K2 – Der härteste Berg der Welt - Hans Kammerlander - E-Book

K2 – Der härteste Berg der Welt E-Book

Hans Kammerlander

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Beschreibung

8611 m: Die Geschichte des zweithöchsten Bergs der Welt Er gilt unter Alpinisten als weitaus anspruchsvoller als der einzige Berg, der ihn überragt: Der K2 flößt selbst den talentiertesten Bergsteigern Respekt ein. Seit britische Landvermesser im 19. Jahrhundert die höchsten Gipfel der Erde kartographierten, ist die Faszination der Achttausender ungebrochen. Einer, den der Gipfel schon von Kindesbeinen an rief, ist der Extrembergsteiger Hans Kammerlander. Gemeinsam mit dem Journalisten und Fotografen Walther Lücker spürt er dem Mythos des gefährlichsten Berges der Welt nach. Von seiner Entdeckung bis zum heutigen Alpintourismus mit Hightech-Ausrüstung: Die Geschichte des K2 ist voller Triumphe und Tragödien. - Der zweithöchste, aber der anspruchsvollste Berg der Welt: die Faszination des K2 - Ein Extrembergsteiger im Porträt: Wie Hans Kammerlander seine Liebe zu den Achttausendern entdeckte und wie er den K2 bezwang - Ein großartiges Geschenk für Bergsteiger und alle, die der Faszination der Berge erlegen sind - 1954: Die Chronik der Erstbesteigung des K2 durch Achille Compagnoni und Lino Lacedelli - Von Höchstleistungen, Fehlschlägen, Tragödien und Kontroversen: Die vielen Facetten der K2-Geschichte in einem Buch Der schwierigste Achttausender: Berichte von K2-Besteigungen und gescheiterten Versuchen Hans Kammerlander brauchte drei Anläufe, bis er 2001 auf dem Gipfel stand. So wie ihm erging es vielen Extrembergsteigern, die ihre Kräfte mit dem zweithöchsten Berg der Welt messen wollten. Trotz modernster Ausrüstung und monatelanger Vorbereitung: Wer am K2 einen Fehler macht, bezahlt diesen nicht selten mit dem Leben. Viele dieser Triumphe und Tragödien stellt das Autorenteam in diesem Buch vor. Eines wird dabei von Kapitel zu Kapitel deutlicher: Welche unglaubliche Faszination dieser besondere Berg auch mehr als 150 Jahre nach seiner Entdeckung und 70 Jahre nach seiner Erstbesteigung noch ausübt.  

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Seitenzahl: 317

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Inhalt

6: Kapitel 1 Wie Hans Kammerlander Alpingeschichte schrieb

32: Kapitel 21856 Die Entdeckungen der britischen Landvermesser

42: Kapitel 31890 Die ersten Bergsteiger und ein Okkultist am K2

Über das Zusammenleben auf engstem Raum und das Lesen im Hochgebirge

56: Kapitel 41909 Der Abruzzengrat und der unbesteigbare Berg

66: Kapitel 51938 Eine US-Expedition als Wegbereiter nach oben

80: Kapitel 61939 Fritz Wiessner und das Chaos am Berg

94: Kapitel 71953 Pete Schoening und das Gilkey Memorial

102: Kapitel 81954 Endlich oben. Die Erstbesteigung der Italiener

130: K2-Routen Die Wege durch die Nordund Südwand

136: Kapitel 91979 Der Südgrat, Reinhold Messner und die Franzosen

158: Kapitel 101981 Japaner und Polen am K2

168: Kapitel 111986 Unglaubliche Leistungen und die erste Frau am Gipfel

186: Kapitel 121986 Willi Bauer, Kurt Diemberger und eine Verkettung tragischer Umstände

202: Kapitel 132001 Hans Kammerlander und sein langes Ringen mit dem K2

220: Kapitel 142011 Ein schicksalhafter Sommer und die Königin der Todeszone

Über meine Bewunderung für Gerlinde

246: Kapitel 152023 Der Tod eines Trägers

Zu guter Letzt Der K2 bleibt ein großer, erhabener Berg

Autoren

Danksagung

Literatur

Online-Quellen

Bildnachweis

Impressum

Wie Hans Kammerlander Alpingeschichte schrieb

Walther Lücker

Ein steiles Leben: Hans Kammerlander zählt zu den erfolgreichsten Höhenbergsteigern unserer Zeit. Hier kniet er im Jahr 1996 auf dem Gipfel des Mount Everest, des höchsten Bergs der Welt. Für den zweithöchsten Berg, den K2, brauchte er insgesamt drei Versuche, bis er schließlich 2001 den Gipfel erreichte.

Das sechste und jüngste Kind einer Südtiroler Bergbauernfamilie: Sabine, die ältere Schwester von Hans, sorgte sich viel um den jungen Buben, erst recht nach dem viel zu frühen Tod der Mutter.

»Kein anderer Achttausender hat mir so viel abverlangt«, sagt Hans Kammerlander. »Mit keinem anderen Berg habe ich so gekämpft wie mit dem K2. Zu keinem anderen Berg der Welt bin ich so oft hingereist. Kein anderer Gipfel hat mich so viel Kraft gekostet.« Das klingt, als wolle einer sagen, er habe gelitten und sich an der Grenze des Möglichen gewähnt. Das mag den Funken jener Wahrheit haben, die es für gute Geschichten braucht. Doch derlei Aussagen eines Mannes, der zwischen 1983 und 2001, also fast zwanzig Jahre, lang zu den weltbesten Bergsteigern gehörte, sind ebenso ein Signal dafür, dass er auch die andere Seite erlebt hat, als er das Ziel erreicht hatte – Glück, Zufriedenheit, Genugtuung, dass er den Erfolg genießen konnte, dem er so lange nachgelaufen war. Tatsächlich ist die Geschichte, die den Südtiroler Extrembergsteiger Hans Kammerlander mit dem zweithöchsten Berg der Erde verbindet, zu gleichen Maßen beachtlich, abenteuerlich und beeindruckend.

