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Nicht die großen Abenteuer in Felswänden und auf Gipfeln, vielmehr kleine und nicht alltägliche Ereignisse, bizarre Zufälle, Pannen und unvergleichliche Begegnungen rund ums Bergsteigen stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Der weltberühmte und erfolgreiche Südtiroler Bergsteiger Hans Kammerlander zeigt den Lesern eine sehr menschliche Seite seines extremen Sports.
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Veröffentlichungsjahr: 2014
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Von Hans Kammerlander liegen als E-Book bei Piper vor:
Bergsüchtig
Am seidenen Faden
Seven Second Summits
Mit zwölf Illustrationen von Raimund Prinoth
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen ungekürzten Taschenbuchausgabe
7. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96710-5
© 2002 Piper Verlag GmbH, München
erschienen im Verlagsprogramm Malik
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Archiv Hans Kammerlander
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Humor ist der Versuch, sich selbst nicht ununterbrochen wichtig zu nehmen.
Ernst Kreuder
Unten und Oben – etwas Leichtes, Heiteres, etwas zum Schmunzeln. Es gibt zahlreiche Bergbücher, fast so viele wie Berge selbst, in denen Rekorde, Leistungen oder Tragödien beschrieben sind. Aber das Heitere beim Steigen findet anscheinend nicht statt oder wird selten erwähnt.
Freude am Berg bedeutet, unterwegs zu sein mit Freunden, allein auf dem Weg eine wetterzerzauste Anemone bewundern zu können oder den oben am Gipfel kreisenden Dohlen die Gedanken mitzuschicken in den freien Himmel hinaus.
Und das ganze Drumherum: Pleiten, Pech und Pannen, eingepackt in ein Paket Riesenglück mit roter Schleife. Die Fröhlichkeit mit Freunden am Gipfel, oder der Genuß bei Solotouren, sind Augenblicke, die süchtig machen. Die Schwierigkeit der Route zählt nicht unbedingt, obwohl ich auch diese brauche und suche. Aber das Erlebnis Berg ist selten Arbeit, sondern meistens Vergnügen.
Auch schweren Stunden bin ich begegnet, oben am Berg, wie unten im Tal. Momente, die mir zeigten, was wesentlich ist und daß Geld und Karriere keine Bedeutung haben.
Ein kleines, aber intensives Stück Glück oben in den Bergen. Das ist es. Der Weg dorthin ist Schweiß, ist Fels, ist Eis, übersät mit Stolpersteinen und Glücksperlen.
Meine Jugendzeit war heiter, obwohl unser kleiner Bergbauernhof oft nur das Nötigste zum Leben hergab. Aus dieser Zeit stammen sehr viele lustige Geschichten, und ich erzähle sie gerne, auch wenn es zum Teil keine reinen Berggeschichten sind. Sie sind mein Leben und haben mich geprägt. Gerne gebe ich meine Schwächen und meine Fehler zu. Ich habe daraus gelernt – oder auch nicht, und ich erzähle sie, weil ich darüber lachen kann. Am meisten über mich selbst.
Danken möchte ich Ingrid Beikircher, die die Episoden aufschrieb und sammelte, und allen meinen Freunden, die mithalfen, fast schon vergessene Erlebnisse wieder aufzustöbern.
Das Buch widme ich dem Volk der Sherpas, das mich über viele Wege begleitete und mir Fröhlichkeit und Freundlichkeit schenkte, und meiner Frau Brigitte.
Ahornach, im März 2002
Hans Kammerlander
Hans Kammerlander kenne ich seit über einem Vierteljahrhundert. Es waren meine aufregendsten Stunden, seinen Erzählungen und denen seiner Freunde und Bergpartner zuzuhören und ihre Abenteuer nachzuerleben.
Nicht von Gipfelerlebnissen schwärmten sie am meisten, sondern von den vielen kleinen und unscheinbaren Begebenheiten, gerade sie blieben ihnen am intensivsten in Erinnerung. Die großen Leistungen waren gar nicht so wichtig, um so vergnüglicher aber die vielen Erlebnisse am Weg zum Berg und unten im Tal.
Über die Jahre habe ich ihre Erzählungen niedergeschrieben, daraus ist jetzt ein Buch geworden.
