Wiener Melange - Hermann Bauer - E-Book

Wiener Melange E-Book

Hermann Bauer

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Beschreibung

Das Speeddating für Senioren im Café Heller steht für die pensionierte Lehrerin Sissi Palla von Beginn an unter keinem guten Stern. Sie erhält im Vorfeld eine Morddrohung und gerät dann auch noch in Streit mit einem anderen Teilnehmer. Nach einer gemütlichen Lokalrunde zum Ausklang wird sie schließlich in der folgenden Nacht auf dem Freizeitgelände neben der Bahn mit einem Stein erschlagen. War es Mord aus Liebe, Eifersucht oder persönlicher Rache? Oberkellner Leopold hat in diesem kniffligen Fall wieder einmal alle Hände voll zu tun.

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Hermann Bauer

Wiener Melange

Kaffeehauskrimi

Zum Buch

Leiche statt Liebe Im Café Heller findet ein Speeddating für Senioren statt. Davor erhält die teilnehmende ehemalige Lehrerin Sissi Palla eine Morddrohung. Während der Veranstaltung kommt es dann zu einer unschönen Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem Gegenüber Dominik Neumaier. Einige Teilnehmer und Zaungäste begeben sich nachher auf einen Umtrunk, zu dem sich Sissi den alternden Frauenhelden Gabriel Schaffer als Beschützer mitnimmt. Doch es nützt nichts. Am nächsten Morgen wird ihre Leiche von einer Spaziergängerin neben dem Bahndamm gefunden, die den umtriebigen Oberkellner Leopold noch vor der Polizei verständigt. Oberinspektor Juricek und er stoßen bei ihren Ermittlungen zunächst auf ein Gewirr von widersprüchlichen Aussagen und dem Alkohol geschuldeten Gedächtnislücken. Leopold muss die einzelnen Beziehungsstränge entwirren und klären, wie der falsche Vollbart von Schaffers Sohn Franz neben das Opfer geraten ist, um diesen schwierigen Fall zu lösen.

Hermann Bauer wurde 1954 in Wien geboren. Dreißig wichtige Jahre seines Lebens verbrachte er im Bezirk Floridsdorf. Bereits während seiner Schulzeit begann er, sich für Billard, Tarock und das nahe gelegene Kaffeehaus, das Café Fichtl zu interessieren, dessen Stammgast Bauer lange blieb. Von 1983 bis Anfang 2019 unterrichtete er Deutsch und Englisch an der BHAK Wien 10. Er wirkte in 13 Aufführungen der Theatergruppe seiner Schule mit. Im Jahr 2008 erschien sein erster Kriminalroman »Fernwehträume«, dem 16 weitere Krimis um das fiktive Floridsdorfer Café Heller und seinen Oberkellner Leopold folgten. »Wiener Melange« ist der 17. Kaffeehauskrimi des Autors. Er lebt mit seiner Frau Andrea in Wien und Eisenstadt.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © JanC.Beck via flickr https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Caf%C3%A9_Hawelka_02.jpghttp://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

ISBN 978-3-7349-3046-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Dienstag, 21. Mai

In letzter Zeit wirkte Leopold W. Hofer, der Oberkellner des Floridsdorfer Café Heller, nachdenklicher als sonst. Er verrichtete seine Arbeit zwar so gewissenhaft und souverän wie immer, aber wer ihn genau betrachtete, bemerkte, dass der schelmische Zug um seinen Mund nun öfters fehlte, und dass er dann, wenn nichts zu tun war, schweigend und in sich gekehrt an der Theke lehnte. Sein Blick ging dabei ins Leere. »Schauen Sie nicht ins Narrenkastl, Leopold«, pflegte ihn seine Chefin, Frau Sidonie Heller, darauf anzusprechen, doch meistens hörte er das gar nicht. Die Krisen der letzten Monate und Jahre hatten bei ihm deutliche Spuren hinterlassen. Frau Heller wusste es längst von seiner Lebensgefährtin Erika Haller. Er machte sich auf einmal wegen Dingen Sorgen, über die er früher nur gelacht hätte. Seine Konversation beschränkte sich in der Arbeit und zu Hause auf das Notwendigste. Und es stand zu befürchten, dass ein Mord in seiner Umgebung das einzige Mittel sein würde, seine Stimmung zu heben.

Immer wieder ärgerte er sich plötzlich über etwas, das seiner Chefin an den Haaren herbeigezogen schien. Auch jetzt knurrte er gerade so laut, dass sie es hören konnte: »Es ist nicht zu fassen«, und gleich darauf: »Man glaubt es nicht!«

»Wo drückt Sie denn schon wieder der Schuh?«, erkundigte sich Frau Heller.

»Haben Sie denn heute noch keinen Blick in die Zeitung geworfen?«, entgegnete Leopold.

»Wir sind hier, um zu arbeiten, nicht um Zeitung zu lesen«, erinnerte Frau Heller ihn. »Aber bitte! Habe ich etwas versäumt? Steht wieder einmal der Weltuntergang bevor?«

»Es ist beinahe genauso schlimm«, befand Leopold. »Der Fluch der Geschichte holt uns gerade wieder ein. Sankt Pölten in den Schlagzeilen mit einer Tourismusoffensive. Sankt Pölten als Zentrum, das Natur, Kultur, Urbanität und Kulinarik miteinander vereint. Die niederösterreichische Landeshauptstadt erlebt einen Aufschwung. Die lebenswerte Metropole! Dass ich nicht lache!«

»Das ist doch nichts Verwerfliches«, wandte Frau Heller ein.

»Man muss bedenken, dass das einmal ein ganz kleines Städtchen war«, ließ sich Leopold nicht beirren. »Doch dann ist es Sitz der Landesregierung geworden, und nun blüht und gedeiht es. Und unser Floridsdorf dümpelt vor sich hin. Kein Tourismus, keine Aufmerksamkeit in den Medien! Dabei haben wir doch einiges zu bieten: die Alte Donau, die Donauinsel, den Bisamberg, die Heurigendörfer, den Marchfeldkanal und vieles mehr. Das interessiert aber leider niemanden.«

Frau Heller rätselte, worauf ihr Oberkellner jetzt schon wieder hinauswollte. »Ja und?«, bemerkte sie nur.