Als kleiner Junge stand Hans oft daheim vor dem elterlichen Bauernhof, der hoch über den Dächern von Sand in Taufers im Südtiroler Ahrntal in einen sehr steilen Hang in Ahornach hineingebaut worden war. Die vergletscherten Gipfel des Alpenhauptkammes sah er von daheim aus zwar nicht, sehr wohl aber den Peitlerkofel, die Marmolada, das markante Dreieck des Piz Boè und weitere Berge zwischen Furkelpass und Prags. Hinter ihm lag der Große Moosstock, der 3.059 Meter hohe Hausberg. Kammerlander bestieg ihn als Achtjähriger zum ersten Mal. Heimlich folgte er einem deutschen Ehepaar, das ihn nach dem Weg gefragt und ihn neugierig gemacht hatte. Als ihn die beiden Erwachsenen oben entdeckten, wie er unweit vom Gipfelkreuz hinter einer der schwarzen Felsplatten kauerte, bekam er nicht die erwartete Ohrfeige, sondern einen rotbackigen Apfel. Unten, nahe dem letzten Bergbauernhof in Ahornach, holte er seine Schultasche aus dem Gebüsch und trollte sich heim, dem Donnerwetter entgegensehend. Hundertmal hat er diese Geschichte schon erzählt, und doch ist sie immer wieder gut. Vor allem muss man sie kennen, um dem Menschen Hans Kammerlander näherzukommen.

Die Mutter von Hans starb zwei Jahre nach diesem allerersten Bergerlebnis. Viel zu früh, sagt Kammerlander bis heute. Er war das sechste Kind einer Bergbauernfamilie. Ein Nachzügler. Daheim auf dem kärglichen Hof mit ein paar Stück Vieh und üppig blühenden, aber steilen Bergwiesen musste Hans Kammerlander schon früh mit anpacken. Nach dem Tod der Mutter sorgte sich fortan die ältere Schwester Sabine um ihn. Das Wort »sorgen« ist richtig gewählt, denn als Hans Kammerlander an jenem Tag vom Moosstock herunterkam, war er nicht mehr derselbe: In ihm loderte fortan ein Feuer, eine unstillbare Sucht. Nicht umsonst heißt eines seiner Bücher Bergsüchtig (Piper Verlag, 1998).

Sein Vater war Bauer mit Leib und Seele, aber auch Schuster und oft mit seinem Wanderhandwerk unterwegs. War er daheim, hielt er die von tiefem Glauben geprägte Familie mit starker Hand zusammen. Dass ihm der Vater das Schnitzen gezeigt und ihm Geschick in der Werkstatt vermittelt hat, erwähnt Kammerlander oft und gern. Das Beten hat ihm hingegen nicht gefallen. Die Schule war ihm offenkundig ein Gräuel, das Skifahren auf selbst getretenen Pisten, vom frühen Morgen bis zur Dunkelheit, war sein Leben in jungen Jahren. Er war gut in dem, was er da tat. So gut, dass er sich viele Jahre später, 1996, am höchsten Punkt der Erde die Ski anschnallte und über die Nordflanke des Mount Everest bis in das vorgeschobene Basislager hinunterfuhr.

Im Sommer waren Klettern, Bergsteigen und Laufen genau das Seine. Über sechs Jahre gewann er sicher ebenso viele Bergläufe wie Skirennen.

Der Beginn einer lebenslangen Passion: Die Faszination am Skifahren entdeckte Hans schon sehr früh – hier auf der Wiese neben dem elterlichen Hof in Ahornach.

Kein Zweifel, der Moosstock hatte im Leben von Hans Kammerlander so gut wie alles verändert. »Damals auf dem Gipfel, mit diesem deutschen Ehepaar«, erinnert sich Kammerlander, »hat ein unglaublich weiter Weg für mich begonnen, der mich in die Gebirge der ganzen Welt geführt hat. Wenn ich mit achtzig, vielleicht auch mit neunzig, noch mal auf den Moosstock steigen könnte, dann wäre mein Weg wie ein Kreis. Das wäre doch ein schöner Abschluss.« Als Kammerlander 2024 wieder diesen Satz sagt, ist er 67 Jahre alt. Da ist noch Luft nach oben – für vieles.

Mit seinem älteren Bruder Alois durchstieg er 1972, kaum 16 Jahre alt, die Nordwand des Peitlerkofels auf der klassischen Route. Als Hans damals die paar Meter zum Gipfel hinüberlief, sah er die anderen Bergsteiger dort oben sitzen. Doch keiner von denen kam da her, wo er gerade herkam, und seine Brust schwoll vor unverhohlenem Stolz. Viel wichtiger jedoch als dieses tiefe Gefühl der Genugtuung war die Aussicht vom Peitlerkofel. Dort eröffnet sich ein Meer von Gipfeln, das vom Großglockner bis fast zum Ortler, von den Sextener Dolomiten bis in die Zillertaler Alpen reicht. Mit einem Fernglas hätte Hans Kammerlander seinen heimatlichen Hof sehen können, vor allem begriff er an diesem Tag eines: »Die Welt war eben nicht am Peitlerkofel zu Ende, wie ich immer dachte. Dort begann die Welt erst.« Und von da an bestieg der Südtiroler diese Berge – einen nach dem anderen. Ein Kletterkurs, auf dem der Bruder bestanden hatte, vermittelte ihm das nötige Basiswissen. Er bestieg sowohl Dolomitengipfel als auch die eisigen Berge am nahen Hauptkamm der Alpen in Serie. Kein Wochenende mehr ohne Nordwände mit Steigeisen, sonnige Plattenschüsse mit den ersten Kletterpatschen. Schon mit 21 Jahren bestand Hans Kammerlander die Bergführerprüfung. Endlich war er nicht mehr Maurer oder Kranführer auf der Baustelle. Seine Ausbilder erkannten in ihm ein Jahrhunderttalent. »Lange Arme, tiefer Körperschwerpunkt, eine unglaubliche Kondition, ein wachsames Auge und die Fähigkeit, selbst gigantische Wände lesen zu können«, analysierte sein langjähriger Freund, der Brunecker Arzt und Alpinist Werner Beikircher.

Reinhold Messner, 1982 schon zum Weltstar in der damals noch kleinen Nische des Achttausender-Bergsteigens avanciert, muss die Entwicklung von Kammerlander ähnlich beobachtet haben. Unter den Geislerspitzen in Villnöß aufgewachsen, holte er den jungen Bergführer Kammerlander in seine Alpinschule. Unter der berüchtigten Nordwand der Furchetta, wo Emil Solleder und Fritz Wiessner erstmals den sechsten Grat in den Dolomiten kletterten, brachte Kammerlander Gästen in Kursen die ersten Schritte im lotrechten Fels bei. Am späten Nachmittag kletterte er mit dem Sterzinger Bergführer Hanspeter Eisendle mal eben durch genau diese Furchetta-Wand, und zum Abendessen waren die beiden wieder zurück bei ihrer Gruppe auf der Glatschalm.

