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Die Gelegenheit beim Schopfe packen! Ein philosophisches Plädoyer für das Leben im Augenblick Wir haben chronisch zu wenig Zeit – Chronos, der alte Mann mit Sanduhr in der Hand versinnbildlicht das ewige Voranschreiten der Zeit, der wir so oft hinterherhetzen. Dabei hält die griechische Mythologie einen Kontrahenten parat, den es wiederzuentdecken gilt: Begrüßen wir Kairos, mit punkigem Haarschopf gekrönt, jüngster Sohn des Zeus und Gott der günstigen Gelegenheit. Kairos verkörpert das Leben im Augenblick. Doch passen wir nicht auf, entwischt er uns. Um Kairos zu halten, muss man ihn beim Schopfe packen. Bis zum Ende der Renaissance erfreute sich die Figur des Kairos in der Kunst- und Gelehrtenwelt großer Beliebtheit. Wie wurde Kairos rezipiert, welchen Einfluss hatte das kairotische Zeitkonzept auf die Menschen und wie konnte es in Vergessenheit geraten? Joke J. Hermsen nimmt uns mit auf eine rasante Reise durch die Philosophiegeschichte der Zeit und zeichnet dabei ein beindruckendes Plädoyer für mehr kairotische Momente in unserem durchgetakteten Leben. »Kairos war die Zeit, auf die es ankam, die Zeit, die Chancen bot oder für einen Durchbruch zu sorgen wusste. Er stand sinnbildlich für all die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und der Entschlossenheit, die das Leben so besonders machen.« Joke J. Hermens, Kairos
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Seitenzahl: 449
Die niederländische Originalausgabe erschien 2014 unter dem TitelKairos. Een nieuwe bevlogenheid bei Uitgeverij De Arbeiderspers, Amsterdam.
Deutsche Erstausgabe
© 2014 by Joke J. Hermsen
© 2023 by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg
Coverabbildung von wikimedia.org / Francesco Salviati - L'Ange de la Justice
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749906307
www.harpercollins.de
Für Rodante und Sebald
»Denken heißt Überschreiten.«
– Ernst Bloch
»Unsere Hoffnung hängt immer an dem Neuen, das jede Generation bringt.«
– Hannah Arendt
»Die Hoffnung ist der Traum des Wachenden.«
– Aristoteles
© wikimedia.org / Francesco Salviati – L'Ange de la Justice
Kairos (1552–1554) Francesco de’ Rossi. Detail eines Freskos im Palazzo Sacchetti in Rom
1
DAS WIEDERAUFLEBEN DES KAIROS
Die sonderbare Figur mit geflügelten Schultern und Füßen, die auf dem Titelblatt dieses Buches prangt, ist für Leser und Leserinnen des 21. Jahrhunderts nicht so leicht einzuordnen. Handelt es sich um einen Engel oder um einen daimon aus der Antike oder doch eher um eine Märchenfigur oder eine allegorische Darstellung aus dem Mittelalter? Und warum steht sie tief gebeugt da und blickt in äußerster Konzentration auf die Waage, die sie in ihrer Hand hält? Sicherlich nicht, weil sie eine kalorienarme Ernährung empfehlen will. Nein, was das angeht, kann ich Sie beruhigen. Die Waage, die manchmal auch auf der scharfen Schneide eines Messers balanciert, verweist auf das äußerst sorgfältige Abwägen des günstigen Augenblicks, der guten Gelegenheit und der richtigen Argumente. Sollte sie dann mit Themis, der Göttin der Gerechtigkeit, verwandt sein, die oft mit einer ähnlichen Waage abgebildet wird? In der Tat, sie hat sehr wohl etwas mit ihr gemeinsam, sie hilft uns nämlich vor allem dabei, in vielen, auch juristischen, Angelegenheiten, »das rechte Maß« zu finden.
Außerdem ist unsere Figur mit Hermes verwandt, der als Götterbote und Beschützer der Reisenden ebenfalls geflügelte Füße hatte. Wie Pausanias berichtet, stand er einst brüderlich neben ihm im Tempel von Olympia, der beider Vater Zeus geweiht war: »In direkter Nähe des Eingangs zum Olympiastadion standen zwei Altäre: Der eine wird der Altar des Hermes der Spiele genannt, der andere der Altar der Möglichkeit oder Chance.« 1 Aber die Figur unterscheidet sich auch von Hermes, denn ihr Kopf ist, bis auf die eine lange Locke, die ihr anmutig in die Stirn fällt, kahl geschoren. Sie trägt einen so merkwürdigen Punk-Haarschnitt, weil derjenige, dem sie blitzartig erscheint, ja dazu imstande sein muss, sie an ihrer Locke zu packen, bevor das Momentum wieder verflogen ist. Wer zu lange zaudert oder zögert, dessen Hände gleiten von ihrem kahlen Schädel ab, und die Chance auf Erkenntnis, Ruhm oder die ultimative Gelegenheit, sein Leben zu verändern, ist vertan. Die hier dargestellte Gestalt ist kein Geringerer als der jüngste Sohn des Zeus: Kairos, auch bekannt als »der Gott des rechten Augenblicks«. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts beflügelte dieser mythische Gott der Zeit die Fantasie mancher Philosophen, Theologen, Ärzte oder Dichter, denn Kairos war die Zeit, auf die es ankam, die Zeit, die Chancen bot oder für einen Durchbruch zu sorgen wusste. Er stand sinnbildlich für all die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und der Entschlossenheit, die das Leben so besonders machen.
Aufmerksamkeit, Ruhe und das sorgfältige Abwägen von Argumenten und Umständen waren die wichtigsten Voraussetzungen dafür, einen kairotischen Moment zu schaffen. In der Antike stand er sowohl für ein gutes »Timing« als auch für das Ergreifen oder Nutzen der guten Chance oder Gelegenheit, die sich einem dank Konzentration, Wachsamkeit und dem Beachten des spezifischen Kontextes eröffnen konnte. Eigentlich war Kairos eine Strategie, um sich von Chronos zu befreien, dem anderen griechischen Gott der Zeit, der die Stunden zählt und sie unerschütterlich verrinnen lässt und damit Ordnung und Struktur in die Welt bringt, uns aber auch das Muster der ewigen Wiederholung des Gleichen auferlegt. Während Chronos Kontinuität bedeutet, steht Kairos gerade für eine zeitweilige Unterbrechung dieser Kontinuität. Innerhalb dieses Intervalls vergessen wir gleichsam die Uhrzeit und treten in eine andere Zeiterfahrung ein, die unerwartete Einsichten für uns bereithält. Wir werden nicht mehr von Chronos gehetzt; uns eröffnet sich eine Dimension der Zeit, die sich nicht nur wohltuender, weil voller und weiter, anfühlt, sondern uns auch neue Möglichkeiten vor Augen führt. Deshalb spielte dieser Gott der Zeit eine so wichtige Rolle, und deshalb gab er in zahlreichen Disziplinen das »rechte Maß« für das Handeln an.
Kairos war in der griechischen Mythologie der jüngste und rebellischste Enkel des Chronos; er besaß die Fähigkeit, Veränderung, Einsicht und Umkehr herbeizuführen, und wird daher als junger, starker und muskulöser Gott dargestellt. Großvater Chronos wird als alter Mann mit langem Bart und einer Sanduhr in seiner Hand abgebildet, denn bei ihm geht es schließlich um die Messung der Zeit. Diese Zeit ist nur messbar, wenn jede Zeiteinheit, jede Stunde, jede Minute, unabhängig von den Umständen, der persönlichen Zeiterfahrung oder der bereits verstrichenen Zeit, gleich ist. Chronos ist die praktische Zeit, mit der wir die Welt organisieren, Verabredungen treffen und Terminkalender führen, aber sie ist auch eine homogene und »leere Zeit«, wie der deutsche Philosoph Paul Tillich in dem Aufsatz »Kairos und Logos« (1926) schrieb 2 , weil sie weder der Veränderlichkeit der Welt noch unserer subjektiven Zeiterfahrung gerecht werden kann. Eine Stunde kann je nach unserer Stimmung, unserem Lebensalter oder unserer Tätigkeit dahinkriechen oder dahinrasen, sich beschleunigen oder verlangsamen, aber auf der Uhr ist jede Stunde gleich. Die Kunst des Kairos besteht darin, sich durch Fokussierung der Aufmerksamkeit zeitweilig davon zu lösen, sodass eine Öffnung oder ein Intervall in der Chronos-Zeit entsteht, in dem eine andere Zeiterfahrung möglich wird. Während Chronos für die universelle, statische und quantitative Zeit steht, die notwendig ist, um die Zeit in einen linearen Zusammenhang zu versetzen, steht Kairos für den subjektiven, dynamischen und qualitativen Moment, der gerade den spezifischen und sich ständig verändernden Umständen Rechnung trägt und darum auch zu einem Wandel der Erkenntnis führen kann.
