Kaffeebeichte - Hermann Bauer - E-Book

Kaffeebeichte E-Book

Hermann Bauer

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Beschreibung

Die Studenten Klaus Kastner und Erwin Lamprecht stellen Gästen des Café Heller für ein literarisches Projekt persönliche Fragen. Doch daraus wird tödlicher Ernst. Lamprecht erzählt Oberkellner Leopold, dass er an einer Mordgeschichte dran sei. Kurz darauf wird er auf einer Parkbank am Kinzerplatz gefunden - erdrosselt mit seinem eigenen Schal. In derselben Nacht stirbt auch die kränkelnde Pensionistin Elvira Achleitner. Leopold vermutet einen Zusammenhang, doch je länger er ermittelt, desto komplizierter gestaltet sich der Fall.

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Hermann Bauer

Kaffeebeichte

Wiener Kaffeehauskrimi

Zum Buch

Tödliche Neugier Die langjährigen Studenten Klaus Kastner und Erwin Lamprecht wollen im Café Heller die Tradition der Wiener Kaffeehausliteratur wieder aufleben lassen. Sie planen Texte über oft sehr persönliche Dinge, die ihnen die Gäste im Gespräch anvertrauen. Lamprecht scheint dabei vor allem an sensationellen Inhalten interessiert zu sein. Er deutet Oberkellner Leopold gegenüber an, von einem Mord erfahren zu haben. In der darauffolgenden Nacht wird er auf dem Kinzerplatz gefunden – erwürgt mit seinem eigenen Schal. Gleichzeitig stirbt Elvira Achleitner, ein kränkelnder Stammgast des Café Heller, unter seltsamen Umständen. Ihr verschwundenes Testament beschäftigt Leopold ebenso wie die angebliche Mordgeschichte, für die es keine Anhaltspunkte gibt. Um den Fall zu lösen, muss er herausfinden, was die beiden Toten miteinander verbindet.

Hermann Bauer wurde 1954 in Wien geboren. Dreißig wichtige Jahre seines Lebens verbrachte er im Bezirk Floridsdorf. Bereits während seiner Schulzeit begann er, sich für Billard, Tarock und das nahe gelegene Kaffeehaus, das Café Fichtl zu interessieren, dessen Stammgast Bauer lange blieb. Von 1983 bis Anfang 2019 unterrichtete er Deutsch und Englisch an der BHAK Wien 10. Er wirkte in 13 Aufführungen der Theatergruppe seiner Schule mit. Im Jahr 2008 erschien sein erster Kriminalroman »Fernwehträume«, dem 15 weitere Krimis um das fiktive Floridsdorfer Café Heller und seinen Oberkellner Leopold folgten. »Kaffeebeichte« ist der 16. Kaffeehauskrimi des Autors. Er lebt mit seiner Frau Andrea in Wien und Eisenstadt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © NDABCREATIVITY / stock.adobe.com und kichigin19 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7704-1

Kapitel 1

Dienstag, 15. März, Nachmittag

»Was sind die wichtigsten Eigenschaften eines Oberkellners?«, fragte Klaus Kastner neugierig.

»Und das kommt garantiert nicht in die Zeitung? Oder ins Internet? Oder sonst wie an die Öffentlichkeit?«, vergewisserte sich Leopold W. Hofer, der Oberkellner des CaféHeller. Er saß Kastner dabei kurz vor seinem nachmittäglichen Dienstantritt bereits in Arbeitslivree – Smoking, weißes Hemd und schwarzes Mascherl – an einem Fenstertisch des Kaffeehauses gegenüber.

»Aber nein, ich hab’s dir doch vorhin erklärt«, bemühte sich der etwa 30-jährige dunkelhaarige und ständig unrasierte Kastner, ihn zu beruhigen. »Diese Aufzeichnungen sind zunächst nur für mich. Später werde ich sie literarisch verarbeiten, zu einer kleinen Skizze oder einem Teil einer Erzählung. Ich bearbeite das Ganze dann allerdings dementsprechend, sodass niemand mehr erkennen kann, dass es sich um deine Antworten in unserem kleinen Gespräch hier handelt.«

»Aha«, vermerkte Leopold skeptisch.

»Schau her, ich zeichne nichts von unserer Unterhaltung mit einem Gerät auf, ich mache mir nur Notizen«, redete Kastner weiter auf ihn ein. »Im schlimmsten Fall frage ich dich später noch einmal, wenn mir etwas nicht klar ist.«

»Na gut«, gab Leopold kopfnickend seine Zustimmung.

»Also: Was sind nach deiner Meinung die wichtigsten Eigenschaften eines Oberkellners?«

Leopold dachte kurz nach, holte tief Luft und erwiderte dann: »Auskennen muss er sich. Das ist das ganze Geheimnis.«

Kastner wirkte etwas ratlos. »Kannst du das ein wenig genauer ausführen?«, bat er.

»Er muss die Ware kennen, die er verkauft«, begann Leopold daraufhin. »Also natürlich die verschiedenen Arten der Kaffeezubereitung oder die geschmacklichen Eigenschaften der angebotenen Weine. Es wäre auch nicht schlecht, wenn er den täglichen Mittagsteller kostet, damit er Bescheid weiß. Oder die Gulaschsuppe wegen ihres Schärfegrades, der immer wieder einmal wechseln kann. Manche Gäste sind da sehr heikel. Überhaupt muss ein guter Oberkellner seine Klientel genau kennen«, holte er weiter aus. »Die Gewohnheiten der Stammgäste, und was sie konsumieren. Vor allem, wie sie ihren Kaffee haben wollen oder ihr Frühstücksei. Da gibt es erstaunliche Unterschiede in den Härte- beziehungsweise Weichheitsgraden. Beim Ham and Eggs ist es besonders haarig. Bei manchen muss der Dotter noch zittern, wenn sie ihn anschneiden, bei anderen bereits eine leicht milchige Farbe angenommen haben. Das ist alles zu berücksichtigen.«

»Wie schaut es mit der Ordnungsliebe aus? Die bedeutet dir ja viel«, wechselte Kastner zum nächsten Punkt.

