wort in der Klasse, im Kränzchen, ja auch zu Hause zu führen. Aber wenn man ganz allein reden muß, ohne Komma und ohne Punkt, ohne jedes Gegenwort, so ist das Gespräch immerhin etwas einseitig. Rolf schien auch keine Lust zu haben, die Kosten der Unterhaltung zu tragen. Sein Urteil über die neue Kusine war abgeschlossen. Pfeifend trabte er neben den beiden Mädchen her.
Gott sei's getrommelt – endlich war man zu Hause. Frau Klein zog ihr neues Pflegetöchterchen in die Arme. »Nun sei uns von Herzen willkommen, mein Kind. Mögest du dich in unserem Hause wohl fühlen!«
Die warmen Worte verfehlten, trotz aller Müdigkeit der jungen Reisenden, nicht ihre Wirkung auf die neue Ilse. Sie schmiegte sich für einen Augenblick fest in die mütterlichen Arme der Tante. Wie schwer war es ihr geworden, von daheim, von der Mutter, von allem, was sie lieb hatte, auf Jahre fortzugehen. Wie bange war ihr vor der unbekannten, großen Stadt, den fremden Verwandten. Ach, wenn sie nur lieb und gut mit ihr sein würden!
Inzwischen hatte Frau Klein die Tür zu dem gemeinsamen Zimmer der beiden Mädel geöffnet. »Hier wohnt ihr beiden Ilsen, haltet getreue Nachbarschaft, und was meine Ilse anbelangt, vor allem Ordnung – – –« Das Wort blieb der Mutter in der Kehle stecken. Denn das noch vor kurzem schön aufgeräumte Zimmer sah gerade nicht mehr sehr einladend aus. »Ilse, es schaut doch schon wieder aus, als ob Banditen hier gehaust hätten«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ach Gott, bloß der Bänderkasten!« Ilse raffte beschämt die braunen, weißen und schwarzen Haarschleifen zusammen und schleuderte sie geschwind in das Kommodenfach. Mit erstaunten Augen sah die fremde Ilse dem Treiben zu.
»Machst du das auch so mit deinen Sachen?« fragte die Tante.
Ilse Große schüttelte stumm den Kopf. Ihrem Ordnungssinn war der Kusine Tun geradezu unbegreiflich. Sie schämte sich für die jüngere.
»So, nun wasche dich, mein Kind, und dann kommt zu Tisch.« Die Mutter ließ die beiden Ilsen allein. Sie freundeten sich dann sicher am schnellsten miteinander an.
Fürs erste blieb es still in dem Ilsenstübchen. Man hörte nur das Plätschern des Waschwassers und das Rubbeln der Bürste, welche die fremde Ilse in Bewegung setzte. Auf die kleine Blonde, die sonst vor Lebhaftigkeit sprühte, legte sich die stille Art der neuen Genossin geradezu beklemmend. Zum erstenmal in ihrem zwölfjährigen Leben geschah es der Ilse Klein, daß sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Stumm beschaute sie ihre Finger, die ebenfalls des Waschwassers durchaus bedurften. Aber auf derartige Äußerlichkeiten pflegte Ilse keinen Wert zu legen.
»Hier schlafe ich, und in dem Bett drüben schläfst du«, sagte sie schließlich, weil ihr nichts Geistreicheres einfiel.
Ilse Große hielt diese Mitteilung einer Antwort nicht für nötig.
»Sag' mal, bist du eigentlich immer so – so stumm?« Bei einem Haar hätte Ilse gesagt »so mopsig«.
»Ich we-iß nicht«, sagte die neue Ilse, in unverfälschtem ostpreußischen Dialekt. Damit war die Unterhaltung wieder für eine Weile erschöpft.
Gerade als Ilse einen neuen Anlauf machen und das Gespräch auf die Schule bringen wollte, ob die neue Kusine dabei wohl redseliger würde, steckte Klein-Heini sein Köpfchen zur Tür herein.
»Die unse Ilse und die olle neue soll zu'n Abendbrot kommen – aber doll flink, Minna hat schon die Toffels reingebringt«, rief er.
»Aber Heini, du bist ja gar nicht artig«, erzog die ältere Schwester den kleinen Burschen, der noch kein Blatt vor den Mund nahm. »Du mußt die Ilse Große doch lieb haben.«
»Behaupt nich lieb!« erklärte der Kleine ohne Besinnen. »Die is gar nich schön, die soll lieber nich angereist kommen.«
»Pfui, Heini!« sagte Ilse und errötete für den kleinen Klugschnack, während Ilse Große tat, als ob von irgendeinem anderen die Rede sei.
