Kaliber .64: Geiers Mahlzeit - Bernhard Jaumann - E-Book

Kaliber .64: Geiers Mahlzeit E-Book

Bernhard Jaumann

3,8

Beschreibung

Als Walter Rogner, der jahrelang zurückgezogen gelebt hat, auf dem Einwohnermeldeamt einen neuen Pass beantragen will, erfährt er eine Überraschung. Er soll vor vielen Jahren nach Afrika ausgewandert sein. Kurzentschlossen macht er sich auf den Weg nach Namibia und trifft dort tatsächlich den zweiten Walter Rogner, einen wohlhabenden Farmer. Es beginnt ein raffiniertes Katz-und-Maus-Spiel um Wahrheit und Lüge, um Schein und Sein. Letztendlich kann es nur einen Walter Rogner geben. Doch wer ist der Richtige?

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Bernhard Jaumann

GEIERS MAHLZEIT

Krimi Nautilus

KALIBER .64

Edition Nautilus

Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

Die Krimireihe

»Kaliber .64« wird

herausgegeben von

Volker Albers

© Edition Nautilus 2007

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Originalveröffentlichung

Erstausgabe Februar 2008

Druck und Bindung:

Fuldaer Verlagsanstalt

1. Auflage

Print ISBN 978-3-89401-567-1

E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-111-9

E-Book PDF ISBN 978-3-86438-112-6

1

Der verdammte rote Sand. Der brennende Himmel über der Namib-Wüste. Glühend die kahlen Felsen vor mir. Irrbilder die flimmernden Bäume über dem Horizont. Durchsichtige Leben verenden im Keckern der Geckos. Ich stolpere weiter. Er ist hier. Irgendwo. Im Sand vergraben. Als Geier vor der Sonnenglut kreisend. Ich spüre seinen Atem auf meiner verbrannten Haut, an meinem verdorrten Gaumen. Vielleicht bin auch ich hier. Wer weiß? Ich. Seltsames Wort. Ist es möglich, dass ich noch vor wenigen Tagen dachte, Walter Rogner zu sein und niemand sonst?

2

In Fachkreisen hatte der Name Walter Rogner keinen schlechten Ruf. Dennoch wunderte ich mich, dass ich zu einem Übersetzerkongress nach Toronto eingeladen wurde, nachdem ich bei ähnlichen Gelegenheiten immer unter irgendeinem Vorwand abgesagt hatte. Ich fühlte mich nun mal in meiner Wohnung am wohlsten, in der Höhle meines Arbeitszimmers, wo die Regale bis zur Decke reichten und kein Quadratzentimeter Wand zwischen den Bücherrücken aufschien. Gegen Abenteuer hatte ich nichts, solange sie sich schwarz auf weiß zwischen Buchdeckeln abspielten. Ich musste mir nicht ganze Nächte in engen Flugzeugsesseln um die Ohren schlagen, nur um in malariaverseuchten Ländern ausgeladen zu werden, in denen man schon auf dem Flughafen zum ersten Mal ausgeraubt wurde. Mir genügte es, solche Geschichten so zu übersetzen, dass man die Moskitos summen hörte, wenn man meine Zeilen las.

Was mich bewog, die Einladung nach Toronto diesmal anzunehmen, wusste ich nicht genau. Vielleicht nur, dass Kanada malariafrei war. Oder dass der Verlag, für den ich zwei Bücher von Nigel Barley übersetzt hatte, mir die Flugkosten erstatten wollte. Vielleicht hatte mir auch die selbstironische Art, mit der Barley seine ethnologischen Forschungsreisen schilderte, Appetit gemacht. Jedenfalls sagte ich spontan zu, und später, als sich meine Bedenken meldeten, scheute ich so lange vor einem Rückzieher zurück, bis es zu spät war.

Ich hätte es als Zeichen nehmen sollen, dass ich meinen Reisepass nicht fand. Ich konnte mich kaum erinnern, wann ich ihn das letzte Mal gebraucht hatte – die vergangenen zwei Jahrzehnte jedenfalls nicht –, doch ich war ziemlich sicher, ihn in meiner Dokumentenmappe aufbewahrt zu haben. Zusammen mit Geburtsurkunde, Taufschein, Schul-, Universitätszeugnissen und anderen ach so wichtigen Unterlagen, die man nie mehr benötigt, sobald man sich im Leben eingerichtet hat. Nicht nur der Pass, sondern die ganze Mappe war verschwunden. Ich hatte sie noch genau vor Augen, ein in dickes, braunes Leder gebundenes Ding mit vergoldeten Verschlüssen und der ebenfalls goldfarben geprägten Aufschrift »Dokumente«.

Zwei Tage lang stellte ich meine Wohnung auf den Kopf, zog jedes Buch aus dem Regal, leerte sämtliche Schubladen meines Schreibtischs, doch vergebens. Am dritten Tag ging ich zum Einwohnermeldeamt, um mir einen neuen Reisepass ausstellen zu lassen. Die Angestellte klickte auf ihrem Computer herum und fragte: »Wie war der Name?«

»Rogner, Walter. Geboren am 12.6.1954.«

»Würden Sie das bitte buchstabieren?«

Ich hatte keine Ahnung, wie man meinen Namen anders hätte schreiben sollen als mit der Buchstabenfolge R-O-G-N-E-R, aber ich tat ihr den Gefallen.

»Wir haben Sie nicht«, sagte die Frau.