Kammerlander galt als der Verrückteste in dieser neuen Südtiroler Klettergeneration. Verrückt in des Wortes Ursprung. Er verrückte Grenzen. Und es schien fast, als würde er das nach Belieben tun. Binnen weniger Jahre notierte er fünfzig Erstbegehungen in seinem Tagebuch. Darunter so beeindruckende Routen wie die »Fata Morgana« oder die »Shit Hubert« in der Südwand des Piz Ciavazes am Sellastock. Mehr als sechzig Mal durchstieg er solo schwierige Routen wie die Cassin an der Kleinen Zinne, die beiden großen Kanten an der Tofana di Rozes, die Mauro-Minuzzo-Route an der Großen Zinne, die Route von Lino Lacedelli, dem Erstbesteiger des K2, in der Südwestwand der Cima Scotoni. Dort schreckte er am frühen Morgen zwei Japaner in ihren Biwaksäcken auf. Kammerlander war auf der Überholspur. Als er 1983 die »Messner« in der Peitler-Nordwand ganz allein kletterte und dabei in arge Bedrängnis geriet, hätte ihn dieses entrückte Treiben fast das Leben gekostet.

Ein Jahr zuvor, 1982, hatte Reinhold Messner den gerade 26 Jahre alten Hans Kammerlander am Bauernhof in Ahornach angerufen, um ihn zum Versuch einer Winterdurchsteigung der noch nicht durchstiegenen Südwestwand des Cho Oyu im Himalaja mitzunehmen. Die grundlos tiefen Schneemassen und wuchtigen Winterstürme des Himalaja ließen die Expedition scheitern, doch kaum ein halbes Jahr später waren Messner und Kammerlander wieder da, diesmal mit Michl Dacher, einem deutschen Spitzenbergsteiger aus dem bayerischen Peiting. Dacher hatte vier Jahre zuvor mit Reinhold Messner als erster Deutscher den K2 bestiegen. Die Zahl derer, die das Höhenbergsteigen richtig gut konnten, war damals noch klein, und Kammerlander bewegte sich in Messners Fußstapfen so geschickt wie auf seinen Steigeisen. Er sog Messners Wissen über Höhen und Taktik, über Gefahren und die Kunst des Überlebens auf wie ein trockener Schwamm.

Zusammen wurden die beiden in der Folge die erfolgreichste Seilschaft an den Achttausendern. Reinhold Messner und Hans Kammerlander erreichten binnen von nur vier Jahren sieben der höchsten Gipfel der Welt. Am 8.188 Meter hohen Cho Oyu hatten sich Messner, Dacher und Kammerlander kaum richtig akklimatisiert und stiegen trotzdem in nur drei Tagen bis auf den Gipfel. Auf dem Weg nach unten murmelte Kammerlander ein »Nie wieder!« in den struppigen Bart: »Nie wieder wollte ich dieses Schneegetrete, dieses stundenlange Gestampfe im frischen Pulver und diese sinnlose Schinderei bis auf den Gipfel auf mich nehmen«, sagt Kammerlander auch heute noch.

Nur ein Jahr später gelang Messner und Kammerlander eine beispiellose Doppelüberschreitung des Gasherbrum II (8.034m) und des Hidden Peak (8.080m) im Karakorum. Sie benötigten acht Tage und waren fünf davon in der sogenannten Todeszone. Wiederholt wurde dieser Ritt auf des Messers Schneide nie. Kammerlander hätte er beim unkontrollierten Sturz in eine Gletscherspalte fast das Leben gekostet. Fast. Immer nur fast. In der Frühlingssaison 1985 knackten Messner und Kammerlander im Himalaja binnen 19 Tagen die Südwand der Annapurna (8.091m) in einer atemberaubenden Erstbegehung und direkt danach den Nordostgrat am Dhaulagiri (8.167m). Dabei mussten sie in das Kali-Gandaki-Tal, die tiefste Schlucht der Welt, absteigen. Von beiden Gipfeln aus bemessen, sind das fast siebentausend Meter hinunter und wieder hinauf.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein fast schon erbittertes und gefährliches »Wettrennen« ergeben, wer als erster Mensch alle vierzehn Achttausender bestiegen haben würde. Messner, der Pole Jerzy Kukuczka und eine Zeitlang der Schweizer Erhard Loretan waren die aussichtsreichsten Anwärter. Die Medien nahmen 1986 regen Anteil an dem Wettlauf, an dem teilzunehmen Messner nie eingestehen wollte. Am 26. September hatte er mit Kammerlander und dem Südtiroler Friedl Mutschlechner den Makalu (8.485 m) bestiegen. Kaum drei Wochen später erreichten die beiden den höchsten Punkt am Lhotse (8.516m), und Kammerlander stand direkt an der Seite Messners, als der in den Höhensturm schrie: »Nichts wie weg hier, sonst kommen wir um.« Kammerlanders siebter war Messners vierzehnter Achttausender.

An jenem 16. Oktober, am Nachmittag dieses stürmischen Tages, war Messner am Ziel und Hans Kammerlander allein. Es war klar, dass der eine sich nun ganz anderen Zielen – wie Wüsten, den Erdpolen und der Politik – zuwenden würde, während der andere den Weg auf die hohen Berge unbedingt fortsetzen wollte, allerdings auf ganz andere Weise als bisher. Fortan nahm Hans Kammerlander bei jeder Achttausender-Expedition seine Ski mit. Was ihm in der Jugend so viel Spaß gemacht hatte und als Skilehrer sein Broterwerb war, sollte nun an den höchsten Bergen der Welt harter Ernst werden. »Reinhold war ja kein Skifahrer, er konnte das gar nicht. Aber ich habe bei unseren Aufstiegen immer wieder nach Linien gesucht, die man vielleicht hinunterfahren könnte. Das wäre so viel leichter gewesen als der mühselige Abstieg«, erinnert sich Kammerlander. Erstmals fuhr er am Makalu 1986 vom Lager II bis in das Basecamp ab, das er so einen Tag vor Messner und Mutschlechner erreichte. »Schnelligkeit ist an den Achttausendern auch Sicherheit – Reinhold selbst hat mir das immerzu gepredigt«, sagt Kammerlander, der sich nie länger als unbedingt notwendig in großen Höhen aufhielt.

