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Wie wohnt man eigentlich richtig? Warum sind manche Tage depressive Kinder, die heute nicht mehr zum Spielen rauskommen? Was verbirgt sich hinter den Türen, hinter denen Menschen leben, die nie die Tür öffnen? Haben Autoren jeden Tag Sex? Warum nicht? Asoziales Wohnen beschäftigt sich mit dem Zusammenleben von Menschen, die Nutznießer und Opfer von räumlicher und zeitlicher Enge werden. Und je enger und später es wird, desto mehr wird der Mensch zur Marionette der Verhältnisse. "Hinter jeder Tür eine eigene Vorstellung von Leben. Mitten in deutscher Mittelmäßigkeit, denn die Gegend hier ist eher so mittelgut, nicht wirklich asozial, aber auch nicht einbruchswürdig. Parkbuchten, Fahrradständer, Kinderspielplätze. Alles da. Aber eben auch nicht mehr. Wer mehr will, wohnt woanders."
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Seitenzahl: 343
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Impressum
1. Auflage Oktober 2012
©opyright 2012 by Autor
Umschlaggestaltung: [D] Ligo design + development
Titelbild:© Maria Eleftheria, philipk76, photo 5000 | www.fotolia.de
© Zoonar/H Landshoeft
Lektorat: Christoph Straßer
EBook-Umsetzung: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)
ISBN: 978-3-942920-65-0
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist
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Dirk Bernemann
Asoziales Wohnen
»… there’s no escape from my neighbourhood, except for ich zünd sie an
there’s no escape from my neighbourhood, except for Selbstmord …«
Love A
Asoziales Wohnen
Was ist eigentlich Wohnen? Sein. Bleiben. Gewohnt sein. Zufrieden sein. Das Dach über den Köpfen, die Wände um die Körper und unsichtbar fließt Strom durch die Mauern. Und wenn du Licht machst im Treppenhaus, geht es irgendwann auch wieder aus. An den Wänden hängen Blumenbilder. Blumen in Körben. Blumen auf Mädchenarmen, Blumen in Körben auf Mädchenarmen, Blumen neben Blumen. Überall Abbildungen von Blumen in blumenfeindlicher Umgebung. Die hängen da schon seit Jahren. Niemand beachtet sie wirklich, aber sie sind da. Echte Blumen siehst du hier nicht.
Früge man sorgenfreie Denkphobiker, was ihnen Wohnen bedeutet, dann sagten sie wohl: »Wohnen bedeutet mehr als nur einen Platz zum Schlafen und Essen zu haben. Wohnen bedeutet ungestörte Selbstverwirklichung in allen Lebensbereichen. Wohnen bedeutet auch, die Möglichkeiten zu sozialer Interaktion zu haben und diese selbstbestimmt gestalten zu können. Und schließlich bedeutet Wohnen, die eigene unmittelbare Umgebung so gestalten zu können, wie es meiner Persönlichkeit entspricht, also, etwas Eigenes zu haben.« Sie sollen die Fresse halten. Bitte.
An einer Wand im Treppenhaus hat es so Glasbausteine. Die hat man dahingemacht, damit vielleicht ein bisschen Licht durchscheint. Doch das meiste Licht, das in diese Gegend kommt, hat Besseres vor, als durch diese Milchglassteine Helligkeit ins Treppenhaus zu gießen. Und wenn man von innen durchguckt, sieht die Welt immer wie im Nebel stehend aus und man selbst könnte sich für besoffen halten. Das Licht bleibt zumeist angeödet draußen.
Hinter jeder Tür eine eigene Vorstellung von Leben. Mitten in deutscher Mittelmäßigkeit, denn die Gegend hier ist eher so mittelgut, nicht wirklich asozial, aber auch nicht einbruchswürdig. Parkbuchten, Fahrradständer, Kinderspielplätze. Alles da. Aber eben auch nicht mehr. Wer mehr will, wohnt woanders.
Hier wohnst du zur Miete, weil es nicht reicht für was Eigenes oder weil es nur ein Übergang ist, oder weil du es nicht besser weißt. Und die anderen, die hier auch noch wohnen, interessieren dich nicht. Sie sind die anderen Leben, die Statisten hinter den Türen. Ganz selten siehst du hier einen, meistens hörst du nur ihre Geräusche, ihr Musikhören, ihr Fußtrappeln, ihr Treppensteigen und ganz selten ihre Kopulationsgeräusche.