»Hast du die große Ilse denn lieb?« erkundigte sich Heini zweifelnd.
»Ja, aber natürlich – –.« Ilse fühlte, daß sie nicht ganz bei der Wahrheit blieb, denn sie empfand nach all der Vorfreude eigentlich doch nur grenzenlose Enttäuschung. »Sie ist doch unsere Kusine«, setzte sie deshalb noch bekräftigend hinzu.
»Sine ißt Heini gern, die hat er lieb.« Der kleine Mann konnte augenscheinlich eine Kusine noch nicht von einer Apfelsine unterscheiden.
»Wo steckt ihr denn – die Kartoffeln werden kalt.« Rolf, als zweiter Abgesandter, erschien.
Jetzt aber mit Extrapost! Vater verlangte, daß die Kinder pünktlich bei Tisch erschienen.
»Was machst du denn noch?« Ilse Klein drehte noch einmal den Kopf zurück, da Ilse Große ihr nicht folgte.
»Bloß noch das Waschwasser ausjießen – ich komme jle-ich.« Nein, was war die Kusine »pedantisch«, fand Ilse Klein, daß sie daran noch dachte.
»Neben mir muß sie sitzen, wir sollen doch Schwestern sein«, hatte Ilse vorher gebeten, als man über die Plätze bei Tisch beriet. Auch Klein-Heini wollte seinen Anteil an der neuen Ilse haben. So hatte man dieser den Platz zwischen den Kindern angewiesen. Aber alle beide legten sie jetzt kein großes Gewicht mehr auf die begehrte Nachbarschaft. Stumm saßen sie nebeneinander wie die Orgelpfeifen und waren doch sonst so lebhaft, daß die Eltern nur zu oft dämpfen mußten. »Ei, Kinder, was ist denn heute mit euch los, daß ihr so wohltuend ruhig seid?« verwunderte sich die Mutter.
»Die große Ilse scheint ihre Sprache in Ostpreußen gelassen zu haben, ich habe noch kein Wort von ihr vernommen«, neckte der Vater. »Nur gut, daß sie wenigstens den Mund zum Essen mitgebracht hat.«
Das Nichtchen wurde rot, antwortete aber keine Silbe. Nein, wirklich, sie ist »doof«. Rolf hat ganz recht, auch Ilse kam heimlich zu dieser Überzeugung.
»Unser neues Pflegetöchterchen wird schon auftauen«, begütigte die Mutter. »Nicht wahr, Ilschen?« Die Nichte sah die Tante dankbar an und nickte wortlos.
»Mundfaul ist das Ding«, knurrte Rolf in sich hinein, »aber beim Essen weiß sie den Mund ganz gut zu gebrauchen.«
»Ich bin recht froh, daß ihr meine Illa bei euch aufjenommen habt«, wandte sich der Onkel an die Schwägerin. »Sie hat ein scheues Jemiet, die Illa, in einer fremden Pension mecht sie sich am Ende unbehaglich fiehlen.«
Ilse, die kleine, begann zu kichern. Ob die ostpreußische Mundart des Onkels ihre Lachmuskeln reizte, oder ob dieselben grundlos mal wieder nach Betätigung verlangten, wie das bei zwölfjährigen jungen Damen öfters vorkommt, wußte sie allein nicht. Sie nahm die Serviette vor das Gesicht und verbarg dahinter ihre Heiterkeit, bis sie plötzlich laut losprustete. Heini stimmte erlöst mit ein, und auch Rolf beteiligte sich an dem ansteckenden Lachen. Ilse Große aber saß wie der steinerne Gast dazwischen, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ei, ihr seid ja so varjniejt, wir mechten auch mitlachen«, sagte der ostpreußische Onkel freundlich zu der kichernden Ilse. Natürlich lachte die nur um so mehr.
Der Mutter war die unmotivierte Heiterkeit ihrer Kinder nicht recht. Sie empfand dieselbe als taktlos. Wie leicht konnte das fremde Kind annehmen, daß man es auslache. »Ilse, setze die Teller zusammen, du mußt der Minna jetzt ein bißchen zur Hand gehen«, ordnete sie deshalb an.
Beide Ilsen erhoben sich gleichzeitig, sahen sich an und – lachten. Alle beide.
»Also doch! Lachen kann sie wenigstens«, stellte Rolf verwundert fest.
»Ja, was machen wir denn mit euch beiden Ilsen? Wie werden wir euch nur unterscheiden?« überlegte der Vater, während die jungen Mädchen den Tisch abräumten. Ilse Klein, immerhin mit einer gewissen Genugtuung, daß sie sich jetzt nicht mehr allein ein Bein auszureißen brauchte.