»Ursprünglich war Floridsdorf als niederösterreichische Landeshauptstadt vorgesehen«, ereiferte sich Leopold sofort. »Unsere Donaufelder Kirche am Kinzerplatz hätte Bischofssitz und Dom werden sollen. An und für sich sollten wir heute blühen und gedeihen. Aber im entscheidenden Moment sind wir das Opfer einer Intrige geworden. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich Wien unser schönes Dorf gegen unseren Willen einverleibt.«

»Es handelte sich um eine ganz normale Eingemeindung«, äußerte Frau Heller mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wien ist dadurch gewachsen wie andere Großstädte auch.«

»Es war eine Frechheit«, konnte sich Leopold nicht beruhigen. »Wir wurden regelrecht annektiert! Nur der Besonnenheit unserer Bevölkerung war es zu verdanken, dass die Situation nicht eskaliert ist. Dem damaligen Wiener Bürgermeister, Karl Lueger, wirft man zwar heute seinen Antisemitismus vor, aber über diese usurpatorische Schandtat wird leider der Mantel des Schweigens gebreitet.«

»Sie sollten nicht über historische Ereignisse debattieren, da kennen Sie sich zu wenig aus«, wies ihn Frau Heller in die Schranken.

»Und wie ich mich auskenne«, konterte Leopold. »Die Sache ging nämlich noch weiter. Nach seiner Machtergreifung 1938 hat Adolf Hitler den östlichen Teil von uns einfach abmontiert und zu einem eigenen Bezirk, damals Groß Enzersdorf, gemacht.«

»Die heutige Donaustadt«, seufzte Frau Heller. »Was war denn daran so verwerflich?«

»Es war eine gezielte Aktion, um uns zur Bedeutungslosigkeit zu degradieren«, behauptete Leopold. »Und das Allerschlimmste kommt noch! Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Wiederherstellung der ehemaligen Größe unseres Bezirksgebietes, keine Wiedergutmachung, nichts! Man hat einfach alles so belassen, wie es war. Statt einer freien Stadt mit Regierungsverantwortung sind wir nun ein geschrumpfter Spielball des Wiener Rathauses. Wenn wir protestieren und uns dagegen wehren würden, würde man vermutlich mit schweren Geschützen über die Donau zu uns herüberschießen, und kein Staat der Welt würde uns Waffen liefern oder sonst irgendwie helfen.«

Frau Heller überlegte krampfhaft, wie sie diese sinnlose Tirade unauffällig beenden konnte. Einige Gäste schauten bereits irritiert zu Leopold herüber. Da betrat ein hagerer älterer Mann mit kurz geschnittenem grauem Haar das Heller. Suchend streiften seine Blicke durchs Kaffeehaus, ehe er eine beim ersten Fenster sitzende Frau jenseits der 60 wahrnahm, die schon die ganze Zeit nervös in ihrem kleinen Braunen umgerührt hatte. Sie lächelte ihm zu und winkte kurz. Da lächelte auch er und nahm ihr gegenüber Platz.

»Bitte fragen Sie den Herrn nach seinen Wünschen! Das wird Sie hoffentlich auf andere Gedanken bringen«, trug Frau Heller ihrem Oberkellner erleichtert auf.

Leopold begab sich zu dem Tisch und kehrte gleich darauf zur Theke zurück. »Zwei Gläser Prosecco«, teilte er seiner Chefin kopfschüttelnd mit. »Da gesellt sich doch tatsächlich einer zur Frau Bruckner. Dabei ist das eine Übriggebliebene, wie sie im Buche steht.«

»Lassen Sie endlich Ihre törichten Kommentare«, ermahnte ihn seine Chefin. »Im Gegensatz zu Ihnen denkt Frau Bruckner positiv und ist neuen Entwicklungen gegenüber sehr aufgeschlossen. Wie sie mir unlängst gestanden hat, hat sie sich auf einer Plattform im Internet angemeldet und sucht dort nun den Mann ihrer Träume. Dabei ist sie offenbar auf diesen Herrn gestoßen. Ich finde, er passt gut zu ihr.«

»Der ist aus dem Internet?« Leopold verschlug es die Sprache.

»Natürlich! Das ist die heute übliche Methode, nach einem Partner fürs Leben Ausschau zu halten«, belehrte ihn Frau Heller. »Man lernt sich nicht mehr am Arbeitsplatz, beim Tanzen oder in einem Lokal kennen, wie das bei uns noch üblich war, sondern im Netz. Gerade für ältere Leute, die nicht mehr so unternehmungslustig sind und sich einsam fühlen, tun sich hier ungeahnte Möglichkeiten auf. Man meldet sich einfach online bei einer Partnervermittlung an, entrichtet einen gewissen monatlichen Betrag und kann dann in aller Ruhe aus einer Reihe von Anwärtern den Richtigen auswählen.«

Leopold blickte kritisch zu Frau Bruckner und ihrer neuen Bekanntschaft hinüber. »Da hat sie sich ausgerechnet den ausgesucht? Den hätte sie umsonst auch bekommen«, bekrittelte er.

»Sie muss ihn ja nicht nehmen«, klärte Frau Heller ihn auf. »Sie wird jetzt ein wenig mit ihm plaudern, um einen ersten Eindruck von ihm zu bekommen. Schließlich wird sie eine Entscheidung treffen, ob er für sie in die engere Auswahl kommt oder gar der Richtige ist. Aber die Sache hat noch einen viel wichtigeren Aspekt! Sie haben doch sicher bemerkt, dass in letzter Zeit immer mehr solcher Pärchen in unserem Kaffeehaus sitzen.«

Leopold musste sich eingestehen, dass er auf so etwas nicht geachtet hatte. Seine Gedanken waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Natürlich kam es vor, dass zwei nicht mehr ganz taufrische Gäste sich im Heller wie junge Verliebte betrugen. Solange die Grenzen des Anstandes nicht überschritten wurden, gab es auch nichts dagegen einzuwenden. Schließlich war man als Kaffeehaus der ideale Ort für zwischenmenschliche Annäherungen. Aber ob das zuletzt häufiger geschehen war, vermochte er nicht zu sagen. »Ach so?«, äußerte er deshalb vorsichtig und zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe.

»Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Mir scheint, Ihnen kommt Ihr detektivisches Gespür abhanden«, stellte Frau Heller amüsiert fest. »Wir sind offenbar ein beliebter Treffpunkt für jung gebliebene Menschen geworden, die hier ihr erstes Date haben, nachdem sie sich im Internet kennengelernt haben. Sie fühlen sich bei uns wohl und genießen die heimelige Atmosphäre. Bringen Sie unseren Turteltäubchen die Getränke, aber stören Sie sie nicht bei ihrem romantischen Gedankenaustausch.«

»Der Mann erzählt der Frau Bruckner gerade, wie hoch seine Beamtenpension ist und wie oft im Jahr er auf Kur fährt. Wirklich äußerst romantisch«, berichtete Leopold, als er nachher wieder zur Theke zurückkehrte.

»Manchmal kommt es mir so vor, als wollten Sie gewisse Dinge gar nicht verstehen«, ärgerte sich Frau Heller.

»Können Sie sich noch an den Fink Toni erinnern? Der hat romantische Gespräche über Liebe, Treue und Aufrichtigkeit geführt, dass kein Auge trocken geblieben ist«, redete Leopold daraufhin munter drauflos. »Leider immer mit einer anderen Flamme. Er hat aber noch seine Frau zu Hause gehabt, die davon nichts erfahren durfte. Sie sehen, die Romantik hat auch ihre Tücken!«

»Wenn Sie glauben, Sie können mir mit Ihren G’schichtln die Laune verderben, haben Sie sich geschnitten. Ich habe nämlich allen Grund zur Freude«, teilte ihm Frau Heller mit. »Der Bezirkszeitung ist zu Ohren gekommen, dass sich viele liebeshungrige Floridsdorfer und Floridsdorferinnen nach einer Kontaktaufnahme im Internet bei uns zum ersten Mal begegnen. Deshalb ist Frau Susanne Matejka, die verantwortliche Redakteurin, mit einer wunderbaren Idee an mich herangetreten. In unserem Kaffeehaus sollen Speeddatings für ältere Menschen stattfinden! Bei ihr haben sich bereits zahlreiche Interessierte gemeldet.«

»Speeddating? Was ist denn das schon wieder?«, grummelte Leopold.

»Ein Iffent«, dozierte Frau Heller. Sie sprach das Wort »Event« immer so aus, als ob es ein Doppel-F enthielte. »Dabei trifft eine gewisse Anzahl an Männern auf die gleiche Zahl an Frauen. Es kommt zu Gesprächsrunden, bei denen sich jeder Single mit jeweils einem Teilnehmer des anderen Geschlechts für eine kurze festgesetzte Zeit unterhält. Sind beide an weiteren Kontakten interessiert, tauschen sie einfach ihre Daten aus oder geben Frau Matejka ein entsprechendes Feedback. Ein unkompliziertes, erfolgreiches Konzept.«

»Jetzt geht es auf einmal ganz ohne Internet?«, warf Leopold skeptisch ein.

»Das Internet ist zwar zur wichtigsten Schaltstelle bei der Partnervermittlung geworden, aber bei einem solchen Iffent spüren die Teilnehmenden von Anfang bis zum Ende ein Prickeln, das durch nichts zu ersetzen ist«, belehrte ihn Frau Heller. »Die möglichen neuen Gefährten sind ihnen die ganze Zeit nahe, ebenso wie sie ständig die mögliche Konkurrenz im Nacken spüren. Wenn sie etwas erreichen wollen, müssen sie sich gut in Szene setzen. Die Zahl derer, die mitmachen, sollte dabei überschaubar bleiben. Wir werden mit jeweils vier Damen und Herren starten und später vielleicht auf fünf erhöhen.«

»Das soll öfters stattfinden?« Leopold konnte es kaum glauben.

»Natürlich! Sonst macht es doch keinen Sinn«, gab ihm Frau Heller zu verstehen. »Wir möchten möglichst vielen Seniorinnen und Senioren die Möglichkeit geben, bei uns die Liebe ihres Lebens zu finden. Trotzdem darf es keine Massenveranstaltung werden. Der intime Charakter muss stets gewahrt bleiben. Deshalb werden wir, je nach den vorliegenden Anmeldungen, dieses Iffent alle zwei bis drei Wochen durchziehen.«

Auf Leopolds Gesicht war eine zunehmende Gereiztheit abzulesen. »Da freue ich mich aber«, ätzte er. »Wann ist es denn das erste Mal so weit?«

»Übermorgen am Nachmittag«, verkündete Frau Heller stolz. »Frau Matejka hat bereits alles unter Dach und Fach.«

»So früh schon? Es gibt noch gar keine Ankündigung«, reklamierte Leopold.

»Das ist Absicht«, erklärte Frau Heller. »Für alle Interessierten haben wir auf unserer Homepage einen Link zur Anmeldung bei der Bezirkszeitung eingerichtet. Dort werden sie über den weiteren Ablauf genau informiert. Mehr ist nicht notwendig. Ich brauche keine neugierigen Gaffer hier im Lokal, die vielleicht noch anzügliche Bemerkungen machen. Unsere Speeddater werden ohnehin aufgeregt sein, da dürfen wir sie nicht zusätzlich irritieren. Ich bin ja selbst schon ganz nervös!«

»Dazu haben Sie auch allen Grund«, stichelte Leopold. »Da haben wir uns ja wieder was Schönes eingebrockt! Wissen Sie, was auf uns zukommt? Eine Schar liebeshungriger Seniorinnen und Senioren, die ihrer vielleicht letzten Chance nachrennen, dem Alleinsein zu entfliehen. In diesem Fall wird jeder Konkurrent zum Todfeind, und jede Zurückweisung bedeutet Öl ins Feuer!«

»Unterlassen Sie bitte Ihre chronische Schwarzseherei«, ermahnte ihn Frau Heller. »Frau Matejka hat Erfahrung in solchen Dingen. Alles wird diskret abgewickelt. Schon bald wird diese Veranstaltung eine Bereicherung für unseren Kaffeehausalltag sein. Und die Zwischenfälle, auf die Sie warten, werden in jedem Fall ausbleiben.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Leopold. »Solche Iffents, wie Sie sie nennen, ziehen das Verbrechen geradezu magisch an. In Krisenzeiten wächst die Gefahr, dass etwas Schlimmes passiert, überdies um ein Vielfaches. Wann genau steigt das erste Dating?«

»Übermorgen, Donnerstag, am Nachmittag um 15 Uhr«, präzisierte Frau Heller.