»Ohne Ordnung geht nichts im Kaffeehaus«, bestätigte Leopold. »Die Tische der Stammgäste sind freizuhalten, und auch sonst hat alles seinen Platz und seine Zeit. Und ein gewisses Benehmen ist vonnöten. Da wird nicht herumgeschrien, gesungen oder getanzt. Man kann sich nicht so aufführen, wie es einem gerade passt. Man ist heiter, aber nicht ausgelassen, locker, aber höflich. Im Grunde sollte man das niemandem erklären müssen. Man kennt die anderen und man hat den Überblick. Damit ergibt sich normalerweise alles von selbst.«

»Und welche Rolle spielt die Freundlichkeit für dich?«, wollte Kastner nun wissen.

»Freundlichkeit?« Leopold rümpfte die Nase. »So gut wie keine.«

»Aber ist ein freundlicher Oberkellner nicht gerade das, was sich die Gäste erwarten?«, drang Kastner in ihn.

»Die Gäste erwarten sich, rasch und ihren Wünschen gemäß bedient zu werden«, entgegnete Leopold energisch. »Ob ich sie dabei anlächle, ist ihnen wurscht, außer sie interessieren sich für meine blitzenden Schneidezähne. Ein freundliches Wesen dient meist nur dazu, Hilflosigkeit zu überspielen. Wenn ein Ober den Gast so richtig anstrahlt, weiß er auf dessen Fragen, Bitten und Erkundigungen für gewöhnlich keine anderen Antworten als: ›Da muss ich erst nachschauen‹ oder ›Einen Augenblick bitte, ich werde einmal den Chef fragen‹. Solche Kampflächler bringen nicht viel auf die Reihe, weil sie dem Irrtum unterliegen, es sei das Wichtigste, nett zu sein, und sich sonst keine Gedanken machen. Wenn man sich auskennt, erspart man sich das ganze Getue, und der Gast ist zufrieden.«

»Auch wenn er grantig bedient wird?«

Leopold zögerte nicht lange. »Selbstverständlich! Der Grant ist sozusagen der Beweis fürs Können.«

Kastner schüttelte lächelnd den Kopf und machte sich seine Notizen.

»Was wirklich zu einem guten Oberkellner gehört, ist ein bisschen Geld in der Tasche«, fuhr Leopold indessen fort. »Er muss es jederzeit zum Herleihen parat haben, wenn jemand flach ist, zum Beispiel ein Kartenspieler. Sonst geht dieser Gast dem Kaffeehaus unter Umständen verloren.«

»Aber bekommt der Ober sein Geld dann auch zurück?«, wandte Kastner ein.

»Meistens«, gab sich Leopold bedeckt. »Man hat halt ein gewisses Berufsrisiko.«

»Das ist alles sehr interessant«, befand Kastner. »Fällt dir noch etwas ein, das für die Arbeit eines Oberkellners von Belang ist?«

Nun meldete sich Frau Heller, die die beiden Herren bereits die ganze Zeit von ihrem Platz hinter der Theke belauscht hatte, zu Wort. »Dass er pünktlich seinen Dienst antritt beispielsweise«, gab sie mit einem Blick auf die Uhr ungeduldig an.

Leopold überhörte diese Warnung geflissentlich. Er kam in Fahrt. »Beinahe hätte ich es vergessen: G’schichtln muss er wissen und erzählen können, über das Kaffeehaus, seine derzeitigen und ehemaligen Stammgäste und das, was so im Bezirk passiert«, erwähnte er. »Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Der Pfaffenbichler Ferdl und seine Frau Luise haben einen ewigen Streit darüber gehabt, wer wo hinein den ersten Schritt machen darf, etwa in ein Lokal. Oft sind sie vor unserem Kaffeehaus gestanden und haben nur darüber debattiert, wem es gestattet ist, als Erster hineinzugehen. Einmal, im Winter, haben wir geglaubt, sie erfrieren uns vor der Tür. Sie waren schon fast so weit, eine Münze zu werfen, aber dann ging es wieder darum, wer hierzu das Vorrecht haben sollte. Schließlich hat sich ein Gast erbarmt und einen neutralen Wurf gemacht. Die Luise hat gewonnen. Daraufhin hat der Ferdl den Gast sein Leben lang nicht mehr angeschaut …«

»Darf ich Sie daran erinnern, dass Ihre Arbeitszeit begonnen hat, Leopold? Es sind Leute da, die bedient werden wollen«, wurde Frau Heller nun lauter. »Zum Plaudern ist später auch noch Zeit. Husch, husch, ans Werk!«

Leopold warf einen fragenden Blick in ihre Richtung, erhob sich aber dann doch und tat mit einem Seufzer sein Einverständnis kund. »Übrigens: Den Schritt ins Grab hat dann der Ferdl zuerst gemacht«, raunte er Kastner noch zu. »Die Luise war ihm darüber nicht böse, im Gegenteil. Sie soll jetzt wieder glücklich verheiratet sein.«

*

Während Leopold geschäftig seine Runden durchs Heller drehte und dabei Kaffee, Tee, ein Glas Wein oder ein Sardellenbutterbrot auf kleinen Silbertabletts zu den Tischen balancierte, machte sich Klaus Kastner noch ein paar Notizen mit der Hand, ehe er den Laptop aus seinem kleinen blauen Rucksack nahm und damit weiterarbeitete. Seit mehr als drei Wochen saß er hier jeden Nachmittag bis in den Abend hinein und schrieb sich Dinge über das Kaffeehaus, seine Besucher und das Personal auf. Sein Ziel bestand darin, möglichst viele Eindrücke zu einem großen Ganzen zu verarbeiten und daraus vielleicht einmal ein Monumentalwerk über das Kaffeehaus schlechthin zu schaffen. Er fühlte sich als Kaffeehausliterat in der Nachfolge von so bekannten Wiener Schriftstellern zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie Peter Altenberg, Al­fred Polgar, Hermann Bahr oder Hugo von Hofmannsthal, die ganze Tage schreibend im Kaffeehaus verbracht hatten, um sich durch die einzigartige Atmosphäre zu Erzählungen, Skizzen, Essays und sprachlich geschliffenen Rezensionen inspirieren zu lassen. Damals war das Kaffeehaus noch eine wirkliche Institution gewesen, ein Treffpunkt der intellektuellen Elite, und wer etwas auf sich gehalten hatte, hatte sein Stammcafé gehabt, in dem er ein und aus gegangen war.