Die meisten Treppenstufen quietschen der Plastikoberfläche wegen. Spitze Schreie. Wie die Laute zertretener Kleintiere. Kleine, leise Laute, wenn jemand auf- oder absteigt. Einmal in der Woche kommt der Hausmeister und wischt feucht durch. Er könnte auch was anderes machen, aber er hat sich an dieses Haus gewöhnt. Der Hausmeister wohnt aber woanders, denn es braucht für ihn eine strikte Unterteilung zwischen Arbeits- und Wohnplatz. So sieht das der Hausmeister. So und nicht anders.
»So und nicht anders«, ist generell eine seiner Lieblingsfloskeln, wenn er durch das Treppenhaus läuft, auf dem Weg zu Reparaturen oder im Keller, wenn er an Dingen schraubt, die er irgendwo wieder in die Grundstruktur dieses Hauses einzupflechten gedenkt. So und nicht anders, das ist konkret, das rettet ihn, den Hausmeister. So und nicht anders, das ist so ein Zaubersatz, einer der einen vor zu viel Unfug von außen rettet. Wenn man etwas tut und dann So und nicht anders sagt, ist erst mal ein Statement in die Atmosphäre gesprochen, dass es zu widerlegen gilt. Ein altes Handwerkerargument, welches weder Anzweiflung noch Widerspruch duldet. So und nicht anders kommt der Hausmeister durch die Tage.
Und er kennt jede Wohnung von innen. Die Häkeldecke auf dem Fernseher. Die gestrickte Abdeckung für die Toilettenpapierrolle. Die unbewohnte Puppenstube, von der das Holz abblättert. Der hypermoderne Kaffeevollautomat, der klassische Aromen verspricht und Recht behält. Parkettfußboden in der Einbauküche. Der Schreibtisch neben dem Bücherregal. Irgendein Ding, das Designer Chaiselonge genannt haben. Die seit Jahren ungereinigte Mikrowelle. Die tropfende Heizung. Das zerwühlte Doppelbett. Der autistisch hindrappierte Kleinfigurenkram zwischen den Fensterbankblumen. Die CD- und Buchstapel, meterhoch, an der Wand. Er hat sie alle gesehen. Bloß kennen tut er niemanden.
Das Haus. Da steht es also rum. Breit und grau und raumfordernd. Drumherum ein bißchen grün und andere Naturfarben. Ein Weg aus Pflastersteinen führt zu seiner Tür. Acht Klingelschilder. Namen, die niemandem etwas sagen, außer: Hier leben Menschen. Innerhalb des Betons wird Blut durch Adern geschossen und Gehirne versuchen, dieses Leben zu verstehen. Und das Leben, die miese Sau, ist manchmal so drauf, dass es jedes Verständnis, welches von außen heranmöchte, erst mal verweigert.
Dieses Haus steht neben seinen ganzen Geschwistern, die ihm alle irgendwie ähnlich sehen. Auch alle breit und grau und raumfordernd. Die einzige Überlegung des Architekten schien sich darum zu drehen, möglichst viele Menschen möglichst platzsparend zu stapeln. Wir stapeln Fleisch in Beton, hat er vielleicht zu irgendwem gesagt, der Architekt, seine Brille zurecht gerückt und sich etabliert gefühlt. Sein Gegenüber hat kurz den Kopf geschüttelt, wie man halt so einen Kopf schüttelt, wenn man denkt, das gerade etwas Unflätiges gesagt wurde, man aber eigentlich genau dieser Meinung ist.
Und ihre Türen spucken die Leute jeden Tag ins Freie, wo sie in ihren unfreien Leben Dinge tun, die ihnen wie Freiheit vorkommen. Sie fahren zu ihren Jobs, führen ihre Beziehungen, lieben ihre Haustiere, Kinder und Mountainbikes, informieren sich im Fernsehen über das Weltgeschehen, essen Konservierungsstoffe, schmücken ihre Wände mit Kunst, altern zärtlich vor sich hin, werden krank und verbittert, finden aus emotionalen Tiefen wieder eine Leiter nach oben und halten das Leben für eine Melange zwischen schon ok und wie geil ist das denn?
