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Du, der du diese Zeilen liest, was würdest du tun, wenn es in deiner Hand läge, das Übel der Welt zu beseitigen? Diese Frage stellen sich die immer neu erwählten Hüter und Jäger der Macht. Ein Kampf entfacht alle hundert Jahre neu zwischen den Chahd'Rian - die die Welt durch Verstand und Geduld zum Guten bringen sollen - und den Chahd'Gair - die gnadenlos das Übel der Welt vernichten sollen. Die Mächte der Götter sollen ihnen dabei helfen. Doch nicht jeder, der die Macht erhält, will kämpfen oder kann hinter der Moral stehen, die ihm von den Göttern in die Wiege gelegt wurde. Nach einem Angriff auf ihr Rudel muss die Fünfjährige Aleshanee lernen, mit ihrem Verlust und ihren elementaren Kräften umzugehen. Ihr Vater lehrt sie alles, was sie für den Kampf wissen muss, zu dem auch er durch sein Schicksal verpflichtet ist. Der neunjährige Kaeto in einem anderen Land versteht nur langsam, welche Verantwortung die Halter der Elemente mit sich tragen.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Alle Charaktere und Handlungen sind frei erfunden.
Impressum
Juwelenwald 2.1 | Wachsen, 2. Schrift, 1. Teil
1. Auflage
Copyright © deutsche Originalausgabe 2023 by Verena Binder
Johann-Sebastian-Bach-Straße 10, 82538 Geretsried
Umschlaggestaltung: BinDer Buchsatz
Unmschlagillustration: Verena Binder
Charakterillustrationen: Renée Geburzky ( Ray__nee)
Lektorat: Phantastismus
Korrektorat: Phantastismus
Buchsatz: BinDer Buchsatz
veröffenlicht über tolino media: www.tolinomedia.de
Inhaltswarnung
Diese Geschichte enthält Gewaltbeschreibungen und behandelt emotionale Themen. Wenn du sensibel auf unterschiedliche Themen reagieren könntest, findest du eine nähere Ausführung in der „Inhaltswarnung“ auf Seite 79.
Was bisher geschah
Tesjan trifft auf einen Chahghee, um die Strafe für einen Mord zu erfahren. Doch die Chahghee warnen davor, einen erwachten Chahd‘Rian zu töten, ohne klare Antworten zu geben.
Im Juwelenwald von Shang Iyuha trifft Helaku auf Kahzuna, eine alte Bekannte. Er berichtet ihr von der Attacke des Chahd‘Gairs Yazhi auf sein Rudel, bei der fast alle ums Leben gekommen sind. Seine Töchter Aleshanee und Huyana sind Chahd‘Rian, was Kahzuna verärgert. Ein hitziger Streit entbrennt zwischen den beiden, und es kommt zu einem kurzen Kampf.
Helaku erzählt seiner Tochter von den Kräften der Chahd‘Rian, seiner eigenen Mentorin Kajika und seinen alten Feinden. Aleshanee lernt Vaughan kennen - einen kleinen Luchsjarg, der ein Freund von Helaku ist. Als Kahzuna auftaucht, provoziert diese Aleshanee aufgrund ihrer gemischten Abstammung und enthüllt, was sie ist. Aleshanee weigert sich, zu kämpfen, und zeigt ihre Unsicherheit angesichts der neuen Situation.
Um zu testen, ob Aleshanee tatsächlich ein Chahd‘Rian ist und mit den elementaren Kräften der Götter ausgestattet ist, führt Helaku seine Tochter in das Herz des Juwelenwaldes, zu den Ingyang. Die mit Edelsteinen besetzten Felsen bestätigen, dass in Aleshanee das Element des Windes beherbergt ist. Dabei machen sie Bekanntschaft mit Kosejin, dem Sohn der Awi Kahzuna, welcher ihre harten Ansichten über Tod und Kampf nicht zu teilen scheint.
In seinen Träumen durchlebt Helakus den Angriff des Riesenwandlers Yazhi, welcher das Rudel des Faols bis auf ihn und seine Tochter ausgelöscht hat.
Zwei Besucher aus dem nördlichen Gidma entpuppen sich als Verbündete: Atohi, einer von Helakus besten Freunden, und dessen Sohn Kaeto, die beide ebenfalls Chahd‘Rian sind. Kaeto freundet sich mit Aleshanee an und Atohi erfährt vom Tod seiner Schwester Yoki, die bei der gemeinsamen Flucht von einer Schlucht gestürzt ist.