Klaus Kastner schwebte nun vor, diese Art der literarischen Produktion wiederzubeleben. Dabei war er nicht allein. Sein Freund und Studienkollege Erwin Lamprecht wollte ihn dabei unterstützen. So ganz genau wussten die beiden zwar noch nicht, wohin es gehen sollte, aber sie waren immerhin schon einmal auf dem besten Weg dorthin.

Frau Heller verfolgte dieses Projekt mit Wohlwollen. Die Aussicht, es könnte ein großes Werk entstehen, in dem das Café Heller eine zentrale Rolle spielte und damit endlich jenen Bekanntheitsgrad in Kulturkreisen erwarb, den es verdiente, ließ ihr Herz höher schlagen.

Leopold blieb in seiner Beurteilung vorsichtiger. Die beiden jungen Männer wirkten nicht unsympathisch, gewiss. Ein wenig verträumt und weltfremd vielleicht, so als seien sie immer noch nicht im Leben angekommen. Kastners Dreitagebart sowie Lamprechts Hang zu überlangen Schals, die er, in verschiedenen Variationen um den Hals gewickelt, drinnen wie draußen trug, betonten das Künstlerische, Bohemienhafte. Dagegen war nichts einzuwenden. Aber mussten sie die Kaffeehausgäste so ungeniert ansprechen? Jeder sollte ihnen etwas erzählen. Anfangs begnügten sie sich noch mit Fragen, wie lange die Leute schon ins Heller kamen, und warum sie es zu ihrem Stammcafé erkoren hatten. Doch schon bald gaben sie sich damit nicht mehr zufrieden und wollten Einzelheiten aus ihrem Privatleben wissen. Das gefiel Leopold nicht mehr so gut. Gerade im Kaffeehaus suchten die Menschen Ruhe und Abstand zur Welt draußen. Es war für sie ein Rückzugsort, eine Enklave. Da störte ein derart aufdringliches Verhalten.

Leopold sprach Frau Heller, die die Sache naturgemäß nicht so eng sah, nun wieder einmal darauf an. »Bis jetzt hat sich offensichtlich niemand darüber empört, im Gegenteil«, bemerkte sie jedoch nur. »Die Leute freuen sich, dass ihnen jemand zuhört und seine Aufmerksamkeit schenkt. Sie sind auf einmal interessant.«

»Die meisten wollen trotzdem ihre Ruhe haben«, wandte Leopold ein. »Sie sind nur zu höflich, um mit diesen angeblichen Literaten Klartext zu reden. Wahrscheinlich auch zu höflich, um sich bei uns über sie zu beschweren. Man muss nur hoffen, dass sie nicht von heute auf morgen woanders hingehen, wo man sie nicht belästigt.«

»Papperlapapp«, erwiderte Frau Heller ungehalten. »Da hätten Sie mir schon viele Gäste vertrieben. Normalerweise sind nämlich Sie es, der sie aushorcht, und keineswegs so charmant wie die beiden jungen Herren. Nein, bei Ihnen wird so etwas gleich zum Verhör mit Strafandrohung.«

»Wenn es um einen Mord geht, ist das leider erforderlich«, verteidigte Leopold sich.

»Aber von Ihrem Freund, dem Oberinspektor Juricek, und nicht von Ihnen«, ließ Frau Heller das nicht gelten. »Ich möchte gar nicht ins Detail darüber gehen, was Sie sich unseren Gästen gegenüber schon alles herausgenommen haben. Also lassen Sie unsere Literaten in Frieden. Sie sind doch selbst vorhin von ihnen befragt worden, und es ist mir nicht so vorgekommen, als hätten Sie Anstoß daran genommen. Sie wollten vielmehr gar nicht aufhören zu reden, sodass ich Sie an Ihre Pflichten erinnern musste.«

Leopold musste sich eingestehen, dass er sich tatsächlich geschmeichelt gefühlt hatte und noch gern weiter aus dem Nähkästchen geplaudert hätte. Vielleicht machte er sich wirklich unbegründet Sorgen. Immerhin konnte man Kastner und Lamprecht eine schlechte Eigenschaft mancher Kaffeehausliteraten vergangener Tage nicht nachsagen: Sie blieben nicht den ganzen Tag bei einer Tasse Kaffee sitzen und ließen sich ständig Wasser dazu nachreichen, sondern brachten es pro Tag auf eine akzeptable, ihrem studentischen Geldbeutel angemessene Konsumation. Manchmal gaben sie sogar ein wenig Trinkgeld. Aber abwarten wollte Leopold mit einem endgültigen Urteil doch noch ein bisschen.

Inzwischen war auch Erwin Lamprecht eingetroffen. Trotz der milden Temperaturen hatte er wie immer einen langen Wollschal um den Hals gewickelt, dessen rechtes Ende kürzer herabbaumelte als das linke. Darunter trug er einen unscheinbaren grauen Pullover. »Und? Wollen Sie mich auch interviewen wie Ihr Freund?«, fragte ihn Leopold, der auf den Geschmack zu kommen schien, als er ihm eine Melange an den Tisch brachte.

»Wozu? Du hast Klaus sicher schon einiges erzählt«, stellte Lamprecht fest. Wie sein Kollege duzte er Leopold nach Gewohnheit zahlreicher Stammgäste. Der ließ sich das gern gefallen, blieb aber vorsichtshalber beim Sie, wenn es sich nicht um einen guten Freund oder Bekannten handelte. »Außerdem kenne ich dich trotz der kurzen Zeit meiner regelmäßigen Besuche im Heller bereits in- und auswendig. Mich interessiert nur noch eine bemerkenswerte Eigenschaft von dir: Angeblich ziehst du Morde an wie eine Straßenlampe die Insekten.«

»Ich kann Ihnen gern einmal ein paar Details meiner vergangenen Fälle schildern«, bot Leopold etwas verlegen an.