»Ich habe immer wieder nach Linien gesucht, die man vielleicht hinunterfahren könnte. Das wäre so viel leichter gewesen als der mühselige Abstieg.«

Die erste Expedition, die Kammerlander ohne Messner organisierte, führte ihn 1990 zurück nach Pakistan zum Nanga Parbat, dem neunthöchsten Berg der Welt. Der Südtiroler war mit Diego Wellig unterwegs. Der aufgeweckte Schweizer Bergführer hatte bis dahin drei Achttausender bestiegen – die Shishapangma in Tibet, den Broad Peak und den Gasherbrum II im Karakorum. Kammerlander war 33 Jahre alt, Wellig knapp 29. Beide waren fantastische Skifahrer und zu allem entschlossen, als sie von der berühmten Märchenwiese unter dem Nanga Parbat gebannt in die riesige Diamirwand, die höchste Wand der Erde, starrten. »Manchmal donnerten dort dreißig Lawinen am Tag über die Wand herunter«, erinnert sich Kammerlander. Als sie am Ende der klassischen Kinshofer-Route angelangt waren, blieb Wellig zurück, und Kammerlander ging allein in einer schier endlosen Querung das letzte Stück bis zum Gipfel.

Wahrzeichen der Alpen: Das 4.478 Meter hohe Matterhorn hat Hans Kammerlander (im Bild) mit Werner Beikircher 1976 über die Nordwand bestiegen.

Die Skiabfahrt vom höchsten Punkt hatten beide wegen des felsigen Geländes im Gipfelbereich bereits aufgegeben. Nach Kammerlanders Gipfelgang trafen sich die beiden wieder und fuhren mit Ski bis zum Beginn einer 50 Grad steilen Rinne. Kammerlander zögerte, schaute, zögerte weiter. Auch Diego Wellig hatte ein mulmiges Gefühl, denn die Rinne war zum Bersten mit Schnee gefüllt und an ihrem oberen Ende kaum zehn Meter breit. Schließlich sprang Kammerlander einen Meter tief in den gepressten Schnee. Ein Schwung. Noch einer. Beim dritten passierte es. Unter seinem linken Ski brach die Schneedecke in der gesamten Breite der Rinne auf. Es gab dabei dieses beängstigende »Rumms«-Geräusch, die Schneemassen lösten sich und schossen die Rinne hinunter. Kammerlander hatte das Gleichgewicht nicht verloren und blickte wie paralysiert der Lawine nach, die die Diamirflanke hinunterschoss. Man hörte das Krachen und Bersten der Schneemassen beim Aufschlag. »Ein Inferno, einfach unglaublich«, so Kammerlander, »ich stand da wie gebannt. Der Riss in der Schneedecke war sicher einen Meter tief, und die Massen an Schnee wurden unterwegs ungeheuer. Der Schnee schoss über die Vorsprünge meterweit hinaus, der Lärm wurde immer größer, und mein Schrecken wollte sich nicht legen.« Dieses Schauspiel dauerte fast zehn Minuten, ehe es still wurde.

Für Kammerlander war es ein Gefühl, als wolle die Natur Luft holen. Tatsächlich kam von 4.000 Metern weiter unten ein Luftzug nach oben. Und mit ihm blies es feinen Schneestaub nach oben, der die beiden Bergsteiger vollständig in einen Nebel tauchte, in dem sie nichts mehr sahen. Dieser zweite Akt des Schauspiels dauerte fast eine weitere Viertelstunde. Die beiden Bergsteiger in über 8.000 Meter Höhe schauten sich an. Wie in einem stillen Einverständnis fuhren sie nacheinander in die Rinne hinein. Die Lawine hatte den Neuschnee ausgefegt, und ohne die enorme Höhe wäre es fast ein Vergnügen gewesen, da hinunterzufahren.

Ein Jahr nach dieser Abfahrt am Nanga Parbat lud Kammerlander eine Gruppe Südtiroler ein, ihn zum Manaslu zu begleiten, den achthöchsten der vierzehn Achttausender. Zu elft gingen sie hinauf zum Basislager: Hans Kammerlander, Karl Großrubatscher, Erich Seeber, Christian Rier, Friedl Mutschlechner, dessen Bruder Hans Mutschlechner, Martin Tinkhauser, Stefan Plangger, Albert Brugger, Gregor Demetz und Roland Losso. Die meisten von ihnen hatten keine Erfahrungen an den ganz hohen Bergen, aber entschlossen waren alle. Allerdings sollte die Angelegenheit in einem Desaster enden. Das Wetter war schlecht in diesem Jahr: Es schneite viel und wollte einfach nicht stabil werden. Es hatte sich noch keine Chance auf den Gipfel ergeben, und die Enttäuschung wurde umso größer, je näher der Rückreisetermin rückte.

Wegen des Irak-Kriegs standen die Ölfelder in Kuwait in Flammen, und die Höhenwinde trieben den Ruß genau in die Berge des Himalaja.

Dort tobte der Sturm so heftig, dass er Kammerlander auf alle viere zwang. Diese Expedition würde ohne Gipfelerfolg zu Ende gehen.

Im Basislager des Manaslu kochte die Gruppe um Hans Kammerlander das Wasser oft dreimal ab, und selbst dann stand noch ein Ölfilm in den Tassen. Dadurch wurden auch Gewitter in den großen Höhen begünstigt, was sonst außerhalb des Monsuns fast nie der Fall war. Als die Träger bereits begannen, das Gepäck aus dem Basislager abzutransportieren, öffnete sich doch noch ein Wetterfenster. Da die Hochlager jedoch nicht allzu üppig Platz boten, bekam eine sechsköpfige Gruppe diese letzte Chance. Alle anderen, darunter auch Hans Kammerlander selbst, sollten im Basislager bleiben. »Es war von Beginn an nicht mein Bestreben, unbedingt den Gipfel zu erreichen. Mir ging es darum, dass junge Bergsteiger aus Südtirol, die einen solchen finanziellen Aufwand nicht allein hätten stemmen können, einen Achttausender versuchen können. Ich war damals gern bereit, als Allerletzter oder gar nicht hinaufzugehen«, sagt Kammerlander. Im tiefen Schnee ging es bis in das Lager I, dann kehrten alle sechs um. Unten vernahmen Hans Kammerlander, Friedl Mutschlechner, Christian Rier und Karl Großrubatscher die Nachricht überrascht und stiegen in Richtung Lager I auf, um dort die anderen zu treffen. Man beratschlagte, aber es blieb dabei: Die Hauptgruppe stieg ab. Nur Kammerlander, Friedl Mutschlechner und Karl Großrubatscher blieben.

