Kalk - Dirk Bernemann - E-Book

Kalk E-Book

Dirk Bernemann

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Beschreibung

Kalk, Mitte fünfzig und beflissener Mitarbeiter in einem Elektrofachgeschäft, muss raus. Der Lethargie des Alltags entfliehen, durchatmen und die Seele baumeln lassen. In Kijkduin, jenem Ort in den Niederlanden, an dem er schon als Kind mit seinen Eltern die Urlaube verbrachte, scheint Kalk Erholung zu finden. Als er ein Kind vor dem Ertrinken rettet, erwacht in ihm sein längst vergessenes Selbstbewusstsein und aus dem Antihelden wird ein Held. Er wächst über sich hinaus, geht an seine Grenzen und erfindet sich neu. Doch schnell verliert sich Kalk in der Fülle der Möglichkeiten, die sein gesteigertes Ego mit sich bringt, sein neues Ich entgleitet ihm und er droht sogleich alles zu verspielen. Letztlich holt ihn nicht nur die eigene Vergangenheit ein, sondern er lädt auch eine Schuld auf sich, die sich nicht einfach mit dem nächsten Bier in der Strandbar wegspülen lässt. Eine bitterböse Gesellschaftsstudie und ein Psychogramm des in die Enge getriebenen alten weißen Mannes.

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Dirk Bernemann

Kalk

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags

unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-94967-163-0

© Edition W GmbH, Neu-Isenburg 2024

Umschlaggestaltung: Michaela Spohn Design

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

»In Deutschland sagen wir ›So‹,dann atmen wir tief ein und der Scheiß geht weiter.«

Volksweisheit

Inhalt

Cover

April

Mai, Juni

Kijkduin

Habana Beach

Widerstandsnest 67

Nass

Pavarotti

Kinder

Ockenburgh

Familie

Die Einfahrt

Flirt und Freundschaft

Tischtennis

Moin-Moni

Stefan

Melanie

Vielleicht doch

Jürgen

Tagesreste

Kalk

Oorlog

Die Berger-Sache

Lieke

Abschied

Letzte Mahlzeiten

Überbrücken

Ein schöner Tag im Krieg

Die Fleischmühle

Nina

Orientierungspunkte

Cover

Inhaltsverzeichnis

April

Ihm steht ein freies Wochenende bevor, das er füllen muss. Womit genau, ist unklar. Ein Lebensmitteleinkauf gibt zumindest eine Richtung vor. Nachdem er sein Auto am äußersten Rand des Parkplatzes geparkt hat, geht er auf das Einkaufswagenhäuschen zu. Es sind nur noch zehn Wagen da, immerhin ist es Freitagabend. Kalk zieht einen der Wagen aus der Bucht und steuert auf die Tür des Supermarktes zu. Seine Gedanken haben kein Muster.

Das Frühjahr macht ihn fertig. Der April wird unbeständig bleiben, so kündigen es die Meteorologen an. Vor zwei Wochen noch Frost, vorgestern 23 Grad und heute ein nebeliger Tagesbeginn. Mittlerweile sind es 15 Grad und unerwartete Schauer haben Pfützen auf dem Asphalt hinterlassen. Das ganze Jahr fühlt sich an wie ein beständiger April. Monat der Ödnis. Kalk vermutet aber, auf das Gröbste vorbereitet zu sein, unklare Bilder von Zukunft flimmern vor seinen Augen. Aber die Definition des Gröbsten steckt ja als solche schon voller kleinteiliger Varianten der Grausamkeit.

Kalk bewegt sich langsam durch die Gänge des Supermarktes. Selbst der Blick auf die Zeitungsüberschriften, die er im Regal neben den Rätselheften sieht, sorgt nicht dafür, dass sich Kalks Stimmung verfinstert. Er ist das um ihn herum stattfindende Elend gewohnt. Er weiß auch nicht, ob es wirkliches Elend ist, was ihn umgibt, in seiner Vorstellung hat Elend heftigere emotionale Auswirkungen. Das richtige Elend ist ja auch immer woanders. Zumindest wird Kalk darin bestärkt, wenn er die Schlagzeilen sieht. Es beruhigt ihn, das Elend anderswo zu wähnen. Wäre das Elend bereits hier, er würde sich garantiert anders fühlen. Es ist sonst wo, dieses Elend, nicht hier, mitten in Deutschland, nicht in dieser Kleinstadt, nicht in diesem Supermarkt. Allerdings ist ihm auch klar, dass, nur weil er keine Schüsse hört, es nicht bedeutet, dass nicht geschossen wird.