Aleshanee erinnert sich daran, Tesjan am Tag des Angriffs gesehen zu haben und erfährt mehr über ihren künftigen Feind.
Als Kaeto und sein Vater abreisen, machen sie eine Rast bei einem befreundeten Rudel, dem Frostwindrudel, wo es Nachwuchs gibt. Kaeto freut sich, neue Freundschaften zu schließen.
Charaktere
Aleshanee
Jarg Faol Kipa / Mealleth
Ä785chd, Himmelsauge An20
Tochter von Helaku
Atohi
Jarg Faol Sinak
Ä628chd, Sonnenwelt An43
Alter Freund von Helaku, Großalpha Gidmhas, Vater von Kaeto
Helaku
Jarg Faol Kipa
Ä624chd, Farbähre An41
Vater von Aleshanee und Huyana
Kaeto
Jarg Faol Sinak
Ä781chd, Sonnenwelt An27
Sohn von Atohi
Kahzuna
Jarg Awi
Ä618chd, Himmelsauge An13
Kampfgefährtin von Helaku und Atohi
Kosejin
Jarg Awi
Ä771chd, Farbähre An25
Sohn von Kahzuna
Tesjan
Jarg Amrog
Ä486chd, Sternentanz An12
Alter Feind von Helaku und Atohi
Vaughan
Jarg Scolin
Ä681chd, Blumenfeuer An7
Alter Freund von Helaku
Yahzi
Jarg Moar Atharra
Ä488chd, Blumenfeuer An45
Staffel 1 – Schrift 2 – Teil 1
Roman
Du, der du durch fremde Welten reist,
sie betrachtest und mit deinem Herzen antwortest.
Für dich sei diese Schrift.
Jarg Damliadh
Humanoide Spinnenjarg, die sehr dünne Körper haben und gebrechlich wirken, doch erstaunlich viel aushalten. Sie besitzen vier Arme mit spitzen Krallen, zwei stelzenartige Beine und einen Hinterleib, in dem sich, wie bei ihrem animalischen Vorbild, das Herz befindet.
Sie besitzen drei Augen.
Kapitel 10
Wir können nicht warten
Ä790chd, Nebelwind An7
»Wohin gehen wir, Pa?«
»Wir besuchen Taima.« Helaku führte seine Tochter in den Südosten Illiasta Iyuhas, dem innersten kreisförmigen Gebiets Shang Iyuhas. Von ihrer Kleidung war durch die letzten Tahungwi1 des Exerzierens nicht mehr viel übrig. Sie war zerfetzt und durchlöchert und provisorisch mit Fellen geflickt worden.
1 Woche
Die kleine Halbfaol lernte in diesen anstrengenden Tagen viel. Sie hatte in kurzer Zeit vorzeigbare Fortschritte gemacht. Sowohl im körperlichen Sinne und mit ihren Fähigkeiten, das Element des Windes zu erlernen, als auch in der Verarbeitung des schweren Verlustes. Helaku hatte es zu Vaughans Aufgabe gemacht, mit Aleshanee Geschwindigkeit und Wendigkeit zu üben. Sie hatten Rennen veranstaltet, waren über die natürlichen Hürden des Waldes geklettert und gesprungen. Der kleine Jarg Scolin fand sich selbst großartig in dieser Rolle, zumal er zwar noch schneller war als die Halbfaol, aber innerhalb der nächsten Jahre für sie erreichbar werden würde. Ihr Element übten sie durch Konzentrationsübungen und das Fühlen des Windes in der Natur. Bei diesen Übungen konnte Helaku ihr nur bedingt helfen; ihr nur erklären, wie die Energie floss und was ihm frühere Rian des Windes erklärt hatten. Doch Aleshanee lernte gut, und all das war eine gute Ablenkung von den Verlusten, mit denen sie zu kämpfen hatte. Es gab viel, worauf Helaku stolz sein konnte und das zeigte er auch stets.