Mutschlechner war Kammerlanders alpiner Mentor. Er hatte dem ungestümen Draufgänger beigebracht, was eine gute Seilführung, ein sicherer Standplatz und eine souveräne Linie im Fels ist. Kammerlander hatte diesem großen Alpinisten aus Bruneck im Pustertal unendlich viel zu verdanken. Zusammen waren sie in vielen Dolomitenwänden und im Eis des Alpenhauptkammes geklettert, außerdem mehrmals mit Reinhold Messner auf Expeditionen gewesen. Am Lhotse hatte Mutschlechner 1986 nur wegen starker Zahnschmerzen auf den Gipfel verzichten müssen. Davor war er mit Messner am K2, der Shishapangma, am Cho Oyu, am Dhaulagiri und am Kangchendzönga, wo er sich starke Erfrierungen zugezogen hatte, unterwegs gewesen. Für den Manaslu ließ sich der sieben Jahre ältere Friedl Mutschlechner von Kammerlander überreden, noch einmal zusammen eine Expedition zu unternehmen. Der damals 29 Jahre alte Karl Großrubatscher war ein außerordentlich starker Bergsteiger, anerkanntes Mitglied in der Grödner Klettergilde der »Catores« und ein umsichtiger Bergretter mit Höhenerfahrung. Vor der Manaslu-Expedition hatte er schon in den Dolomiten große Klettertouren und Alleinbegehungen bewältigt und den Cerro Torre in Patagonien in weniger als 48 Stunden ab Basislager bestiegen. Daheim in Südtirol hatte er die Bergführerprüfung abgelegt. Sein Ausbilder: Friedl Mutschlechner.

Und nun saßen die drei im Hochlager, noch über 2.000 Höhenmeter vom Gipfel des Manaslu entfernt. Etwas Hoffnung auf den Gipfel gab es noch. Als am nächsten Tag wieder die Sonne schien, trieb ihr Vorhaben sie bis auf etwas mehr als 7.000 Meter hinauf. Das war anstrengend genug, und kaum dass sie den Hochlagerplatz aus dem Eis gepickelt hatten, kam Sturm auf. Am Morgen schien der Spuk vorüber.

Blutrot ging die Sonne auf, gut tausend Höhenmeter waren es noch bis zum Gipfel. Um sechs Uhr verließen die drei die Zelte. Bald danach band sich Friedl Mutschlechner aus dem Acht-Millimeter-Seil aus. Es war zu kalt mit seinen vorgeschädigten Zehen. Mutschlechner ging zurück, und kaum eine halbe Stunde später gab auch Karl Großrubatscher auf. Er war zu schnell gestartet und konnte nun das hohe Tempo nicht halten, das Kammerlander ging. Der überlegte, ob er auch Schluss machen sollte, ging dann aber doch noch weitere 400 Höhenmeter zum Grat hinauf. Dort tobte der Sturm so heftig, dass er Kammerlander auf alle viere zwang. Das hatte keinen Sinn. Diese Expedition würde ohne Gipfelerfolg zu Ende gehen. »Auch in Ordnung, dachte ich damals, wir hatten ja trotz des miesen Wetters eine schöne Zeit an einem Achttausender gehabt«, sagt Kammerlander mit dem Blick zurück. Er ahnte nicht, was in den nächsten Stunden passieren sollte.

Knapp unter dem Grat setzte Kammerlander einen Funkspruch ab, dann stieg er zum Hochlager zu Friedl Mutschlechner ab. Der kam gleich aus seinem Zelt, Karl Großrubatscher nicht. Da stimmte etwas nicht. Sie begannen zu rufen und fanden Großrubatschers Eispickel. In der Schlaufe steckte ein Handschuh. Der leblose Körper des Grödners lag hundert Meter entfernt in einer Gletschermulde, über der Schneebrücke einer Spalte. Offenbar war er von einem Sérac gestürzt und dann diesen Hang hinuntergerutscht. An seinen Schuhen befand sich nur ein Steigeisen, das andere hatte er bei seinem Sturz verloren. Das ergab alles keinen Sinn und ist bis heute unerklärlich. Kammerlander und Mutschlechner

Von den Alpen auf die höchsten Berge der Welt: Der exzellente Skifahrer und Bergsteiger Hans Kammerlander führte beide Disziplinen an den Achttausendern – hier am Nanga Parbat 1990 – zusammen.

Die erfolgreichste Achttausender-Seilschaft aller Zeiten: Auf sieben seiner zwölf höchsten Gipfel stand Hans Kammerlander gemeinsam mit Reinhold Messner. Den 8.485 Meter hohen Makalu erreichten die beiden im Jahr 1986.

bestatteten den Freund, dann begannen sie überwältigt von dem tragischen Ereignis die Flucht nach unten. Dabei kamen sie immer langsamer voran, weil sich die Sicht extrem verschlechterte. Mit den Ski im Lager II wollten sie schnellstmöglich zum Basislager abfahren. Kammerlander fuhr voraus, Mutschlechner mühsam hinterher. Eigentlich war er ein brillanter Skifahrer, wegen seiner Erfrierungen trug er jedoch Bergschuhe in Übergröße, mit denen Skifahren fast unmöglich war.

Noch eine knappe halbe Stunde war es bis zum Lager I. Wenigstens bis dahin mussten sie kommen. Um 17 Uhr brach das Inferno los. »Wir müssen hier weg«, schrie Kammerlander, »da kommt ein Gewitter.« Es sei besser abzuwarten, riet Mutschlechner noch. Kammerlander spürte die Elektrizität an seinem kleinen Ohrring. Mutschlechner hatte Funken auf dem Eispickel an seinem Rucksack. Im nächsten Moment waren Blitz und Donner auch schon eins. Wenig später lag Friedl Mutschlechner tot im Schnee. Erschlagen von einem der zahllosen Blitze des Gewitters, das sich direkt über ihren Köpfen austobte. Hans Kammerlander erinnert sich: »Ich wurde von einem Stromschlag getroffen, obwohl ich schon ganz flach am Boden lag. Dann war es eine Zeitlang still. Ich schrie nach Friedl, doch der antwortete nicht mehr.« Kammerlander kroch zu seinem Freund. »Von einer auf die andere Sekunde befand ich mich in einer vollständig verzweifelten Situation«, beschreibt Kammerlander diesen Moment in seinem Buch Bergsüchtig: »Oben lag Karl. Tot. Nur wenige Meter von mir entfernt lag Friedl. Tot. Und ich lebte. Warum? Was war hier eigentlich los? Dieser verdammte Berg. Er sollte endlich aufhören. Ich war mit meinen Nerven am Ende.«

Irgendwie schaffte es Kammerlander bis zum Lager I. Er kroch in das erste Zelt hinein, legte sich auf den Rücken, nahm seine kleine Kamera, richtete sie auf sich selbst und löste aus. Als wollte er belegen, dass er zu dem Zeitpunkt noch am Leben war – ein unglaubliches Foto für eine kaum zu beschreibende Situation: Hans Kammerlander zwischen Leben und Tod, dem Wahnsinn nahe.