Sand in Taufers, im März 2002
Ingrid Beikircher
Jung waren wir und felshungrig bis in den kleinen Zeh. Die Drei Zinnen waren ein Muß für »Experten« wie uns. Ein Bekannter riet, wir sollten zur Auronzo-Hütte, ab dort seien die Zinnen nicht mehr weit.
So fuhren Erich und ich abends los, um am Morgen die ersten am Einstieg zu sein. Wir kauerten uns in ein Felsloch nahe der Hütte, eine feudalere Unterkunft konnten wir uns nicht leisten. Während ich mir noch den Rest der Nacht aus den Augen rieb, meinte Erich – es dämmerte gerade –, wir seien falsch. Hier seien die Zinnen nicht. Auf den Ansichtskarten sähen die ganz anders aus. Und er hatte recht. Wo um alles in der Welt waren die Zinnen? Wo wir?
Mächtigen Schrittes, aber mit einer Einfalt im Kopf, die schon fast weh tat, fragten wir an der Hütte, wo denn die Drei Zinnen seien und wie wir dorthin gelangen würden.
»Es ist nicht mehr weit, ihr müßt nur suchen«, war die trockene und einzige Antwort des Wirtes. Verärgert war er und fühlte sich durch unsere Fragerei gepflanzt – die Zinnen standen ja direkt vor unserer Nase, in der Südansicht freilich, die wir »Experten« zuvor nie gesehen hatten.
Den halben Tag irrten wir umher, aber fanden die Zinnen nicht, zumindest nicht so, wie wir sie uns eingebildet hatten. Enttäuscht und unverrichteter Dinge fuhren wir wieder nach Hause.
Beim zweiten Anlauf versuchten wir es von der anderen Seite.
Paul lieh Vaters Geschäftslieferwagen, Erich und Hubert saßen hinten im Laderaum zwischen Speckseiten und Würsten. In Sexten fragten wir uns zu den Drei Zinnen durch. Das Fischleintal sei Ausgangspunkt zur Dreizinnenhütte und diesmal waren wir richtig! Von der Hütte aus sahen wir sie endlich, die riesigen Pyramiden aus Fels. Ein Traum. Fassungsloses Staunen, als ob alle sieben Weltwunder auf einmal vor uns stünden, das war unser erster, unvergeßlicher Eindruck.
Zum Einstieg der Dibona-Kante an der Großen Zinne rannten wir um die Wette, entfesselt, übermütig und ungestüm. Die Kante bereitete uns keine Probleme. Vom Gipfel aus sahen wir die nahe Auronzo-Hütte wieder, der Wirt hatte also doch recht, nur wir waren die blinden Hühner.
Klettersüchtig und felsbrünstig wie ich war, stieg ich die ganze Route allein und ungesichert wieder hinab. Meine drei Freunde hatten etwas größere Probleme – nicht technisch, doch logistisch. Da standen sie nun auf dem höchsten Punkt der Großen Zinne und wollten den Normalweg zurück – nur, wo war der? Zum Glück kam gerade ein Mann auf den Gipfel, laut Huberts Einschätzung konnte dies nur ein »Normalwegler« sein. Den »Einfädler« zum Abstieg hatten sie also, aber fänden sie auch den Weiterweg?
Mit gesenkten Augen und Zeigefinger im Mundwinkel traute sich Hubert als einziger, den Mann anzusprechen (schönes Wetter heute und so ...). Paul und Erich standen errötend daneben, Folge einer Mischung aus Sich-in-Grund-und-Boden-Schämen und Wir-werden-doch-nicht-einen-Touristen-fragen-müssen-Ärger.
»Mein lieber Junge«, erhielt Hubert zur Antwort, »ich laß mich von dir nicht auf den Arm nehmen.« (Warum bloß glauben an den Zinnen alle, sie würden von uns gepflanzt, war unsere Notlage doch immer bitterernst?) »Du kannst mir doch nicht erzählen, daß ihr nicht auch den Normalweg hoch seid, oder hattet ihr Flügel?«
»Äh, nein, das nicht, aber ...«, Hubert kleinlaut, »wir haben die Dibona-Kante gemacht und wissen nicht ...«
»Die Dibona-Kante? Ihr doch nicht!«
»Bestimmt, ganz ehrlich ...« (Huberts Stimme immer betrübter.)