Wenn man sich die Mühe machte, Kalk zu fragen, was er denn beruflich macht, so würde er versuchen, nichts zu beschönigen. Es passiert selten, dass Kalk danach gefragt wird, weil er Situationen meidet, in denen er danach gefragt werden könnte. Er ist seit vielen Jahren Verkäufer in einem Elektrogroß- und -einzelhandel. Die einzige Abwechslung in seinem Beruf besteht darin, dass er zeitweise durch ein Lager huscht und Großbestellungen für Installationsmaterial in einen großen Einkaufswagen legt und parallel dazu einen Lieferschein schreibt. Durchbrochen wird diese an sich meditative Tätigkeit von Kundinnen und Kunden, die in das Fachgeschäft kommen, um Lampen, Spülmaschinen und Elektroherde zu kaufen, und sich entsprechende fachliche Beratung wünschen. Kalk kennt sich aus mit diesen Dingen, aber auf dem Heimweg muss er trotzdem gelegentlich sein Autoradio lauter stellen, damit es die Gedanken an die Sinnlosigkeit seiner Tätigkeit übertönt. Bislang funktioniert das.

Kalk legt verschiedene frische Gemüsesorten in seinen Einkaufswagen, allein, um sich selbst das Gefühl zu geben, die Dinge im Griff zu haben. Dabei setzt er bewusst einen Expertenblick auf, der suggeriert, er könne gutes von schlechtem Gemüse unterscheiden. Kalk berührt einen Brokkoli wie eine in Plastik verpackte Geliebte, legt ihn zurück, nimmt den nächsten Brokkoli, begutachtet seine prallen Röschen und lässt ihn in einer Mischung aus Sanftmut und Gnade in den Einkaufswagen sinken. Die Fachleute sagen, durch Ernährung und Bewegung habe man viel in der Hand, von dem man vermuten könne, es nicht in der Hand zu haben. Kalk vertraut auf diese Experten. Tomaten starren ihn an, er nimmt sie mit. Er legt eine Zucchini dazu, obwohl er nicht genau weiß, was man damit macht. Man würzt sie und packt sie in den Ofen, nachdem man milden Käse darübergestreut hat. Kalk kauft milden Käse, damit auch die Zucchini denkt, dieser Einkauf wäre zielgerichtet.

Schokolade, zwei Tafeln Zartbitter, das wirkt wie eine Belohnung, die er sich selbst gestattet. Er muss bei dieser Art von Schokolade an die alte Frau denken, die beim Versuch, eine Straße zu überqueren, vor seinen Augen gestürzt war und der er daraufhin aufgeholfen hatte. Das ist nun vielleicht zehn Jahre her, aber er erinnert sich noch genau an die Kreuzung und den verzweifelten Blick der Frau. Aber der damals jüngere Kalk nahm sich ihrer an, half ihr auf die wackeligen Beine und geleitete sie an die andere Straßenseite. Zum Dank für Kalks Rettungstat zog sie eine Tafel Zartbitterschokolade aus ihrer Handtasche. Außerdem überreichte sie ihm mit feierlichem Blick einen schmutzigen Fünf-Euro-Schein. Kalk schämte sich ein wenig und wollte diese kindgerechte Belohnung nicht annehmen. Aber die Frau beharrte darauf und so gab Kalk nach. Fünf Euro und eine Tafel Schokolade als Gegenwert für ungefähr 80 Jahre beständiger Todesverweigerung? Kalk bedankte sich, steckte Geld und Schokolade ein und war sich sicher, dass der Mensch grundsätzlich gut ist. Wenn auch nicht immer, wenn auch nicht überall, aber da, wo es keine negativen Konsequenzen oder größere Mühen oder Gefahren kostet, da kann man gut sein.

Life is short, eat dessert first steht über dem Puddingregal, aber das Angebot überzeugt Kalk nicht. Langsam läuft er weiter. Er denkt an die alte Frau und ihre Dankbarkeit. Wann erlebt man so was noch, echte Dankbarkeit? Allerdings hat er damals noch ein paar weitere Tafeln Schokolade in den Untiefen ihrer Handtasche erkennen können. Irgendwann wird man nicht mehr gerettet, irgendwann hat man seine letzte Tafel abgegeben. Davor, so denkt Kalk, kann man sich noch ein paar Mal ausgiebig mit Schokolade bedanken.

Weiter zu den Grundnahrungsmitteln: Nudeln, Brot, Reis, Olivenöl. An Freitagabenden erkennt man die Krise deutlicher als an Montagvormittagen. Es gibt wieder erhebliche Lücken im Bestand. Gründe hierfür gibt es tausende. Bestehende Inflation, kommende Kriege, drohende Pandemien und immer wieder aufkeimende Klimakatastrophen, in Regionen, in denen das ansonsten selten oder nie passiert ist.

Die Menschen: überrascht.

Die Politik: seit Jahren einen Mittelweg suchend.

Die Probleme: mehren sich und bauen aufeinander auf.

Die Auswirkungen: bemerkt man leicht verzögert im Supermarkt.