Es dauerte, bis das Gewitter endlich nachließ. Niemand vermag zu erahnen, was in diesen Stunden mit Hans Kammerlander geschah. Doch all seine Freunde sagen, er sei danach nicht mehr derselbe gewesen. Er nahm schließlich das Funkgerät aus seiner Jacke und rief das Basislager. Alle warteten dort unten auf eine Nachricht. Am meisten Kammerlanders damalige Frau Brigitte, die zu dieser Zeit ebenfalls im Basislager war. Sie hatte Marianne Mutschlechner überredet, ihren Mann Friedl nach der Expedition im Basislager zu überraschen. Sie war zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Tagesetappen entfernt. In einem weiteren Funkspruch etwas später berichtete Kammerlander in seiner kaum mehr zu bändigenden Angst, dass das Gewitter offenbar zurückkäme. Da riss Brigitte Kammerlander das Funkgerät an sich und schrie: »Hans, komm jetzt endlich von diesem Scheißberg runter!« Gregor Demetz, der beste Freund von Karl Großrubatscher, nahm ihr das Gerät aus den Händen. Verzweiflung oben, Verzweiflung unten. Da schien der ganze Berg zu beben. Erst gegen vier Uhr morgens beruhigte sich das Wetter.

Mit dem ersten Tageslicht machten sich ein paar Sherpa zusammen mit Stefan Plangger, Christian Rier und Werner Tinkhauser auf den Weg Richtung Lager I. Es hatte in dieser Nacht fast einen Meter geschneit. Hans Kammerlander nahm unterdessen seine Ski und fuhr auf wackligen Beinen sehr langsam nach unten. Er begegnete den anderen auf halbem Weg. Kammerlander zog sein Armband ab und sagte: »Nehmt es mit. Gebt es Friedl, bevor ihr ihn bestattet. Und bringt mir seine Halskette. Für Marianne.« Genauso geschah es. Einen Tag später eilten Hans Kammerlander und Hans Mutschlechner vom Basislager ins Tal. Irgendwann trafen sie auf Marianne Mutschlechner. Es bedurfte keiner Worte. Sie verstand sofort, als sie die beiden kommen sah.

Es dauerte, ehe Hans Kammerlander wieder Hand an den Fels legte, ehe er wieder in die Berge ging. Er wollte nach den traumatischen Erlebnissen an jenem Tag eigentlich nie wieder Alpinist sein. Der Manaslu hatte ihm nicht nur zwei Freunde, sondern auch die Freude an allem genommen, was sein Leben bis dahin so intensiv gemacht hatte. Erst sein damals acht Jahre alter Neffe Daniel Rogger, Sohn von Brigitte Kammerlanders Schwester Greti und heute ein großartiger Bergführer in Sexten, konnte den schwer gezeichneten Kammerlander zu einer Tour auf den Zwölfer in den Sextener Dolomiten überreden. Dieser Tag wurde zum Glücksfall, denn an der Seite dieses Jungen erkannte Kammerlander, dass der Berg nicht die Schuld an diesem Unglück trug. Vielmehr war es eine Verkettung nicht beeinflussbarer Geschehnisse.

Drei Jahre später, im Sommer 1994, sah Hans Kammerlander dann zum zweiten Mal den K2.

Niemand vermag zu erahnen, was in diesen Stunden mit Hans Kammerlander geschah. Doch seine Freunde sagen, er sei danach nicht mehr derselbe gewesen.

Hans Kammerlander

Eine Urgewalt aus Fels, Eis und Schnee

Als ich endlich ganz oben stand, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich dachte: Und jetzt? Was kommt jetzt? Was könnte nach dem K2 denn noch sein? Wie sollte ich mehr erreichen als den Gipfel des schwierigsten aller Achttausender? 8.611 Meter am härtesten Berg der Erde. Da gibt es keine Steigerung mehr. Diese Gedanken vermischten sich da oben mit dem unbeschreiblichen Glücksgefühl, das ich dort empfand. Sofort nach dem Glücksmoment machte sich auch Erleichterung in mir breit. Erleichterung, dass es endlich vorbei war. All die Strapazen der vergangenen drei Tage. Der Sauerstoffmangel, die enorme Steilheit an diesem Berg, das Ausgesetztsein, die Einsamkeit.

Nicht weit von mir weg stand der französische Spitzenbergsteiger Jean-Christophe Lafaille und fotografierte. Er hatte wohl ähnliche Gedanken in diesen paar Minuten. Mir kam der Weg zu diesem Gipfel auf einmal so unendlich weit vor. Wie im Zeitraffer schossen Sequenzen dieses Weges mitten in meine Gedanken hinein. Der Bauernhof daheim, mein erster Gipfel, die ersten Achttausender, dann immer mehr Expeditionen, dramatische Erlebnisse, über 3.500 Klettertouren, so viele Erstbegehungen, so viele Soloklettereien. Und nun der Gipfel des K2. Ich war angekommen. Endlich dort, wo ich schon so lange hinwollte. Und jetzt?

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt an dreizehn der vierzehn Achttausender in Nepal, Tibet und Pakistan meine Fußspuren hinterlassen. Zwölfmal hatte ich den Weg bis zum Gipfel gefunden, auf der Shishapangma und am Manaslu hatte ich den höchsten Punkt nicht erreicht. Die Bilanz bis dahin: Cho Oyu 1983, Gasherbrum II und Hidden Peak 1984, Annapurna und Dhaulagiri 1985, Makalu und Lhotse 1986, Nanga Parbat 1990, Broad Peak 1994, Shishapangma-Mittelgipfel und Mount Everest 1996, Kangchendzönga 1998. Und nun 2001, am 22. Juli, der K2. Der Berg der Berge. Der König. Der schönste und härteste der 14 Achttausender. Ich könnte ihn mit weiteren Superlativen schmücken und doch meine Gefühle nicht in Worte fassen, wenn ich diesen Berg betrachte.