»Aber das will ich doch nicht, ich hab’s dir gerade gesagt«, lächelte ihn Lamprecht herausfordernd an. »Ich möchte selbst gern einmal bei so einer Mordgeschichte dabei sein. Hautnah miterleben, wie sich alles entwickelt. Verfolgen, wie du den Täter in die Enge treibst. Dabei das Ganze in mich einsaugen und schließlich literarisch verarbeiten, verstehst du?«

Leopolds Miene verfinsterte sich. »Wenn ich der Polizei bei einem Verbrechen behilflich bin, ist äußerste Geheimhaltung geboten«, klärte er Lamprecht auf. »Da geht es nicht an, dass sich jemand einmischt und ein gefährliches Durcheinander produziert. Ich kann Sie beim besten Willen nicht in einen Mordfall einweihen, den ich entdecke.«

»Du missverstehst schon wieder etwas, Leopold«, ließ Lamprecht ihn mit Genuss wissen. »Es ist genau umgekehrt. Ich werde einen Mord entdecken, und du wirst vor Neugier platzen. Du bekommst allerdings nur Einzelheiten von mir, wenn ich bei deinen Ermittlungen mitmachen darf.«

»Was soll das heißen? Wie stellen Sie sich das vor?«, wollte Leopold verwirrt wissen.

»Du wirst es noch rechtzeitig erfahren«, grinste Lamprecht. »Alles zu seiner Zeit.«

*

Lamprechts letzte Worte stimmten Leopold nachdenklich. Was wollte der Kerl? Ihn provozieren? Oder steckte tatsächlich etwas hinter seinen Andeutungen? Das hieß dann aber, dass irgendwo eine noch nicht entdeckte Leiche herumlag, deren Existenz Lamprecht vorderhand geheim hielt, um Leopold dazu zu bringen, mit ihm gemeinsam zu ermitteln. So etwas war strafbar, und Leopold traute es dem jungen Mann auch nicht zu.

Natürlich bestand ferner die Möglichkeit, dass es noch keinen Toten gab, aber ein Mord geplant war, von dem Lamprecht wusste. Aber dann musste es doch sein höchstes Ziel sein, das Verbrechen zu verhindern. So hatte er allerdings keineswegs geklungen. Also erschien Leopold diese Variante ebenso unwahrscheinlich.

Was auch immer Lamprecht vorhatte, es blieb ein Rätsel. Deshalb war Leopold froh, als sein Freund Thomas Korber, Deutschlehrer am benachbarten Floridsdorfer Gymnasium, das Kaffeehaus betrat und sich zu ihm an die Theke gesellte, obwohl ihre Gespräche mitunter etwas verkrampft verliefen, seit Leopold etwas von Korbers unregelmäßiger Beziehung zu seiner unehelichen Tochter Sabine Patzak ahnte. Leopold wollte selbstverständlich genau wissen, was da los war. Korber hingegen gab sich bedeckt, vor allem, weil er sich schwer tat, die Lage einzuschätzen. Ganz ohne einander schafften er und Sabine es nicht, für das Miteinander hatten beide einen zu großen Freiheitsdrang. Zudem war Korber um etliche Jahre älter. Das alles führte zu einer Reihe von Unsicherheiten, sodass er Leopold stets auswich, wenn dieser auf das Thema zu sprechen kam.

Zu seiner Erleichterung machten Leopold jedoch immer noch Lamprechts geheimnisvolle Ausführungen zu schaffen. »Diese Bürscherln nehmen sich in letzter Zeit ganz schön viel heraus«, beschwerte er sich bei Korber und informierte ihn über sein Problem.

Korber trank bedächtig von seinem Bier, sodass ein wenig Schaum an seiner Oberlippe hängen blieb. »Ich weiß nicht, was du hast«, stellte er fest. »Die sind doch beide in Ordnung. Ich hatte auch ein Interview mit Kastner. Er schien mir locker und amikal, keineswegs aufdringlich. Und Lamprecht will sich beweisen, zeigen, was er draufhat. Da klopft er eben ein bisschen auf den Busch. Ich halte das für völlig normal.«

»Normal? Dass er eine Leiche ankündigt, die er mir zu gegebener Zeit präsentiert? Ich halte das für äußerst bedenklich«, echauffierte Leopold sich.

»Junge Leute suchen sich gern jemanden aus, zu dem sie in Konkurrenz treten wollen«, erläuterte Korber. »Lamprecht hat von deinen kriminalistischen Versuchen gehört. Daraufhin lässt er dich wissen, dass er es besser kann. Dadurch will er dein Interesse wecken und erreichen, dass du ihn ernst nimmst. Sein Traum besteht im Augenblick darin, bei einer deiner Ermittlungen mitzumachen. Aber solche Vorstellungen sind meist nicht von langer Dauer.«

»Warum wollen sie mir bei meinen Mordfällen dreinreden? Ich mische mich ja auch nicht in ihre literarischen Angelegenheiten«, ereiferte sich Leopold weiter. »Dabei wüsste ich genug G’schichtln zu erzählen. Gerade ist mir wieder eines eingefallen, und zwar vom Streit Charly. Der hat einmal bei einer Tombola einen Vogelkäfig gewonnen, aber ohne Vogel. Er hat sich nie einen Vogel gekauft, den Käfig jedoch umhegt und gepflegt, als ob er etwas Lebendiges wäre. Einmal ist er für zwei Wochen in den Urlaub geflogen. Vorher hat er uns glatt den Käfig vorbeigebracht, damit wir uns um ihn kümmern, während er weg ist. So als ob der Käfig sterben würde, wenn nicht immer frisches Wasser und ein paar Körndln drin sind. Er hat uns sogar Vogelfutter dagelassen. Da oben, auf dem Schrank über meiner Lade, ist das Ding zum Gaudium der Leute gestanden …«

»Warte mal«, unterbrach Korber ihn. »Kennst du den Typen, der sich gerade zu den beiden setzt?«

Leopold, noch ganz in seine Geschichte von dem Vogelkäfig vertieft, drehte den Kopf leicht nach links. Neben Kastner und Lamprecht hatte dort ein Mann Platz genommen, der die 60 wohl bereits überschritten hatte. Sein schütteres graues Haar hing in langen, ungewaschenen Strähnen links und rechts an seinem Kopf herab. »Das ist auch so ein Künstler«, gab Leopold Auskunft. »Aber der schreibt nicht, der malt.«

»Was weißt du über ihn?«

»Nicht viel. Er ist, wie gesagt, angeblich Maler und heißt Simon Jung. Seit sich die Literaten bei uns einquartiert haben, ist er ein paarmal hergekommen und hat mit ihnen geplaudert, so wie jetzt.«

»Hast du ihn schon einmal mit jungen Mädchen hier gesehen? Etwa aus dem Gymnasium?«, forschte Korber weiter.