Die rot-braunen Augen blitzten auf. »Ohhh! Dann ist unsere Kleidung fertig?«
Einige der kleinen humanoiden Wieseljarg folgten den beiden Faol neugierig, wie sie es fast immer taten, wenn Helaku Aleshanee irgendwohin führte. Dieses Mal schmunzelte er und linste über die Schulter zu seiner Tochter. »Ja. Sollen wir uns beeilen?«
»Ja!«
Ihr strahlendes Gesicht betrachtend, nickte er. »Dann los. Lass dich nicht abhängen.«
Und ehe sie sich versah, war er schon voraus gesprintet. Die Empörung in Aleshanees Gesicht wich einem entschlossenen Ausdruck, bevor sie sich auch kräftig abstieß und sich größte Mühe gab, ihren Vater in dem dichten Wald nicht zu verlieren. Das Kichern der Leausg blieb schnell hinter ihnen zurück. Sans Beine waren stark und wendig geworden. Sie schaffte größere Sprünge in ihrem Lauf, konnte sich schnell an Bäumen und Steinen abstoßen – nur allen Ästen noch nicht ausweichen. Und prompt knallte sie mit ihrer Stirn gegen einen der hölzernen Arme, den sie nicht hoch genug eingeschätzt hatte.
»Au!«
Es dauerte nur einen Moment, bis Helaku bei ihr war. »Hast du dir wehgetan?«
Sich eine Träne verdrückend, schüttelte Aleshanee den Kopf und rieb sich dabei die Beule. Ihr Körper war allgemein stabiler geworden. Noch vor einigen Tahungwi hätte sie sich von diesem Zusammenprall eine Platzwunde geholt. Das ausgiebige Training machte sich bezahlt. Und, das musste sich Helaku eingestehen, Kahzunas und Jins Hilfe war dabei nicht das Schlechteste. Wenngleich der Faol oftmals eingeschritten war, aus Angst, seine alte Kampfgefährtin würde seine Tochter töten.
Etwas benommen erhob sich Aleshanee wieder und griff nach den großen Händen ihres Vaters. Dieser seufzte leise, ging in die Hocke und küsste die Stirn der Kleinen. »Pass besser auf. Du musst wachsam sein.«
Sie nickte, zog dann an der Hand, um sich wieder auf die Beine zu siehen, und sie liefen weiter.
Es war eine ganze Weile her, als sie das erste Mal hier gewesen waren. Kurz nach ihrer Ankunft in Illiasta Iyuha, als Aleshanee noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte, was geschehen war oder um sie herum geschah. Sie konnte sich nur vage an den ersten Besuch bei Taima erinnern. Daran, dass die im Wald versteckte Hütte wirkte, als fiele sie jeden Moment auseinander, aber dass sie sehr stabil im Geäst eingebaut war. Und an den Geruch des Harzes, der ihr nun erneut in die Nase zog, und an das Geflecht aus Blättern, Zweigen und Gräsern, welches das Dach und die aus Ästen geflochtenen Wände bedeckte. Die Hütte war groß genug, dass Helaku und seine beiden Töchter bequem darin hätten schlafen können. All die fragilen Materialien aus der Natur waren mit dünnen weißen Fäden verbunden und befestigt. Viele hauchdünne Spinnenfäden, die das Konstrukt dieses Baus zusammenhielten. Das war auch kein Wunder, denn Taima war eine Jarg Damliadh – eine humanoide Spinnenjarg. Normalerweise lebten sie, wie Sans Vater ihr erzählte, eher in Höhlen oder in gigantischen Kokons, die sie aus einem dichten Gewebe ihrer Fäden webten. Doch Taima bevorzugte den Wald weitab ihrer Heimat Thamha, fern von den Spinnenhügeln im Osten des östlichen Kontinents. Denn sie war als Mealleth dort nicht gern gesehen.
Woran sich Aleshanee noch sehr gut erinnern konnte, war die erste Begegnung mit Taima. Sie hatte noch nie jemanden mit vier Armen und drei Augen gesehen. Taimas Haut hatte einen gräulichen Teint, ihre Haare waren dunkelbraun und ihre Fangzähne größer als die jedes Faols. Als Taima Helaku erblickte, hatte Aleshanee ein kurzes Déjà-vu ihrer ersten Begegnung: Die Damliadh-Dame war dem deutlich größeren Faol um den Hals gefallen und sichtlich erfreut gewesen, ihn zu sehen. Mit ihren vier Armen hatte sie ihn in eine herzliche Umarmung geschlungen.