Kalk hält kurz inne und schaut auf sein Handy, weiß aber nicht, was er sich davon erhofft. Es ist eher ein hilfloses Starren und meditatives Scrollen durch eine immer undurchsichtiger werdende Welt, von einem, der am Puddingregal verharrt und so tut, als hätte er eine Einkaufsliste erstellt. Kalks Einkäufe sind ausschließlich impulsiv. Er muss nur sich allein versorgen, das ist alles, das scheint zu schaffen zu sein. Bei der kurzen Handynutzung fällt ihm das Datum auf. Kalk überlegt, ob heute irgendjemand Geburtstag hat, den er kennt, und stellt fest, dass niemand auf der Welt wirklich auf ihn wartet. Schlimm fühlt es sich nicht an.

Aus den Lautsprechern tönen fröhliche Melodien, während Kalk einen Blick auf die Non-Food-Ware wirft. Blumentöpfe, Tabletts für das Frühstück im Bett, diese Holzbretter, die sich Leute quer über ihre Badewannenränder legen, um dort ein Buch abzulegen oder eine Tasse abzustellen und dem Leben noch mehr Gemütlichkeit abzuringen. Alles Dinge, die gekauft werden, um zumindest theoretisch Harmonie herzustellen.

Neben den Gefriertruhen fühlt Kalk sich wohl. Alles runtergekühlt. Er schaut sich die gefrosteten Leichenteile, die Blätterteigkreationen und die Torten an und erblickt einen Fisch, dessen vergleichsweise ausdrucksstarker Blick die Lebendigkeit der meisten anderen Einkaufenden zutiefst infrage stellt. Die eingeschweißte Forelle schweigt zurückhaltend und Kalk wünscht ihr viel Glück, bei jemandem zu landen, der kulinarisch mit ihr umgehen kann, damit ihre Existenz nicht als verwirkt gelten wird. Aber zumindest sollte es jemand sein, der diesem schockgefrosteten Blick standhalten kann. Kalk geht weiter, doch die Forelle beißt sich mit ihrem offen stehenden Mund und den aufgerissenen Augen in seinem Bewusstsein fest. Er nimmt stattdessen Fischstäbchen mit, greift dann zum Gefrierspinat. Gedankenverloren schiebt er seinen Einkaufswagen bis zum Ende der Kühltheke. Er kann den Blick des Fisches auf dem Stapel der anderen Forellen nicht vergessen. Spontan geht er zurück und greift sich den frostigen Fisch. Das Tier ist unterarmlang. Die Fischaugen starr, der Körper komplett erhalten, außer am Bauch, da ist er aufgeschnitten und alle Innereien wurden entnommen. Einem nicht näher zu erklärenden Impuls folgend legt Kalk ihn zu den anderen Sachen in den Einkaufswagen und immer, wenn er auf die Waren herunterschaut, fängt ihn der kalte Blick des Fisches ein. Selbst auf dem Kassenband und in der Hand der Kassiererin fokussiert ihn der Fisch durch die transparente Folie, in die er eingeschweißt ist. Auf dem Namensschild der Kassiererin steht Linda van Blerk. Professionell lässt Frau van Blerk den Fisch über den Scanner gleiten und Kalk fragt sich, was in ihrem Kopf vorgeht. Denkt sie über seine Essgewohnheiten nach?

Vermutlich macht sie sich überhaupt keine Gedanken, der Kassiervorgang scheint ihre ganze Konzentration zu fordern. Für tiefer gehenden menschlichen Kontakt ist das hier ohnehin nicht der richtige Ort, weiß Kalk.

Er packt seine Einkäufe in zwei mitgebrachte Jutebeutel, schließt seinen Kofferraum auf, verstaut dort alles und fährt los. Den Fisch hat er so positioniert, dass er aus dem Beutel herausschauen kann. Irgendwie verrückt, dass er in dieser kurzen Zeit eine engere Beziehung zu dem Fisch aufgebaut hat, als zu irgendwem sonst in letzter Zeit.

Im Radio wird von einem Krieg berichtet, der nicht weit entfernt ist. Anschließend sagt eine zarte Stimme, dass der Frühling durchbrechen wird. Dieses Mal aber so richtig. Zum Wochenbeginn werden 25 Grad erwartet. Ein fließender Übergang in den Sommer stünde bevor. Es folgt ein Rod Stewart-Song und Kalk erkennt rechts von sich das kleine Naherholungsgebiet, an dessen Rand sich ein freier Parkplatz befindet. Dort stellt er sein Auto ab. Nichts und niemand wartet zu Hause, die Zeit verlangt nach Todschlag. Also nimmt sich Kalk die Zeit.

Er bleibt noch eine Weile im Auto sitzen. Nach Rod Stewart folgen R.E.M. und Kalk sucht in diesem Lied nach Antworten auf ungestellte Fragen. Er versteht irgendetwas mit corner und spotlight und religion und ist so schlau wie zuvor. Mitten in der zweiten Strophe zieht Kalk den Zündschlüssel. Er steigt aus und geht ein paar Schritte, immer noch diese melancholische Melodie im Ohr.