Er hatte ein gutes Herz, der Tourist, nahm seinen Alpenvereinsführer aus dem Rucksack, riß die Seite mit der Zinnenroute heraus und drückte sie Hubert in die Hand.
»Kann einer von euch überhaupt Routen lesen?« meinte er skeptisch.
»Oh ja, gewiss!« (Alle drei im Chor.) In Wirklichkeit hatte keiner je so etwas gesehen.
»Ihr braucht nur das Blatt auf den Kopf zu stellen und die Route rückwärts zu lesen«, riet der Tourist mit den besten Wünschen.
Stolz übernahm Hubert das Kommando, die anderen zwei liefen ihm hinterher wie die Lemminge in den Abgrund – davor standen sie nämlich auch schon ...
Irgendwie sehr kompliziert sei die Zeichnung, merkwürdig und womöglich gar falsch – was half da Huberts Ausrede noch?
Es wurde eine der wildesten Abseilaktionen der Alpingeschichte. Durch Schluchten, über Bänder, durch Kamine und Überhänge. Eine teure obendrein, mußten doch viele neu geschlagene Felsnägel zurückgelassen werden, um überhaupt ans Ziel zu gelangen. Ein Riesenloch in der Haushaltskasse der Lehrlinge, die sie alle waren.
Für mich war die Schicht günstiger, ein Bierchen halt, bis die Drei Muske(l)tiere die Zinnenhütte betraten. Etliche Gläser noch dazu, und die allgemeine Stimmung war perfekt. Leicht angesäuselt wackelten wir zum Auto zurück ins Fischleintal, und ab ging die Post Richtung Heimat. Was sollten denn zwei von uns wieder nach hinten in den Bunker des Lieferwagens? Besser alle zusammen nach vorne, zu viert auf den Doppelsitz, eng, gemütlich und feuchtfröhlich!
Wir sahen sie von weitem, die Polizeistreife.
»Duckt euch, Köpfe einziehen und auf den Boden!« Paul blieb pfeifend hinterm Steuer.
Rote Kelle gezückt und rechts an den Straßenrand, hieß der Befehl der Obrigkeit. Fahrzeugkontrolle und alle Mann aussteigen, war der folgende Spruch aus der Kommandozentrale.
25.000 Lire lautete die gesalzene Strafe, für uns damals ein halber Monatslohn. Laut Paragraph soundso wegen Überbevölkerung des Fahrzeugs oder so ähnlich – der Wagen war nur für 2 Personen zugelassen.
Kein Dackelblick, kein Betteln um Strafminderung half, obwohl wir versprachen, es auch bestimmt nie wieder zu tun.
»Seid froh, daß Ihr nicht mehr zahlen müßt«, brummte der Oberstaatsbefehlshaber und zwinkerte mit den Augen, »vielleicht habt ihr die Speckseiten im Laderaum gar gestohlen!?«
Meinte er die Drohung ernst, oder hat er uns nur auf den Arm genommen? – Wäre ja nichts Neues auf einer Zinnentour ...
Mein erstes Jahr als Bergführer: Stolz ist der falsche Ausdruck, aber Sicherheit und Selbstbewußtsein verspürte ich schon, seitdem ich das Diplom in der Tasche hatte. Mit Freunden teste ich oft Touren, ob sie geeignet für Gästeführungen sind, und so klettern Erich und ich am Tofana-Pfeiler: interessante, feine Kraxelei. Nach einigen Seillängen sehe ich abseits unserer Route unter einem Felsdach ein Seil hängen, wohl zurückgeblieben nach einer überstürzten Abbruchaktion.
»Wart einen Augenblick«, rufe ich zu Erich, »bin gleich wieder da, ich hol mir nur schnell das Seil da drüben.«
»Hm ...«, Erich nachdenklich, »wenn sich’s rentiert?«
Während Erich am Stand zurückbleibt, klinke ich mich aus und zaubere in Richtung Seil. Sehr schwieriges Gelände, verteufelt blöde Querung! Verdammt buxig die Stelle, mindestens im oberen sechsten Schwierigkeitsgrad. Denke ich mir. War schon lange nicht mehr so kühn unterwegs, und das alles frei und ungesichert. Lohnt es sich überhaupt? Gewiß, wenn man weiß, was ein Seil heute kostet!