»Hallo Taima.« Helaku tätschelte seiner treuen Freundin die schmächtige Schulter, die in etwa da aufhörte, wo sich sein Bauchnabel befand. »Na, bekomme ich dieses Mal auch eine Standpauke?«
Die Spinnenjarg löste die Umarmung und sah ernst auf. »Nur, wenn du wieder abhaust.«
Richtig, das letzte Mal brach nach dieser gleichen herzlichen Begrüßung ein unerbittlicher Sturm aus Taima heraus, bei dem ihre drei Augen den Faol erbost angestarrt hatten, zwei ihrer Arme in die Hüften gestemmt waren und die anderen beiden wild gestikuliert hatten.
»Erstmal habe ich vor, zu bleiben.« Helaku grinste schief, während eines seiner Ohren ein wenig zur Seite kippte.
Nachdenklich versuchte Aleshanee, sich an den Wortlaut der Schimpfe zu erinnern, die ihr Vater erhalten hatte. Es sollte etwas davon gewesen sein, dass er lange nicht da gewesen war, sie sich Sorgen gemacht hatte, er nicht exerziert habe und »es nicht für nötig gehalten hatte, seinen Arsch hierher zu bewegen”. Gespickt mit einer faszinierenden Häufigkeit an Schimpfwörtern, an die sich Aleshanee nicht erinnern konnte. ‘Mistkerl’, ‘Arschloch’ und ‘Schwächling’ waren immerhin die, die die Fünfjährige bereits von Kahzuna kannte.
Doch dieses Mal blieb die Tirade aus. Auch die schallende Ohrfeige, die Helaku vor einigen Tahungwi hier kassiert hatte, wiederholte sich nicht. Nach diesem ersten Eindruck hatte Aleshanee erst einmal Angst vor Taima gehabt, der böse Blick aus ihren drei Augen hatte das Gefühl verstärkt. Doch kaum hatte Taima all ihre angestaute Wut aus sich hinausgelassen, war sie mit einem freundlichen Lächeln dazu übergangen, Aleshanee zu begrüßen. So wie auch bei dieser zweiten Begegnung, bei der Taima sich schmunzelnd an die kleine Halbfaol wandte und sie mit zwei ihrer Arme hochhob. Zugegeben, mit ihren fünf Lial2 reichte Aleshanee ihrem Vater bereits bis zur Hüfte und war damit gerade zwei Köpfe kleiner als die Spinnen-Mealleth, die sie freundlich angrinste. Es war schon ein wenig gruselig, wie zwei der Augen sich passend zu dem Grinsen schlossen, während das dritte, welches auf der Stirn Platz gefunden hatte, Aleshanee ansah. Die untere Hälfte der Iris rot, die obere blau, wie es für eine Halbjarg üblich war.
2 Jahr
»Du bist ja groß geworden in den letzten Tahungwi. Und kräftiger!«
Aleshanee nickte, noch etwas scheu, aber sichtbar selbstbewusster als bei der ersten Begegnung. Ihre Augen waren offener und die Ohren sowie ihre gesamte Haltung aufrechter. »Ja. Hab’ viel mit Pa geübt. Und mit Kahzu und Jin.«
Das offene Auge auf der Stirn Taimas zuckte bei der Erwähnung der beiden Awi.
»Wie schööön«, zog die Spinnenjarg das letzte Wort in die Länge, was dazu führte, dass sich die beiden kleinen Wolfsohren unsicher nach hinten anlegten. Nach einem Moment öffnete sie die anderen Augen und lächelte Aleshanee an. »Lass uns nicht über die beiden Idioten reden.«
Schmunzelnd setzte sie das Kind vor sich ab und winkte ihre Besucher in die Hütte.