Irgendwann hat sich mal einer über diese Gegend gedacht, dass hier sehr viele Arbeiter zu wohnen haben, weil hier sehr viel Arbeit zu tun ist, weil Deutschland so kaputt ist und die Arbeit der Leute es ein wenig schöner machen soll. Dann hat man Häuser wie dieses hier in Auftrag gegeben, hat ein paar Stockwerke übereinander getürmt, Kabel verlegt, Fußböden und Decken reingemacht, Elektroanschlüsse verlegt, um Wohnen und Überleben für Leute auf niedrigem Niveau zu gewährleisten.
Man weiß doch, dass im Haus des Lebens das Glück manchmal nur in einer Abstellkammer lebt. Da tummelt es sich neben dem Kehrblech und dem Staubsauger, wäre theoretisch jederzeit zugänglich wie eine billige Hure in der Nähe des Hauptbahnhofs, doch das Glück wird manchmal vergessen. So wie man vergisst, dass man atmet, obwohl man atmet. So vergisst man auch das Glück, obwohl man es jederzeit herausholen könnte, um damit sein Leben aufzuwerten. Also wohnen alle weiter und in jeder Ecke gibt es Möglichkeiten. Aber anstatt das Glück aus der Abstellkammer zu holen, holt man viel zu oft den Staubsauger raus und saugt sich die Ecken frei, in der Hoffnung auf ein keimfreies Weiterleben …
Montag, Erdgeschoss links
Diese Wohnung hat die Farbe ihrer Bewohner angenommen. Irgendwie wirkt alles grau mit vereinzelten Farbaspekten in Pastell, milde Leben sollen hier zu Ende gehen. Auf 65 Quadratmetern hat es ein graues Schlafzimmer, ein graues Wohnzimmer, ein weiß gekacheltes Bad und eine Küche. Die Menschen, die hier wohnen, sind langsam und müde. Die Wohnung ist gerade groß genug, um auch mal aneinander vorbei schleichen zu können. Es muss sich ja nicht täglich begegnet werden, obwohl man miteinander wohnt …
Den Rasen könnte auch mal wieder einer mähen, denkt die Frau und guckt aus dem Fenster. Der Mann sitzt auf dem Sofa und macht irgendwas. Wahrscheinlich Zeitung lesen oder sterben. Warum denn nicht sterben? So denkt die Frau. Ein Sommertag kriecht durch die Fensterritzen hinein zu der Frau und ihrem Mann in das, was sie die gute Stube nennen, und wenn man schon so viele Sommer gesehen hat wie die beiden, dann ist die Jahreszahl eigentlich schon fast egal. Aber Sommer ist, und im Sommer riechen alte Leute so sehr nach alten Leuten, dass es ihnen selbst schon auffällt. Die Frau weiß aber, dass man diesen Geruch nicht wegwaschen kann, der wird bleiben, der Geruch, so lange, bis man selbst geht.
Der Mann hustet. Immer wenn er auf diese Weise hustet, weiß die Frau, wird er nasse Flecken auf dem Sofa hinterlassen, die nach Pisse stinken. Wenn der Mann hustet, pisst er auch. Ihm scheint das mittlerweile tatsächlich egal zu sein, aber die Frau weiß das auch nicht so genau. Sie redet nicht mit ihm über seine Ausscheidungen. Welche Eheleute mögen schon gern über ihre Ausscheidungen reden? Die, die sowas tun, meint die Frau, mit denen stimmt doch was nicht. Die Frau und der Mann haben noch nie über ihre Ausscheidungen gesprochen, nicht einmal, als sie noch jung waren.