»Dann haben wir in zwei Tagen einen hübschen Mord«, stellte Leopold mitleidlos fest.

*

Als Leopold kurz nach Mitternacht heimkam, brannte zu seiner Überraschung noch Licht im Wohnzimmer. Neuerdings ging seine Lebensgefährtin Erika Haller an den Tagen, wo er bis zur Sperrstunde Dienst hatte, früh zu Bett. Einerseits brauchte sie den Schlaf für den Arbeitstag in ihrer Buchhandlung, andererseits vermied sie auf diese Art unnötige Diskussionen mit ihrem sich im dauernden Krisenmodus befindlichen Schnucki.

»Erika?«, fragte Leopold deshalb ungläubig, während er sich die Schuhe auszog.

Für einen Augenblick hörte er nur das leise Hintergrundgeräusch des Fernsehers, dann kam Erika schlurfenden Schrittes aus dem Wohnzimmer. »Ich bin wohl eingenickt«, gestand sie gähnend. »Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, so lange aufzubleiben, schon gar nicht allein. Aber ich wollte dir die Neuigkeiten noch vor dem Schlafengehen mitteilen.«

»Welche Neuigkeiten? Ist etwas passiert?«, erkundigte sich Leopold besorgt.

»Nein, Schnucki! Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Erika ihn. »Aber ich kenne dich und weiß, wie du reagierst, wenn du morgen Nachmittag heimkommst und ohne Vorwarnung einen fremden Menschen in unserer Wohnung siehst.«

Auch Leopold war müde, aber Erikas Ankündigung machte ihn wieder hellwach. »Ein fremder Mensch? Bei uns? Was soll das?«, stieß er hervor.

Erika ging zurück ins Wohnzimmer, drehte den Fernseher ab und ließ sich auf die Couch fallen. »Das will ich dir eben erklären, Schnucki. Ich hoffe, ich bringe es noch halbwegs zusammen«, bereitete sie ihn sachte vor. »Cordula Theurer ist, das heißt eher war eine gute Freundin von mir. Genau genommen war sie meine Englischlehrerin am Gymnasium, mit der ich auch nach der Matura noch lange Kontakt hatte. Wir haben uns immer wieder getroffen, bis sie aus Wien nach Krems zog. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Heute hat sie mich überraschend angerufen.«

Leopold hatte sich mittlerweile neben Erika gesetzt. »Ihr Mann hat sie rausgeworfen, und jetzt sucht sie eine Bleibe. Das kennt man«, nörgelte er aus Gewohnheit.

»Aber nein«, entgegnete Erika. »Cordula war immer allein, wenn ich mich nicht sehr täusche. Darüber haben wir uns schon in der Schule lustig gemacht. Sie ist jetzt ein paar Tage in Wien, um eine Freundin zu besuchen. Dabei dachte sie, es sei eine gute Gelegenheit, uns nach so langer Zeit wiederzusehen.«

»Und warum geht ihr dazu nicht einfach in ein nettes Lokal?«, wunderte sich Leopold.

Erika seufzte. »Als ich Cordula erzählt habe, dass ich nun mit dir in Floridsdorf lebe und nicht mehr in der Taborstraße, war sie ganz versessen darauf, sich unsere Wohnung anzuschauen. Irgendwie konnte ich nicht Nein sagen. Es war zunächst ohnehin alles für Donnerstag vereinbart, wo du Spätdienst hast. Da ist ihr plötzlich eingefallen, dass das bei ihr nicht geht. So haben wir es auf morgen verschoben. Es war doch schwer möglich, es ihr wieder auszureden.«

»Das sind die typisch weiblichen Schwächen«, ärgerte sich Leopold. »Man lädt nicht ein, man behauptet vielmehr, man hat zu Hause einen Wasserrohrbruch!«

»Ich habe befürchtet, dass du so reagierst. Aber es ist nun einmal nicht mehr zu ändern«, setzte ihm Erika auseinander. »Sieh bitte nicht gleich in jedem dir unbekannten Menschen, der den Fuß über unsere Schwelle setzt, einen Feind. Cordula ist eine ausgesprochen liebenswürdige Frau, die sich auf geistreiche Konversation versteht.«

»Ich habe nicht die Absicht, viele Worte mit ihr zu wechseln«, kündigte Leopold an.

»Das musst du auch nicht. Du musst dich nur halbwegs ordentlich benehmen«, appellierte Erika an ihn. »Und damit Schluss der Debatte! Ich habe keine Lust, um diese Zeit noch weiter mit dir darüber zu diskutieren. Ich wollte dich nur von der neuen Situation in Kenntnis setzen, damit du mir morgen nicht aus allen Wolken fällst.« Sie wusste, dass es das Beste war, Leopold vor vollendete Tatsachen zu stellen und ihm damit den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Auch jetzt gab er schließlich klein bei. »Ich kann mich ja anfangs ein wenig zu euch setzen«, bot er an. »Aber ihr werdet sicher auch ein paar Dinge untereinander besprechen wollen. Da ziehe ich mich dann ein wenig zurück.«

Jetzt lag ein zartes Lächeln auf Erikas Lippen. »Klingt schon besser«, räumte sie ein. »Du wirst sehen, es wird ein gemütlicher Nachmittag. Und Topfenstrudel mit Vanillesoße gibt’s auch.«

Leopold kratzte sich am Kopf. »Dann ist ja beinahe alles in Ordnung«, murmelte er undeutlich.

»Das will ich auch meinen«, äußerte Erika zufrieden.

Kapitel 2

Mittwoch, 22. Mai

Leopold konnte die Ruhe im Café Heller am nächsten Vormittag nicht so recht genießen. Seiner Meinung nach handelte es sich um die berühmte Ruhe vor dem Sturm, den das von Frau Heller angekündigte Kennenlernspiel für Senioren auslösen würde. Er hatte diesbezüglich bereits eine Liste von Befürchtungen, was alles passieren konnte, in seinem Hirn abgespeichert.