Kairos hat also weder etwas mit dem Zählen von Sekunden oder Minuten zu tun noch mit der Aneinanderreihung von Momenten zu einer kontinuierlichen, chronologischen Linie, sondern transzendiert diese vielmehr und vermag während des Intervalls Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Fülle eines ekstatischen Augenblicks 3 zu verbinden, wie Martin Heidegger in Sein und Zeit (1927) schrieb. Was sich im Kairos-Moment als »Ereignis« offenbart, ist nichts Geringeres als die Authentizität des Daseins, d. h. der authentischste Seinszustand des Menschen, denn nur dann ist sein »In-der-Welt-Sein« mit der »Fülle« der Zeit verbunden. Heidegger nennt diesen Moment auch das »Anfängliche« 4 , die Zeit, die uns neue Möglichkeiten eröffnet, weil sich im Kairos-Moment der »Zwischenzeit« ein Bruch mit bzw. eine Zäsur in der Chronos-Zeit ereignet. Heidegger nimmt hier die Idee der klassischen griechischen Philosophen wieder auf, für die Kairos »die beste Gelegenheit« bot, um eine Wende in irgendeinem Bereich in Gang zu setzen. Der Kairos-Moment kann mit dem sogenannten Heureka-Moment des Archimedes verglichen werden, der »heureka heureka« (ich habe es gefunden) rufend durch die Straßen von Syrakus rannte, als er das Gesetz der Auftriebskraft eines Körpers entdeckt hatte.
Kairos kann aber auch mit dem Prinzip der Serendipität in Verbindung gebracht werden, das in der Wissenschaft als »die Gabe, unerwartet etwas Gutes zu entdecken« gilt, wie es der Soziologe Robert Merton in The Travels and Adventures of Serendipity nennt. 5 Es bezieht sich auf die überraschende Beobachtung einer unbekannten Tatsache, die den Anlass für die Entwicklung einer neuen Theorie bildet. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Alexander Fleming, der zufällig Penicillin entdeckte, als er beim Aufräumen seines Labors bemerkte, dass ein Schimmelpilz in einer Petrischale das Wachstum von Bakterien hemmte. Hierbei spielten Zufall und Glück eine entscheidende Rolle, aber auch seine Intuition, Aufmerksamkeit und Klugheit. Fleming war nicht auf der Suche nach Penicillin, aber er ging auch nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt, er wusste sich für das Unerwartete offenzuhalten und die Möglichkeiten, die sich ihm in diesem Moment darboten, zu ergreifen. Er musste einerseits den Mut haben, die vorherrschenden Theorien infrage zu stellen, andererseits aber auch gut darauf vorbereitet sein, als ihm der Moment »zufiel«. Auch Louis Pasteur behauptete, dass die Fähigkeit, im »rechten Moment« staunen zu können, der erste Schritt der Erkenntnis sei.
In der Antike stand Kairos für all jene außergewöhnlichen Momente, in denen das Denken eine andere Wendung nehmen konnte, und wurde daher für mächtiger und einflussreicher gehalten als Chronos, obwohl beide als vertikale und horizontale Achse der Zeit immer miteinander verbunden blieben. Sie bildeten die beiden Gesichter der Zeit, die nicht je für sich oder unabhängig voneinander betrachtet werden konnten. Es geht hier also nicht um eine Entscheidung für die eine oder andere Zeitform, sondern um die Wahrung des Gleichgewichts zwischen beiden, weshalb Kairos auch immer eine Waage in der Hand hält. Dieses doppelte Gesicht der Zeit kann meines Erachtens dazu beitragen, unser Denken über die Zeit, das eher einseitig auf die chronologische Uhrzeit ausgerichtet ist, zu erweitern und zu vertiefen. Darüber hinaus ist die Uhrzeit in zunehmendem Maße zu einer ökonomischen Zeit geworden, die einen Zeitmangel und eine Beschleunigung der Zeit erzwingt, wie ich bereits in meinem Buch Stil de tijd (Die Zeit zum Schweigen bringen) gezeigt habe; sie hat uns von einem subjektiveren, kreativeren und vor allem tiefgründigeren Zugang zur Zeit entfremdet. Kairos war bis ins späte Mittelalter ein so umfassendes Konzept, dass es im Grunde in keiner einzigen modernen Sprache noch mit einem Wort zu fassen ist, meint Phillip Sipiora, der 2002 die Aufsatzsammlung Rhetoric and Kairos veröffentlichte. Aber die Bedeutung, die dieser Zeiterfahrung beigemessen wurde, war und ist so groß, dass es an der Zeit ist, sie einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Auch schon deshalb, weil sie seit einigen Jahren plötzlich überall wieder thematisiert wird, in philosophischen und wissenschaftlichen Studien ebenso wie in Comics, politischen Bewegungen und kulturellen Manifestationen.
Das Fresko des Kairos, das auf dem Umschlag des Buches abgebildet ist, wurde um 1552 von dem florentinischen Maler Francesco Salviati (1510–1563) geschaffen und ziert noch heute die Wände des Palazzo Sacchetti in Rom. Es sollte für lange Zeit die letzte Darstellung des Kairos bleiben, denn diese mythische Darstellung trat in dem Maße, in dem das wissenschaftliche Denken der Aufklärung an Boden gewann, in den Hintergrund. In Salviatis Fresko hängen über Kairos’ Kopf all die Verheißungen, die uns erwarten, wenn es uns gelingt, den rechten Moment zu ergreifen: Krüge voller Wein, Körbe mit Obst und Helme als Trophäen für militärische Siege. Die Botschaft ist klar. Kairos beschenkt uns großzügig, wenn wir ihm zuzuhören vermögen. Er überlädt uns mit fruchtbaren Einsichten und glorreichen Siegen, wenn wir uns gut genug auf sein Kommen vorbereiten und es uns gelingt, ihn beim Schopfe zu packen; und er verleiht denen Flügel, die den Mut aufbringen, ihm ins Gesicht zu blicken. Einige Jahrzehnte, bevor Salviati sein Fresko malte, sammelte Erasmus in seinen Adagia aus dem Jahr 1508 verschiedene griechische und römische Sprichwörter und Redensarten über Kairos. Er war der Ansicht, dass Kairos das »Heilmittel für alles, selbst für unheilbare Krankheiten« sei und die herausragende kreative Kraft, die »alles verändern« könne. 6 Den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, war laut Erasmus unabdingbar, um richtig zu handeln. Erst wenn man des Kairos gewahr wurde, konnte man nicht nur das wahre Wesen der Zeit erkennen, sondern auch die spezifische und zeitgebundene Situation gut ergründen und sich so der neuen Möglichkeiten bewusst werden, die sie darbot.