»Nicht während meiner Dienstzeiten«, antwortete Leopold knapp. »Wieso?«

»Er hat vor dem Gymnasium Schülerinnen angesprochen. Es heißt, er wirbt sie als Aktmodelle an und bietet ihnen Geld dafür«, schilderte Korber.

»Ja und?«, war das Einzige, was Leopold dazu einfiel.

»Er soll bis zu 100 Euro pro Mädchen und Bild zahlen«, erläuterte Korber. »Dieses Angebot ist natürlich attraktiv. Es ist jedoch eine heikle Sache, gesetzlich ein schwammiger Bereich. Ab 16 dürfen ihm die Mädchen Modell sitzen, aber sind auch alle schon so alt? Und was, wenn die Eltern, die wahrscheinlich nichts wissen, davon erfahren? Dann ist Feuer am Dach. Des Weiteren ergibt sich die Frage, ob es sich wirklich nur um keusche Porträtbilder oder etwa um pornografische Fotos handelt. Vielleicht treibt er sogar noch schlimmere Dinge mit ihnen.«

»Hat sich schon jemand beschwert?«, wollte Leopold wissen.

»Nein«, musste Korber zugeben. »Trotzdem wüsste ich gern, was da vor sich geht. Wenn der Verdacht besteht, dass etwas nicht in Ordnung ist, sollte man eingreifen, bevor es zu spät ist.«

»Bis jetzt wirkt Jung nicht so auf mich, als würde er Mädchen vernaschen oder anderen zum Vernaschen weitergeben«, versetzte Leopold. »Er macht einen ganz normalen Eindruck und scheint eher am Projekt der Literaten interessiert. Ich denke, du verdächtigst ihn zu Unrecht.«

»Du weißt, wie schnell in solchen Dingen gerade in der Schule ein Skandal losbricht«, gab Korber zu bedenken. »Ein Gerücht hier, eine Vermutung dort, und schon ist das Schlamassel perfekt.«

»Du möchtest also, dass ich ihn ein wenig beobachte«, mutmaßte Leopold.

»Schau einmal, ob er mit den beiden Dichtern nur einen lockeren Gedankenaustausch pflegt oder ob sie ein engeres Verhältnis zueinander haben«, ersuchte Korber ihn. »Vielleicht können sie dir etwas über ihn erzählen. Pass auf, welche Telefonate er führt, ob es Auffälligkeiten gibt und so weiter. Du weißt schon, was ich meine.«

»Für einen solchen Auftrag müsste ich eigentlich ein angemessenes Honorar verlangen«, machte Leopold ihm klar. »Wie wär’s, wenn du mir stattdessen einen ausführlichen Lagebericht über dich und Sabine gäbest?«

Korber lächelte. »Derzeit gibt es keine Neuigkeiten«, offenbarte er seinem Freund.

Leopold wollte ihm eine zynische Antwort geben, doch wurde seine Aufmerksamkeit von Lamprecht abgelenkt, der einen Anruf entgegennahm und dann hektisch aus dem Kaffeehaus stürzte. Wenig später kam er zurück, aber nur, um in aller Eile seine Sachen zusammenzupacken und Kastner mitzuteilen, dass er dringend wohin müsse. Leopold glaubte noch zu hören, wie er ihm ins Ohr flüsterte: »Es geht um die Mordgeschichte!«

Kapitel 2

Dienstag, 15. März, Abend

Langsam wurde es Abend. Das Café Heller füllte sich zusehends, und es wurde nach Herzenslust geplaudert, Billard oder Karten gespielt. Simon Jung und Thomas Korber hatten den Heimweg angetreten. Erwin Lamprecht war noch nicht von seiner geheimnisvollen Mission zurückgekehrt. Klaus Kastner hatte wieder Gespräche mit ein paar Kaffeehausgästen geführt und schrieb seine Eindrücke teils mit der Hand nieder, teils tippte er sie in seinen Laptop ein.

Drei ältere Damen, alle wohl um die 70, betraten nun das Heller: Ruth Klett, Sieglinde Hollaus und Claudia Safranek. Leopold nannte sie liebevoll den Dienstagabendbuchklub, weil sie verlässlich jeden Dienstag um diese Zeit kamen, um ein für die jeweilige Woche ausgewähltes Buch zu besprechen. Dazu tranken sie Kaffee und aßen Apfelstrudel. In einer abschließenden Runde Würfelpoker wurde dann ermittelt, wer die Zeche zu bezahlen hatte.

»Was ist denn heute los? Normalerweise seid ihr immer zu viert«, erkundigte sich Leopold, als er bemerkte, dass eine von ihnen fehlte, nämlich Elvira Achleitner. Die Runde kam immer gemeinsam, es gab keine Nachzügler.

»Elvira geht es heute nicht gut«, informierte ihn Ruth Klett, die sich für gewöhnlich zur Sprecherin der anderen machte. »Genau genommen ist sie schon ein paar Tage krank. Sie hat starkes Fieber und fühlt sich schwach. Eine Erkältung hat ihre Gesundheit angegriffen.«

»Das tut mir leid«, bemerkte Leopold. »Ich hoffe, sie erholt sich rasch und beehrt uns bald wieder.«

»Da habe ich so meine Zweifel«, erwiderte Frau Klett. »Sie hat ein schwaches Herz, und ihre Lunge ist auch nicht mehr die beste. Ich denke, wir müssen froh sein, wenn sie ihre Erkrankung einigermaßen übersteht.«

»Aber wenn sie zu Hause liegt und nicht ins Spital muss, ist es doch halb so schlimm«, merkte Leopold an.