»Eine ist die stumme und eine die Plapper-Ilse«, schlug Rolf vor, was ihm natürlich einen schwesterlichen Knuff eintrug.
»Nun, mir leuchtet die große und die kleine Ilse noch mehr ein, da brauchen wir nur den Vatersnamen adjektivisch umzustellen«, meinte Herr Klein.
»Illachen haben wir sie ieberhaupt immer zu Hause jenannt. Ihr kennt sie ja auch so rufen, da jibt's keine Verwechselung«, mischte sich Herr Große hinein.
Und dabei blieb's. Eins war die Illa und eins die Ilse.
Nun war sie schon acht Tage im Hause der Verwandten, die Illa. Aber man hatte sie auch in den acht Tagen noch nicht viel mehr reden hören. Wenn man sie etwas fragte, antwortete sie schüchtern und bescheiden. Aber nie begann sie von selbst ein Gespräch. Dabei schien sie sich im Kleinschen Hause durchaus wohl zu fühlen. Als der Vater abreiste, waren wohl die Tränen geflossen, aber sie trockneten bald, da die Tante ihr den Arm um die Schulter legte: »Nun bist du unser Kind, Illa.« Sie wollte den Verwandten ja so gern ein gutes Kind sein. Ihre jüngere Kusine liebte die Ortelsburger Illa ganz besonders. Trotzdem dieselbe kleiner war als sie, blickte sie geradezu mit Verehrung zu ihr auf. Was die kleine Ilse sagte, war für die große eine Offenbarung. Sie folgte ihr getreulich wie ihr Schatten. Und das war der Ilse durchaus nicht immer angenehm. Sie hatte es sich entschieden viel hübscher gedacht, eine Schwester zu haben.
»Ja, wenn sie auch so ist«, sagte sie oftmals zu sich selbst als Entschuldigung, sobald ihr Gewissen sie mahnte, daß sie nicht nett genug mit der Kusine sei. Aber was sie unter »so sein« verstand, wußte sie eigentlich selbst nicht. Denn die neue Gefährtin war freundlich und gefällig, verträglich und bescheiden. Na ja, das war es ja eben, viel zu bescheiden war die Illa. Sie trat gar nicht aus sich heraus, hatte keine eigene Meinung, schaute Ilse bei allem, was diese sagte, ehrfurchtsvoll an, wenn es auch noch so dummes Zeug war. Zuerst war diese stumme Verehrung für Ilschens Eitelkeit ja recht wohltuend, aber auf die Dauer wurde sie langweilig. Schließlich kabbelt man sich ganz gern mal ein bißchen herum, selbst mit seiner besten Freundin. Denn Ilse, die kleine, war durchaus nicht so friedfertig wie Ilse, die große.
Aber das alles wäre noch kein Grund für Ilse gewesen, manchmal zu wünschen, daß die Kusine in Ortelsburg geblieben wäre. Die Hauptursache dazu waren die Schulfreundinnen.
»Na, wie ist sie?« so hatte man sie gleich am nächsten Tage nach der Ankunft der Kusine in der Schule umlagert.
»Kann man nach dem ersten Eindruck noch nicht sagen«, meinte Ilse diplomatisch.
Das kam den Freundinnen natürlich sonderbar vor. Ilse Klein pflegte mit ihrem Urteil sonst niemals so vorsichtig zu sein, sondern ganz im Gegenteil etwas vorschnell.
»Na, dann wird mit ihr wohl nicht viel los sein – dann ist sie sicher doof!« sagte die Intima Anni Rotter frohlockend, daß ihr von der neuen Kusine keine Konkurrenz drohte.
»Woher weißt du?« entfuhr es Ilse erstaunt. Sie war so betroffen, dieselbe Kritik, die Rolf über die Kusine abgegeben, aus Annis Mund zu hören, daß sie es ohne weiteres zugab.
»Das kann man sich doch an allen fünf Fingern abzählen. Sonst hättest du doch ihr Lob in allen Tonarten geblasen wie vorher, wo du sie noch gar nicht gekannt hast. Du bist ja mächtig kleinlaut geworden.«
»Gar nicht wahr! Und so schlimm ist sie überhaupt nicht. Nur ein bißchen – na, wie soll ich mich ausdrücken – ein bißchen ›schichtern‹. So hat nämlich mein ostpreußischer Onkel von ihr gesagt.« Das lose Mädel ahmte den Dialekt zum Gaudium der Schulkameradinnen getreulich nach.
»Ilse, die schichterne« – da hatte die Illa ihren Spitznamen weg, noch ehe sie die Schule betreten.