»Wie?«

»Bei uns ist kein Walter Rogner gemeldet.«

Ich sagte vorsichtig, dass das ein Irrtum sein müsse. Die letzten 17 Jahre hätte ich ununterbrochen hier in Rosenheim gelebt und gearbeitet, nur mein Pass sei unauffindbar, und da ich ihn für eine Reise bräuchte, wolle ich mir einen neuen ausstellen lassen. Das sei doch wohl möglich?

»Da könnte ja jeder kommen«, sagte die Angestellte. Sie war grau im Gesicht und trug eine dieser modischen Brillen mit großen Gläsern und einer feuerroten Kunststofffassung, deren verzweifelte Fröhlichkeit mich aus irgendeinem Grund denken ließ, dass ihre Trägerin das Leben anderswo vermutete. Ich schüttelte den Kopf. Mein Pech, dass ich auf eine Vertreterin der Sorte Bürokrat stoßen musste, der ein mit Siegel und Stempel für tot Erklärter zweifelsfrei als tot galt, auch wenn er ihr persönlich gegenüberstand.

Ich muss ziemlich hilflos gewirkt haben, denn sie fragte in einem ganz unerwarteten Anflug von Hilfsbereitschaft: »Wo haben Sie denn vorher gewohnt?«

»Augsburg«, sagte ich. »Seit meiner Geburt.« Die Angestellte suchte die Nummer des dortigen Amtes heraus und rief an. Während sie auf eine Auskunft wartete, belehrte sie mich, dass es in Deutschland eine Meldepflicht gebe. Ich könne nicht einfach umziehen, ohne den zuständigen Stellen Bescheid zu geben. Ich war mir eigentlich sicher, das damals erledigt zu haben, aber beschwören wollte ich es nach 17 Jahren auch nicht. Die Angestellte klemmte den Hörer mit der Schulter fest, warf ab und zu ein »Ach so« oder »Aha« ein und notierte sich, was sie am Telefon vernahm. Dann sagte sie zu mir: »Na gut, das ist etwas anderes.«

»Was?«

»Dass Sie nach Windhoek/Namibia ausgewandert sind. Wenigstens haben Sie sich in Augsburg ordnungsgemäß abgemeldet. Am 29.3.1990.«

Namibia? Ich? Auch wenn es doppelt so lang her gewesen wäre, das konnte ich hundertprozentig ausschließen. Es musste sich um eine Verwechslung handeln.

»Und der Pass, den Sie verloren haben, ist wohl der, den Ihnen die Deutsche Botschaft in Windhoek am 12.3.2000 verlängert hat?«, fragte die Angestellte. Sie musterte mich misstrauisch, war wohl nicht sicher, ob ich wirklich der war, für den ich mich ausgab.

Natürlich hätte ich widersprechen sollen. Ich konnte mir jedoch lebhaft vorstellen, was passierte, wenn ich einer deutschen Behörde Schlamperei vorwarf. Ich wollte keine Schwierigkeiten. Ich wollte nur einen Reisepass. Ich sagte: »Ja, genau der.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Ich rede nicht gern darüber«, sagte ich. »Und jetzt bin ich ja wieder zurück.«

Ich kam damit durch, legte meinen Führerschein zur Identifikation vor und hörte mir folgsam an, dass ich den auch gegen einen neuen aus Plastik austauschen solle. Dann meldete ich ordnungsgemäß meinen Einzug in die Wohnung an, die ich seit 17 Jahren bewohnte, gab meine Passbilder ab, füllte das Formular aus und holte meinen Pass nach der üblichen Frist ohne weitere Probleme ab.

Dennoch ging mir die merkwürdige Szene auf dem Amt nicht aus dem Kopf. Erst langsam wurde mir klar, dass die Person, die 17 Jahre lang in meinem Arbeitszimmer übersetzt hatte, offiziell gar nicht vorhanden gewesen war. Tatsächlich konnte ich mich nicht erinnern, in dieser Zeit amtliche Post, zum Beispiel eine Wahlbenachrichtigung, von der Stadt erhalten zu haben. Zwar wäre ich sowieso nicht wählen gegangen, aber es hätte mir zumindest zu denken geben müssen.

Walter Rogner war nach Afrika ausgewandert! Ohne selbst etwas davon geahnt zu haben. Was wäre geschehen, wenn ich den Verlust meines Passes nicht festgestellt hätte? Hätte ich als bürokratischer Niemand weitergelebt, bis ich irgendwann gestorben und als nicht identifizierbare Leiche entsorgt worden wäre? Ich versuchte mir einzureden, dass sich nichts geändert hätte, nur weil mein Name in einem Melderegister fehlte, aber das stimmte nicht. Auf einmal blickte ich mit anderen Augen auf mein Leben.

Mit den Verlagen kommunizierte ich nur per E-Mail, und auch sonst hatte ich mich sehr zurückgezogen. Zwar traf ich ab und zu ein paar Bekannte – Freunde wäre zu viel gesagt –, ich ging mal ins Kino, der Kellner in der Pizzeria um die Ecke und ein paar Buchhändlerinnen kannten mich vom Sehen. Abgesehen davon sprach nichts dafür, dass ich hier gelebt hatte. Bleibende Spuren jedenfalls hatte ich nicht hinterlassen, und wenn ich die letzten 17 Jahre tatsächlich anderswo gewesen wäre, wäre das in Rosenheim keinem aufgefallen.