»Sagen Sie das nicht!« Ruth Klett erhob ihren rechten Zeigefinger, und ihre Augen bekamen einen sorgenvollen Blick. »Elvira mag keine Ärzte und schon gar kein Krankenhaus. Sie würde nie die Rettung oder einen Notarzt verständigen, auch wenn sie sich noch so mies fühlt. Sie hat uns einmal mitgeteilt, dass es ihr Wunsch sei, in ihrem eigenen Bett das Zeitliche zu segnen. Wenigstens hat sie eine Betreuerin, die zu bestimmten Zeiten zu ihr kommt. Man kann nur hoffen, dass die etwas unternimmt, wenn es ernst werden sollte.«

»Du redest, als ob Elvira bereits unter der Erde wäre«, ärgerte sich Claudia Safranek. »Dabei ist sie bloß heute einmal nicht mit von der Partie. Das wird schon wieder.«

»Du hast ja nicht mit ihr telefoniert und ihre kraftlose Stimme gehört«, äußerte Ruth Klett besorgt. »Sie hat sogar vom Sterben fantasiert und sich Gedanken darüber gemacht, ob ihr wohl der liebe Herrgott ihre Sünden verzeiht.«

»Sie ist oft allein. Da spuken einem halt manche Dinge im Kopf herum, wenn man sich einmal nicht gut fühlt«, wandte Claudia ein. »Man hat in solchen Situationen seine Hochs und Tiefs, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Deshalb würde ich so eine Aussage nicht überbewerten.«

»Im Augenblick können wir sowieso nichts machen«, meldete sich nun auch Sieglinde Hollaus zu Wort.

»Wir sollten morgen nach ihr sehen, und zwar alle drei«, schlug Ruth Klett vor. »Das sind wir unserer alten Freundin schuldig. Aber jetzt setzen wir uns einmal und stärken uns.«

Damit waren alle einverstanden. Sie nahmen an einem der Spieltische im hinteren Teil des Heller Platz, bestellten ihren Kaffee samt Apfelstrudel und kamen bald auf das Buch, das sie diese Woche diskutieren wollten, zu sprechen.

»Um welches Werk geht es denn heute?«, erkundigte sich Leopold neugierig.

»Um einen Klassiker der Kriminalliteratur«, gab Sieglinde Hollaus bereitwillig Auskunft. »Der Tod auf dem Nil von Agatha Christie. Aber ich denke, es wird diesmal nicht lang dauern, da wir uns über das Buch ziemlich einig sind.«

»Nur keine vorschnellen Annahmen«, mahnte Ruth Klett.

»Man muss einfach die Meisterschaft bewundern, mit der Christie eine Vielzahl hochwertiger Krimis verfasst hat, die ein fixer Bestandteil der Weltliteratur geworden sind. Zudem hat man nur von Shakespeare mehr Bücher als von ihr verkauft, soviel ich weiß«, ergänzte Sieglinde Hollaus.

»Was nicht unbedingt ein Qualitätsbeweis sein muss«, gab Claudia Safranek zu bedenken.

»Tatsächlich ist Christies Schreibstil oft sehr einfach, und die Dialoge wirken zeitweise lieblos hingeworfen«, kritisierte Ruth Klett.

»Nicht bei Der Tod auf dem Nil«, widersprach Sieglinde Hollaus sofort. »Im Gegenteil! Jeder Satz ist Teil eines genialen Plans, ein Rädchen fügt sich ins andere. Das Buch ist vom Anfang bis zum Ende fabelhaft konstruiert. Das ist es ja, was die Leser an Agatha Christie schätzen. Deswegen verschlingen sie ihre Kriminalromane.«

»Das Vergnügen liegt demnach bloß in der Denkarbeit, nicht im literarischen Genuss«, behauptete Claudia Safranek.

»Am lohnendsten wird es für uns wohl sein, wenn wir uns in unserer Debatte hauptsächlich auf diesen Aspekt konzentrieren«, schlug Ruth Klett vor. »Für mich besteht das Faszinierende des Buches darin, dass der Leser, obwohl alle Fakten klar vor ihm liegen und zum Täter hinführen, nicht zur richtigen Lösung kommt. Schuld ist ein scheinbar hieb- und stichfestes Alibi, dem man mehr traut als dem eigenen Verstand.«

»Das ist doch die Spezialität von Agatha Christie«, sah sich Sieglinde Hollaus bestätigt. »Das unwiderlegbare Alibi, welches alle in die Irre führt.«

»Außer Hercule Poirot, den belgischen Meisterdetektiv«, merkte Ruth Klett an.

»Aber ist die ganze Story nicht ein wenig weltfremd?«, kam es zögerlich fragend von Claudia Safranek.

»Keineswegs«, versicherte Sieglinde Hollaus sofort. »Ein wasserdichtes Alibi ist doch das Um und Auf, wenn jemand erfolgreich einen Mord begehen will. Doch wissen wir leider viel zu wenig über gelungene Kapitalverbrechen, weil die Täter aufgrund ihrer genauen Planung erst spät oder gar nicht gefasst werden. Viele von ihnen laufen immer noch frei herum.«

»Meinst du wirklich?«, zweifelte Claudia Safranek.

»Sieglinde hat recht«, bestätigte Ruth Klett. »Nur ungeschickte Täter oder solche, die sich zu sehr von ihren Emotionen leiten lassen, werden geschnappt. Wer sich für die Überlegungen bezüglich eines Mordes genügend Zeit nimmt und bei der Ausführung der Tat nicht die Nerven verliert, kommt in der Regel davon. Er hat als Gegner ja nicht Hercule Poirot, sondern unsere Polizei. Mehr brauche ich dazu wohl nicht zu sagen.«

Nun verlegte sich der Fokus des Gesprächs wieder auf das Buch Der Tod auf dem Nil. Leopold, der sich bemüht hatte, der Debatte während seiner Serviertätigkeit zu folgen, begab sich in den vorderen Teil des Café Heller. Er musste zugeben, dass das Knacken solcher Alibis eine interessante Sache darstellte, die ihn auch während seiner Ermittlungen ständig beschäftigte.

Ihm ging jedoch auch die heutige Abwesenheit von Elvira Achleitner und die Beschreibung ihres Zustandes durch Ruth Klett durch den Kopf. Bis jetzt hatte Elvira auf ihn trotz ihres Alters einen lebenslustigen und agilen Eindruck gemacht. Auf einmal lag sie mit einer schweren Erkältung darnieder, und ihre Freundin machte sich Sorgen um sie. Was war davon zu halten? Sie war Raucherin, und wie es mit ihren lebenswichtigen Organen aussah, wusste wahrscheinlich niemand so genau. So etwas musste man wohl immer berücksichtigen. Ein wenig seltsam erschien ihm, dass sie trotz ihrer Beschwerden keine medizinische Betreuung wünschte. Andererseits machte Leopold selbst um Ärzte und Spitäler einen großen Umweg.