Die französische Altphilologin Monique Trédé gibt in ihrem Buch Kairos. L’À-propos et l’occasion [Der Zweck und die Gelegenheit] als eine der ersten europäischen Wissenschaftlerinnen einen umfassenden Überblick über die Bedeutung des Begriffs Kairos. Für Hesiod, nach Homer der älteste uns bekannte griechische Dichter, war Kairos einfach »alles, was für den Menschen gut ist«: »Achte auf das Maß, denn in allen Situationen ist es am besten, den rechten Moment abzuwarten.« 7 Für den griechischen Arzt Hippokrates war Kairos der kritische Moment, in dem ein Arzt eingreifen musste: »Das Leben ist kurz, die Wissenschaft ist groß, aber Kairos ist scharf.« 8 Krisenmomente boten eine hervorragende Gelegenheit, den Kairos bei seinem Schopfe zu packen, denn wenn die Not am größten ist, zwingt uns die Zeit zu einer Unterbrechung, um einen kairotischen Moment zu kreieren und so die Möglichkeit für eine Entschärfung der Krise zu schaffen. Auch in der Kunst und Pädagogik spielte Kairos eine Rolle von immenser Bedeutung. Für Tragödienautoren wie Sophokles und Euripides war Kairos nicht nur eine wichtige Inspirationsquelle, sondern auch »der beste Leitfaden für alle menschlichen Handlungen«. 9 Trédé zitiert auch den Bildhauer Polyklet, der die Rolle des Kairos für das Gelingen eines Kunstwerks wie folgt beschreibt: »In jedem Kunstwerk wird die Schönheit durch das rechte Maß des Kairos vollendet, der für die richtige Symmetrie und Harmonie sorgt.« 10
Die Harmonie, die der Kairos herbeiführen konnte, stand innerhalb der Schule des Pythagoras vor allem mit einer Versöhnung oder einer neuen »Abwägung« der beiden Pole eines Gegensatzes in Zusammenhang. Weisheit bedeutete für diese griechischen Denker, für ein neues Gleichgewicht innerhalb eines Dutzends von Gegensätzen wie Singular und Plural, Ruhe und Bewegung, Mann und Frau, Gut und Böse Sorge zu tragen – und diesen Moment des neuen »Abwägens« verbanden sie mit dem Kairos. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, zeigt sich hier auch eine Verwandtschaft des Kairos mit der »Seele« oder dem beseelenden Prinzip, das für Pythagoras ebenfalls auf diese »harmonisierende Bewegung« hinwies, »die gegensätzliche Pole wieder ins Gleichgewicht bringt«. In diesem Sinne kann der kairotische Moment als ein beseelter oder schöpferischer Moment betrachtet werden, in dem sich das Denken verflüchtigen und aus dem wiedergewonnenen Gleichgewicht zwischen den beiden Polen ein neuer Gedanke entstehen kann. Schließlich spielte Kairos auch in der Rhetorik und Pädagogik eine wichtige Rolle. In der Rhetorik des Aristoteles zum Beispiel galt er als der Moment, in dem die Zuhörer von einer bestimmten Meinung überzeugt wurden, wobei der Redner in der Lage sein musste, seine Ausführungen ständig auf seine Zuhörerschaft abzustimmen. Für den Philosophen und Pädagogen Isokrates, der seinerzeit noch einflussreicher war als Platon, stellte Kairos sogar das einzig sinnvolle Ziel von Bildung und Erziehung dar. In fast allen seinen Texten verband er die Erziehungskunst, die paideia, mit dem Kairos-Augenblick. Wie viele Fakten und Gesetzmäßigkeiten die Schüler auch kennen mochten, erst wenn sie dazu imstande waren, diese auf die sich ständig verändernde Wirklichkeit anzuwenden, konnte von einer gelungenen Erziehung die Rede sein. In seiner Schrift Gegen die Sophisten kritisierte Isokrates das Unvermögen der Sophisten, Kairos in ihre Reden einzubeziehen: Sie kümmerten sich seiner Ansicht nach weder um das rechte Timing oder Maß noch um die konkreten Umstände, sondern machten das Argumentieren selbst zu einem Spiel, das sich auf diese Weise von dem konkreten Kontext ablöste und daher nutzlos war.
Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seinen letzten Vorlesungen am Collège de France 1983/1984 den kairotischen Moment des Isokrates mit dem griechischen Begriff parrhesia in Verbindung gebracht, was so viel bedeutet wie freimütig, aufrichtig und wahrheitsgetreu sprechen. 11 Diese Form des »Wahr-Sprechens« – »le dire vrai« – bedeutete für ihn, dass der Sprecher Ehrlichkeit, Subjektivität und Wahrheit dem Wiederholen von Klischees vorzieht, dass er oder sie es wagt, sich kritisch gegenüber der vorherrschenden Meinung zu äußern, und die moralische Pflicht über das Eigeninteresse stellt. »Parrhesia« bedeutet auch, dass der Sprecher, wenn er seine »Wahrheit« zum Ausdruck bringen will, den Mut haben muss, Risiken einzugehen und seine eigene soziale Stellung aufs Spiel zu setzen. Statt bereits akzeptierte Meinungen wiederzugeben, die die eigene Position innerhalb der Gesellschaft bestätigen, muss der Sprecher im richtigen Moment den Mut dazu aufbringen, seine »Wahrheit« zu äußern, die nicht nur für eine Veränderung von Einsichten, sondern auch für die notwendige Heterogenität oder Pluralität innerhalb einer Gesellschaft sorgen kann. Für Foucault bildeten Besinnung und Selbstreflexion wichtige Voraussetzungen dafür, den Kairos zur Erscheinung zu bringen. In der Antike verband sich das »Erkenne den rechten Zeitpunkt« eng mit dem Motto des Orakels von Delphi »Erkenne dich selbst«. Die tiefgehende Reflexion und Besinnung, die Kairos erfordert, wirkt sich gewissermaßen in zwei Richtungen aus. Allein eine gründliche Reflexion auf die eigenen Grenzen und Möglichkeiten und die Sorge um die eigene Seele – worin die griechischen Philosophen die wichtigste Aufgabe des Menschen sahen – befähigt dazu, die Welt und die anderen zu beurteilen.
Kairos war für die Philosophen, Künstler und Politiker bis zum Ende des 16. Jahrhunderts ein Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Er bezeichnete nicht nur den rechten Augenblick für neue Erkenntnisse und strategische Entscheidungen, sondern verband sich auch mit einer rechtschaffenen Lebensweise oder moralischen Lebenskunst, die in allem das rechte Maß sucht. Kairos war ein modus vivendi, schreibt Sipiora 12 , weist aber darauf hin, dass diese Lebensweise während der Aufklärung in den Hintergrund trat. Entsprechend wenig war im 17. und 18. Jahrhundert von ihm zu vernehmen. Erst in Nietzsches Werk am Ende des 19. Jahrhunderts sollte Kairos wiederauftauchen, um im Laufe des 20. Jahrhunderts unter anderem in Texten von Heidegger, Ernst Bloch, Walter Benjamin und Charles Taylor wiederzukehren, wo er abwechselnd die Rolle des Inspirators, des Revolutionärs, des Visionärs oder des »Verknüpfers der Zeit« spielen durfte. Erst in den letzten Jahren ist ein echtes Comeback des Kairos zu beobachten. Als ich vor etwa fünfzehn Jahren für meinen Essay Stil de tijd über Kairos recherchierte, war noch kaum etwas darüber zu finden, seitdem ist über diesen bemerkenswerten Enkel des Chronos jedoch eine Publikation nach der anderen erschienen. Mehr als hundert Jahre, nachdem Nietzsche schrieb, dass es viele Hände brauche, um den Kairos beim Schopfe zu packen, finden wir den griechischen Gott des günstigen Augenblicks in zahlreichen Studien wieder, die auf die Bedeutung einer anderen Zeiterfahrung hinweisen. Angefangen von der ökonomischen Analyse der Zeit in Nicholas Laos’ Kairological Economics über Felix Ó Murchadhas philosophische Studie The Time of Revolution. Kairos und Chronos in Heidegger13 bis hin zu Rifat Odeh Kassis’ politischem Essay Kairos for Palestine, um nur einige zu nennen, wird Kairos mit der Vorstellung eines Bruchs mit den vorherrschenden Ansichten und der Schaffung eines Intervalls verbunden, aus dem eine neue Erkenntnis, eine politische Revolte oder eine fundamental andere Sichtweise hervorgehen kann. Kassis verweist in seinem Essay übrigens auf die Erstellung des internationalen Kairos-Dokuments im Jahr 2009, in dem sich zahlreiche Organisationen für die Rechte des palästinensischen Volkes einsetzen und damit in die Fußstapfen der Gruppe von Bischöfen in Südafrika treten, die in ihrem Kairos-Dokument von 1985 die Abschaffung der Apartheid forderten.
Dieses dem Kairos zugeschriebene revolutionäre Potenzial kommt auch in dem Buch Nicholas of Cusa and the Kairos of Modernity zum Ausdruck, in dem der Historiker Michael Edward Moore aufzeigt, wie Kairos von modernen Denkern wie Gadamer, Benjamin und Cassirer in Konzepten wie Jetztzeit oder messianische Zeit wiederbelebt wurde. Ó Murchadha legt in seinem Buch über Heidegger dar, wie der kairotische Augenblick eine Diskontinuität zur Geschichte bewirkt, innerhalb derer sich ein revolutionärer Bruch vollzieht, der nicht im Voraus vorhergesagt oder berechnet werden kann 14 , sich aber doch vermuten und intuitiv vorbereiten lässt. Eine »intensive« Aufmerksamkeit sowohl für das Erbe der Vergangenheit als auch für den gegenwärtigen Zustand der Welt lässt Kairos als den »Vorrang der Möglichkeit« 15 oder sogar als die Erschließung »der Wahrheit (aletheia) einer revolutionären Zeit« erscheinen. 16 Kairos steht also auch mit einem Wahr-Sprechen in Zusammenhang, das sich gerade in Krisenzeiten ankündigt, weil in solchen Zeiten das Bedürfnis nach Veränderung am stärksten zu spüren ist. In Kindheit und Geschichte weist Giorgio Agamben darauf hin, dass die Notwendigkeit, den »rechten Moment« hervorzubringen, nicht nur aus einem inneren Kampf und einer inneren Reflexion erwächst, sondern auch aus den äußeren Konflikten auf der Weltbühne auf uns zukommt. Kurz gesagt, Krisenzeiten können durch Kairos zu einem Wendepunkt werden.