Weshalb benötigte man heutzutage überhaupt das Internet oder eine organisierte Veranstaltung, um zwei Herzen einander näherzubringen? Viele ältere Menschen kamen täglich alleine hierher und blätterten in ihrer Zeitung oder blickten gedankenverloren zum Fenster hinaus, während sie ihren Kaffee tranken. Aber keinem der Männer fiel es ein, eine Frau zu fragen, ob er sich zu ihr setzen dürfe, und keine der Frauen dachte auch nur einen Augenblick daran, einen Mann mit einem Lächeln dazu zu ermuntern. Das höchste der Gefühle an Kommunikation war ein Gespräch mit Sohn, Tochter, Neffen oder Nichte via Handy. Schließlich ging man so allein nach Hause, wie man gekommen war. Dort loggte man sich dann bei einer Partnerbörse ein oder meldete sich für ein Dating an, um das zu bekommen, was man vielleicht schon die ganze Zeit in unmittelbarer Nähe gehabt hatte.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Leopold ein Auge auf solche Gäste gehabt, wenn sie seiner Meinung nach zusammenpassten. Er hatte einer eintretenden Dame gegenüber in so einem Fall kurzerhand alle freien Tische für reserviert erklärt und sie gebeten, ausnahmsweise bei dem Herrn Platz zu nehmen, den er für sie auserkoren hatte. Nicht nur einmal war daraus eine Verbindung fürs Leben entstanden. Heutzutage würde das wohl nicht mehr klappen. Wahrscheinlich würde die Dame das Kaffeehaus entrüstet verlassen und ein paar Tage nicht wiederkommen.

Die Zeiten hatten sich eben geändert. Die Jungen standen nur ein paar Meter voneinander entfernt, aber statt miteinander zu reden, tauschten sie übers Handy Botschaften miteinander aus. Aber die Alten waren auch nicht mehr viel besser. Kein Wunder, dass sich nun jeder ein schnelles Glück durch so ein elektronisches Kastl erhoffte. Man vergaß darüber langsam, dass es auch anders ging.

Leopold wurde durch eine pummelige Dame mit krausgelocktem Haar aus seinen Gedanken aufgeschreckt, die geschäftig zur Tür hereinkam und sich schnurstracks auf ihn zubewegte. »Ich muss dringend zu Frau Heller«, gab sie ihm zu verstehen. Es klang so, als dürfe keine Sekunde ihrer kostbaren Zeit verschwendet werden.

Noch ehe Leopold darauf reagieren konnte, schickte sie sich an, hinter die Theke und in die kleine Kaffeehausküche zu gehen. Er konnte sich ihr gerade noch rechtzeitig in den Weg stellen. »Derzeit leider unmöglich«, entgegnete er schroff.

»So lassen Sie mich doch vorbei«, schnauzte sie ihn an und versuchte, ihn zur Seite zu schieben. »Ich habe einen Termin!«

»Unser ganzes Leben besteht aus Terminen«, versuchte er, ihr klarzumachen. »Trotzdem darf ich Sie ersuchen …«

Da bekam er einen kräftigen Schubser von hinten und musste aufpassen, nicht auf die drängende Frau vor ihm zu fallen. Es war Frau Heller, die aus ihrer kleinen Küche geeilt kam. »Frau Matejka! Wie schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, noch vor dem Iffent einen Sprung bei uns vorbeizuschauen«, strahlte sie. »Gehen Sie aus dem Weg, Leopold, und machen Sie sich nützlich! Sie trinken doch ein Glas Prosecco mit mir, meine Teuerste?«

Susanne Matejka zierte sich. »Ich habe nicht viel Zeit. In erster Linie möchte ich mir ein Bild von den Gegebenheiten für die morgige Veranstaltung machen. Man muss immer wissen, womit man es zu tun hat, dann geht alles ganz leicht. Unsere Teilnehmer sollen sich wohlfühlen, sie sind ohnehin nervös genug.«

»Ich bin mir sicher, es geht sich nachher noch ein Gläschen aus«, ließ sich Frau Heller nicht beirren. »Unsere Besichtigung wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Das räumliche Umfeld ist mehr oder minder vorgegeben. Der hintere Teil des Lokals steht zu Ihrer alleinigen Verfügung. Die Kartenspieler werden eben warten müssen, bis unser Iffent vorüber ist. Zur Not dürfen sie provisorisch den einen oder anderen Tisch im vorderen Bereich benützen.«

»Die Billardspieler könnten aber auch stören«, gab Frau Matejka mit erhobenem Zeigefinger zu bedenken. »Der Abstand zwischen dem letzten Spieltisch und unserem Bereich ist zu knapp, das sehe ich jetzt schon.«

»Dann werde ich dort eben niemanden spielen lassen«, entschied Frau Heller. »Ich kann Ihnen auch einen Paravent zur Verfügung stellen. Dann sind Sie ganz ungestört.«

»Das halte ich für keine gute Idee«, befand Susanne Matejka. »Das erzeugt unter Umständen ein Gefühl der Beengtheit, das in einer Situation, wo man sich seinem Gesprächspartner gegenüber frei und ungezwungen verhalten soll, fehl am Platz ist. Ich sehe schon, ich muss mir das Ganze genauer anschauen.«

Leopold schüttelte nur den Kopf, als er den beiden Frauen bei ihrem Gang nach hinten zusah. »Da wird morgen einiges auf uns zukommen«, stöhnte er. »Die Leute werden nicht einsehen, dass sie auf einmal nicht spielen können, denn deswegen kommen sie ja her. Ich verstehe, dass man keinen großen Rummel haben möchte. Aber eine rechtzeitige Ankündigung hätte trotzdem nicht geschadet.«

Ein Gast, der die Zeitung zurückbrachte, in die er bis jetzt vertieft gewesen war, tippte ihn kurz an. »Es kann nicht gut gehen«, warnte er. »Nicht, wenn das stimmt, was ich aus dem letzten Teil des Gesprächs herausgehört habe, nämlich dass diese Frau für die Durchführung eines Ereignisses im Café Heller zuständig ist.«

»Sie kennen die Dame, Herr Bär?«, erkundigte sich Leopold neugierig.