Mitten in diesen Gedanken ging sein Blick wieder einmal in Richtung Klaus Kastner. Der schaute in seinen Laptop, tippte etwas ein und schrieb dazwischen ein paar Zeilen mit der Hand. Dabei wirkte er ein wenig verloren. Es hatte den Anschein, als fehle ihm Erwin Lamprecht, als warte er sehnsüchtig auf dessen Rückkehr.

»Kommt der Kollege heute noch?«, fragte Leopold ihn.

»Ganz bestimmt«, antwortete Kastner überzeugt.

*

Die Sperrstunde nahte, und Erwin Lamprecht tauchte immer noch nicht auf. Das Kaffeehaus hatte sich bis auf wenige Gäste geleert, auch die Damen des Dienstagabendbuchklubs hatten das Heller bereits verlassen. Klaus Kastner saß bei einem Glas Rotwein und trommelte immer wieder nervös mit seinen Fingerkuppen auf die Tischplatte. Seinen Laptop hatte er längst weggepackt. Er fummelte nur mehr fahrig auf seinem Handy herum. »Jetzt kommt er wohl nicht mehr«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Leopold, als dieser vorüberging.

»Morgen sehen Sie sich ja wieder«, versuchte Leopold, ihn aufzuheitern

»Momentan glaube ich an gar nichts mehr«, zweifelte Kastner. »Es ist alles so komisch. Er meldet sich nicht mehr und hebt auch nicht ab, wenn man ihn anruft.«

»Ich denke, es wird sich alles aufklären«, bemerkte Leopold zuversichtlich.

Doch Kastner war nicht davon überzeugt. »Seine Freundin Inga hat gerade mit mir telefoniert«, gab er an. »Erwin sollte eigentlich schon bei ihr sein. Zuerst noch einmal hierher, dann zu ihr, das war der Plan. Doch sie vermisst ihn ebenso und wollte wissen, ob er noch bei mir ist. Sie kommt jetzt auf einen Sprung vorbei. Ich hoffe, das geht sich vor dem Zusperren aus.«

Leopold konsultierte die große Kaffeehausuhr an der Wand, die immer ein paar Minuten nachging. »Ein bisschen Zeit für ein schnelles Getränk ist noch«, stellte er in Aussicht. »Ich muss ohnehin fertig abkassieren und zusammenräumen.« Sein Interesse war geweckt. Er ahnte, dass sich da etwas zusammenbraute, das er sich nicht entgehen lassen wollte. »Hat sich der junge Herr denn gar nicht mehr gerührt, seit er von hier weg ist?«, fragte er deshalb noch.

»Doch«, antwortete Kastner nachdenklich. »Zuerst lief alles normal. Ich bekam eine SMS von Erwin, dass er sehr erfolgreich gewesen sei und mir gleich im Heller mehr darüber erzählen wolle. Aber vorher müsse er noch kurz mit jemandem etwas trinken gehen. Seither herrscht Funkstille.«

Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann müssen wir uns vorerst keine großen Sorgen machen, denke ich«, befand er. »Er wird picken geblieben sein und das Handy abgedreht haben, um nicht gestört zu werden. Wahrscheinlich hat er mehr erwischt, als er verträgt, sodass es keinen Sinn gehabt hätte, noch einmal hier aufzutauchen. Stattdessen ist er nach Hause gegangen. Jetzt liegt er in seinem Bett und schläft seinen Rausch aus.«

Kastner zweifelte. »Meinst du? Warum hat er nichts mehr von sich hören lassen?«

»Der Alkohol hat ihn eben so im Griff gehabt, dass er zu keinen vernünftigen Handlungen mehr fähig war.«

»Das glaube ich nicht.«

»Hätten Sie unser Kaffeehaus schon vor einigen Jahren beehrt, würden Sie vermutlich anders denken«, belehrte Leopold ihn. »Da hätten Sie schöne Beispiele für die Auswirkungen des Alkohols vorgeführt bekommen, die Ihnen Stoff für eine Reihe von literarischen Ergüssen geliefert hätten. Typen hat’s bei uns gegeben! Mir fällt da zum Beispiel spontan ein G’schichtl vom Eder Ederl ein. Der war so unglücklich über die praktisch vorhandene Gleichheit seines Vor- und Familiennamens, dass er sich regelmäßig niedergesoffen hat. Wenn der einmal losgelegt hat, ist kein Auge trocken geblieben. Er hat die Sperrstunde von allen Beisln der Umgebung auswendig gewusst, und auch, wann in der Früh wieder die ersten aufmachen. Tagelang war er oft unterwegs. Benachrichtigt hat er niemanden, nicht einmal seine Frau, und so etwas Praktisches wie ein Handy hat’s nicht gegeben. Einmal, in der Nacht von Sonntag auf Montag, der Klassiker: alle Lokale zu, und er wollte natürlich noch nicht nach Hause. Angeblich hat er sich da mit seinem letzten Flascherl Bier auf ein Bankerl an der Alten Donau gesetzt und gesagt: ›Wenn das leer ist, muss ich eben das Wasser da unten saufen. Wenigstens habe ich dann in der Früh nicht so einen Brand …‹«

»Was redest du da für einen Unfug? Erwin ist nicht so. Wenn er mir verspricht, dass er zu mir kommt, dann hält er das auch, außer ihm passiert etwas!«

Leopold wurde unsanft aus seinem Erzählfluss gerissen. Er drehte sich um und sah sich einer kleinen, resoluten jungen Frau mit rot gelocktem Haar, Pausbacken und Sommersprossen gegenüber. Das musste Inga sein. »Haben die Gnädigste einen Wunsch?«, fragte er sie.

»Wir müssen Erwin finden! Der ist sicher nirgendwo versumpert«, forderte Inga energisch.

Leopold lächelte. »Ohne Konsumation kein Erwin. So viel Zeit muss sein«, machte er sie aufmerksam.

Inga bestellte daraufhin ein Cola. »Ich möchte Ihnen ja gern helfen«, bot Leopold an, als er es ihr brachte. »Da wäre es allerdings hilfreich zu erfahren, wo er heute hingegangen ist und was er dort wollte.«

»Darüber weiß ich leider kaum etwas«, meldete sich nun wieder Klaus Kastner zu Wort. »Er ist plötzlich auf eine Sache gestoßen, die ihn mächtig interessiert hat. Dabei geht es anscheinend um einen Mord. Er war ganz fasziniert und meinte, das sei der ideale Stoff für eine Erzählung.«

»Was für einen Mord?«, erkundigte sich Leopold. »Einen erst geplanten oder einen schon begangenen?«

»Keine Ahnung«, musste Kastner zugeben. »Er hat mir gegenüber sehr heimlich getan und praktisch nichts verraten.«

»Und wie ist er auf diese Geschichte gekommen?«, fragte Leopold weiter.