»Kommt erstmal rein.«
»Bist du fertig?«, brach es schließlich neugierig aus Aleshanee heraus, während sie Taima folgte. Sie betrachtete staunend die ganzen Dinge, die in der Hütte lagen und hingen. Egal, ob Leder oder jegliche Arten von Stoff, Taima schien aus allerlei Materialien Kleidung und Ausrüstungen machen zu können. Auf einer aus Hölzern geflochtenen Fläche waren zahlreiche Werkzeuge gelagert, darunter scharfkantige Steine und geschärfte Kupferklingen, angespitzte Knochen in unterschiedlichen Dicken sowie einige Spinnwirtel aus verschiedenen Materialien. Neugierig trat Aleshanee an die Ablage heran, fuhr mit ihrem Finger über einige der Werkzeuge und blickte in die Tonkrüge, die dort aufgereiht waren. Ein paar davon beinhalteten Knäule aus Wolle, Leinen und dünneren Fäden, andere waren gefüllt mit Lederriemen, kleinen Hölzern und Steinchen. Neben der niedrigen Holzablage, welche mit einigen großen Steinen ein oder zwei Ake-Yn3 über den Boden gehalten wurde, befand sich ein schlichter Lehmofen, in dem Glut glomm. Wärme drang von ihm. Auf einem ebenso schlichten Dreifuß aus Holz, der darüber gestellt war, war ein Keramiktopf platziert, in dem Wasser dampfte.
3 10 Zentimeter
»Seit gestern!« Stolz drehte sich die schlanke Jarg um ihre eigene Achse und strich anschließend ihre weiße Bluse glatt. Quer darüber lag ein breiter Ledergürtel, an dem einige Nähutensilien befestigt waren. Die meisten dieser Werkzeuge kannte San nur in abgewandelter Form aus ihrem Rudel, doch keineswegs diese Vielfalt. Ein gemusterter Rock kleidete Taimas Beine und an den Füßen trug sie einfache Holzschuhe.
Sie lächelte San noch einmal zu, die sie gespannt wie eine straff gezogene Schnur ansah. Ein Bereich der Hütte war durch einige Stoffe von dem vorderen Bereich abgetrennt, doch San konnte nicht hineinspähen, als Taima sich in den Raum hinein lehnte. Sie holte aus einem Korb einige Stoffe hervor und legte sie auf die Holzablage, und hob dann den obersten an. Die linke untere Hand winkte Aleshanee zu sich. »Lass uns das anprobieren.«
Was sie hoch hielt, war eine himmelblaue Tunika, die sie der jungen Faol anlegte. Die Ärmel reichten ihr knapp bis zum Ellenbogen, waren weit und boten genug Freiraum. Sie legte den gesäumten Kragen locker um den Hals und die rechte Tunikaseite über die linke, wo sie sie an zwei Stellen mit weißen Bändern zusammenknotete.
»Die beste Mischung aus weicher Caoragh-Wolle und mehreren Lagen Damliadh-Fäden. Das stabilste und gleichzeitig leichteste Stoffgewand, das du dir vorstellen kannst.« Taima lächelte die Kleine an und drehte sie mit einer Hand an ihrem Kopf um ihre eigene Achse. »Wie fühlt es sich an?«
»Toll!« Begeistert hob Aleshanee ihre Arme und betrachtete die dunkelblaue Musterung um den Ärmelsaum, der sich auch entlang des weißen Schrägbands an der diagonalen Tunikaseite über ihren Torso und um den Saum unten herum zog. Links und rechts an der Hüfte hatte das Stoffgewand dreieckige Ausschnitte, die eine bessere Bewegungsfreiheit gewährleisten sollten.
»An den Ellenbogen, Schultern, Nacken und am Steißbein«, Taima tippte mit unterschiedlichen Händen an die Stellen, »ist der Stoff mit dünnen Lederstreifen verstärkt. Besserer Schutz der Gelenke.«
»Du denkst wirklich an alles«, staunte Helaku und begutachtete das Kleidungsstück. Durch die großzügige Stoffmenge und die Schnürung würde die Tunika Aleshanee noch eine Weile passen, selbst wenn die Ärmel dann etwas kürzer waren als jetzt. »Da hast du dir in den letzten Ake-Lial4 ja ordentlich was ausgedacht.«
4 10 Jahre / Jahrzehnt
»Ja, nicht? Ich sag dir: Solche Gewandungen bekommst du nirgends.« Taima zwinkerte ihm zu und griff anschließend an den nächsten Stoff, den sie zu einer weißen Hose auffaltete, die der weiten, bequemen Gewandung der Faol sehr nahe kam. Die Hüfte war schmal, dann plusterte sich der Stoff auf und unterhalb der Knie lag er wieder eng an. Der Bund war graublau, zwei Damliadh-Hände breit und konnte durch ein dreiteiliges Haken-System unterschiedlich eng geschnürt werden. Auch damit kleidete Taima Aleshanee ein, und diese fühlte sich darin mehr als wohl. Auch hier waren ein paar Stellen mit eingewebten Lederstreifen verstärkt: Knie und Gesäß. Unterhalb der Knie schnürte Taima den ebenfalls recht breiten Bund zu und zupfte hier und da noch etwas an der Hose, ehe sie Abstand nahm und ihre Schöpfung begutachtete. »Und falls du in den kommenden Monaten frierst …« Die Damliadh-Frau nahm dicke Wollröhren in die Hände und stülpte eine davon über Aleshanees Unterarm. Die kleine Faol fühlte sich sofort an die Fellstulpen erinnert, die Atohi und Kaeto getragen hatten.