Mittlerweile denkt die Frau, dass 87 ein gutes Alter sei, um zu sterben. Zumindest für sie. Das Leben ist mittlerweile so angefüllt mit Großartig- und Kleinigkeiten, das Fotoalbum der Erinnerungskapazität ist quasi voll, und zwar so voll, dass man sich fragt, was jetzt noch wohl kommen kann. Was soll denn jetzt noch passieren, an das man sich später gern erinnert, fragt sie sich. Die Frau schaut wieder in den Garten. Der Rasen, der in unendlicher Saftigkeit grünt, der kann genau das jedes Jahr tun. Die Frau und der Mann aber verwelken täglich etwas mehr. Innen und außen. Das tägliche Aufstehen ist nur noch Gewohnheit. Die Frau steht auf, weil sie durstig ist oder aber weil der Harn drängelt. Wegen dem Mann, der täglich neben ihr wach wird, steht sie nicht mehr auf, da denkt sie, sie hat ihm schon alles gegeben, was ihr möglich war zu geben. Jugend, Sex, Liebe, Schweinebraten und Kartoffeln. Die Summe der guten Augenblicke auf ein Seil gereiht, würde diesem mit Sicherheit die Länge geben, sich damit aufhängen zu können. Die Frau denkt kurz an Selbstmord und muss dann schmunzeln. Wenn man eh schon mit mehr Körperteilen als es einem lieb ist im Grab liegt, wäre Suizid an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Der Tod kann ruhig kommen, aber die Tür aufhalten will sie ihm trotzdem nicht.
Der Mann fragt sich, was seine Frau da wieder am Fenster tut. Leicht gebückt, unter den Ellenbogen und Unterarmen ein weiches Kissen platziert. Den Blick scheinbar konzentriert auf Dinge gerichtet. Vielleicht, so meint der Mann, sieht sie Sachen oder Leute, die nicht da sind. Apokalyptische Reiter oder dergleichen Obskures, die schon seit Stunden um ihr Haus herumpferden, große Streitwaffen schwenkend und »hurrga, hurrga, hurrga« brüllend. Die Frau steht seit mindestens zwei Stunden reglos da und starrt in die Leere der Weite. Obwohl, da ist ja überhaupt keine Weite, sondern nur ein kleines, begrenztes und umzäuntes Stück Garten. Der Mann denkt ans Sterben, jetzt in diesem Augenblick und fragt sich, wer von ihnen denn als Erstes aus dem Leben gerissen werden wird. Der Herrgott wird’s schon richten, denkt da der Mann und verlässt sich auf Schicksalhaftes, derweil er seiner Frau beim Starren zusieht und sie entweder für von der Welt entrückt oder für bereits gestorben hält. Lange kann das alles nicht mehr wirklich dauern, meint der Mann und lässt einen Blick über seine Hände gleiten. Die Haut darauf ist so runzlig hart, dehydriert und faltendurchsetzt wie Trockenpflaumen und riechen auch fast so. Die Fingernägel sind zu lang und brüchig und unter ihnen kleben Stuhlgangreste. Der Mann lässt die Hände wieder in seinen Schoß sinken. Zu sinnlos und auch ein bisschen zu traurig findet er die Betrachtung der eigenen Hände. Er hustet. Kurz darauf wird es ein wenig wärmer an seinem Unterleib und er denkt sich: Wenn Husten dazu imstande ist, huste ich schnell nochmal. Hust.
Der Blick der Frau verliert sich in vom leichten Wind tanzend gemachten Grashalmen. Was war das doch toll damals, da draußen, als junges Mädchen, in einem schönen, spannenden Körper, den man mit schönen Dingen, wie figurbetonten Kleidern aufbereitet hat und sich jedes Jahr auf den Sommer gefreut hat. Und der Sommer, das gute Kind, hat sich jedes Jahr so verhalten, als ob er sich auch auf einen freue. Hat die Sonne angemacht und den Frohsinn freigeschaltet. Häufig auch die Naivität, aber wer braucht schon schwere Gedanken, wenn Sommer ist. In einem solchen Sommer lernte sie auch diesen Mann kennen. Heutzutage löst der Sommer nur Atemwegsbeschwerden und faulen Körpergeruch aus und er hasst uns, der Sommer, weiß die Frau und sucht sich einen besonders ausgelassen tanzenden langen Grashalm aus, den sie Barbara nennt. Barbara hieß ihre Schwester und die war nur ein Jahr älter als sie und ist letztes Jahr einfach so in ihrer Küche umgefallen, um anschließend tot zu sein. Die Kartoffeln waren noch auf dem Herd und als Barbaras Mann Klaus nach Hause kam, fand er ein paar sehr heiße Kartoffeln ohne Wasser und eine tote Frau in einer dampfverhangenen Küche vor. Sie will jetzt eine Hand auf ihr Herz legen, weil das doch jetzt wieder so arg pocht wegen ihrer Schwester Barbara und wegen der Angst, auch bald einfach so vor dem Herd zu liegen, aber ihr Herz ist nicht erreichbar. Es liegt irgendwo verborgen unter dieser Fleischfläche, welche mal eine männerherzenflambierende Frauenbrust gewesen ist und jetzt an ihrem Leib herabhängt wie ein flachgeklopftes Schweineschnitzel. Die Erdanziehungskraft hat auf Dauer den Kampf gegen das Bindegewebe gewonnen und zieht an der derangierten Brust der Frau, als wolle sie die ganze Person auf die Erde reißen. Zwischen Lappenbrust und Brustkorb wuchert Hautpilz, einer von der Sorte, die entsteht, wenn man regelmäßig schwitzt, aber die Stelle, wo man schwitzt, nicht regelmäßig reinigt. Rot, schuppig, juckend, so verhält sich der Hautpilz. Die Frau hat versucht, sich täglich einen eingeseiften Waschlappen unter den abgeschlafften Brustrest zu reiben, aber dies mit Beständigkeit zu tun, ist ihr einfach zu anstrengend. Und wer interessiert sich schon noch für ihre Brüste und ob da nun Hautpilz ist oder nicht?