Kairos wird auch mit utopischen Denkweisen in Verbindung gebracht, die sich daran ausrichten, was noch nicht realisiert, gedacht oder entworfen worden ist, und auch dessen bedarf es nach meinem Dafürhalten in unserer Zeit. Dieses Denken ereignet sich übrigens nicht in Form einer Blaupause oder eines vorher skizzierten Idealmodells, sondern hat nur in dem Sinne utopischen Charakter, dass es eine Öffnung in der etablierten Welt der Bedeutungen schafft, die dann mit einer neuen Interpretation versehen werden muss. Michael Löwy zeigt in Herbetovering van de wereld (Wiederverzauberung der Welt), dass Benjamin »der linearen, quantitativen« Sichtweise der Zeit des Chronos die »qualitative Zeitauffassung« des Kairos entgegensetzt, die »sowohl auf der Erinnerung als auch auf der revolutionären Unterbrechung der Kontinuität« beruht. Er bezeichnet diese Jetztzeit bei Benjamin als das »messianische Anhalten der Zeit«, das als »Aufbrechen des Kontinuums der Geschichte« und Ankunft des Neuen verstanden werden muss. 17 Benjamin habe eine Art »philosophische Kairologie« geschrieben, meint der deutsche Philosoph Ralf Konersmann, der Benjamins Essays 2007 unter dem Titel Kairos. Schriften zur Philosophie versammelt und auch das Nachwort dazu geschrieben hat. Der berühmte Angelus Novus, der Engel der Geschichte aus Benjamins 1940 erschienenen Thesen Über den Begriff der Geschichte (These IX) hat die Aufgabe, sich mit dem Gesicht dem Trümmerhaufen der Geschichte zugewandt rückwärts in die Zukunft zu begeben, um sich die neue Zeit aus der Unterbrechung des kairotischen Augenblicks vorzustellen 18 . Im Gegensatz zur chronologischen Zeit, in der die Zukunft vor uns liegt und wir der Vergangenheit den Rücken zukehren, ist es hier gerade der Anblick der Vergangenheit, der das Intervall des Kairos auslöst.
In Stil de tijd (Die Zeit zum Schweigen bringen) habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die Zukunft sowohl in der klassischen als auch noch in der modernen griechischen Kultur nicht so sehr als etwas gesehen wird, das vor uns liegt, sondern vielmehr als etwas, das uns von hinten nach vorne drängt; »die Zukunft kommt von hinten« ist bis heute eine bekannte griechische Redensart. Die Zeit wird als ein Fluss gesehen – das panta rhei von Heraklit –, in dem wir selbst stehen. Die nahe Vergangenheit sehen wir noch scharf umrissen an uns vorbeifließen, aber die ferne Vergangenheit hüllt sich schon in den dunstigen Schleier der Ferne, während uns die Zukunft als das, was wir weder wissen noch vor uns sehen können, uns gleichsam von hinten in den Fluss der Zeit drängt. Wie wir handeln sollen, wird uns daher auch immer von der Vergangenheit und damit von dem vorgegeben, was wir bereits wissen und vor uns sehen. Wenn wir der Vergangenheit den Rücken kehren – wie es in Redewendungen wie »was geschehen ist, ist geschehen« zum Ausdruck kommt – und die Zukunft als Tabula rasa betrachten, werden wir nicht das richtige Maß für unser Handeln finden. Wenngleich sicherlich Gemeinsamkeiten zwischen Benjamins Engel und Kairos zu finden sind, etwa die Tatsache, dass beide geflügelt sind und sich im Intervall zwischen Vergangenheit und Zukunft befinden, wobei sie das »Jetzt« als eine in der Gegenwart anschwellende Vergangenheit betrachten, so gibt es doch auch Unterschiede, an denen Konersmann vielleicht etwas zu schnell vorbeigeht. Während sich Kairos nämlich mit äußerster Konzentration dem günstigen Moment widmet, scheint der Engel mit weit aufgerissenen Augen doch vor allem davor zurückzuschrecken.
Benjamin beschreibt seinen Engel der Geschichte unter Bezugnahme auf ein Gemälde von Paul Klee, auf dem dieser Engel abgebildet ist: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.« 19
Der kairotische Augenblick in Benjamins Werk unterscheidet sich von dem Engel der Geschichte, weil er in den Lauf der Geschehnisse eingreifen und eine Veränderung herbeiführen kann, während die Geschichte selbst »den Trümmerhaufen« nur wachsen sieht. Meines Erachtens hat dieser Moment also eher etwas damit zu tun, was Benjamin in der fünften These die Dialektik im Stillstand nennt, ein Moment der Unbeweglichkeit und Reflexion, der es gerade vermag, die Kontinuität der Geschichte – und des Chronos – zu durchbrechen. Im Moment des Stillstands und des Schärfens der Aufmerksamkeit wird die Geschichte und damit das fortgesetzte Anhäufen von Trümmern unterbrochen, um eine Zäsur in der Ereigniskette zu erzwingen, durch die eine »revolutionäre« Veränderung erst möglich wird. Mit anderen Worten: Das Neue, zu dem Kairos inspiriert, ist nicht das Resultat oder die logische Folge einer bestimmten historischen Entwicklung, sondern ist von wesentlich anderer Art und kann daher eher als Absetzpunkt betrachtet werden. Gerade weil man der Vergangenheit zugewandt ist, hat man Sicht auf die Trümmerhaufen und setzt sich von den aktuellen historischen Entwicklungen ab. Die Geschichte fungiert daher eher als Sprungbrett in die Richtung des Neuen und Unbekannten, das nicht im Voraus beschrieben, geplant oder programmiert, sondern nur auf intuitive und kreative Weise vorgefühlt werden kann. Entsprechend ist beispielsweise die klassenlose Gesellschaft, von der Benjamin und andere marxistische Intellektuelle vor dem Krieg träumten, nicht das Ziel oder die Folge der historischen Entwicklung, sondern gerade deren Unterbrechung.
Ebenso wie bei Heidegger und Tillich ist der kairotische Moment bei Benjamin in diesem Sinne also utopischer Natur, in der ursprünglichen doppelten Bedeutung des Wortes ou-topos: sowohl ein nicht vorhandener als auch ein guter Ort. Was sich während dieses außergewöhnlichen Augenblicks manifestieren kann, fällt jedoch nicht ohne Weiteres vom Himmel, sondern hat Benjamin zufolge seine Wurzeln sowohl in der Geschichte als auch in der Aktualität; es bringt das »Jetzt« und das »Damals« auf neue Weise zusammen. Einerseits bietet eine gründliche Kenntnis der Geschichte das »Sprungbrett«, um in einen kairotischen Moment zu geraten, andererseits werden Benjamin zufolge Zukunftsträume auch immer von verdrängten Elementen der Urgeschichte begleitet, die noch irgendwo im kollektiven Unbewussten gespeichert sind. Als einer der wenigen Marxisten seiner Zeit nannte er als Beispiel für einen solchen uralten Traum bemerkenswerterweise die archaische matriarchalische Gesellschaft, in der nicht nur ein wesentlich anderes Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern auch ein harmonischeres Band zwischen Mensch und Natur bestand.
Kairos rüttelt also, wie wir schon gesehen haben, an eingefahrenen Gegensätzen; er bringt Schwung in den Laden, weil er die beiden Pole eines Gegensatzes auf neue Weise zueinander in Beziehung setzt. Kairos ist die middle voice, schreibt Eric Charles White in seinem Buch Kaironomia20 , die Stimme des Intermezzos, die sich zwischen die beiden Pole setzt, um einen neuen Zusammenhang zu entdecken. Schaut man von der Mitte aus, gibt es nämlich immer etwas Neues zu entdecken oder in Gang zu setzen. Fixiert man aber beide Pole und hierarchisiert, wie es unweigerlich geschieht, den einen Pol gegenüber dem anderen, gänzlich unabhängig davon, ob es sich dabei um Mann oder Frau, weiß oder schwarz, jung oder alt, Körper oder Geist handelt, dann fahren sich die Dinge fest und rosten ein, dann gehen sowohl die Dynamik als auch die Widerstandskraft, die dem Leben eigen sind, verloren. Benjamins »dialektischer« Moment besteht also nicht, wie bei Hegel, in der Aufhebung zweier Pole – These und Antithese – von einem Gegensatz in eine Synthese, sondern in einer Suche nach einem neuen, harmonischen Verhältnis innerhalb des Gegensatzes selbst, womit er sich in die Tradition des Pythagoras stellt.
