Kein Versbreit den Faschisten - Dirk Bernemann - E-Book

Kein Versbreit den Faschisten E-Book

Dirk Bernemann

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Beschreibung

Um besorgten Bürger*innen und dem neuerdings wieder selbstbewussten Rassenhass entgegenzutreten, haben sich die beiden Verlage Unsichtbar und Lektora mit diversen ihrer Autor*innen zusammengeschlossen. Heraus kam dabei eine Textsammlung, die nicht nur mahnend den Finger hebt, sondern auch an den richtigen Stellen Fragen stellt. Wie soll man mit ihnen umgehen, die selbst nicht wissen, wie man mit Menschen umgeht? Wovon wollen Nazis sich abgrenzen, wenn wir doch alle denselben Ursprung haben? Gemeinsam mit den Lesebühnenliterat*innen Dirk Bernemann, Annika Blanke, Abbygail Fuhl, Micha-El Goehre, Jean-Philippe Kindler, Rebecca Heims, Björn Högsdal, Melanie Eilinghofen, Sebastian 23, Christian Ritter, Andy Strauß und Michel Kühn und mit grafischer Unterstützung fabelhafter Künstler*innen erhebt diese Anthologie ihre Stimme gegen rechte Hetze und Neonazismus und steht bedingungslos ein für kulturelle Vielfalt.

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Seitenzahl: 75

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Impressum:

1. Auflage 2019

©opyright 2019 by Autor

Cover: Simon Höfer

Lektorat: Denise Bretz

Satz: Denise Bretz

ISBN: 978-3-95791-101-8

eISBN: 978-3-95791-102-5

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

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unter: [email protected]

Mehr Infos jederzeit im Web unter:

www.unsichtbarverlag.de

Unsichtbar Verlag | Dieselstr. 1 | 86420 Diedorf

Lektora & Unsichtbar (Hg.)

Kein Versbreit den Faschisten

Die Welt ist uns zu braun,lass mal Blumen pflanzen

Inhalt

Vorwort

Gemeinschaft (Abby)

Möge euer abgefucktes Siegerlächeln die Dentisten von morgen interessieren (Dirk Bernemann)

Vier Gedichte (Annika Blanke)

Arsch hoch (Melanie Ellinghofen)

Nazis töten (Micha-El Goehre)

Grenzposten (Rebecca Heims)

Rede zur Kiel-ist-bunt-Demo, Januar 2015 (Björn Högsdal)

Die Tagesschau ist kein Poetry-Slam-Text (Jean-Philippe Kindler)

Bluäuüöüäüöüöüö (Michel Kühn)

Allzu couragierte Arier bluten (Jan Off)

Frühjahrsputz (Christian Ritter)

Die Sache mit der Wahrheit (Andy Strauß)

A. N. G. S. T. (Sebastian 23)

Über die Autor*innen

Man kann schon mit besorgten Bürger*innen reden.Man kann sich aber auch einfach die Enten im Teich anschauen.

Vorwort

„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“ Das sagte einst Erich Kästner – und dieses Zitat ist uns Mahnung und Ausgangspunkt zugleich für die vorliegende Textsammlung. In der Vehemenz, Rücksichtslosigkeit und – nicht zuletzt – den offensichtlich defizitären Geschichtskenntnissen, mit denen zahlreiche Neu- und Altrechte in Deutschland und anderen Teilen Europas Rassenhass und völkische Separierung wieder verstärkt vorantreiben, sehen wir die Aufforderung, mit Verstand, Entschlossenheit und mindestens der gleichen Vehemenz dieser Entwicklung entgegenzutreten. Auch wenn uns das Selbstbewusstsein, mit dem diverse Nazianklänge – häufig im Deckmäntelchen der besorgten Bürger*in – in einer absurden Stumpfheit vorgetragen werden, überrascht, rufen unsere beiden Verlage Unsichtbar und Lektora – und auch die hier im Band versammelten Autor*innen – allen rechten Demagog*innen zu: Selbstbewusstsein haben wir auch! Und zwar nicht zu knapp! Und darum überlassen wir „Kein Versbreit den Faschisten“ und wünschen allen Leser*innen eine anregende Lektüre. Menschlichkeit und Menschenwürde sind unsere Standards – und eines ist klar: Wir werden eurem rechten Hass niemals weichen.