»Und ob, und zwar aus meiner Zeit bei den Weinviertler Nachrichten«, schilderte Siegmund Bär. »Sie ist als Organisatorin völlig ungeeignet, weil sie alles durcheinanderbringt. Was sie anordnet, stößt sie nach ein paar Minuten wieder um. Das führt zu einem heillosen Chaos, bei dem sich keiner mehr auskennt. ›Susanne, Susanne, wann kommt die nächste Panne‹, haben wir untereinander immer gesungen. Nach etlichen Hoppalas hat sie nur mehr unbedeutende Redaktionsarbeit verrichten dürfen und unser Blatt dann verlassen. Seltsam, dass sie wieder bei einer Zeitung untergekommen und dort offenbar für den Veranstaltungsbereich zuständig ist. Worum geht es denn eigentlich?«

»Um eine Kaffeejause, bei der sich Herz zu Herz finden soll. Ich glaube, es nennt sich ›Speeddating für Senioren‹«, gab Leopold Auskunft.

Siegmund Bär griff sich mit der Hand auf die Stirn. »Oje! Ich sehe einen überaus anstrengenden Nachmittag auf Sie zukommen, Leopold«, gab er seiner Besorgnis Ausdruck. »Nehmen Sie sich frei oder werden Sie krank! Das ist die einzige Möglichkeit, dem Chaos zu entgehen.«

Leopold zuckte mit den Achseln. »In meinem Beruf kann man es sich leider nicht immer aussuchen«, bedauerte er. »Aber andererseits klingt es schon wieder interessant. Bei unübersichtlichen Situationen kann eine Menge passieren.«

»Naja, Mord wird’s schon keiner werden«, schmunzelte Bär. »Das schafft nicht einmal die Matejka.«

»Wer weiß, wer weiß«, orakelte Leopold, während Bär zahlte und ging.

Unterdessen kamen die beiden Damen wieder zur Theke nach vor. »Was ist mit dem Prosecco?«, fragte Susanne Matejka ungeduldig. »Ich bin schon ganz durstig.«

»Haben Sie nicht gehört, Leopold? Bringen Sie sofort zwei Gläser Prosecco«, ordnete Frau Heller unverzüglich an. »Sie sollten schon längst auf dem Tisch stehen!«

Zuerst will sie nichts trinken, dann hat sie es damit auf einmal gnädig, dachte Leopold bei sich. Siegmund Bärs Einschätzung von Frau Matejka traf also zu. Damit bestätigte sich auch Leopolds erste Befürchtung: Es würde am morgigen Nachmittag niemand da sein, der in der Lage war, lenkend einzugreifen, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen.

*

Während es Frau Heller bei einem Glas Prosecco beließ, genehmigte sich Susanne Matejka deren drei. Dabei schnatterte sie die ganze Zeit ungebremst dahin. Der Paravent wurde von ihr zweimal in Erwägung gezogen und ebenso oft wieder verworfen. Einmal sollte das Billardspielen während der Veranstaltung generell verboten werden, dann wieder nur am hintersten Tisch. Und einmal war die Rede von jeweils fünf männlichen und weiblichen Teilnehmern, dann wiederum nur von vier. Mit jedem Glas wurden Susanne Matejkas Ausführungen nebuloser. Frau Heller nickte stets bestätigend mit dem Kopf und versicherte: »Es wird auf jeden Fall ein wunderbares Iffent!« Schließlich trippelte die Matejka schwankend und mit heiterem Blick, der sich nur kurz trübte, als ihr Leopold noch einmal über den Weg lief, zur Tür hinaus.

Frau Heller begab sich in ihre kleine Küche, um den Mittagsteller, diesmal ein Szegediner Krautfleisch, zuzubereiten. Da betrat ein Mann, der mit seinem schütteren Haar älter aussah als die 30 Jahre, die er zählen mochte, das Kaffeehaus und steuerte geradewegs auf Leopold zu. »Sind Sie der Chef hier?«, fragte er. Er wirkte angespannt und hektisch.

Leopold schaute sich um. Frau Heller war in der Küche, ihr Mann weiß Gott wo. »Im Augenblick ja«, antwortete er deshalb. »Womit kann ich dienen?«

»Sie müssen es verhindern«, platzte es aus dem Mann heraus.

»Und was, bitte schön?«, erkundigte Leopold sich.

»Bei Ihnen findet doch morgen ein Speeddating statt!«

Leopolds Befürchtung Nummer zwei schien sich damit ebenfalls zu bewahrheiten: Trotz aller Bemühungen, nur einen kleinen Personenkreis von diesem Ereignis in Kenntnis zu setzen, war es offenbar schon in aller Munde. »Woher wollen Sie das wissen?«, stellte er sich dumm.

»Weil mein Vater daran teilnehmen möchte. Und ebendas müssen Sie unterbinden«, entgegnete der Mann ungeduldig.

»Sollte morgen tatsächlich ein Speeddating bei uns über die Bühne gehen, stehen die Teilnehmer fest«, stellte Leopold klar. »Wenn Ihr Vater sich dafür angemeldet und einen entsprechenden Beitrag gezahlt hat, wüsste ich nicht, weshalb ich ihn davon abhalten sollte.«

»Weil er sonst wieder in sein Unglück rennt«, behauptete sein Gegenüber verzweifelt.

»Das müssen Sie mir genauer erklären«, forderte Leopold den Mann auf, während er ihn in den mittags noch schütter besetzten hinteren Teil des Café Heller lotste. »Am besten, Sie sagen mir einmal, wer Sie sind und wie Ihr Vater heißt, nehmen hier Platz, bestellen etwas und warten, bis ich damit komme.«

»Wir heißen Franz und Gabriel Schaffer. Der Franz bin ich«, gab der Mann an und ließ sich auf einen Sessel fallen. »Bringen Sie mir bitte einen starken Kaffee.«

Leopold fragte gar nicht erst lang, welche Art Kaffee es denn sein sollte, sondern brachte einen großen Schwarzen nach hinten. Gierig schlürfte Schaffer von der heißen Brühe. Es schien ihn zu beruhigen.

»Worin genau besteht denn Ihr Problem?«, animierte Leopold ihn nun, ihm sein Herz auszuschütten.

»Nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater wie ausgewechselt«, begann Schaffer. »Ein paar Wochen lang hat er getrauert und deprimiert gewirkt. Doch dann hat er schnell nach Möglichkeiten gesucht, wieder eine Partnerin an Land zu ziehen. Leider war er dabei überhaupt nicht wählerisch. Die ersten Liebschaften dauerten nur sehr kurz, doch dann kam es zu einer längeren Bindung. Diese Frau hatte ihn total im Griff. Das war furchtbar! Ich merkte, dass er nur ein Spielball in ihren Händen war. Er hatte ihr gegenüber keinen Willen, verstehen Sie? Er reagierte bloß auf ihre weiblichen Reize.«

»Das ist doch im Grunde genommen nichts Schlimmes«, warf Leopold ein. »Außer sie war bedeutend jünger als er und machte ihn zum Narren.«

»Nein, nein, der Altersunterschied war nicht das Problem. Aber es war geradezu lächerlich, wie sie mit ihm tun konnte, was sie wollte, wenn sie sich ihm nur hingab«, beklagte Schaffer sich und verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. »Mein Vater ist leider für sein Alter noch sehr potent. Eine Frau, die ihn dementsprechend befriedigt, kann ihm dafür ganz schön das Geld aus der Tasche ziehen. Er hat ihr sogar Wertsachen von meiner Mutter geschenkt! Irgendwann war es mir zu dumm, und ich habe ein Machtwort gesprochen.«

»Hat das geholfen?«, erkundigte sich Leopold.

Schaffer nickte. »Ich stellte ihn vor die Alternative: Entweder diese Frau geht, oder wir sind geschiedene Leute. Das war verdammt hart. Aber er dachte dann offenbar einmal kurz nach und hatte eine Aussprache mit ihr. Diese Unterhaltung dürfte nicht ganz fein abgelaufen sein. Jedenfalls merkte er, dass die Dame in erster Linie auf sein Hab und Gut aus war, und wir waren sie endlich los.«

»Ich verstehe«, kombinierte Leopold. »Jetzt haben Sie Angst, dass ihm so etwas noch einmal passieren könnte.«

»Das steht praktisch fest«, behauptete Schaffer. »Seit dem Ende der unglücklichen Affäre hat mein Vater nur eines im Sinn: eine neue Liaison. Darum muss ich verhindern, dass er morgen bei dem Dating einen neuen Unfug macht.«

»Eines verstehe ich nicht«, wandte Leopold ein. »Wenn Ihr Vater derart beziehungssüchtig ist, wird er irgendwie ohnehin bald zu einer neuen Partnerin kommen und dabei nicht sehr wählerisch sein. Ist es da nicht völlig egal, ob das morgen bei dem Dating geschieht oder anderswo?«

»Nein«, brüllte Schaffer ihm unbeherrscht ins Gesicht. Er nahm sich aber gleich wieder zurück. »Entschuldigen Sie, ich habe mich gehen lassen«, bedauerte er. »Das kommt bei mir in letzter Zeit leider öfters vor. Die letzte Beziehung meines Vaters hat mich eben sehr mitgenommen. Daher kommt auch mein Wunsch, einen gewissen Einfluss auf die Wahl seiner nächsten Partnerin auszuüben. Er sollte sich zumindest mehr Gedanken dabei machen und zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden. Bei diesem Dating gibt es nur eine begrenzte Auswahl. Da stürzt sich mein Vater bestimmt Hals über Kopf ins nächste ungewisse Abenteuer. Er wird es nicht ertragen, ohne Beute von dort wegzugehen. Und dann nimmt das Unglück erneut seinen Lauf.«

»Sie haben wirklich reges Interesse am Privatleben Ihres Vaters«, stellte Leopold fest. »Wirklich nur aus Sorge um ihn und Ihre Nerven? Oder geht es dabei auch um Geld, das Sie verlieren könnten, wenn er noch einmal heiratet?«

Schaffer versuchte ein verkrampftes Lächeln. »Überhaupt nicht«, stritt er diese Möglichkeit gleich ab. »Warum muss immer gleich das liebe Geld als Grund für etwas herhalten? Ich bin im Augenblick einfach nervös – hochgradig nervös!« Plötzlich kam ihm eine Idee. »Sind Sie morgen während der Veranstaltung da?«, wollte er von Leopold wissen.

»Selbstverständlich«, kam unverzüglich die Antwort.

»Dann könnten Sie doch ein wenig auf meinen Vater aufpassen, wenn seine Teilnahme schon nicht mehr zu verhindern ist«, bat Schaffer. »Es würde mich beruhigen – zumindest für den Augenblick. Sie müssten nur schauen, wen er zu seiner Favoritin kürt, und sich ein charakterliches Bild von der Dame machen. Anschließend versuchen Sie, ihm Näheres zu ihrer Person herauszulocken. Es wird nicht schwer sein, er ist sehr redselig. Schließlich schicken Sie mir eine zusammenfassende Info aufs Handy.«

»Ich werde nicht viel Zeit dafür haben. Ich muss arbeiten«, gab Leopold zu bedenken.

»Sie sind doch der Chef, oder?«, staunte Schaffer.

Leopold fühlte sich im Augenblick zu geschmeichelt, um ihm die wahren Verhältnisse auseinanderzusetzen. »Es gibt immer was zu tun«, antwortete er ausweichend. »Gerade bei solchen … Events.«

»Aber Sie können es sich doch einteilen«, bearbeitete Schaffer ihn.

»Das ja«, räumte Leopold ein. Die Sache begann ihn zu interessieren. Sie bot angesichts der derzeitigen Flaute an Morden eine willkommene Gelegenheit, seine detektivischen Fähigkeiten nicht einrosten zu lassen. »Ich werde es halt versuchen. Aber versprechen kann ich nichts. Und ein Foto sollten Sie mir zur Sicherheit auch schicken.«

Schaffer wirkte erleichtert. »Danke! Damit nehmen Sie eine große Last von meinen Schultern«, freute er sich. »Ich bin mir sicher, Sie werden alles herausfinden, was für mich wichtig ist. Hier sind meine Kontaktdaten.« Er überreichte Leopold seine Karte und gab ihm gleichzeitig einen Fünfeuroschein für den Kaffee. Der steckte beides ein, rückte ebenfalls mit seiner Karte heraus und behielt das Restgeld stillschweigend für sich. »Kommen Sie morgen bitte nicht hierher. Es hätte überhaupt keinen Sinn«, schärfte er Schaffer vorsichtshalber noch ein.

»Sie müssen mich aber so schnell wie möglich verständigen, mit sämtlichen Details, die Ihnen aufgefallen sind!«

Leopold nickte. Im Geist hakte er bereits seine Befürchtung Nummer drei ab: Er steckte auf einmal mittendrin in der unübersichtlichen Dating-Geschichte, ohne so richtig zu wissen, warum.