Aushalten ist die Devise. Still vor sich hinleben. Überhaupt: still sein, die Ruhe ertragen. Die Kleinstadt bietet, was man zum Überleben braucht, darüber hinaus aber weiter nichts an. Die Straßen eng, ein paar Autos parken am Straßenrand, hier und da laufen Fußgänger mit unklaren Zielen.

Der kleine Park bietet neben Eschen, Büschen, Birken und Eichhörnchen auch Bänke und in der Mitte einen öffentlichen Grillplatz. Eschen und Birken sind sogenannte Frühblüher, die jährlich den Pollenallergikern zu schaffen machen. Sobald der Frühling sich meldet, leichter Wind geht und an den Pollen zehrt, gibt es Leute, die mit hochroten Augen durch die Welt rennen, ganz so, als hätten sie entweder seit Tagen durchgeweint oder durchgefeiert. Allergien versuchen die Menschen ja zaghaft daran zu erinnern, dass ihre Tage auf dem Planeten nahezu gezählt sind. Die Natur ist dabei ein grausamer Vermittler, sie sortiert zunächst die Schwachen aus, fällt die Anfälligen an und vergällt ihnen das Leben, obwohl es Frühling ist. Kalk ist froh, keine Allergien zu haben. Direkt umrandet ist der Park von Mehrfamilienhäusern, in deren Küchen und Wohnzimmer man blicken kann, wenn man daran Interesse hat. Man kann sich auf Bänke setzen und in die Stuben sehen. Dabei ist man immer optimal von Büschen und dem tief hängenden Astwerk der umstehenden Bäume geschützt. Kalk hat schon einige Male in die Leben der anderen hineingeblickt, seit er hier wohnt, aber schnell haben sie ihn gelangweilt, die Menschen und ihre öden Verrichtungen. Da bügeln sie, staubsaugen, putzen ihre Schrankwände, stauben ihre Deckenleuchten ab, decken Tische, kochen ganze Menüs oder einfach nur Kaffee, streicheln ihre Kinder oder Haustiere, lachen miteinander, leben alleine oder in Familien und reißen einfach so die Zeit von den Kalendern herunter, als wäre genug davon da. Einsamkeit ist das meist gemiedene Wort, Angst ohnehin, denn wer Angst hat, verliert. Kalk erhebt sich von der Bank, um ein paar Schritte zu gehen. Ganz so, als ob es einen Plan gäbe, wie vorhin im Supermarkt.

Müde Fassaden glotzen ihn an, halbwegs interessiert schaut er zurück. Wie sie alle denken, sie verwirklichen sich innerhalb dieser Fassaden, wie sie so tun, als würde es stimmen, was sie behaupten. Er neidet denen, die wirklich wissen, was sie zu tun haben, genau dieses Wissen. Es gibt ja immerhin auch die, die sich wirklich verwirklichen. Die eine konkrete Vorstellung von sich selbst als Freizeitpersönlichkeit haben. Nur die meisten eben nicht. Die nehmen dann wie Kalk, was kommt. Und in diesen ganzen Wohnungen leben sie ihre Existenzen runter. Architektur ist auch nur der Ausdruck einer Sehnsucht nach Sicherheit. Nach Beständigkeit und Schutz. Er läuft noch eine Runde auf dem Kiesweg, dann geht er zurück zu seinem Auto. Es dämmert bereits. Kalk lässt das Radio aus. Kein Gedanke da, der jetzt unbedingt wegmüsste. Zufrieden lenkt Kalk seinen Wagen durch die Kleinstadt. Fährt ein paar Umwege wie eine Polizeistreife, die nach dem Rechten sieht. Die Idylle ist dünn, aber vorhanden. Das reicht ihm völlig aus.

Zu Hause hört Kalk dann doch wieder eine Radiosendung, während er seine Einkäufe verstaut. Den gefrorenen Fisch legt er ganz hinten ins Gefrierfach. Kalk ist kürzlich 55 geworden, es hat ihm nichts ausgemacht, Zeit vergeht eben. Aber er fühlt sich nach der Ansprache der Radiomoderatorin, als säße er zwangseingewiesen in einem Heim mit allen anderen Zuhörerinnen und Zuhörern. Laut Programmhinweis ist diese Sendung das perfekte Programm für seine Altersklasse. Es fühlt sich jedoch an, als sei alles abgesprochen, als sei alles geklärt. Das hier ist das Ende, die letzte Station. Ab jetzt nur noch Medikamente, die einem beim Durchschlafen und schmerzfreien Urinlassen helfen. Graubrotscheiben, auf denen sich der mittelalte Gouda wellt. Dünner Tee dazu. Und jeder weiß, dass die Zeiten furchtbar sind und noch furchtbarer werden und die Radiomoderatorin macht trotzdem allen gute Laune. Sie sagt so oft ihren Namen, dass Kalk annimmt, sie habe Angst, dass dieser vergessen werden könnte. Kalk googelt auf dem Smartphone ihr Gesicht und es ist wie erwartet: Eine mittelalte Frau, mit verzweifelt notgeil gefärbten Haaren. Unter ihrer dicken Schminkschicht bricht sich ein Lächeln hervor, das bei genauer Betrachtung eindeutig als gelogen zu erkennen ist.

