Kalt wie Blut - Jim Kelly - E-Book
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Kalt wie Blut E-Book

Jim Kelly

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Beschreibung

Ein Ermittler und die lang zurückliegenden Verbrechen einer Kleinstadt: Der Thriller »Kalt wie Blut« von Jim Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Eissturm hält die Kleinstadt Ely in Cambridgeshire schon seit Tagen gefangen, als Declan McIlroy erfroren in seiner Wohnung aufgefunden wird. Es ist der härteste Winter seit Jahrzehnten, McIlroy bereits der achte Tote in dieser Woche. Doch Lokalreporter Philip Dryden spürt, dass hier etwas anderes geschehen sein muss: Er findet Hinweise darauf, dass McIlroy während seines langsamen Todeskampfes nicht alleine war. Als Dryden wenig später einen alten Freund von ihm tot auffindet, ist er sich sicher: Er hat es hier mit einer brillant geplanten Serie von Verbrechen zu tun. Die Spuren führen ihn schließlich zu einem Waisenhaus zurück, das seit Jahren skandalumwittert ist – und zu dem Dryden selbst eine Verbindung hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde England-Krimi »Kalt wie Blut« von Jim Kelly ist der vierte Band seiner »Mord in Cambridgeshire«-Reihe um den charismatischen Ermittler Philip Dryden, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 480

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Über dieses Buch:

Ein Eissturm hält die Kleinstadt Ely in Cambridgeshire schon seit Tagen gefangen, als Declan McIlroy erfroren in seiner Wohnung aufgefunden wird. Es ist der härteste Winter seit Jahrzehnten, McIlroy bereits der achte Tote in dieser Woche. Doch Lokalreporter Philip Dryden spürt, dass hier etwas anderes geschehen sein muss: Er findet Hinweise darauf, dass McIlroy während seines langsamen Todeskampfes nicht alleine war. Als Dryden wenig später einen alten Freund von ihm tot auffindet, ist er sich sicher: Er hat es hier mit einer brillant geplanten Serie von Verbrechen zu tun. Die Spuren führen ihn schließlich zu einem Waisenhaus zurück, das seit Jahren skandalumwittert ist – und zu dem Dryden selbst eine Verbindung hat …

Über den Autor:

Jim Kelly, geboren 1957, arbeitet seit vielen Jahren als Korrespondent der Financial Times in London. »Tod im Moor« war sein hochgefeiertes Krimidebüt, für das er unter anderem mit dem »Dagger Award«, dem größten britischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Jim Kelly lebt mit seiner Familie in Ely, Cambridgeshire, die auch Schauplatz seiner Krimireihe um Philip Dryden ist.

Bei dotbooks veröffentlichte Jim Kelly seine Krimireihe »Mord in Cambridgeshire« mit den Bänden:»Tod im Moor«»Kein Ort zum Sterben«»Dunkler als ein Grab«»Kalt wie Blut«»Spur der Knochen«

***

eBook-Neuausgabe September 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »The Coldest Blood« bei Michael Joseph, an Imprint of the Penguin Group, a division of Penguin Books Ltd., London.

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Jim Kelly

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Carsten Mayer liegen ebenfalls beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-751-8

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Jim Kelly

Kalt wie Blut

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Carsten Mayer

dotbooks.

Für Peggy und Brian, die vereint sind

Prolog

Ferienlager Dolphin, Sea’s EndDonnerstag, 29. August 1974

Der Dolch lag auf seinem nackten Schenkel, die Klinge kalt wie ein Bergbachkiesel. In der Koje legte er sich zurück, er hob mit der einen Hand die Waffe, spreizte die Finger der anderen über seinem Oberarmmuskel und spannte die sonnengebräunte Haut damit. Draußen schlug das Wasser der Butenmarsch an den Rumpf der Curlew und wiegte sie in der steigenden Flut.

Er schmeckte das Salz auf den Lippen, als er auf den ledernen Gürtel biss und sich die V-förmige Dolchspitze in den Bizeps presste, er zuckte zusammen, als das Metall sich ins Fleisch grub. Er wusste, er durfte nicht schreien, doch beim Gedanken an das, was jetzt käme, drehte sich ihm der Magen um.