*

Leopolds Dienst ging um 14 Uhr zu Ende. Normalerweise freute er sich auf den freien Nachmittag. Er holte Erika Haller dann aus ihrer Buchhandlung Lederer, die sich gleich in der Nähe befand, ab, und sie unternahmen noch etwas gemeinsam. Diesmal verließ er das Café Heller jedoch schweren Herzens. Der Besuch von Erikas Freundin, Cordula Theurer, stieß ihm sauer auf. Die beiden Frauen würden stundenlang über alles Erdenkliche reden, das ihn überhaupt nicht interessierte. Er musste schön brav danebensitzen, sich alles anhören und dabei ab und zu zum Zeichen seiner Anteilnahme nicken. Wenn er Pech hatte, würde ihn Erika zwischendurch unerwartet fragen: »Und was denkst du darüber, Schnucki?« Er musste dann hoffen, dass es genügte, ihre Hand zu halten und zu sagen: »Ich bin ganz deiner Meinung, liebe Erika!«

Der Nachmittag würde sich jedenfalls ziehen wie ein Strudelteig. Nicht einmal seine Zeitung würde er lesen können, denn das würden ihm die Damen sofort als unhöflich ankreiden. Als ob es höflich war, ihm den Kopf mit Dingen voll zu labern, von denen er keine Ahnung hatte, wie Mode, alte Erinnerungen oder Kochrezepte. Das Thema, das ihn im Augenblick am meisten beschäftigte, würde er ohnehin nicht anschneiden können: die vielen kleinen Krisen, die sich zu einer großen Krise summierten. Das würde von ihnen als zu negativ empfunden werden. Es würde ihm also nichts anderes übrig bleiben, als sich, umgeben von heiteren Mienen und einer Aura des Positiven, zu Tode zu langweilen.

Als er zu Hause ankam, saßen Erika Haller und Cordula Theurer bereits bei Kaffee und Kuchen. Sie ließen sich Erikas köstlichen Topfenstrudel mit Vanillesoße gut schmecken. »Wir haben ohne dich angefangen, Schnucki«, ließ Erika Leopold wissen. »Aber du bist entschuldigt. Ich habe Cordula mitgeteilt, dass es meistens etwas dauert, bis du aus dem Kaffeehaus wegkommst.«

Cordula Theurer schmunzelte. Ihre listigen kleinen Augen funkelten. Trotz ihres Alters und einiger Kilos zu viel wirkte sie äußerst lebendig. Leopold gewann gleich einen viel positiveren Eindruck von ihr, als er befürchtet hatte. »Es ist bei Ihnen offenbar wie bei uns Lehrern«, führte sie an. »Immer kommt noch jemand oder etwas daher, wenn man glaubt, fertig zu sein und gehen zu können.«

»Im Café Heller ist halt immer was los«, erwähnte Leopold. »Morgen haben wir wieder eine Veranstaltung. Erstmals findet bei uns ein Speeddating für reifere Jahrgänge statt.«

Cordula Theurer zog ihre Augenbrauen zusammen. »Das ist aber interessant«, befand sie. »Wie doch der Zufall so spielt! Eigentlich ist das mit ein Grund, weshalb ich hier bin.«

»Nimmst du etwa daran teil?«, fragte Erika neugierig.

»Nein, aber die Frau, bei der ich in den nächsten Tagen wohne, Elisabeth Palla«, erklärte Cordula. »Sissi war eine meiner ersten Schülerinnen. Sie ist nur wenige Jahre jünger als ich. Verzeih mir, wenn ich das jetzt sage, liebe Erika, aber mit ihr verbindet mich eine noch tiefere Freundschaft als mit dir. Sie hat bis heute gehalten, auch wenn wir uns aufgrund meiner Übersiedlung nicht mehr so oft sehen wie früher. Vielleicht ist es deswegen, weil sie auch Lehrerin geworden ist. Wir helfen uns gegenseitig immer noch, wo wir können. Elisabeth hat Angst in Zusammenhang mit dem Dating und möchte in den nächsten Tagen nicht alleine sein. Das ist der Grund meines Besuches.«

»Und wovor fürchtet sie sich?«, forschte Leopold. Das Gespräch begann ihn zu interessieren.

»Vor ihrem Ex-Mann Herbert«, antwortete Cordula Theurer, und ihr Gesicht verfinsterte sich dabei. »Obwohl die beiden längst geschieden sind, hat sie immer noch keine Ruhe von ihm. Er verfolgt sie mit seiner Eifersucht. In den letzten Jahren hat sie ein relativ zurückgezogenes Leben geführt, deshalb hielten sich seine Aktionen in Grenzen. Doch jetzt sehnt sie sich wieder nach einem Partner und geht deswegen zu dem Speeddating. Herbert hat das leider irgendwie mitbekommen. Seither quält er sie mit der Ankündigung, er werde etwas unternehmen, wenn sie dort teilnimmt. Sie werde das noch bereuen.«

»Ist sie noch nicht zur Polizei gegangen?«, wollte Leopold wissen.

»Ich bitte Sie, was bringt das?«, verwarf Cordula diese Möglichkeit sofort. »Was soll die Polizei denn tun? Herbert einsperren? Sissi rund um die Uhr überwachen? Das wünscht man sich vielleicht, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Es muss immer erst was passieren, damit etwas geschieht!«

Leopold musterte Cordula ungläubig. »Und Sie wollen sie beschützen?«, erkundigte er sich.

»Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben«, entgegnete sie. »Für mich zählt nur eines: Sissi hat mich gerufen, somit bin ich da! Natürlich bin ich kein richtiger Bodyguard, schauen Sie mich an. Aber ich glaube, das ist auch gar nicht notwendig. Es geht eher darum, dass sie in diesen Tagen nicht allein in der Wohnung ist und jemanden hat, bei dem sie sich aussprechen kann. Herbert wird ihr nichts antun. Er sieht es gern, wenn andere Leute Angst vor ihm haben. Zu einer Gewalttat ist er nicht fähig. Es kann sein, dass er plötzlich betrunken vor ihrer Tür steht und eine Aussprache verlangt, das ist aber auch schon alles. In einem solchen Fall wird sich meine Gegenwart als nützlich erweisen. Ich kann mit schwierigen, vorlauten Typen gut umgehen, das musste ich als Lehrerin ständig.«