» … kannst du die hier anziehen«, erklärte Taima und linste zu Helaku, der sich nachdenklich über den kurzen Kinnbart rieb. »Was ist, Großer?«
»An irgendwas erinnert mich die Aufmachung.«
»An Atohi?« San wirbelte herum und legte den Kopf schief.
»Nein. Nein, das ist es nicht.« Grübelnd verschränkte ihr Vater die Arme vor der Brust.
Taima ließ ihn noch einen Moment nachdenken, ehe sie ihm auf die Sprünge half. »Die Varawyr?«
Er blinzelte. »Ja.« Ein melancholischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Richtig. Die Varawyr.«
Wie konnte er das nur vergessen?
»In den Steppen braucht ihr keine Wintergewandung, aber hier bricht der erste Schnee bald herein. Wir befinden uns immerhin schon im Nebelwind.«
Der sechste Liyawe5 Iyuhas und der zweite des Herbstes. Auf ihn folgten die Liyawe Sternentanz und Lebensatem, die das Lial mit einem dreifachen Vollmond beendeten.
5 Monat
»Schnee«, flüsterte Aleshanee, unsicher, was sie davon halten sollte.
Sie hatte nur von Kaeto davon erfahren. Weißer kalter Sand, der sich überall niederlegte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie das aussah oder wie er sich anfühlte. Die vage Vorstellung faszinierte sie.
»Danke, Taima.«
Helakus Gewandung glich der seiner Tochter, seine Farben waren allerdings erdiger. Ein dumpfer Orangeton diente der Tunika als Grundfarbe, dazu graue und rote eingestickte Zierden am Saum, die an Blitze und Gewitterwolken erinnerten. Die Hose war grau, die Schnürung unter den Knien aus roten Fäden. Zudem hatte Taima ihm einen Unterarmschutz aus stabilem Faliadh-Leder und passend dazu ähnliche Rüstungsteile angefertigt, die sich an Hüften und Schultern anschmiegten.
Staunend drehte und bewegte sich der große Faol und musste dabei achtgeben, die Decke der Hütte nicht zu beschädigen. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass er dabei einige Spinnennetze zerriss und so ein paar ihrer Bewohner verjagte.
»Es ist perfekt, Taima. Danke. Was kann ich als Gegenleistung für dich tun?«
»Bring mir ab zu was zu essen und halt mir Kahzuna vom Leib.« Die Spinnenjarg zwinkerte ihm zu, woraufhin Helaku lachte und zustimmte.
Zufrieden lächelte Taima auch Aleshanee an, die sich ebenfalls zu einem kleinen Grinsen bewegen ließ. Nicht immer drangen die positiven Gefühle zu der kleinen Halbfaol durch. Zu nah, zu schmerzhaft war der Verlust ihrer Familie. Doch sie war stark in ihrem kleinen Herzen.
Die Spinnenjarg schüttelte schmunzelnd den Kopf, während sie Aleshanee ansah und dann ihren Blick an deren Vater wandte: »Ich kann es immer noch nicht fassen.« Drei ihrer Hände in die Seiten gestemmt, kratzte sie sich nachdenklich ihr Kinn, ehe sie amüsiert lächelte. »Der große Anführer des mächtigen Sandsteppenrudels und eine Menschenfrau.«
»Das hatten wir doch schon.« Helaku stöhnte genervt, während er sich plump auf den Lehmboden setzte. »Dich stört das wohl kaum, da dein Vater selbst ein Mensch war und dich großgezogen hat.«
Neben ihm ließ sich auch Aleshanee nieder. Ihr Vater legte einen Arm um sie, sodass sie sich an ihn kuschelte. Sie spürte, wie Müdigkeit durch ihre Glieder zog. Taima ihrerseits setzte sich auf einen simplen Holzschemel, darauf bedacht, sich nicht auf ihren großen Hinterleib zu setzen. Ihre dünnen, langgliedrigen Beine kreuzte sie übereinander.