Ich gebe zu, dass diese Kairos-Zeit für uns von der westlichen Kultur geprägte Menschen des 21. Jahrhunderts, die wir ganz nach der Chronos-Zeit leben, keine einfache Kost ist. Aber irgendwo in unserem Unterbewusstsein schlummert durchaus dieser kairotische Augenblick, den wir zum Beispiel erleben, wenn wir uns auf etwas sehr gut konzentrieren oder beim Spazierengehen oder Tagträumen aus dem Regime der Uhr ausbrechen und in einer anderen Zeiterfahrung landen, die Ernst Bloch als »Uhr ohne Ziffern« beschrieben hat. 21 Wir sagen dann, wir hätten eine zeitlose Erfahrung gemacht, aber was wir eigentlich sagen wollen, ist: eine uhrzeitlose Erfahrung, denn gerade in diesem Moment sind wir stärker mit der Zeit verbunden als je zuvor. Dies ist die Zeit, die als »authentisch« bezeichnet werden kann, weil sie die heterogene, veränderliche und dynamische Natur der Zeit hervorhebt.
Das politische Potenzial dieser kairotischen Zeit liegt sowohl in der Entlarvung oder Enthüllung dessen, was in der Geschichte verdeckt und verborgen ist, als auch in der aufmerksamen und angemessenen Reaktion auf die Zufälligkeiten und Möglichkeiten, die sich uns heute bieten. Das schöpferische Potenzial kommt in der Aufmerksamkeit und Bereitschaft für diese neue Möglichkeit und in der persönlichen oder subjektiven Zeiterfahrung zum Ausdruck, die uns daher auch stärker auf uns selbst orientiert und die Beziehung zwischen uns und den anderen neu zu entfachen vermag. Das ist meiner Meinung nach einer der Gründe für das starke Wiederaufleben des Kairos in den letzten Jahren. Wir sind auf der Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens und nach neuen, Harmonie schaffenden Beziehungen, um die Welt bewohnbar und die Erde lebenswert zu erhalten. Wir leben in Zeiten der Individualisierung und der technologischen und digitalen Transformation, die neue Interventionen und Überlegungen erfordern. Kairos wird seit der Antike mit Kontingenz und entsprechend mit Unvorhersehbarkeit, aber auch mit Möglichkeit und Zufall in Verbindung gebracht. In einer solchen Zeit des Übergangs von einer Gesellschaftsform zu einer anderen, in der wir uns derzeit befinden, tauchen häufig archaische und mythische Bilder auf, die uns helfen, diese Zeit interpretieren zu lernen, uns aber vor allem auch auf zukünftiges Handeln vorzubereiten.
Es ist also keineswegs ein »Zufall«, dass Kairos plötzlich in zahlreichen wissenschaftlichen und philosophischen Texten wiederkehrt, in den letzten Jahren auch in der Populärkultur. Wie die Welt der Science-Fiction haben auch die Populärkultur und die Jugendkultur oft schon früh ein Gespür dafür, was sich ankündigt. Beispiele dafür sind unter anderem der viel gepriesene Thriller The Kairos von Paul E. Hartman über den Historiker Lute Jonson, der sieben neue und ziemlich sensationelle Fragmente der Schriftrollen vom Toten Meer findet, der mythische Kinderroman The Kairos Mechanism von Kate Milford und der dreiteilige Comic über Kairos des französischen Illustrators Ulysse Malassagne. »The time for kairos had come«, schreibt Robert Leston in seinem Essay »Unhinged. Kairos and the Invention of the Untimely« in The Atlantic Journal of Communication, in dem er moderne Filmtechniken und Storyboards als eine Form kreativer Darstellung par excellence des kairotischen Moments beschreibt. Mithilfe des Kairos werden auch Querverbindungen zwischen der Philosophie und anderen Kunstformen gelegt, zum Beispiel von Chan-fai Cheung in Kairos: Phenomenology and Photography. Zur Eröffnung des französischen Pavillons auf der Biennale in Venedig im Jahr 2013 präsentierte Susan Kleinberg die Ausstellung »Kairos«, in der mikroskopische Aufnahmen eines mesopotamischen Bildes eine filmische Landschaft entfalteten, die Kleinberg als »Lawine des Möglichen« betitelte.
In diesem Buch werde ich den Kairos-Moment mit vielen verschiedenen Aspekten der Reflexion und Kreativität in Verbindung bringen, wie Inspiration, Leidenschaft und Enthusiasmus, aber auch mit der Rolle, die er in der Kunst, der Politik und der Bildung spielen kann. Außerdem werde ich die Bedingungen skizzieren, die erfüllt sein müssen, um ihn beim Schopfe zu packen, wie Konzentration, Aufmerksamkeit und Besinnung auf die Vergangenheit. In Stil de tijd (Die Zeit zum Schweigen bringen) und Windstilte van de ziel (Windstille der Seele) habe ich schon einige Vorschläge gemacht, wie Kairos als das andere Gesicht der Zeit mit dem Denken von Henri Bergson – Zeit als Dauer – und Ernst Bloch – Pflücke die Ewigkeit im Augenblick – verbunden werden kann. Eine Neuinterpretation des Kairos, wie ich sie im Folgenden in Angriff nehme, kann hoffentlich ein Gegengewicht zur Mechanisierung und Technologisierung unseres Menschen- und Weltbildes bieten. Und sie kann uns auch einen gewissen Einblick in das wachsende Verlangen geben, dem Regime des Chronos zu entfliehen, das uns in kaum hundert Jahren zu ziemlich obsessiven Beobachtern der Uhrzeit gemacht hat, die überdies von einem fast permanenten Zeitmangel angetrieben werden.
Zu Anfang des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in einer Epoche, die manche nicht nur als Übergang, sondern sogar als »Transition« oder »Transformation« bezeichnen, weil die technologischen Veränderungen so tiefgreifend sind. Wir stehen zudem in mehrfacher Hinsicht an einem Wendepunkt und müssen alles daransetzen, den heute fast schon unumkehrbaren Prozessen auf dem Gebiet des Klimas, der Umwelt und der Ökologie Einhalt zu gebieten. Darüber hinaus leben wir in Zeiten wirtschaftlicher, moralischer und finanzieller Krisen, die wir irgendwie zu neuen bedeutungsvollen »Momenten« umwandeln müssen. Kurz gesagt, wir leben in ziemlich kairotischen Zeiten und könnten daher einige Aufmerksamkeit für dieses andere Gesicht der Zeit sicherlich gut gebrauchen. Dazu müssen wir dieses andere Zeitkonzept zunächst neu kennenlernen und, was noch wichtiger ist, wiedererkennen lernen. Unser komplexes und von sozialen Medien überfrachtetes Leben macht es nicht leicht, den Unterschied zwischen Chronos und Kairos noch wahrnehmen zu können. Notgedrungen lassen wir unser Leben fast vollständig von der Uhrzeit bestimmen und erfahren zu wenige Momente der Ruhe, der Aufmerksamkeit oder der Wachheit, um den geflügelten Kairos noch entschlossen beim Schopfe zu packen. Und doch ist es genau das, was wir meiner Ansicht nach tun sollten.