Die Moderatorin sagt: »Hier nun das Beste der 70er-, 80er- und 90er-Jahre sowie das Beliebteste von heute.« Dann spielen sie Phil Collins. Kalk sitzt am Tisch, hat sich ein Glas Wasser eingegossen. Er schaut aus dem Fenster, Phil Collins schmachtet Rührseliges in seine Küche hinein. Zufrieden ist er trotzdem, das Wochenende hat begonnen. Die Musik weht durch seine Küche wie ein lauwarmer Wind.

Mai, Juni

Nach Feierabend ist Kalk zur Sporthalle gefahren. Eine Stunde Tischtennis mit Förster. Es gibt Arbeitstage, die imstande sind, einen zu vernichten, dieser war fast so einer. Stundenlange Kundengespräche über Elektroherde und Halogenleuchten, die das maßgeschneiderte Leben der Kunden und Kundinnen beleuchten sollen. Der Gedanke an eine Stunde voller Vorhandspins, Rückhandtopspins, Blocker, Schmetterbälle und Unter- und Seitenschnitte ließ ihn trotzdem hoffnungsvoll durch die Lagerhalle und den Verkaufsraum stromern. Wenn am Ende des Tages noch etwas am Horizont auftaucht, was ein bisschen Freude verspricht, ist Kalk schon geholfen. Tischtennis ist seine Art von Meditation. Er nimmt sich bei jedem Match vor, alle Bälle zurückzuspielen. Er ist vielmehr ein defensiver denn ein angriffslustiger Spieler. Die entspannte Art, wie er in seiner kalkschen Gelassenheit versucht, jeden Ball zurück auf die gegnerische Hälfte der Platte zu bringen, kann sein Gegenüber bereits zermürben. Buddhistische Zerrüttungstaktik, allerdings ohne Buddhist sein zu müssen. Stoisch steht Kalk an der Platte, gewillt, keinen Ball verloren zu geben. Ein endloser Ballwechsel, das wäre sein Traum.

Kalk spielt Tischtennis, seit er acht Jahre alt ist. Sein Vater hat damals eine gebrauchte Platte gekauft und sie im Keller aufgebaut. Kalk vergisst nie die ersten Geräusche, die der kleine hohle Plastikball auf der Platte und beim Schlägerkontakt machte. Diesen Hall im Keller. Als dieses Geräusch später eine gewisse Rhythmik entwickelte, wusste Kalk, dass er dieses Spiel beherrscht. Die Regeln waren schnell gelernt und Kalks Schwester bald keine ernst zu nehmende Gegnerin mehr. Ab und zu kamen ein paar Freunde zum Rundlauf vorbei und Kalk erkannte sein eigenes Potential, weil er immer besser war als alle anderen. Einen Verein gab es leider nicht und so stagnierten seine Fähigkeiten. Aber immerhin auf einem hohen Niveau. In Jugendjahren spielte er wenig, machte ohnehin kaum Sport. Joggen beispielsweise deprimierte ihn zutiefst, wie er ziemlich bald bemerkte. Für Fußball fehlten ihm die sozialen Kontakte, für Badminton und eben Tischtennis die Gleichgesinnten. Dennoch schaute Kalk sich die großen Matches im Fernsehen oder im Internet an. Jörg Rosskopf, Steffen Fetzner und Jan-Ove Waldner waren seine damaligen Helden, während er heute die Spiele der Chinesen mit Ma Long und Fan Zhendong verfolgt. Deren Technik und Geschwindigkeit begeistern Kalk, ebenso wie deren unbedingter und immens ausgeprägter Wille, keinen Ball jemals verloren zu geben, auch jene, die weit außerhalb der Erreichbarkeit scheinen.

Förster ist heute etwas unkonzentrierter an der Tischtennisplatte. Das bemerkt Kalk bereits beim Warmspielen. Dafür will er während des Spiels viel reden. Er arbeitet als Lehrer an einer Förderschule und oft erscheint es Kalk, als wäre Förster von seinem Job überfordert. Sofort fängt Förster an zu reden, schon bei den ersten Ballwechseln.

»In meiner Klasse ist ein Mädchen, die ist überhaupt nicht mehr zu lenken.«

Dann redet er endlos über die Verhaltensauffälligkeiten des besagten Mädchens, wie es den Unterricht störe und welche anderen Kinder es auf unflätige Art und Weise beleidige. Unterbrochen werden diese Schilderungen nur in den Momenten, in denen Förster den Ball zurückholen muss.