»Wie du weißt, unterhalten wir uns hier im Heller viel mit den Gästen, um mehr über sie und ihre Beziehung zum Kaffeehaus zu erfahren«, gab Kastner Auskunft. »Bei einem dieser Gespräche dürfte Erwin entsprechende Informationen erhalten haben. Darüber, wie das genau hergegangen ist, bin ich leider nicht informiert. Erwin spricht die Leute halt etwas direkter an als ich. Und er interessiert sich auch für die dunkle Seite ihres Charakters.«

»Und heute wollte er die betreffende Person noch einmal außerhalb unseres Kaffeehauses treffen?«

»Anscheinend.«

Leopold wurde aus der Sache nicht recht klug. Er verfolgte regelmäßig sämtliche Berichte über Gewaltverbrechen in Wien, besonders in seinem Heimatbezirk Floridsdorf. Nirgendwo hatte er dabei in den letzten Tagen etwas über einen ungeklärten Mord gehört oder gelesen. War also etwas Kriminelles im Gange, an dem sich Lamprecht beteiligte, um seine Erfahrungen in eine Erzählung einzubauen? Oder hatte Leopold einen Mord übersehen?

»Was sollen wir jetzt tun? Unternehmt doch etwas«, drängte Inga.

»Haben Sie schon geschaut, ob er zu Hause ist?«, erkundigte sich Leopold.

»Nein«, antwortete Inga ohne Umschweife. »Ich musste mich doch erst vergewissern, ob er hier ist. Außerdem hatte er nicht vor heimzugehen, sondern wollte zu mir. Wir sind immer bei mir. Das ist es ja, was mich stutzig macht. Weshalb hätte er sich plötzlich anders entscheiden sollen?«

Weil sich etwas Neues ergeben hatte? Etwa ein Liebesabenteuer in einer gewissen Hochstimmung nach erfolgreicher Mission und reichlichem Alkoholgenuss? Leopold dachte sofort in diese Richtung. Aber er wollte Inga damit nicht weiter verunsichern. »Es wäre trotzdem das Vernünftigste, wenn wir unsere Suche dort beginnen«, schlug er stattdessen vor. »Da wir seine Kontaktperson nicht kennen und die meisten Lokale der Umgebung so wie wir bald schließen, sehe ich vorerst kaum andere Möglichkeiten. Unter Umständen treffen wir ihn gesund und munter an. Dann war die ganze Aufregung umsonst. Und wenn nicht, müssen wir eben weiter überlegen.«

»Leopold hat recht«, räumte Klaus Kastner ein. »Vielleicht löst sich alles rasch wieder in Wohlgefallen auf. Hast du einen Schlüssel?«

Inga schüttelte den Kopf. Anschließend gab sie Auskunft über Lamprechts Wohnadresse: »Es ist in der Floridusgasse, gleich bei der Theodor-Körner-Gasse.«

»Sehr gut, das ist nicht weit. In einer Viertelstunde gehen wir los«, beschloss Leopold. Tatsächlich war das Heller zur Sperrstunde leer, auch die Kartenpartien waren pünktlich beendet worden. Niemand lungerte mehr an der Theke mit einem Fluchtachterl herum. Also trat Leopold mit Inga und Kastner hinaus in die kalte Märznacht. Ein frischer Wind blies ihnen um die Ohren, vom Frühling war noch nicht viel zu merken. Sie gingen auf der Fußgängerzone der Franklinstraße entlang in Richtung Kinzerplatz, von wo es nicht mehr weit zu Erwin Lamprechts Wohnung war. Dabei passierten sie das Floridsdorfer Hallenbad, die Handelsakademie und das zweite Gymnasium, das früher den Mädchen vorbehalten gewesen war.

»Und Erwin hat nicht einmal eine kleine Andeutung gemacht, woran er ist?«, forschte Leopold weiter.

»Nein. Über solche Sachen redet er nie mit mir. Es ist mir auch ziemlich egal. Das ist seine Angelegenheit«, teilte Inga ihm mit.

Hörte Leopold da heraus, dass es sich um eine lockere, in erster Linie auf das körperliche Vergnügen aufgebaute Beziehung handelte? Auf jeden Fall kannte Inga ihren Freund zu wenig, um Leopolds Neugier zu stillen.

Sie erreichten rasch den Kinzerplatz. Die mächtige, nach dem Heiligen Leopold benannte Kirche, die drittgrößte Wiens, leuchtete ihnen nun in ihrer vollständigen Pracht entgegen. Als Bischofskirche für Niederösterreich war sie einst vorgesehen gewesen, doch dann wurde Floridsdorf der Stadt Wien eingemeindet, und übrig von diesen Plänen blieben nur mehr der gewaltige Bau, das überdimensionierte Pfarrhaus und der riesige Platz, auf den die vom Mondlicht beschienenen, großteils noch kahlen Bäume zarte Schatten warfen. Eine Reihe von Bänken lud hier untertags zum Rasten ein. Nun standen sie leer und hielten ihre Nachtruhe wie alles um sie herum.

Inga verlangsamte plötzlich ihren Schritt. »Da sitzt jemand«, flüsterte sie.

»Du träumst«, raunte ihr Kastner zu. »Wer sollte um diese Zeit bei dieser Kälte …«

Aber jetzt sah er den Mann auch. Er hockte da, als ob er schliefe. »Wahrscheinlich betrunken«, diagnostizierte Leopold. »Da spürt man’s nicht so, wenn’s um einen herum frisch ist. Wir sollten ihn aufwecken, sonst holt er sich noch eine hochgradige Erkältung.«

»Ich habe Angst«, piepste Inga und schmiegte ihren Körper an den von Klaus Kastner. Beide wagten sich nicht weiter nach vor. Leopold ging als Einziger zu dem Mann auf der Bank und rüttelte ihn. »He, Sie da! Sie gehören nach Hause! Daheim im warmen Bett schläft sich ein Rausch viel besser aus«, redete er auf ihn ein.