Die Beute steif wie eine Bambusstange, durch Sonne und Regen ausgehärtet, die Farbe undefinierbar verblaßt.
Erich betrachtete das Seil ziemlich skeptisch, meinte zweifelnd: »Glaubst du wirklich, das alte Stück ...?«
Unwirsch fiel ich ihm ins Wort: »Schön ist es nicht, aber für leichte Touren wie geschaffen!«
Aber was waren die »leichten« Touren? Ich jedenfalls war mächtig stolz auf meine kostbare Errungenschaft und führte damit einen ganzen Sommer lang Gäste.
Herbst war’s schließlich, als Udo mich fragte, wie teuer so ein Seil denn sei, und kam auf den Punkt: Ob ich mir nicht doch ein neues zulegen wollte. Etwas sehr zerfranst und aufgescheuert sei der Außenmantel, gerade vertrauenserweckend sähe der Strick nicht mehr aus ...
Habe daraufhin ein neues Seil gekauft.
Das Preisschild hing fast noch dran, es roch nach neu, nach Laden. Ein besonders teures, 60 Meter langes, extrem leichtes, bombig starkes Superseil. Sein Debüt: die Königsspitze-Nordwand.
Nach geglückter Durchsteigung kramen Werner und ich am Gipfel unsere Ausrüstung zusammen. Ich nehme den Helm ab, sortiere die Eisschrauben, werfe das Seil zur Seite – denk mir, Werner hält es fest. Werner nimmt den Helm ab, sortiert die Eisschrauben, wirft das Seil zur Seite – denkt sich, Hans hält es fest.
Der Irrtum ist die tiefste Form der Erfahrung: »Sssssssummm« machte das Seil und war weg wie eine Schlange! Per Direttissima die Nordwand hinab. Wir schauten uns an wie begossene Pudel. Ehe wir überhaupt merkten, was geschah, war das neue Seil schon abgeschwirrt, danach zu greifen, hätte sowieso nichts genützt.
Wenige Tage später fuhr ich eigens wieder nach Sulden, klapperte die über 400 Kilometer hin und retour mit meiner Rostlaube herunter. Ich war mir sicher, am Einstieg der Königsspitze-Nordwand läge noch mein Seil. Fatalerweise war inzwischen eine Eislawine heruntergedonnert, begrub Hoffnung und Seil und Missverständnis. Und ich kam zurück mit leerem Tank und ebensolchem Geldbeutel.
Habe daraufhin ein neues Seil gekauft.
An den Cinque Torri bin ich unterwegs mit einem Herrn Pfarrer. Eine sakramentalische Taufe erlebt mein Seil, sein erster Einsatz gleich unter heiliger Hand – wenn das kein Segen ist? Die erste Tour war gerade richtig zum Einklettern, eine kleine, feine Genußkraxelei. Von einem Gipfel aus betrachten wir schon die nächste Spitze der Fünf Türme, die wir noch besteigen wollen an diesem herrlichen, sonnigen Tag.
Wir seilen ab vom Gipfel und ziehen das Seil ein, als ein riesiger Felsbrocken zehn Zentimeter an meiner Schulter vorbei zu Boden donnert, genau auf das neben mir liegende Seil.
Seine scharfe Kante amputiert meine neueste Anschaffung wie ein Messerschnitt.
Heilige Dreifaltigkeit!?
Diebische Freude bereitete es uns jedes Mal, wenn wir an Seilschaften so schnell vorbeirauschten, daß die nicht einmal mehr die Schuhmarke unserer Kletterpatschen lesen konnten. Bald aber wurde ich davon geheilt.
Wie gierige Wölfe stiegen Hubert und ich in die Abram-Führe am Piz Ciavazes ein. Kurz vor uns war wieder Beute, die wir bald eingeholt haben wollten.