Denn heute, in einer Zeit, in der der homo digitalis mobilis und die Digitalisierung der Welt unumkehrbare Tatsachen sind, ist es wichtig, unser Denken zu schärfen. Unser Denken sollte so scharf sein wie das Messer, auf dem die Waage des Kairos balanciert, um die Auswirkungen der digitalen Transformation verstehen und interpretieren – und entsprechend handeln – zu können. Eine der Fragen, die sich dabei stellen, ist die kairotische Frage nach dem »rechten Maß«. Wie sollten wir mit der Technologie umgehen, um zu verhindern, dass sie uns unterjocht? Welche Haltung sollten wir zur Digitalisierung einnehmen, um dafür Sorge zu tragen, dass unser Leben nicht von ihr dominiert wird? In einem seiner letzten Interviews, das 1976 im Spiegel veröffentlicht wurde, sagte Martin Heidegger, dass wir die Frage nach dem Wesen der Technik noch nicht genügend gestellt hätten, sodass der Mensch in Gefahr sei, von der Technik beherrscht zu werden: »Wir haben noch keinen Weg, der dem Wesen der Technik entspricht« und unterschätzt, dass »die Technik in ihrem Wesen […] etwas [ist], was der Mensch von sich aus nicht bewältigt«. Die Technik drohe den Menschen immer mehr von der Erde loszureißen und zu entwurzeln. 22
Kurzum, nun ist der »günstige Augenblick«, diese Frage zu stellen. Nicht nur die Bildschirmsüchtigen unter uns sollten sich fragen, was die Technologie mit uns macht. Wir alle haben Schwierigkeiten, bei der Nutzung der modernen Kommunikationstechnologie das »rechte Maß« zu finden. Manchmal scheint es fast, als seien die Bildschirme zu einer Verlängerung unserer eigenen Ichs und zu einem Teil unseres Lebens geworden. Zu Hause, auf der Straße, in Straßencafés und Bars kleben die Smartphones an unseren Händen und »kommunizieren« wir häufiger mit Abwesenden als mit der Person, die neben uns am Tisch sitzt. Der heutige Mensch, so Heidegger, flieht vor dem Nachdenken darüber, also vor dem aufmerksamen, reflektierenden Denken des Kairos, weil wir uns vornehmlich auf das kalkulierende, ökonomische und (be-)rechnende Denken konzentrieren. Was wir nicht wirklich sehen wollten, sei die Kehrseite der Technik, nämlich ein Prozess, bei dem inmitten von immer mehr technischen Mitteln ein Angriff auf das Leben und das Wesen des Menschen vorbereitet werde. Handelt es sich hierbei um eine überzogene Position eines weltfremden Philosophen? Das mag sein, dennoch sollten wir achtgeben, dass wir nicht selbst von der Technik überholt werden und unvorbereitet auf diese digitale Transformation treffen, nur weil wir nicht darüber nachgedacht haben.
Das Nachdenken über unser Verhältnis zur Technik könnte zum Beispiel mit der Frage beginnen, inwieweit wir es für wünschenswert erachten, dass sich der »digitale Mensch« noch von einem zukünftigen Hubot oder Cyborg unterscheiden lässt. Wie können die Grenzen zwischen Mensch und Maschine noch gezogen werden? Was unterscheidet den Menschen von einem Ding, und wie können wir diese spezifisch menschlichen Fähigkeiten bewahren? Lassen wir uns bereitwillig in ein »posthumanes« Zeitalter lotsen oder verwahren wir uns dagegen, indem wir – wie Rosi Braidotti in ihrem Buch Posthumanismus – neue und überzeugende Entwürfe für ein (post-)humanistisches Menschenbild entwickeln? Ebenso wie Martha Nussbaum befürchtet Braidotti, dass die Wissenschaften vom Menschen, die Geistes- und Sozialwissenschaften, an den Universitäten zu einem »persönlichen Hobby« 23 degradiert werden sollen und der »neoliberale« und »technokratische Geist« an den Universitäten die Oberhand gewinnen wird, wodurch der künftige digitale Mensch noch leichter zum willigen Opfer des Kommerzes werde. Sie plädiert unter anderem für eine interdisziplinäre »multi-versity«, 24 die sowohl eine gemeinsame Herangehensweise an Probleme als auch die kulturelle Pluralität anstelle von Universalität betont, um die Humanwissenschaften vor dem Untergang zu bewahren.
Wir werden uns in der Tat fragen müssen, worauf das Wort homo in homo digitalis noch verweist, bevor wir bestimmen können, was das »rechte Maß« sein könnte, um diese spezifisch menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten aus den Händen des »Automaten«, wie Henri Bergson den automatisierten Menschen nannte, zu retten. Der Mensch, als ein von sich selbst entfremdeter Automat, sei nur noch dazu imstande, in praktischer Weise auf die Reize seiner Umgebung zu reagieren, und verliere damit nicht nur seine Freiheit, sondern auch sein Gewissen, seine Kreativität und seine Menschlichkeit. Dieser französische Denker und Mathematiker, der in den Zwanzigerjahren am Collège de France in Paris mit Einstein über die Zeit debattierte, plädierte für eine andere Zeiterfahrung, die in vielerlei Hinsicht mit der kairotischen Zeit verglichen werden kann; er hielt sie sowohl für unsere Kreativität als auch für unser moralisches Bewusstsein und unser geistiges Wohlbefinden für unabdingbar. Die Augenblicke, in denen wir uns selbst wiederfinden, sind selten. »Die meiste Zeit leben wir unserer selbst äußerlich, wir gewahren von unserem Ich nur sein entfärbtes Phantom, den Schatten […]. Wir leben eher für die Außenwelt als für uns; […] eher als daß wir selbst handeln, ›werden wir gehandelt‹« 25
Wir befinden uns in einem Zeitalter »digitaler Transformation«. Deshalb ist es wichtig, unser Verhältnis zu all diesen digitalen Artefakten genau zu durchleuchten und uns mit Bergson zu fragen, inwieweit sie noch die Augenblicke schaffen, in denen wir uns selbst wiederfinden. Wenn wir uns damit begnügen, die möglichen Vor- oder Nachteile digitaler Innovationen zu kalkulieren, oder sie nur aus ökonomischen Motiven nutzen, werden wir keinen klaren Blick auf dieses Verhältnis und damit auf das Ausmaß gewinnen, in dem sie unsere Menschlichkeit schwächen oder stärken. Es hat keinen Sinn, eine ausgesprochen technophile oder ausgesprochen technophobe Position einzunehmen, wie es die Befürworter und Widersacher des »technischen Menschen« mitunter tun; sie liegen sich manchmal so sehr in den Haaren, dass eine fruchtbare Diskussion zwischen den beiden Parteien kaum möglich ist. Sobald sich Autoren wie Evgeny Morozov oder Nicholas Carr kritisch über die Nutzung des Internets und der sozialen Medien äußern, werden sie, wie ich später noch erläutern werde, als technikfeindlich abgetan, was der Debatte nicht gerade zuträglich ist. Interessanter als die Diskussion zur Frage, wie wünschenswert die Technik ist, ist die Untersuchung der spezifischen Einstellung des Menschen zur Technik. Welchen Einfluss hat die moderne Technologie auf unser Zeiterleben? Inwieweit ist der Technikstress für Denk- und Konzentrationsschwächen verantwortlich? Wie können wir in der sich rasend entwickelnden digitalen Welt das »rechte menschliche Maß« finden?
Bei meiner philosophischen Suche nach der möglichen menschlichen Natur des Menschen, die ich in Heimwee naar de mens (Heimweh nach dem Menschen) begonnen und in Stil de tijd fortgesetzt habe, bin ich immer wieder auf drei spezifisch menschliche Fähigkeiten gestoßen, die bei näherer Betrachtung viel mit Kairos zu tun haben. Da wäre zum einen die schöpferische Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen oder in Gang zu setzen, etwas, das völlig von dem Vorhergehenden abweicht und daher als »unerwartet« und »unberechenbar« bezeichnet werden kann. Dies ist genau der Moment der Einsicht, den Kairos in der Antike ausgelöst hat. Hannah Arendt nannte dies auch das Prinzip der Natalität oder des Neubeginns, in dem ihrer Auffassung nach die höchste Fähigkeit des Menschen liegt, wie ich an anderer Stelle noch ausführlich erläutern werde. Dann gibt es die spezifisch menschliche Fähigkeit des Enthusiasmus, der Beseeltheit oder der schöpferischen Leidenschaft, die zu neuen Einsichten oder Handlungen inspirieren kann und für die die Musen, die in der Kairos-Zeit weilten, verantwortlich waren. Woher genau der Begriff des Enthusiasmus kommt, werde ich mich im folgenden Kapitel fragen, und vor allem auch, wie Enthusiasmus geweckt werden kann. Die Rolle, die Bildung, aber auch Kunst und Kultur dabei spielen können, wird im weiteren Verlauf des Buches zur Sprache kommen. Schließlich gibt es noch die menschliche Fähigkeit zu einem ethischen Bewusstsein, das uns in die Lage versetzt, das »rechte moralische Maß« für unser Handeln zu finden.