Das Ferienlager war eine Meile entfernt, doch er hatte Kinder gesehen, bei Sonnenuntergang waren sie durch die Marsch spaziert, zu viert, ihre Taschenlampen tanzten im Schilf. Niemand durfte es hören. Niemand durfte es wissen.

Er hielt den Atem an und biss noch einmal auf den Riemen, zog die Klinge durch die Haut, bis eine Arterie freilag und durchtrennt wurde. Blut floss wie Plakatfarbe, troff vom Ellenbogen herab, und als ihm der Schmerz blitzartig in die Nerven schoss, da ließ er den Dolch fallen und schrie aller Vorsicht zum Trotz auf.

Es würgte ihn, den Riemen, den er immer noch im Mund hatte, spie er aus, ihm war zum Weinen. »Noch zwei«, sagte er. Ein gezacktes S, wie ein Blitz. Drei Schnitte. Aber er wusste, er könnte es jetzt nicht durchstehen, und so legte er sich auf den Rücken und suchte Trost in der Berührung des kalten Metallkoffers an seiner Seite, indem er bedächtig mit dem Finger die beiden Schließen nachfuhr.

Wenn er dies hier durchzöge, sagte er sich, wäre alles perfekt. Nicht zum ersten Mal im Lauf seiner dreiundzwanzig Lebensjahre fühlte er sich gottgleich: er würde wiederauferstehen. Nichts konnte ihn aufhalten, wenn er nur den Mut aufbrachte, es zu Ende zu bringen, und so tastete er neuerlich nach der Klinge.

Aber die Berührung des Metalls brachte ihn der Ohnmacht nahe. Er streckte die Hand nach den warmen Holzspanten des alten Boots aus: Seit dreizehn Tagen war es schon sein Heim, nicht mehr lange, und er hätte es hinter sich.

Die Geräusche der Nacht setzten ein. Mit dem Wind klang die Jukebox aus dem Lager herüber und das immer gleiche blecherne Geschmetter vom Rummel.

Im Geiste tanzte er mit ihr, im flüchtigen Schein der Glitzerkugel, sanft küsste sein Schenkel im Takt ihre Scham, und ihre Lippen liebkosten sein Haar.

Er lächelte, denn bald schon wäre er tot und sie beide vereint.

Kapitel 1

Letter-M-Farm, unweit ElyDienstag, 27. Dezember, einunddreißig Jahre später

Weiß hing der Reif in der kuppelgleich geschwungenen Krone der Magnolie, eine makellose Konstruktion aus Eis. In der Stille der arktisch kalten Luft ächzte der Stamm unter ihrem Gewicht. Die Eisdecke über dem flachen Teich dampfte in der Wintersonne, und schmachtend dürstete ein einsamer Karpfen unter der bestäubten Oberfläche nach Luft.

Joe stand davor und bewunderte die Anmut dieses Luftschnappens, während jeder seiner eigenen Atemzüge ein Wölkchen formte, das in den Strahlen des Sonnenuntergangs kurz aufleuchtete und dann entschwand. Er steckte die Zigarette an, die er im Haus gerollt hatte, und sog das Marihuana tief in seine geschundene Kehle. Er ließ sich auf seiner Bank nieder, dahinter die mit blutroten Beeren schwer beladene Eberesche.

»Weihnachten«, sagte er zu niemandem und ließ den Blick über den Horizont der Moorlandschaft schweifen.

Er stieß den Rauch aus, ersetzte ihn durch einen Schwall schockgekühlter Luft, auf dass sie ihm den Krebs ausbrenne, der ihn zerfraß.

Das Haus, das knappe fünfzig Meter weiter nördlich stand, war das einzige, mit bloßem Auge zu erkennende Bauwerk: die Letter-M-Farm war, das hatte er vor langem schon entschieden, ein ebenso guter Ort zum Sterben wie jeder andere.

Er hatte die Lampen brennen lassen, die aus dem klobigen, georgianischen Bau in den Winternachmittag hinausleuchteten, und in den doppelt verglasten Fenstern sah er den zwiefachen Widerschein des brennenden Kaminfeuers.