Neuerdings, so Förster, habe seine Schülerin sich angewöhnt, sich bei Ermahnungen komplett zu entkleiden. Und wenn Förster ihrem Ansinnen nach nicht angemessen auf ihre aufmerksamkeitsheischende Maßnahme reagiere, würde sie mit voller Absicht in den Klassenraum pullern.

»Ich komm echt zu nichts mehr.«

Försters Stimme ist heute eine Spur weinerlicher als sonst. Während er von seinen Problemen berichtet, verliert er komplett den Fokus und das Gefühl für die Ernsthaftigkeit des Tischtennisspiels. Sicher geglaubte Bälle spielt er nur mit Mühe zurück, einige landen im Netz, viele außerhalb der Platte. Kalk ist genervt von Försters Unkonzentriertheit. Er selbst hat doch auch nur diese eine Stunde in der Woche, wo ihm Meditatives widerfahren kann. Warum also labert Förster die ganze Zeit von seinem Unvermögen als Pädagoge und bringt deswegen kaum mehr einen Ball zurück? Kalk selbst spielt heute auf einem total reduzierten Niveau und trotzdem verspielt Förster aufgrund seines Konzentrationsmangels selbst die einfachsten Bälle.

»Match mit drei Gewinnsätzen?«, fragt Kalk.

»Alles klar«, sagt Förster widerwillig.

Obwohl Kalk überaus zurückhaltend spielt, gewinnt er das Match mit 21:3, 21:7 und 21:6. Während Kalk kaum befriedigt ist, scheint Förster regelrecht erleichtert, als er endlich verloren hat. Ende letzten Jahres hat seine Frau ihn verlassen. Zwei Kinder gibt es, die er seit der Trennung nur selten zu Gesicht bekommt und wenn, dann verhalten sie sich so, wie sich missgestimmte Teenager gemeinhin verhalten. Dumm, einfältig und unkooperativ. Beide Kinder (10 und 13 Jahre alt) haben die oft wiederholten Anklagen der Mutter komplett aufgesogen und halten ihren Vater für schuldig am Misslingen der Ehe. Förster ist 54 und hat sich das letzte Drittel seines Lebens wahrscheinlich ganz anders vorgestellt. Zusammen mit dem ihm immer mehr entgleitenden Beruf sowie dem Fehlen von sexueller Erfüllung und innerer Zufriedenheit, stolpert er direkt auf einen Burn-Out zu. Seine innere Anspannung ist permanent spürbar, dazu ein Frust, der sich seit der Trennung wie ein Tumor in ihm festgesetzt zu haben scheint. Kalk fühlt sich außerstande, ihm das unumwunden zu sagen. Er wünscht sich, dass Förster die wöchentliche Tischtennisstunde als genauso meditativ empfinden könnte, wie er es normalerweise tut. Dafür müsste er sich einfach mal bemühen, ein paar von den Bällen zurückzuschlagen, die Kalk ihm serviert. Mehr kann er derzeit nicht für ihn tun. Aber Förster gerät mit jeder Woche mehr ins Hintertreffen, immer größer wird sein Redebedarf, zusehends wirkt er abwesend. Kalk stört das erheblich, doch er möchte seinen einzigen Tischtennisfreund auch nicht verprellen, indem er ihn zur Raison zwingt.

In der Herrensammelumkleide begutachtet Kalk Försters leicht gekrümmten Körper, die aufkeimende Sorgenwampe und sein müdes Gesicht, dessen Wangen wie Scheiben rohen Schinkens herabhängen. Er fragt sich, wo Försters Leben ihm die Lücken lässt, in denen er noch ein wenig Zufriedenheit und Lebenswillen spürt. Als Förster sich sein kurzärmliges Oberhemd in den Saum seiner ausgeleierten Stoffhose stopft, ist Kalk kurz danach, ihn von hinten zu treten, sodass er eventuell kopfüber und rettungslos in den Mülleimer am Türrahmen fallen würde. Dann würde er ihm auch mitteilen, dass, wenn es nicht besser würde mit Försters Motivation, Kalk sich einen anderen Partner suchen würde. Anschließend hätte er ihm noch zwei Tischtennisbälle in die fetten Backentaschen gestopft und von beiden Seiten kräftig draufgehauen. Es hätte ein wenig geknackt und was genau Zähne und was Kunststoff gewesen wäre, wäre anschließend völlig egal gewesen.

Später sitzen die Männer noch bei Hedi, einem Lokal in der Nähe der Sporthalle. Förster trinkt schneller und hastiger als Kalk, beim zweiten Bier geht es wieder los.

»Stell dir das mal vor, eine 13-Jährige zieht sich vor dir die Hose aus und pinkelt auf den Linoleumfußboden und das nur, weil du ihr verweigert hast, ihr Lieblingshörspiel während des Unterrichts abzuspielen, während du gleichzeitig versuchst, den anderen Kindern einfache mathematische Zusammenhänge zu erläutern.«

»Klingt schwierig.«

Kalk gibt sich wortkarg, aber interessiert, er will nicht, dass Förster irgendwann keine Lust mehr auf diese Abende hat. Vor allem wäre es schrecklich, wenn er keine Lust mehr auf das vorherige Tischtennisspiel hätte.