Bevor sich der homo digitalis in einen von Platons Höhlenbewohnern verwandelt – der an sein Tablet gekettet ist und nur noch »schweigend vor sich hin schauen kann« und seinen Bildschirm für die Wirklichkeit hält –, ist es an der Zeit, sich ein wenig zu besinnen. In ihrem Kommentar zu Platons Höhlengleichnis behauptete Arendt, dass diesen Höhlenbewohnern gerade die beiden wichtigsten menschlichen Aktivitäten fehlten: sprechen und handeln (lexis und praxis). 26 Sie stellte dann einen Bezug zum unterhaltungs- und fernsehsüchtigen Menschen her, der Gefahr laufe, sich von diesen beiden Aktivitäten derart zu entfremden, dass es ihm schwerfalle, einen eigenen Standpunkt oder eine eigene Einsicht zu vertreten. Ihr Essay The Crisis in Culture erschien bereits 1961, und wir können uns nur fragen, wie ihre Thesen lauten würden, wenn sie einen Blick auf unsere heutige digitale Welt werfen könnte. Inwieweit ist der permanent zappende und digital multitaskende Mensch noch zu einer tiefgreifenden Reflexion über sich selbst und die Welt fähig?
Für Arendt bedeutete die Unfähigkeit, unsere persönlichen Einsichten zum Ausdruck bringen zu können, den Untergang der Demokratie, deren wichtigster Pfeiler die Pluralität ist, als die Fähigkeit und die Möglichkeit, uns voneinander zu unterscheiden. Ihrer Ansicht nach kann der homo digitalis den manipulativen kommerziellen oder politischen Kräften zum Opfer fallen, weil er nicht gut gelernt hat, selbstständig und kritisch zu denken. In Zeiten, in denen die Welt bedroht und die menschlichen Werte gefährdet sind, beispielsweise durch die Verletzung der Privatheit unserer digitalen Daten, wird der homo digitalis dem kaum widerstehen können. Das geringe Ausmaß des Protestes gegen Regierungsbehörden oder Unternehmen wie Google, die alle unsere Daten ohne jegliche Zustimmung überwachen, speichern oder weiterverkaufen, scheint in diesem Zusammenhang bezeichnend zu sein. Natürlich bietet gerade auch das Internet Möglichkeiten zur Meinungsbildung und zu politischen Diskussionen, doch wegen des hohen Grades an Anonymität, des Aktualitätsdrucks und der großen Geschwindigkeit, mit der gesurft, gepostet und gebloggt wird, ist es auch mit Nachteilen behaftet, die ein tieferes Nachdenken über das Medium erfordern.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben sich so schnell entwickelt, dass wir nicht oder kaum in der Lage waren, unser Verhältnis zu ihnen zu klären. Dennoch müssen wir im Umgang mit ihnen das rechte Maß finden, um sie für eine Welt einzusetzen, in der sowohl die Nativität als auch die Pluralität, die Arendt in ihrem Werk so nachdrücklich thematisiert hat, auf eine verantwortliche Weise Gestalt annehmen können. Das rechte Maß ist von Person zu Person verschieden, aber nur wenige Technikbegeisterte würden bestreiten, dass es sinnvoll ist, die Bildschirme zumindest für ein paar Stunden am Tag auszuschalten, um sich zu entspannen und dem Gehirn die Möglichkeit zu geben, alle Informationen zu verarbeiten. Das Bewusstsein, dass Beschleunigung nicht immer der beste Weg ist, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, hat in der westlichen Gesellschaft bereits Eingang gefunden. In den letzten Jahren haben wir nicht nur ein Revival des Kairos erlebt, sondern auch gesehen, wie eine Slow-Bewegung nach der anderen aufkam. Das ging von slow cooking und slow travel bis zu slow living,slow cinema – und sogar bis zu slow television, wie zum Beispiel in Norwegen, wo eine siebenstündige Zugfahrt der Bergen-Linie in voller Länge übertragen wurde. Obwohl die Wirtschaft weiterhin Wachstum und Beschleunigung fordert, verlangt es die Menschen nach Entschleunigung und Ruhe. Wir sehen auch, dass viele neue Initiativen entstehen, die von dem Wunsch geprägt sind, die Gesellschaft nachhaltiger, kreativer und integrativer zu gestalten. Um uns von diesen Beispielen anregen lassen zu können, habe ich hinten im Buch eine alphabetisch geordnete Reihe neuer Initiativen, Konzepte und Projekte aufgenommen, das »Abcedarium des Neubeginns«, das sozusagen eine praktische Übersetzung der philosophischen Exerzitien in diesem Buch ist. Die hier versammelten Essays wollen all jene Initiativen in einer philosophischen Darlegung bestärken, stimulieren und konsolidieren, die die menschliche Fähigkeit zum Neubeginn mit dem rechten Augenblick und dem rechten Maß des Kairos verbindet. Gemeinsam sollen sie eine Art von wishful thinking enthüllen, das die Notwendigkeit bekundet, Wünsche, Ideale, Leitlinien und Grundsätze zu formulieren und damit tatsächlich Veränderungen herbeizuführen.
Dabei mag gelegentlich der Eindruck entstehen, dass die Vergangenheit mit all den antiken griechischen Philosophen, die in diesem Buch herumgeistern, mit der Gegenwart kollidiert, die von vielen zeitgenössischen Denkern bevölkert ist und sich im Abecedarium auch noch der Zukunft zuwendet – dass sich also ein Wirrwarr von Zeiten ergibt, dem eine klare chronologische Linie fehlt. Aber genau darum geht es hier. Die Bildung kairotischer Knoten 27 in der Zeit, wie es Charles Taylor in Ein säkulares Zeitalter nennt, durch die neue Verbindungen zwischen klassischen, zeitgenössischen und zukünftigen Denkweisen entstehen, war eines der Ziele, die ich mir beim Schreiben dieses Buches gesetzt hatte. In diesem Buch versuche ich, ein Intermezzo zu kreieren, indem ich unsere gegenwärtige Zeit »aufbreche« und sie mit einer Vielzahl von philosophisch, literarisch und mythisch Wissenswertem aus früheren Zeiten und mit Extrapolationen auf künftige Zeiten verbinde, um so zu einer Zeiterfahrung zu gelangen, die sowohl inspirierend als auch verbindend sein kann.
Neben Philosophie werden auch Literatur und Kunst meine Suche nach einer zeitgenössischen Interpretation des Kairos-Augenblicks leiten. In den Werken so unterschiedlicher Schriftsteller wie Thomas Mann, Virginia Woolf, Ian McEwan und Marlene van Niekerk wird deutlich, dass Kairos bei ihrem Schreiben und Denken über die Zeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Auch in der bildenden Kunst gibt es einen deutlichen Kairos-Moment, wie ich anhand von Peter Sloterdijks Essay Du musst dein Leben ändern zeigen werde. Ich hoffe, dass mein Buch nicht nur dieses andere Gesicht der Zeit erkunden, sondern auch unser Verständnis von menschlicher Kreativität und Solidarität erhellen wird. Im günstigsten Fall wird es also zu der Erfahrung eines kairotischen Augenblicks führen, in dem wir uns mit der Vergangenheit verbunden und dazu inspiriert fühlen, zukünftige Möglichkeiten zu nutzen.
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ENTHUSIASMUS: EIN TATKRÄFTIGES UND MELANCHOLISCHES ERSTAUNEN
Um Veränderungen bewirken zu können, brauchen wir ein gewisses Maß an Enthusiasmus. Ohne jeden Enthusiasmus kämen wir gar nicht auf die Idee, etwas Neues zu ersinnen, und würden alles beim Alten lassen, denn der Enthusiasmus entsteht nicht aus dem, was ist, sondern aus dem, wonach man sich sehnt, wie Freud bemerkte. Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert galt Enthusiasmus daher als ein wichtiges philosophisches Thema. In den letzten hundert Jahren hat das philosophische Interesse daran allerdings beträchtlich nachgelassen. Diese geringe Aufmerksamkeit ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass der Begriff etwas Dunkles und Irrationales an sich hat, mit dem wir nicht mehr so gut umgehen können. Enthusiasmus und Inspiration verweisen zudem auf eine Erfahrung, die wir selbst nicht erzwingen oder kontrollieren, sondern der wir uns nur öffnen können.