Hubert führte die erste Seillänge, aber irgendwie wurde ich ungeduldig. So wechselten wir am Standplatz und die zweite Seillänge kletterte ich im Vorstieg. Doch auch mir gelang es nicht, unsere zwei Vorgänger zu erreichen. Der Abstand zwischen den Seilschaften blieb immer ungefähr derselbe, obwohl ich viel riskierte, um Zeit herauszuschinden. Auch die weiteren Seillängen kletterte, vielmehr rannte ich voraus. Schön langsam ging es mir um die Ehre. Die Schlüsselstelle lag vor uns, ein flotter Sechser. Spätestens dort, dachte ich, trennt sich die Spreu vom Weizen.
Doch erst weit danach holten wir die Seilschaft endlich ein, und ausgepumpt und schnaufend erreichte ich ihren Standplatz. Die Zwei sahen nicht einmal abgekämpft aus! Seelenruhig legten sie eine Pause ein und genossen den Tag und bewunderten die Landschaft. Sie hatten sich nicht auf das vermeintliche Wettrennen eingelassen, nur wir hatten unser Letztes gegeben. Ich könne gerne vorgehen, meinte freundlich deren Vorsteiger und – zu meinem Schrecken – es war eine Frau!
Die Heidi-Route zur Neunerspitze ist die Wunschtour meiner Gäste.
Abgeschliffen wie mit einem Riesenhobel präsentiert sich die südseitige Plattenwand des Berges. Ihr glatter, abweisender Anblick läßt sie unüberwindbar erscheinen.
Eine abwechslungsreiche Wanderung auf dem Hochplateau der Fanesalm führt uns wie durch eine bizarre Zauberwelt zum Einstieg, wo sich stets dasselbe Ritual vollzieht: Gurt anlegen, Helm aufsetzen, das ungeduldige Hineinschlüpfen in die Kletterpatschen. Es sei denn, etwas Unvorhergesehenes zerstört jäh die feierliche Zeremonie. Den Rucksack habe ich ausgeschüttelt, sämtlichen Inhalt umgekrempelt und durchwühlt, mit dem ernüchternden Ergebnis: Die Kletterpatschen fehlten, hab’ sie im Auto liegen lassen.
Ein mittleres Drama bahnte sich an, fassungslos kniete ich am Wandfuß. Leichte Touren bin ich spaßeshalber oft in Sportschuhen geklettert, an den Neunerplatten aber sind Kletterpatschen unerläßlich, da reine Reibungsklettertechnik gefordert ist.
Meine Gäste, ein Ehepaar, waren zu sehr mit sich und ihrer Ausrüstung beschäftigt, als daß sie meine Notlage mitbekommen hätten, und strahlten nun startbereit in voller Montur. Es wäre wie Geburtstag ohne Torte gewesen, hätte ich ihnen eröffnen müssen, daß aus der Tour nichts mehr wird.
Wenigstens versuchen mußte ich es, mit den Sportschuhen ein paar Seillängen zu klettern. Vielleicht käme dann eh ein Gewitter und wir müßten abseilen, vielleicht ein Kometeneinschlag, vielleicht ein Drache ...
Die ersten Seillängen gingen verhältnismäßig gut. Grün und blau indes ärgerte ich mich über meine Schlampigkeit, wie konnte mir das passieren, nach all den Jahren! Jugendsünden haben wir einige verzapft, meine Freunde und ich, früher als wir noch unerfahren waren, Werner vergaß seine Gletscherschuhe, Hubert den Helm, – aber jetzt!?
Jetzt ... war es mittlerweile kritischer geworden: Vor lauter Zerfahrenheit und Erinnerungsschwelgerei vergaß ich mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, kam von der Route ab, und befand mich unversehens im Schwierigkeitsbereich V+, es gelang mir gerade noch, den Standplatz zu erreichen.
»Welch herrliche Kraxelei«, schwärmte das Paar, als wir am Standplatz zusammentrafen, »ein Tag heut für die Ewigkeit.«
»Eher nicht«, begann ich verlegen meine Beichte, »wir müssen leider abseilen, ich hab nämlich meine Kletterpatschen ...«
»Waas? Wie siehst du denn aus?« entsetzte sich die Frau über meine zerfransten Latschen, Sportschuhe, die sie vor einer Stunde noch waren.