»Ja, es ist verdammt schwierig und man ist damit allein.« Försters Augen werden zu Schlitzen.

»Das ist echt scheiße, wie allein man damit ist. So super allein.«

Das Förster eine Steigerung für sein Gefühl des Alleingelassenseins findet, alarmiert Kalk für einen kurzen Moment. Aber er fühlt sich außerstande, etwas beizutragen, weil er sich fragt, ob das, was er sagen würde, nicht den Rahmen ihrer Freundschaft sprengen könnte. Kalk hofft einfach nur, dass sich Försters Situation bald wieder entspannt, weil Förster sich dann entspannt. Diesen Zusammenhang aber verschweigt Kalk und trinkt stumm die Schaumkrone eines weiteren Bieres herunter.

»Dieses miese Pissgör.«

Kalk sieht in Försters Augen, dass seine Wut auf das verhaltensauffällige Mädchen echt ist, weiß aber, dass es Försters Job ist, mit ebensolchen Kindern Umgang zu pflegen. Ebenso weiß Kalk, dass die von Förster artikulierte Wut keine Möglichkeit hat, einfach so zu entweichen oder zu verpuffen. Kalk versucht, das Thema auf etwas Erträglicheres zu lenken.

»Sag mal, fährst du eigentlich noch in den Urlaub dieses Jahr?«

Förster lächelt. Das tut gut. Ihm selbst und auch Kalk.

»Hatte ich vor, ja.«

»Wohin soll es denn gehen?«

»Weiß noch nicht so genau, auf jeden Fall weit weg. Ans alleine Verreisen muss ich mich erst noch gewöhnen. Aber ich will unbedingt. Demnächst gehe ich mal ins Reisebüro und lass mich beraten, in welcher Gegend der Welt alte Männer wie ich noch was erleben können. Zum Glück sind bald Schulferien.«

Schulferien. Kalk hat dieses Wort sehr lange nicht gehört. Ganz hinten in seiner Erinnerung flammt ein konkretes Gefühl auf. Sechs Wochen Endlosigkeit, an deren Anfang man das Ende nicht sehen konnte. Förster lacht und verfällt dann in einen kurzen Hustenanfall, den er mit einem kräftigen Schluck Bier wieder eindämmt.

»Und selbst?«

»Nichts Großes, holländische Nordseeküste im Juli, 14 Tage lang. Gutes Hotel. Und nur entspannen.«

Förster legt etwas in seinen Blick, das Kalk nicht deuten kann.

»Schön.«

Vor der Tür von Hedi geben sich die Männer die Hand. Eine Umarmung sieht ihre Freundschaft nicht vor.

»Bis nächste Woche.«

»Alles klar, halt die Ohren steif.«

Etwas anderes fiel Kalk nicht ein. Er stellt sich Förster beim Weggehen mit aufgestellten Ohren vor. Und wie er anderntags seinem Problemkind gegenübersteht und dieses vor ihm auf den Klassenraumboden nässt. Aufgestellte Ohren bringen leider nichts und sehen dazu noch einigermaßen dumm aus.

Kijkduin

In allen verfügbaren Kalendern hat Kalk es sich eingetragen. Urlaub, Erholung, 14 Tage Holland im Hochsommer. Ohne den Druck, einen funktionierenden Menschen simulieren zu müssen. Denn Kalk fühlt sich in letzter Zeit wie ein Simulant, aber nicht wie jemand, der vorgibt, krank zu sein, sondern umgekehrt.

Lange hat er überlegt, wie groß die Entfernung zwischen hier und dort sein müsste, um das Hier zu vergessen, gegen das Dort einzutauschen, und sich am Dort vom Hier ablenken zu können. 400 Kilometer und einen Ozean in Blickweite hielt er für angemessen.