Für die griechischen Philosophen bedeutete enthousiasmos dasselbe wie (göttliche) Inspiration. Sie galt für Dichter, Denker und politische Führer gleichermaßen als unverzichtbar. Auch in diesem Aufsatz werde ich Enthusiasmus und Inspiration als verwandte Begriffe beschreiben, obwohl sie im Laufe der Zeit zunehmend getrennt voneinander verwendet wurden. Der Begriff leitet sich von en-theos ab, was so viel bedeutet wie »von Gott erfüllt sein« oder »in Gott sein«. Es waren daher auch vor allem Priester, Wahrsager und Propheten, die von den Göttern »erfüllt« wurden und so ihre Funktion als Mittler zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt ausüben konnten. Platon gestand diese göttliche Eingebung als Erster auch den Dichtern und Denkern zu, wodurch der Enthusiasmus zwar eine weniger religiöse Natur annahm, aber dennoch seinen sakralen und transzendenten Charakter behielt; der Dichter wurde von den Göttern in Verzückung versetzt.
In seiner autobiografischen Schrift Ecce homo (entstanden 1888/89) fragt sich Nietzsche: »Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten?« 1 Er vermutet, dass es nur wenige sind, denn er müht sich ausgiebig, die Antwort selbst zu geben. Inspiration ist etwas, das einen »wie ein Blitz« überkommt und »mit Nothwendigkeit« einen Gedanken aufleuchten lässt, der sich zudem »ohne Zögern« und in der richtigen Form zu erkennen gibt. Für Nietzsche hat dieser Gedanke jedoch etwas Merkwürdiges an sich. Man kann ihn zwar nicht unterdrücken, weil er unausweichlich ist, aber man hat ihn auch nicht bewusst gesucht, weil man ihn nur vernimmt und »nimmt« – und dann kommt das Entscheidende: ohne zu wissen, »wer da giebt«. 2 Bis ins 19. Jahrhundert hinein hielten es viele noch für selbstverständlich, dass Gott bei dieser Form der Inspiration seine Hand im Spiel hatte, doch für Nietzsche, den Pfarrerssohn, der den Tod Gottes verkündete, war dies keineswegs der Fall. Wer oder was könnte ihm dann diesen »notwendigen« Gedanken eingeflüstert haben?
Es muss sich um einen »geringsten Rest von Aberglauben« handeln, schreibt Nietzsche weiter, und dieser »geringste Rest« sorgt dafür, dass wir im Moment der Inspiration glauben, nur »ein Medium«, ein Bindeglied oder »ein Mundstück« für eine Stimme zu sein, die von außen zu uns kommt und in Abwesenheit vorsätzlicher Absichten zu uns spricht. Alles geschehe in höchstem Maße unfreiwillig, aber gleichsam in einem stürmischen Gefühl der Freiheit. Ziemlich mysteriös also, das alles, diese Stimme, die vom Jenseits einen inspirierenden Gedanken an uns »weitergibt« und ihn in einen »Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit« einschließt. Und zwar so geheimnisvoll, dass Nietzsche keinen Zweifel daran hatte, dass er »Jahrtausende zurückgehn« müsse, »um jemanden zu finden, der mir sagen darf, ›es [diese Erfahrung] ist auch die meine‹.« 3 Harry Mulisch veranlasste diese Bemerkung in seinem autobiografischen Essay Voer voor psychologen (Ein gefundenes Fressen für Psychologen) zu folgendem »bescheidenen« Bekenntnis: »Was Nietzsche als Inspiration beschreibt, habe ich Wort für Wort als meine eigene Erfahrung erkannt […], und so muss ich in aller Bescheidenheit anmerken, dass er kaum fünfundsiebzig Jahre hätte vorausgehen müssen, um so jemanden zu finden.« 4 Schriftsteller und Dichter würden den Moment der Inspiration kennen, aber Philosophen hätten nie richtig gewusst, wie sie damit umgehen sollen, abgesehen von Nietzsche, sagte Theo de Boer im Gespräch mit Ger Groot in Twee zielen (Zwei Seelen). »Dichter denken freiheraus. Inspiration kündigt sich als eine Erfahrung an, die nicht aus mir selbst kommt, sondern ›von oben‹.« 5 Es stellt sich natürlich die Frage, wie wir dieses »von oben« interpretieren sollen. Ist es tatsächlich »ein geringer Rest von Aberglauben«, wie Nietzsche behauptete? Oder handelt es sich um eine Erfahrung, die vom »Einbruch der Ewigkeit in die Zeit« beseelt ist, wie de Boer meint und damit einen Gedanken aufgreift, den er sowohl bei Levinas als auch bei dem Dichter Martinus Nijhoff in »Die Stunde X« findet: »Es verging eine Ewigkeit, bis eine Minute verglitt.« 6 Der Augenblick, der eine Ewigkeit dauert, unterbricht und übersteigt die chronologische Zeit und kann in diesem Sinne als transzendent oder »von oben« gesehen werden. Mit anderen Worten: Für die Erfahrung dieses Moments der Inspiration müssen wir keinen Gott verehren, aber wir sollten uns sehr wohl der Bedeutung dieser anderen Zeiterfahrung, die Kairos genannt wird, bewusst sein.
In Jenseits von Gut und Böse von 1886 (Nr. 274) erwähnt Nietzsche auch diesen griechischen Gott des rechten Augenblicks, der ein Intervall in der Zeit schafft, in dem eine andere Zeiterfahrung stattfindet, die die Fantasie beflügelt. Der Enthusiasmus zieht uns in dieses Intervall hinein, aber dann brauchen wir Nietzsche zufolge »fünfhundert Hände«, um den Gott beim Schopfe packen zu können. Während die Inspiration selbst eher eine Sache der Hingabe und der passiven Empfänglichkeit ist, erfordert es gerade eine große Wachheit, das Momentum zu nutzen: »Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den καιρὁς, ›die rechte Zeit‹ – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!« 7 Ohne Inspiration werden wir den Kairos-Moment nicht erleben, aber wenn wir uns in ihm befinden, gibt es einiges zu tun, und wir müssen zuschlagen, bevor der Moment wieder verflogen ist. Im Absatz 224 beschreibt Nietzsche »jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft, die freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb.« 8 Nietzsche war einer der wenigen Philosophen, der es trotz seines »Unglaubens« wagte, unbekümmert von Inspiration und Enthusiasmus zu sprechen, weil er sie als notwendig erachtete, um der werden zu können, der man ist, wie der Untertitel von Ecce homo »Wie man wird, was man ist« andeutet. Hat die zeitgenössische Philosophie etwa hundert Jahre danach noch eine Vorstellung von dem, was Nietzsche Inspiration nannte?
Das Erste, was einem auffällt, wenn man den Enthusiasmus philosophisch unter die Lupe nimmt, ist, dass er in den letzten fünfzig Jahren im In- wie im Ausland nur wenig Beachtung gefunden hat. In den Niederlanden veröffentlichte Cornelis Verhoeven 1967 eine »Filosofie van het enthousiasme« 9 (Philosophie des Enthusiasmus), die erst viele Jahre später dank Cyrille Offermans in der Zeitschrift Raster unter dem treffenden Titel »Enthousiasme. Een reddingspoging« 10 (Enthusiasmus. Ein Rettungsversuch) eine Fortsetzung erhielt. In Frankreich erschien im Jahr 1986 François Lyotards Essay L’enthousiasme la Critique Kantienne de L’Histoire, der unter dem Titel Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte ins Deutsche übersetzt wurde. Erst vor wenigen Jahren erschien das Buch Philosophie und Enthusiasmus des österreichischen Philosophen Bernd Bösel, der gleich zu Anfang feststellt, dass in der Gegenwart kaum ein philosophisches Interesse am Enthusiasmus besteht. 11 Wahrscheinlich ist das darauf zurückzuführen, dass Enthusiasmus mit jugendlicher Naivität, berauschenden Versprechungen und tollkühnen Anwandlungen assoziiert wird, was dem Bild des gelassen und wohlüberlegt denkenden Philosophen eher zuwiderläuft. Oder wie Offermans schreibt: »Von nun an wird das Adjektiv ›blind‹ immer häufiger verwendet«, wenn man auf Enthusiasmus zu sprechen kommt. Doch der Enthusiasmus ist eine etwas dunkle und vor allem unkontrollierbare Kraft, die sich mit dem in der Philosophie so geschätzten vernünftigen Denken nicht gut verträgt. Der »Ernüchterungsprozess« des Enthusiasmus »ist der Säkularisierung der Gesellschaft inhärent«, meint Offermans. 12 Der sakrale, intuitive und irrationale Charakter des Enthusiasmus hat die philosophischen Gelehrten zurückschrecken lassen, aber er hat nach Ansicht Verhoevens auch dafür gesorgt, dass »die Weisheit des Enthusiasmus selbst nicht überdacht« wird. 13
In der Antike konnte der Enthusiasmus verschiedene Erscheinungsformen annehmen. In Platons Dialog Phaidros