Als ich den K2 zum ersten Mal sah, war ich auf dem Weg zum Broad Peak. Wir kamen zum berühmten Concordiaplatz, wo die größten Gletscher des Karakorum-Gebirges zusammenfließen. Dieser Ort ist gigantisch in seinen Ausmaßen und grandios als Kulisse. Plötzlich stand ich vor dem K2. Auf einmal tauchte er auf, wie aus dem Nichts und sperrte mit seiner wuchtigen Gestalt das ganze Tal ab. So als wolle er sagen: Stopp, bis hierher und nicht weiter! Dieser Berg hat im ersten Moment fast etwas Beängstigendes, beeindruckend ist er allemal. Die ersten Menschen, die dorthin gekommen sind, müssen sicher gedacht haben, dass es da hinten nicht mehr weitergehen kann.

Der K2 hat in meinem Leben eine Eigendynamik entwickelt. Ich wollte ihn immer besteigen, und irgendwie blieb mir diese Aufgabe an den Achttausendern dann bis zum Schluss. Und es brauchte fünf Anläufe, nachdem ich zweimal dort aufgegeben hatte und zweimal gar nicht bis zum Fuß des Berges gekommen war. Wenn ein Bergsteiger alle Achttausender bestiegen hat, aber der K2 noch fehlt, hat er den schwersten Brocken noch vor sich.

Ich war mit Ski am Nanga Parbat über die Diamirflanke abgefahren, die zweithöchste Wand der Welt. Später dann die Nordflanke des Mount Everest. Ich hatte die Ski am Manaslu dabei und am Kangchendzönga, an der Shishapangma, am Makalu und am Broad Peak. Und auch den K2 hatte ich jedes Mal, wenn ich dort war oder ein Foto studierte, nach einer Linie abgesucht. Nach einer Linie, die sich vielleicht für eine Skiabfahrt eignen könnte. Ich wollte das unbedingt versuchen. Aber ich habe nie wirklich einen Anfang gesehen, keine Einfahrt für eine Abfahrt. Sonst habe ich an jedem anderen Berg sofort erkannt, wo es möglicherweise gehen könnte. Nicht am K2. Dieses Ungetüm war einfach zu komplex. Ich sah das bergsteigerische Hinauf sehr wohl, das erschien recht bald logisch. Die Sicht auf den Skiweg hinunter blieb mir aber immer versperrt. Und es ist ein erheblicher Unterschied, ob man den Einstieg nach oben finden muss oder den Weg auf so außergewöhnliche Weise hinunter.

Oft habe ich zum K2 hinaufgeschaut. Hinauf zu diesen gewaltigen Flanken, zu dem vielen Neuschnee, zu den ständigen Lawinen und zu diesen steilen Felsriegeln. Eine Flanke mit einem Auslauf nach unten ist etwas anderes als eine solche Aneinanderreihung von Felsriegeln. Für mich blieb die Frage offen, ob man da überhaupt durchgehend abfahren kann oder zwischendurch immer wieder abseilen muss. Der K2 wirkt dann schnell sehr, sehr abweisend. Erdrückend fast und belastend. Anderen Bergsteigern mag vor allem die volle Schönheit des K2 auffallen. Die habe ich auch gesehen, auch seine Dominanz, diese Wucht und Eindrücklichkeit. Aber wenn das Projekt an diesem Berg eine Skiabfahrt ist, hat man gleich ganz andere Bilder im Kopf. Wie am Everest: Die Abfahrt dort war in nahezu allen Phasen höchst fordernd. Da gab es keine Zeit, die Spannung einmal abzubauen. Aber die Nordflanke des Everest ist nicht mit der Gefährlichkeit des K2 an seiner Südseite vergleichbar.

Meine Expedition zum Broad Peak hat mir die Augen für den K2 geöffnet: Da sah ich ihn auf Augenhöhe und nicht mehr als Zwerg von unten nach oben. Das war komplett anders als all die Fotos. Von diesem Moment an war der K2 für mich wie ein Magnet.

Ich wollte diese Linie, an die ich ständig denken musste, irgendwann auch finden. Mit Ski den K2 hinunter – das wurde zum großen, nicht ausgesprochenen Ziel.

Der K2 ist ein Kunstwerk der Natur, die größte Pyramide unserer Erde und eine Urgewalt aus Stein, Eis und Schnee. Als ich an jenem 22. Juli 2001 in 8.611 Meter Höhe am Gipfel stand, war das alles anders. Denn die schönsten Berge der Erde haben alle einen Nachteil gemeinsam. Man sieht sie nicht mehr, wenn man oben steht. Doch wenn man etwas nicht sieht, kann man es dennoch spüren. Und ich fühlte den ganzen K2, dieses schwarze Monstrum nun unter mir und mich ganz oben. Das hatte für einen kleinen Moment etwas Erhabenes.

Ich löste meine Steigeisen von den Schuhen. Dann legte ich meine Ski auf den beinharten Firn des Gipfels und stieg in die Bindung. Die Angst von 1996, als ich am Everest-Gipfel so lange gebraucht hatte, den Knoten der Furcht in mir zu lösen, hatte ich dieses Mal nicht. Ich rutschte einfach los. Ganz langsam. Dem Gipfelgrat folgend. Danach, in der Flanke oberhalb des Flaschenhalses, wurde es steil, und es war extrem kalt. Sicher 40 Grad unter null. Der Himmel war inzwischen mit Schleierwolken bedeckt. Die Sicht wurde zunehmend schlechter. Ich versuchte in dieser Steilheit mit den Ski umzuspringen. Zwei, drei dieser Sprünge. Dann rutschte ich wieder seitwärts ab. Meine Lunge schien unter der Belastung zu explodieren. Alles war weiß, milchig, ohne erkennbare Konturen. Unter mir sah ich Jean-Christophe Lafaille absteigen, und ich war nicht schneller als er. Als ich auf diese Weise kaum 150 Höhenmeter hinuntergekommen war, hielt ich auf einem Absatz an. Ich hatte die Wahl. Diese überraschende Besteigung, an die ich drei Tage zuvor überhaupt nicht mehr geglaubt hatte und zu der mich Jean-Christophe hatte überreden müssen, entweder auf Steigeisen sicher ins Tal zu bringen oder mein Leben auf einer Skiabfahrt bei schlechter Sicht zu riskieren.

Ich entschied mich für das Leben. Das war gut so. Es fühlte sich richtig an – damals wie heute. Ich habe diese Entscheidung nie angezweifelt. Geblieben ist die Erinnerung an diesen großartigen Berg.

Dieser K2 hat eine fast unglaubliche Historie, mit ebenso unglaublichen Details. Die Geschichte des Berges ist es allemal wert, näher betrachtet zu werden.