Meine Gäste hatten »ein Herz wie ein Bergwerk« und erteilten mir Absolution. Während ich also am Standplatz den Seilsalat sortierte und alles für die Rückzugsaktion vorbereitete, fiel mein Auge auf die Füße der Frau, ihre Schuhgröße war ähnlich der meinen.
Ich weiß nicht, welche Fee von Fanes mich heimlich erleuchtete, aber meine Idee fand ich genial – umständlich gewiß, aber das sollte das Problem nicht sein.
Ich schlüpfte in die Kletterpatschen der Frau, kletterte voraus zum nächsten Standplatz. Dort fixierte ich das Seil und seilte wieder ab zum Ausgangspunkt. Hier übergab ich der Frau ihre Patschen, und mit meinen Latschen hangelte ich mich am Fixseil wieder nach oben, wie an einem Klettersteig. Und so weiter und so fort ...
Einem Bergführerkollegen passierte ein ähnliches Mißgeschick und auch ihm kam die glorreiche Schuhwechselidee.
Mit einer kleinen Variation: Beschuht mit den Kletterpatschen seines Gastes, stieg er voraus zum Standplatz. Dort angekommen, ließ er sie an einer aus Bekleidungs- und Ausrüstungsteilen zusammengeknüpften »Wäscheleine« hinabpendeln zum Besitzer. Und so weiter und so fort ...
Pech nur, daß ihm bei einem Wechselmanöver ein Schuh aus der Hand rutschte und sich auf Nimmerwiedersehn verabschiedete. Die restlichen Seillängen zum Gipfelkreuz wurden zur wahren Via crucis.
Vergißt man sie nicht, die Kletterpatschen, können sie trotzdem zum Verhängnis werden. Einmal, als ich alleine unterwegs an der Gelben Kante der Kleinen Zinne (Schwierigkeit VI–) war, verspürte ich plötzlich in der Schlüsselstelle ein seltsames Gefühl am linken Fuß. Er hielt nicht, ich hatte keine Reibungshaftung mehr, vermochte den Tritt nicht zu setzen. Instinktiv konzentrierte ich mich voll auf die Hände, wie ein Schraubstock bohrten sich meine Finger in den kantigen Fels. Mit aller Sehnen Kraft hielt ich die Griffe, ziehender Schmerz schoß in die Arme, zum Bersten gespannt die Muskeln, mit dem Rest meiner Kraft zog ich mich zum Standplatz.
Furchtvoll glitt mein Blick zum Schuh, es bot sich ein unfassbares Bild: Die Plastikversteifung in der Sohle des Kletterschuhs (damals als Novum gepriesen) war gebrochen. Wäre ich abgestürzt, ungesichert wie ich war, hätte wahrscheinlich niemand je den Grund dafür bemerkt.
Wie ich es weiter und zum Ausstieg der Tour schaffte, kann ich nicht erklären, ein Nebel hüllt eine meiner schlimmsten Erinnerungen ein.
Ich kletterte solo in der Südwand der Kleinen Zinne, die Route Egger-Sauschek (Schwierigkeitsgrad VI+), an sich nichts besonders Aufregendes.
Wochen später flatterte mir ein Brief ins Haus von einem mir unbekannten Absender. Verwundert öffnete ich den Umschlag und fand eine Serie Kletterfotos. Beim genaueren Hinsehen erkannte ich mich beim Klettern in der Kleinen Zinne. Ein deutscher Urlaubsgast hatte mit dem Teleobjektiv Aufnahmen von mir gemacht und war von meiner Solokletterei dermaßen begeistert, daß er sich bei den umliegenden Hüttenwirten sogar nach meinem Namen erkundigt hatte, was bei dem Trubel an den Zinnen schon einer Sisyphusarbeit gleichkommt. Nicht genug, er erfragte auch noch meine Heimatadresse, um mir die Fotos schicken zu können.
Der Brief freute mich ganz besonders, weil er zeigt, daß es in dieser schnellebigen, hektischen Zeit noch Menschen gibt, die sich für andere interessieren und sich auch die Mühe machen, anderen eine Überraschung zu bereiten. Außerdem war ein Kommentar beigefügt, den ich nie vergessen werde: »Mit Verlaub, Sie sind entweder ein Dichter, oder ein Narr!«
Und da ich kein Dichter bin ...