Andreas, Denise und Karsten

Gemeinschaft

Abby

Frank stand vor der Tür zu seinem Klassenzimmer und benahm sich wie das junge Mädchen, das zum ersten Mal im Bikini die Umkleide des öffentlichen Freibads verlassen würde. Es war die gleiche heimliche Scham, im nächsten Moment etwas von sich preisgeben zu müssen, und dieselbe aufgesetzte Ungezwungenheit, sich dabei nichts anmerken zu lassen. Als er dann hineinging, seinen Ranzen vorsichtig neben seiner Bank platzierte, sich schließlich stillschweigend setzte und unauffällig etwas Schweiß von der Stirn wischte, glaubte er, alle Blicke seiner Mitschüler würden ihn verfolgen und geradezu kritisch prüfen. Es dauerte dann bis zur fünften Stunde, bis seine Lehrerin ihn namentlich aufrief und er überhaupt erst bekanntgeben konnte, dass sein Name nun nicht mehr Aaron, sondern Frank Feldmann lautete. Die gar nicht mehr so junge Frau, die nicht ihr erstes Jahrzehnt an der Hauptschule unterrichtete, hatte gravierendere Vorfälle im Laufe ihrer Karriere verzeichnet und kommentierte es lediglich mit einem „Aha“, ehe sie ihre Frage wiederholte. Jetzt war es raus. Noch einmal stieg Frank ein heißes Rauschen in die Ohren, er stotterte irgendeine Antwort und diesmal musterten ihn seine Mitschüler obligatorisch argwöhnisch. Sie schauten wie Schüler schauen, wenn sie etwas nicht verstehen, aber sagten nichts.

Aaron war in dieser Klasse und er war nicht beliebt. Genauso war er in seinem Leben – nicht beliebt. Wie einer, der bei den Bundesjugendspielen dabei ist und eine Teilnehmerurkunde bekommt. Wenn man etwas weiter ausholt, kann man bei Aaron anfangen, von Glück zu sprechen. Nur umgekehrt. Die Leute reden oft von Glück als etwas, das ihnen zufällig zuteilwird. Das Glück, etwas zu gewinnen oder zu finden oder ferner zu bekommen. Etwas, das nicht wirklich in der eigenen Hand liegt. Genau so, wie sie diese beiden Hände unschuldig in die Luft schwenken, wenn ein Problem entsteht. Die Leute haben dann Probleme, aber keiner will sich vor Augen halten, dass diese Probleme schließlich auch irgendwie verursacht wurden. Bei Aaron mangelte es an Glück, nur an Problemen fehlte es nicht. Eine Familie, zwei Kinder, Aaron und Jakob. Sein Bruder wechselte nach der Grundschule ans Gymnasium und machte dann eben, was Jungs so am Gymnasium machen. Zur Schule gehen, jahrelang die gleichen Leute um sich haben, sich später untereinander neu zusammenwürfeln, heimlich verbotene Sachen ausprobieren und irgendwann Abitur schreiben. Geradlinig. Dann sollte ihm die ganze Welt offenstehen, voller Perspektiven und Chancen, die nur darauf warteten, dass Jakob danach griff. Aaron dagegen turnte nicht zwingend durch seine schulische Laufbahn, trotzdem blieb er nicht lange unauffällig. Den Erwartungen, die sein jüngerer Bruder reibungslos zu erfüllen schien, konnte er nicht gerecht werden. Auf ihn wartete niemand. Er liebte von klein auf die Natur, die Ruhe und die Geheimnisse, die die Stille ihm zuflüsterte. Zuweilen saß er irgendwo und starrte einfach vor sich hin. Ein schüchternes Gemüt, dem seine Umwelt zuweilen zu schnell und zu hektisch erschien. Wenn die Kinder auf dem Pausenhof Grüppchen bildeten, und in diesem Punkt unterschied er sich wohl am deutlichsten von seinem Bruder, konnte er nicht mit der gleichen Leichtigkeit mitspielen. Er war schon immer sehr beschäftigt mit seinen Gedanken – stellte ihm ein anderes Kind eine Frage, musste er sich erst lösen von seiner Welt, in die er tief versunken schien, ehe er seine Antwort genau überlegen konnte. In der Zwischenzeit waren die anderen Kinder längst fortgerannt zu neuen Spielen, in der fälschlichen Annahme, Aaron wollte nicht mit ihnen sein. Aaron wäre gern mit ihnen gewesen, er hätte gerne dazugehört. Aaron wollte Teil dieser einfachen Schnelllebigkeit sein. Er musste schlicht etwas länger darüber nachdenken. Später hätte man verstanden, dass er lediglich ein besonders ausgeprägtes Feingefühl hatte. So hatte man ihn nach der Grundschule an die Realschule gesteckt. Und dann dauerte es nicht lange, bis man ihn auf dringendes Anraten der Lehrer an die Hauptschule versetzte. Er brauchte immer recht lange für alles und schien ständig regelrecht gedankenverloren. Sein Klassenlehrer sagte ihm, dass er das später im Betrieb nicht so machen könne und dass man ihm nach drei Tagen kündigen würde. Bei der Bosch brauche man so Leute nicht, die immer nur nachdenken und Fragen stellen, da müsse man schnell sein und agieren können.