Machen wir uns also auf zu einer Reise in die Vergangenheit. Reisen wir gemeinsam zu diesem Berg, wie er damals war und wie er im Heute angekommen ist. Reisen wir durch die Jahrzehnte zu den Forschern und Vermessern, Alpinistinnen und Alpinisten, die dort unterwegs waren. Ich lade Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf das Abenteuer K2 ein – den zweithöchsten Berg der Erde und vielleicht faszinierendsten von allen.

1856Die Entdeckungen der britischen Landvermesser

Frauenpower am Berg: Die US-Amerikanerin Fanny Bullock Workman unternahm mit ihrem Mann ab Ende des 19. Jahrhunderts acht Reisen in den Karakorum, stellte dort Höhenrekorde auf und dürfte als erste Frau den K2 gesehen haben.

Gibt man einem vierjährigen Kind ein Blatt Papier und einen Stift und bittet es dann, einen Berg zu malen, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit die Form des K2 zeichnen. Ein Dreieck, also ein Dreieck mit – geometrisch gesehen – etwa gleich langen Schenkeln. Darüber vielleicht noch eine Wolke. Fertig ist das Bild vom perfekten Berg. So, wie der K2 aussieht, nehmen viele Menschen auch im Erwachsenenalter einen Berg noch immer wahr: als magisches Dreieck. Bergsteiger und Alpinisten aus der ganzen Welt hat diese Form unwiderstehlicher Ausdrucksstärke bewogen, die zweithöchste Erhebung unserer Erdkruste voller Ehrfurcht und Zugewandtheit den »Berg der Berge« zu nennen. Das klingt fast majestätisch und duldet keinen Widerspruch. Auch das Kind würde nur unwillig den Kopf schütteln, wollte man ihm weismachen, dass ein Berg anders aussehen könne.

In der Zeit, als der Karakorum in Pakistan noch unerforscht, als sämtliche Grate, alle Eisflanken, die Wände, Pfeiler, Gletscher und Gipfel noch gänzlich unberührt waren, war das riesige Gebirge eine in sich geschlossene Welt. Ein paar wenige Reisende hatten ein paar wenige Abhandlungen verfasst. Sie beschrieben, was sie aus respektvoller Entfernung erhaschen konnten. Erst das Bestreben der Briten, die weißen Flecken auf der Landkarte einzufärben, brachte Bewegung in die Erforschung: Sie schickten Vermessungsingenieure in Offiziersuniform, Männer wie Thomas George Montgomerie. Der war eine Aufmerksamkeit erregende Persönlichkeit: großgewachsen, breite Schultern, muskulös, mit einer in zunehmendem Alter immer höher wirkenden Stirn und gesegnet mit einem struppigen Rauschebart. »Hipster« würde man heute wohl zu ihm sagen. Geboren 1830 im schottischen Ayrshire, schlug er eine militärische Laufbahn ein und ließ sich mit 31 Jahren auf eigenen Wunsch zum Great Trigonometrical Survey versetzen, der »Großen Trigonometrischen Vermessung«, die fast das gesamte 19. Jahrhundert andauerte. Im Rahmen dieses Großprojekts wurde nahezu der gesamte indische Subkontinent vermessen und kartografiert. Thomas George Montgomerie bekam die Aufgabe, beinahe das gesamte Karakorum-Gebirge zu erfassen. Dieses zweithöchste Gebirge der Welt reicht vom Norden Pakistans über Indien bis in den Südwesten Chinas. Es bildet die Wasserscheide zwischen dem indischen Subkontinent und den staubigen Wüsten der Hochflächen Zentralasiens.

Die Vermessungen der Briten im Himalaja und im Karakorum waren geopolitisch motiviert. Sie dienten der Erstellung möglichst genauer Landkarten, um dem britischen Empire bessere Kenntnis von den Kolonien auf dem Subkontinent zu verschaffen. Wer nämlich eine genaue Karte hatte, kannte das Land und konnte es besser beherrschen.

Ausgestattet mit Theodolit, Heliotrop und einem Messtisch, begab sich Montgomerie auf Reisen. Ein Theodolit ist ein Winkelmessgerät, mit dem man in Horizontal-, Vertikal- und Zenitwinkeln misst. Man muss sich diesen wie einen Kasten vorstellen, in dem eine Art Zielfernrohr montiert ist. Mit diesem Fernrohr kann man durch Kippen und Drehen entweder horizontale Richtungen oder vertikale Winkel bemessen. Mit einem Heliotrop indessen kann man Sonnenlicht mittels aufgesetzter Spiegel in jede Richtung umlenken, die man mit einem Fernrohr anvisiert hat. Das Heliotrop wird auf den Theodolit ausgerichtet, um Entfernungen und Höhen zu berechnen.

1856 begab sich Montgomerie auf seine Wanderung in das Herz der Karakorum-Berge. Er stieg dabei immer mutiger in Höhen deutlich jenseits von 5.000 Meter Höhe auf. Eines Tages erreichte er einen Berg nicht weit weg von Kaschmir, mit dem Ziel, die Grenzen des britischen Kolonialreichs zu kartieren. Als er dort seine Geräte aufbaute, vermaß er eine Erhebung, die größer und höher als alles war, was er je zu Gesicht bekommen hatte.

Zwei Jahre zuvor war es einem anderen britischen Landvermesser einige hundert Kilometer weiter östlich nicht anders gegangen als Montgomerie jetzt. Dort, im Himalaja-Gebirge, hat an einem sonnigen Frühlingstag ein junger Mitarbeiter des Survey of India atemlos gerufen: »Ich glaube, ich habe den höchsten Berg der Erde entdeckt.« Der junge Mann namens George Everest sollte recht behalten. Denn dieser Peak XV wurde mit zunächst 8.840 Meter Höhe in die Karte eingetragen und brachte es später als Mount Everest zu Weltruhm.

Im September 1856 richtete Thomas George Montgomerie seinen Theodolit bei einer weiteren trigonometrischen Untersuchung – auf einem unscheinbaren Bergrücken stehend – gen Norden aus. Dort erhob sich eine mächtige Kette aneinandergereihter Gipfel.

Sie schickten Vermessungsingenieure wie Thomas George Montgomerie. Der war eine Aufmerksamkeit erregende Persönlichkeit: großgewachsen, breite Schultern, muskulös und gesegnet mit einem struppigen Rauschebart.

Eine wackelige Angelegenheit: Weite Teile des Karakorum-Gebirges waren im 19. Jahrhundert noch völlig unbekannt und dessen Erkundung überaus mühsam. Die mächtigen Gletscher der Region speisen reißende Flüsse, die hier über eine Seilbrücke überwunden werden.