»Stimmt. Ich bin ja nicht wie unsere beiden Vorzeige-Awi. Wobei Jin wirklich nicht so ein Depp ist wie seine Erzeugerin.«
»Aber sie sind stark«, murmelte die Kleine.
Sie hatte von ihrem Vater bereits erfahren, dass Taima ihre Probleme mit Kahzuna hatte. Allein, dass sie eine Mealleth war, ging der Awi gewaltig gegen den Strich. Es war Helaku zu verdanken, dass Kahzuna Taima noch nicht getötet hatte.
»Dann sind sie eben starke Deppen.« Mürrisch winkte die Damliadh-Frau die Aussage ab und deutete auf den Wassertopf, der leise brodelte. »Peji?«
»Gern.« Helaku nickte und erklärte seiner Tochter auf ihre Nachfrage, was das sei, dass Peji ein Wasseraufguss mit getrockneten Kräutern und Beeren war. Aleshanee verzog das Gesicht. Taima wickelte einige Kräuter in einen sauberen Stoff, hängte dieses kleine Säckchen in einen Tonkrug und übergoss es mit heißem Wasser.
Sie hörte eine Weile zu, wie ihr Vater mit Taima über vergangene Zeiten und die Lial zwischen damals und ihrem Wiedersehen sprach. Helaku kam dabei nicht umhin, mit gleichermaßen Freude wie Trauer auch über sein Rudel und seine Frau zu sprechen, was in Aleshanee den unbändigen Wunsch weckte, sie wiederzusehen. Sie kuschelte sich an ihren Vater, der ihr leise seufzend durch die Haare kraulte. Kindliche Müdigkeit und die Erschöpfung der Reise übermannten Aleshanee.
»Ist schon gut«, flüsterte er seiner Tochter sanft zu und drückte sie ein wenig an sich. »Es wird alles gut. Schlaf ein wenig.«
Sie schloss ihre feuchten Augen. Einige Male schniefte sie, ehe sie in den Armen ihres Vaters einschlief und von dem weiteren Gespräch nichts mehr mitbekam.
Mittlerweile hatten die Erwachsenen die Kräuter aus dem Wasser genommen und tranken von dem wärmenden Getränk.
Taima betrachtete das Kind mit sanftem Blick.
»Wie kommt sie mit alledem klar?«, fragte sie leise.
Bereits bei Helakus letztem Besuch hatte er ihr von dem Angriff auf das Rudel und von Aleshanees Gabe berichtet.
»Es geht«, flüsterte Helaku. »Vieles versteht sie nicht. Aber sie kann sich mit der neuen Situation irgendwie … anfreunden. Langsam. Jin tut ihr erstaunlich gut.«
Ungläubig hob sich die Brauenmuskulatur über Taimas Augen. »Wie das?«
»Sie erklären sich gegenseitig die Welt. Aleshanee mit ihrer Faol-kindlichen Weichheit und Jin mit seiner selbst für Awi eigensinnigen Sicht. Er hilft mir, mit ihr zu üben. Es lenkt sie ab.«
»Du belastest sie wirklich mit Kämpfen?«
»Es tut ihr gut, sie wird stärker.« Helaku sah Taima ernst in die Augen.
»Natürlich.« Die Spinnenjarg schnaubte verächtlich. »Natürlich; einem Kind tut es immer gut, Gewalt und Kämpfe zu erfahren.«
Helaku presste die Lippen zusammen, als Antwort auf diese vor Sarkasmus triefende Aussage. Ein drückendes Schweigen legte sich zwischen die zwei Erwachsenen, ehe Helaku seinen Blick abwandte. »Ich … Sie … Wir haben keine Wahl. Sie muss kämpfen. Sie muss es lernen.«
»Sie muss lernen, mit dem Verlust richtig umzugehen!«, entgegnete Taima fauchend.
»Das wird sie schon.« Der große Faol klang mehr und mehr wie ein bockiges Kind.
»Und du musst das auch.« Die drei Spinnenaugen musterten Helaku aus Schlitzen, während Taima alle Arme verschränkte, die sie hatte.
»Das habe ich bereits.