Er stand auf, wandte sich zum Zurückgehen und schwang die Stöcke mit, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Anfall von Übelkeit ließ ihn innehalten, er schloss die Augen und wünschte wieder einmal, er wäre nicht allein. Mit geschlossenen Augen nahm er einen tiefen Zug Dope, und wie ein Bächlein perlte süße Linderung durch seine Adern.

Als er die Augen wieder aufschlug, war sein Wunsch in Erfüllung gegangen.

Beim Haus war ein Mann, er kam aus der Tür und steckte sich etwas in die Hosentasche. In der anderen Hand hielt er eine schwarze Mappe, wie eine Arzttasche, und Joe fragte sich, ob er vielleicht von der Station kam. Er wollte rufen, aber seine Kehle versagte ihm den Dienst. Dann sah er, dass der Kopf des Mannes unter einer Kapuze verborgen war.

Der Mann lief zur Straße, wo zwischen den nicht zurückgeschnittenen Leylandzypressen ein kleiner weißer Transporter stand, der Joe bis dahin nicht aufgefallen war. Joe hatte den Wagen nicht kommen hören, und ein Gedanke schlich sich ihm ins Hirn: Stand der Mann schon den ganzen Tag da und wartete?

Er schaute derart angestrengt hinüber, dass ihm der Blick verschwamm. Als er wieder klar sah, kam der Mann auf ihn zu, einen Spaten in der einen Hand, einen Kübel in der anderen und keine Mappe mehr. Mit weit ausholenden Schritten lief der Mann über den gefrorenen Acker und schwang den Eimer, Joe konnte erkennen, dass er leer war.

Er zitterte, ihm war klar, dass hier Vorbereitungen getroffen worden waren, und zwar ohne ihn. Er nahm die Zigarette von den Lippen, und er wusste, selbst jetzt, da der Tod ohnehin so kurz bevorstand, war Furcht ein marterndes Gefühl. Schwach tat er einen weiteren Schritt nach vorn, er drückte das Kreuz durch und hob den Arm zum Gruß, da war der Mann auch schon fast bei ihm angelangt.

Das im Schatten der Kapuze verborgene Gesicht zeigte keine Reaktion. Joe ließ den Blick über die Äcker schweifen, doch die Gegend war verlassen, ein lebloses Netz aus Gräben, Kanälen und Schilf, dampfend im Abendnebel.

Unverminderten Schrittes kam der andere auf ihn zu. Unbarmherzig kam er näher, dann auf einmal sah Joe seine Augen: rauchiges Graublau, das Weiße auch im Schatten der Kapuze klar, die Linie des Mundes undeutlich konturiert, die Zungenspitze war zu sehen.

Joe trat einen Schritt zurück, doch der andere hatte den Angriff präzise geplant. In festem Schwung holte der Spaten aus und knallte mit dem flachen Blatt auf sein Knie, das schutzlos einknickte und zerbarst. Er stürzte, der Schmerz im Bein war seltsam fern. Seine Wange kam auf dem gefrorenen Torf zu liegen, und unter dem Aufprall seines Körpers sprangen winzige, makellose Eisperlen auf. Eine Hand packte ihn am Kragen, riss ihm den Kopf herum, und die Kette mit dem kleinen goldenen Kruzifix wurde ihm vom Hals gerissen und auf den Torf geschleudert.

»Wer ist das?«, fragte die Stimme, die jünger klang, als er erwartet hatte, in gemessenem Tonfall, vollkommen entspannt. Ihre ungezwungene Autorität ließ zur Überzeugung werden, was er zu ahnen begonnen hatte: Dass sein größter Wunsch ihm gewährt würde, zu sterben, bevor die Krankheit ihn dahinraffte.

Ein in Holz gerahmtes Foto vom Kaminsims im Salon wurde ihm vors Gesicht gehalten. Vier Kinder im Sonnenschein, Stranddünen, Schilf und im Hintergrund eine Boje, die auf dem Wasser des Priels tanzte, der sich durch den Sand zog.

»Der da«, wiederholte die Stimme, und ein behandschuhter Finger stieß auf das Kind links außen. Der Knabe mit dem schwarzen Haar und dem unbewegten Gesicht.