Schwer abzubringen war Mike von seiner fixen Idee, die Gelbe Kante an der Kleinen Zinne zu machen. Ich war dafür nicht zu begeistern, erst im Vorjahr hatte ich dort ein ungutes Erlebnis gehabt (siehe »Kletterpatschen«), und außerdem ist an Wochenenden (für Mike die einzigen freien Tage) oft viel los.
Steter Tropfen höhlt den Stein, Mike konnte mich erweichen, und so gingen wir sonntagmorgens Richtung Zinnen. Wie in einer Beichtzeile – falsch, denn lange Beichtzeilen gibt es heute keine mehr –, wie vor einem Würstlstandl also, stand das Klettervolk am Einstieg.
Bis die »Eintrittskarten gelöst« und wir dem ganzen Rudel hinterhergezuckelt sind, ist eh schon wieder Dämmerstunde, dachte ich für mich.
»Wir könnten die ersten zwei Seillängen in einer Variante umgehen«, schlug ich Mike vor, »so sparen wir uns den ganzen Rummel.«
»Ja, schon«, raunzte Mike,»aber die Tour ist dann nicht komplett.«
»Und hier schlagen wir Wurzeln, bis wir drankommen«, antwortete ich, packte auf und stieg ein in die Routenvariante. Mike mußte mit, ob er wollte oder nicht. Nach zwei Seillängen stießen wir auf die Originalroute der Gelben Kante und hatten über uns freie Bahn.
Wir waren die ersten am Gipfel und als wir abseilten, befand sich die Mehrzahl der Überholten noch mitten in der Tour. Am Rückweg, Mike war schon schnurstracks Richtung Auronzo-Hütte losgezogen, pfiff ich ihn zurück, er solle mir folgen.
Wortlos ging ich erneut zum Einstieg der Kante und kletterte los. Mikes endloses Fragenregister beantwortete ich mit einem einzigen: »Komm nach!« Seine Randbemerkung, ob ich denn total durchgedreht sei, ließ ich kommentarlos stehen. Wir kletterten die zwei originalen Anfangsseillängen der Tour hinauf und seilten wieder ab.
»So, Mike«, grinste ich, »Ordnung muß sein!«
Gefangen wie ein wildes Tier im Käfig fühlte ich mich. Die Heilung der Erfrierungen an den Zehen vom Kangchendzönga schritt zwar gut voran, mir aber ging alles zu langsam. In Sandalen versuchte ich ein leichtes Lauftraining wiederaufzunehmen, an mehr war im Augenblick nicht zu denken.
Sonntagmorgen: Mike und Rosi riefen an, wollten irgendwas mit mir unternehmen, eine kleine Wanderung, um meine Füße nicht zu sehr zu beanspruchen.
Ich aber wollte endlich auf einen Gipfel, hoch hinaus.
»Packt mal eure Kletterpatschen in den Rucksack, dann werden wir schon was machen aus dem Tag«, riet ich Mike und legte den Hörer auf, meinem Gesprächspartner fehlten die Worte.
»Wir probieren eine kleine Wanderung, den Windschar-Nordgrat«, eröffnete ich den anderen bei der Fahrt ins Reintal. Grabesstille.
Nur Brigitte war meiner Meinung: »Du spinnst!«
Die Erstbegehung des Nordgrates an der Großen Windschar, ein Dreitausender, der mir in die Stube lacht, gelang mir 1974 mit meinem Jugendfreund Sepp. Es war meine erste Erstbesteigung überhaupt und bleibt für mich eine der schönsten Gratklettereien in der Rieserfernergruppe, anspruchsvoll und luftig, mit Stellen im unteren sechsten Schwierigkeitsbereich.
Die Mädels schimpften zweistimmig beim mühsamen Hinaufkraulen durchs Schotterkar, Mike faselte ständig, »ob wir nicht vielleicht doch ...«, aber mir und meinen Zehen in den Sandalen ging’s prächtig.