Dann saß Aaron da in einer Klasse, in der sich die Mädchen munter einparfümierten und nach Vanille oder Kokosnuss riechend über Jungs oder Ohrringe sprachen und dabei bunte Stabilos austauschten, um das Tafelbild in ihren Heften zu verewigen, mit einer Muße, als ginge es um zeitgenössische Kunstwerke. Oder konsequent Gründe suchten, um gegen den Lehrkörper zu rebellieren oder ihn zumindest in sinnlose Diskussionen zu verwickeln. Während die Jungs sich für Autos oder Maschinen interessierten. Manchmal war dabei nicht klar, ob mit einem Gerät ein solches oder das weibliche Geschlecht gemeint war. In allen Fällen eine Anschaffung, um die man sich bemühen musste und die meistens eher irgendwie fern und nicht greifbar schien. Aaron beschäftigte sich dann mit Gedanken, wann man jemandem in die Augen sieht und wann man nur in fremde Gesichter lächelt und ob das etwa eine Frage ist, die höchstwahrscheinlich glückliche von unglücklichen Menschen unterscheiden könnte, und dann fanden ihn seine Mitschüler komisch.

Aaron erkannte schnell die Ungleichheit der Menschen, aber er hinterfragte sie nicht gleich richtig. Er hatte zur Kenntnis genommen, dass es nicht schwer ist, die Menschen in seinem Umfeld zu kategorisieren, und es war für ihn keine schaurige Einsicht, dass seine Mitschüler an der Hauptschule, mit denen er bisher am wenigsten zurechtkam, nicht nur größtenteils weniger lernschwach, sondern schlicht sozial schwach waren, und zudem überwiegend mit Migrationshintergrund. Es waren die Nuller Jahre, in denen Jakob seine Mitschüler Julia, Theresa, Simon und Maximilian nannte, während Aaron und seine Gedanken nun im Klassenzimmer saßen neben Olga, Felicia, Murat und Boris. An Jakobs Schule – das hatte Aaron festgestellt – gab es über 800 Schüler. Genau vier davon waren nicht weiß. Wer den Jahresbericht durchblätterte und die Klassenfotos betrachtete, konnte nur bei sehr wenigen anderen Schülern gewisse Vermutungen betreffend derer etwaigen Herkunft anstellen, doch waren sie tatsächlich beinahe ausnahmslos in Deutschland geboren und aufgewachsen. Von den rund 80 Lehrkräften im Kollegium gab es lediglich eine Frau aus Kolumbien, die Musik unterrichtete. Das war an den Gymnasien in dieser Kleinstadt seinerzeit so die übliche Regel. Doch haben Regeln es oft an sich, dass man sie als junger Geist vielleicht gerne kritisch betrachten möchte, es manchmal aber einfach nicht gut genug kann, weil man noch nicht genug gesehen und verstanden hat. Wer auf der sinkenden Titanic stand, hatte nicht den Überblick, dass vielleicht schräg gegenüber auf der anderen Seite, 500 Meter weiter, auf einem Rettungsboot eventuell noch ein Platz frei war, auf dem man sich um Sicherheit hätte bemühen können. Und wer im Schlamassel sitzt, der hat genauso wenig den Überblick, der beschränkt seine Sicht auf einen kleinen Radius, der manchmal nicht über die Anhäufung konsekutiver Probleme hinausreicht, und darum fehlte es auch Aaron an sinnigen Perspektiven, um das eigentliche Problem seines Unmuts zu erfassen.