Der Mann bestimmt nicht. Der hat mit sich selbst zu tun und jetzt gerade überlegt er sich, ob es jetzt noch lohnt, den Kotdrang, den er verspürt, einfach aufzuhalten und den kommenden Verdauungsmorast auf dem Klo zu entsorgen, oder ob er es einfach laufen lässt, um seiner Frau weiterhin beim Hinausstarren zusehen zu können. Er entscheidet sich für Zweiteres, denn zur Toilette sind es viele Schritte zu gehen und er macht dabei vielleicht seine Frau nervös, die immer noch nach draußen schaut, als sähe sie dort Dinge, die sonst niemand sieht. Und dann merkt der Mann, wie sich leicht brennender Flüssigstuhl durch seinen entzündeten Enddarm quält, zu stinken beginnt und dann Juckreiz verursacht. Er fühlt sich augenblicklich etwas besser. So ein Körper scheidet doch nur die Sachen aus, die zum Leben nicht mehr benötigt werden, weiß er und reibt seinen wunden Arsch auf dem Sofa hin und her, was dem Juckreiz etwas Einhalt gebietet. Als der Kotgestank an ihm hochkrabbelt, hält er kurz die Luft an. Sein Schließmuskel hält nicht mehr, ist ausgeleiert, und er merkt, wie schnell der Flüssigstuhl sich verhärtet und kleine Klümpchen bildet, die man am Abend wie reife Brombeeren aus seinem Arsch pflücken können wird. Ist aber keiner da, der erntet, und so welken die Früchte vor sich hin. Er bemerkt weiterhin, wie er mit dem Sofa verschmilzt, wie sein Unterleib und die Oberfläche des Sitzmöbels zu einem Ding verklumpen. Ein Ding, das stinkt und stabil im Wohnzimmer steht. Genauso, wie er mit dem Sofa zu einem Teil zu werden scheint, wird seine Frau mit der Fensterbank eins, auf der sie lehnt. Er meint zu erkennen, wie der unbeweglichen Statue, die wie seine Frau aussieht, kleine Wurzeln aus den Unterarmen sprießen und einfach durch das Kissen wachsen, das sie dahin gelegt hat, und sich in der darunter liegenden Fensterbank verankern. Aber das ist nicht so, weiß er, da wächst nichts aus der Frau raus, da ist nur das warme, weiche, alte Frauenunterarmfleisch, das nichts unternimmt, außer langsam aber sicher wie ein halbaufgegessener Apfel vor sich hinzuschimmeln.