Zugegeben, ich war ewig nicht mehr im urigen, unwegsamen Lanebachtal gewesen und dementsprechend punktgenau führte ich mein Trio zum Einstieg. Einige ungeplante Varianten ergaben zusätzliche Routenänderungen, so daß wir letztlich zum Einstieg abseilen mußten, was kommentarlos hingenommen wurde. Ein wortreicher Choral begleitete mich erst wieder in leichtem Gelände. Doch mit zunehmend geforderter Konzentration am brüchigen Grat verstummten die gregorianischen Gesänge.
Die Schlüsselstelle knapp unterhalb der Gratmitte – über uns ein dachartiger Felsausbruch: Mit Sandalen wagte ich nicht in die Wand hinauszuqueren, um am Riß entlang die Platte zu durchklettern. So zwängte ich mich in die Kletterpatschen, schraubstockgleich umspannten sie meine lädierten Zehen. Höllische Schmerzen durchzuckten meinen Körper bei jedem Felskontakt, wie Stacheln bohrten sie sich in die Nervenbahnen.
Mitten in der Wand ging nichts mehr, ich mußte heraus aus den Patschen, hatte Angst, daß ich meine Zehen durch diesen Gewaltakt endgültig verlieren könnte. Mit einer Hand hielt ich mich im Plattenriß fest, mit der anderen zog ich wieder die Sandalen an.
Geradezu erleichtert, als ob ich auf Watte stünde, fühlte ich mich jetzt. In Sandalen eine so schwierige Stelle im Vorstieg zu klettern, war eine Premiere für mich, aber die richtige Dosis Adrenalin im Blut verlieh mir Flügel.
Wie ein gotisches Kirchendach präsentiert sich schließlich die letzte kritische Stelle, etwa 200 Meter unterhalb des Gipfels. Es gilt, eine zugespitze, fußbreite Gratrippe zu überwinden, während einen die beidseitigen Steilabfälle magisch in die Tiefe zu ziehen scheinen – die klassische Mutprobe.
Ich ahnte es: Protestkundgebung der Frauen, Verweigerung. Mike redete seiner Rosi zu wie einem kranken Kind.
»Du mußt da hinüber«, verkündete ich Brigitte kurz und endgültig, »oder sollen wir den ganzen Bockweg etwa wieder zurück?« Psychologisch ausgefeilt war dieser Rat nicht, aber es blieb keine andere Qual.
Spät war’s, als wir schließlich den Gipfel erreichten, und 1800 Höhenmeter Abstieg gähnten uns noch an. Ohne Gipfelbussi und Fiderallalla stiegen wir zur ostseitigen Grubscharte ab.
Die Steinwüste nordseitig zurück ins Lanebachtal sah von oben noch wilder aus, durch die langen Abendschatten noch gefährlicher. Jetzt war endgültig Sendepause bei den Frauen. Eigenmächtig und ohne demokratischen Ratsbeschluß schlugen sie den Normalweg ein, der südseitig ins Mühlbachtal führt. Mike und ich aber polterten nordseitig die Schotterhalde hinunter zum Auto.
Im Toblhof tranken wir das erste Bier, auf irgendeine Weise wollte ich den verkorksten Tag aus dem Kopf und den Druck von den Zehen kriegen.
Die 30 Kilometer Autofahrt, um die Mädels abzuholen, schafften wir nur in fröhlichen Etappen mit Frischgezapften. Es war längst finster, als Brigitte und Rosi im Mühlbacher Gasthof zur Tür hereinkamen – ihre Mienen ebenso.
Schlangen, allein vor dem Wort graust mir, so weich, so glitschig. Nein, ich mag sie nicht, die Viecher. Vor einem Bären oder Wolf hätte ich bestimmt gehörigen Respekt, würde ich ihn in freier Wildbahn antreffen, aber es gibt nichts Schlimmeres für mich als Gewürm.
Ein warmer Julitag. Die Bergrettung von Sand in Taufers trifft sich zu Vorbereitungen für ihre Schauveranstaltung an der Purstein-Wand. Wir sind beschäftigt, Seile für die Schauübung zu befestigen.
Allein und ungesichert klettere ich eine Fünferstelle, um eine Fixierung anzubringen. Ich kenne jeden Stein, brauche mich nicht zu sichern. Geht ja federleicht wie ein Tanz. (Leichter, denn tanzen wäre ein Problem für mich.)
Ende der Leseprobe