In der Woche vor seinem Urlaubsantritt kam ein Kunde in das Elektrofachgeschäft, der sich für eine reduzierte, trostlose Stehleuchte interessierte. Der Mann war mindestens 70 Jahre alt und wirkte eher ärmlich. Kalk konnte ihn nicht für eine modernere, leistungsstärkere Variante begeistern. Der Mann wollte eine ordentliche Rechnung ausgestellt bekommen. Auf den Namen Wutbrink. Da Kalk diesen Namen interessant fand, fragte er Herrn Wutbrink unumwunden, woher dieser seltene Name denn stamme. Wutbrink antwortete nicht auf diese Frage, erzählte aber, dass es den Namen Wutbrink nur einmal in Deutschland gebe, sogar nur einmal in Europa. Höchstwahrscheinlich handele es sich dabei sogar um ein weltweites Unikat. Abseits dieser Aussage war über Herrn Wutbrink wenig herauszufinden. Der Kunde mit der jämmerlichen Stehlampe ging Kalk bis Ladenschluss nicht mehr aus dem Kopf. Auf der Heimfahrt stellte er sich vor, Wutbrink heißen zu müssen, um dann zu dem Schluß zu kommen, doch lieber Kalk heißen zu wollen. Er stellte sich den einsamen Herrn Wutbrink in seiner Wohnung in Gegenwart der hässlichen Stehleuchte vor. Gewölbter Bauch, Jogginghose, fleckiges T-Shirt mit Palmenaufdruck. Außerdem schlecht rasiert und körperlich verkrümmt, eingefallen und in seiner Küche an einem schmutzigen Esstisch kauernd, in Erwartung des Pling seiner Mikrowelle. Abgeschnitten vom Draußen, ein trostloses Dasein fristend. Das ganze Dilemma beschienen von zwei Mal 60 Watt. Sehr bald wird Wutbrink in sich zusammenfallen wie eine schlecht gepflegte Zimmerpflanze, und wenn alles weggeräumt und desinfiziert wurde, wird sein Klingelschild überklebt werden und sein Name wird nie wieder irgendwo auftauchen. Ein Mitarbeiter einer Räumungsfirma wird die alte Stehlampe lieblos in einen Container zu dem anderen Schrott aus Wutbrinks Leben werfen. Aber bis es so weit ist, ist Wutbrink der Einzige, der so heißt.

Autobahnen sind ein Wunderwerk aus Asphalt. Das Summen des Untergrunds stimmt Kalk fröhlich. Konsequent lenkt er mit Tempo 130 sein Auto Richtung Nordsee. Er hat sich eine Sonnenbrille aufgesetzt, um in eine bestimmte Stimmung zu geraten, die ihm aber fremd ist, als sie eintritt, also ist er einfach nur ein durchschnittlicher Autofahrer mit einer Sonnenbrille. Wie geschmeidig doch die A1 auf Höhe Osnabrück in die A30 übergeht, die dann wieder fließend zur niederländischen A 1 wird. Kurz nach Utrecht bildet Kalk sich ein, das Meer riechen zu können. Auf den Ausfahrtschildern der Autobahn stehen Orte wie Gouda oder Boskoop (lecker, guck mal, Käse und Äpfel auf einem Schild, pflegte seine Mutter in den Urlauben seiner Kindheit in ebenjenen Gefilden nahezu jährlich zu sagen. Ein Witz, der sie selbst stets belustigte). Ebenso sieht man auf der Strecke Ortsnamen wie Moordrecht oder Leiden (dazu schwieg seine Mutter, aber Kalks Kindergedanken zirkulierten trotzdem).

Diese Sommerurlaube der Familie Kalk ließen ihn überhaupt erst verstehen, was Urlaub ist. Ein mit vier Personen und jeder Menge Campingutensilien vollgestopfter Kleinwagen signalisierte in seiner Kindheit den Start jeder Reise. Stets im Dunkeln auf die ratternde Autobahn. Rauchende Eltern auf den Vordersitzen. Seiner Schwester und ihm wurde regelmäßig schlecht, irgendwo zwischen Osnabrück und Enschede. Manchmal zum Trinken, manchmal zum Pinkeln, ab und an zum Kotzen ranfahren, aber man durfte nie viel Zeit verlieren. Kalks Vater trieb alle immer wieder mit dem Argument zurück ins Auto, dass, wenn man frühestmöglich am Campingplatz sei, man die Möglichkeit habe, sich einen sehr guten Stellplatz auszusuchen. Sein Vater beendete jede Pause mit einem zünftigen So. Jeder geschaffte Teilabschnitt wurde immer wieder von diesem So begleitet.

So, der Wagen ist gewaschen.

So, der Urlaub beginnt.

So, die Pause beginnt.

So, die Pause endet.

So, fertig gegessen.

So, Campingplatz gefunden.

So, Zelt aufgebaut.

So, Bier offen.

So, Liegestuhl auf Idealposition.

Sein Vater ist seit drei Jahren tot und Kalk muss bei der Vorstellung schmunzeln, dass er auch auf dem Sterbebett einen Satz wie So, fertig gelebt hätte sagen können. Aber er lag nach einem Schlaganfall schon ein Jahr vor seinem Tod in einem Pflegebett und sprach kein Wort mehr. Kalks Mutter begleitete tapfer sein langsames Sterben. Kalk selbst war zum Todeszeitpunkt seines Vaters nicht vor Ort, aber seine Schwester meinte einmal, dass die Mutter durch ihre Tränen hindurch ein gut hörbares So, das war`s aber jetzt geflüstert habe. Das Pflegebett stand noch im Wohnzimmer, darin der eingefallene Vater, daneben Mutter und Schwester, als er ein paar Stunden später eintraf.