Die Frau denkt Diverses, aber kein Gedanke hat die Wichtigkeit, dass er länger als eine Sekunde bei ihr bleiben soll. Sie weiß, dass da hinter ihr der Mann sitzt, sie riecht ihn bereits stärker als zuvor und fragt sich, was das ist, was sie für ihn empfindet. Es fühlt sich an wie eine Mischung aus Abscheu, Zeitverschwendung und Gewohnheit, und die Frau nennt es Liebe. So nannte sie es immer schon, weil sie kein anderes Wort dafür kennt, wenn irgendwer eine Ehe miteinander gestaltet. Die Frau ist jemand, die Liebe für ein Gesetz hält. Auch wenn der Geliebte zu gammeln, zu stinken und zu einem unfreundlichen, unkommunikativen Scheißding zu mutieren beginnt, so hat man ihn trotzdem zu lieben. Das sind die Regeln der Tradition. Auch wenn der Ehepartner das Tristeste geworden ist, was man sich vorstellen kann und man beim Blick in sein Gesicht an ein gottverlassenes ostdeutsches Dorf an der polnischen Grenze denken muss, selbst dann hat man ihn weiter zu lieben. Auch wenn er in Scheiße und Stumpfsinn versumpft wie ihr Mann.
Dieser schaut immer noch die Frau von hinten an und fragt sich, was wohl in dieser Frau vorgeht. Was sie denkt oder fühlt und was sie wohl für ihn empfindet, wie er hier so stinkend und mit abgelaufenem Verfallsdatum auf dem Sofa herumvegetiert. Das Alter hat beide versklavt und nun hängen sie hier am letzten Zeitabschnitt des Lebens und akzeptieren alles, was kommt. Viel kann das nicht mehr sein.
Der Mann hat mitterweile ständig das Gefühl, als würde er gleich einschlafen, schon morgens ist da diese Müdigkeit, dieses ausgehöhlte Gefühl, dass da immer diese geistige Dämmerung herumlungert gegen die man nicht mehr anleben kann. Aber er hat Angst einfach einzuschlafen, weil er nicht weiß, ob er dann noch das Glück haben wird, wieder aufzuwachen. Aber was ist schon Glück, denkt er, außer eine erpressbare Hure. Er lässt es drauf ankommen und sich vom Schlaf überrennen.
Als die Frau ihre grüne Schwester Barbara vom Wind verzückt tanzen sieht, weiß sie, dass vielleicht in diesem Leben der Rasen nicht mehr gemäht werden soll. Alles einfach wachsen lassen, denkt sie, alles einfach kommen lassen, was da noch kommen will, nichts mehr beeinflussen. Sich verhalten wie ein blöder Ball, der von einem noch blöderen Kind einen noch viel, viel blöderen Berg hinabgerollt wird, und man rollt und rollt und rollt und rollt und irgendwann ist da diese Wand oder einfach, wie im Falle dieser Frau und dieses Mannes, einfach nicht mehr genug Schwung. Der Ball bleibt einfach liegen. Der Mann hat leise angefangen zu schnarchen und die Frau sieht sich ganz kurz zu ihm um. Solange wir noch Atem haben, brauchen wir keine Angst zu haben, sagt sich die Frau, aber sie weiß genau, dass da eine Menge Angst ist. Die Angst vor dem letzten aller Wege.
Montag, Erdgeschoss rechts
Hier hat es eine Wohnküche, die mit 70er-Jahre-Möbelbestand vollgestellt ist. Einen Esstisch und vier Stühle. Zwei bleiben immer leer. Auf 69 Quadratmetern hat es zwei Schlafzimmer, eines für das Elternteil und eines für das Kind, eben jene Wohnküche und noch ein Wohnzimmer, ebenfalls mit alten Möbeln vollgestellt, weil hier einfach nicht mehr geht. Niemand hier hat die Absicht eine Mauer einzureißen zwischen den Absichten der hier lebenden Menschen. Das Leben ist hier manchmal schön und manchmal fickt es einen buchstäblich ins Knie.
Aus dem Bett geschält. Erst mal ohne Zähneputzen. Er hört seine Mutter in der Küche Dinge arrangieren. Er hasst seine Mutter in der Küche Dinge arrangieren. Er geht sofort zum Computer, darin gibt es keine Mutter, darin ist die Welt eine schwer okaye Welt. Aber nur weil er da nicht er ist, sondern ein anderer. Was gut ist, denn er zu sein ist für ihn nicht immer das Schönste auf der Welt. Er zu sein ist für ihn manchmal zu schwer. Weil man, wenn man man selbst ist, was ja eigentlich alle sind, und man eigentlich ein paar Pfund Hass zuviel für sich selbst im Körper trägt, dann ist das ein Problem, weiß er. Aber im Computer ist die Welt eine okayere.
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