»Wir kannten seinen Namen nicht«, antwortete Joe, der verzweifelt zu verstehen suchte. »Wir nannten ihn Philip – einfach Philip.«

Brutal ließ der Mann den Kopf seines Opfers auf den gefrorenen Boden knallen, er legte zwei Finger auf die Halsschlagader und fühlte seinen Puls. Der Angreifer erhob sich, ließ den Blick über den Horizont schweifen und lauschte stumm.

»Du musst sterben«, sagte er endlich. »Ich kann nicht warten.«

Er nahm den Spaten, befreite den Fisch aus seinem überfrorenen Teichverlies und füllte den Eimer mit Eiswasser, das er bedächtig über Joe goss, von der Hüfte bis hinauf zu Brust und Kopf.

Wild schlug Joes Körper unter dem Schock um sich. Beim zweiten Kübel wurde er ruhig.

Kapitel 2

ElyDonnerstag, 29. Dezember

Dryden hatte nicht schlafen können, denn sein Propangasheizer war nicht in der Lage, den Frost daran zu hindern, bis in den stählernen Rumpf seines schwimmenden Heims – der PK 129 – vorzudringen. Lange vor Tagesanbruch hatte er den Kopf aufwärts gedreht und seinem Atem dabei zugesehen, wie er den Reif auf dem Bullauge zum Schmelzen brachte. Im Mondschein war er an Deck gegangen und hatte, von der lastenden Schwere der Sterne niedergedrückt, den Blick dem fahlen, gewundenen Band des zugefrorenen Flusses bis zur Kathedrale, zwei Meilen nördlich, folgen lassen.

Er hatte sich einen Kaffee gemacht, sich in den Wintermantel gehüllt und ins offene Ruderhaus gesetzt. Der Fluss war weiß, geradezu düster wirkten im Vergleich dazu die Schwäne, die sich in der Mitte der Fahrrinne aufgereiht hatten, um so dem nächtlichen Besuch des Fuchses zu entgehen. Das einzige Geräusch in der weiten Landschaft war das Ächzen des Eises, das sich gegen den Rumpf des vor Anker liegenden Bootes stemmte. Nichts rührte sich im kleinen Städtchen Ely in der Ferne außer dem rotierenden, gelben Licht eines Streufahrzeugs, das am Stadtrand immer wieder kurz aufblitzte. Ein einsames Haus, in dem die Weihnachtsbeleuchtung noch nicht abgenommen war, blinkte zurück.

Zum tausendsten Mal, seit er sich das Hausboot zugelegt hatte, fuhr er mit der behandschuhten Hand über die Messingplakette über dem Ruder.

DÜNKIRCHEN 1940

Dieser Hauch von Romantik hatte den Kauf des Boots besiegelt. Noch einmal strich er über das kalte Metall, fühlte die Geschichte und sah im Geiste das Schiff vor sich, das durch die verzweifelt um sich schlagenden Soldaten in den Untiefen manövrierte.

Eine Möwe, die erste dieses Tages, kreischte hoch über dem achteckigen Turm der Kathedrale.

Dryden fasste den Becher mit beiden Händen und folgte mit dem Blick der Silhouette der Stadt, von der Kathedrale im Westen bis zum viktorianischen Klotz des Tower Hospitals. Dort lag unter Leinendecken seine Frau, eingekerkert in einem Koma, das ihr beider Leben abrupt zum Stillstand gebracht hatte und sie in einer Dämmerwelt zwischen Vergangenheit und Zukunft gefangen hielt.

Dryden erhob sich, versuchte die Depression abzuschütteln, die in der Stunde vor Tagesanbruch stets auf ihn lauerte, und trat über den gefrorenen Fluss ans Ufer. Schon war das dichte pechschwarze Haar, das die gemeißelte Geometrie seiner Gesichtszüge umrahmte, mit einer weißen Frostschicht überzogen. Sein Antlitz wirkte mittelalterlich, die völlig symmetrischen, kühlen, grünen Augen wurden von einer normannischen Stirn überwölbt – ein Gesicht wie aus einer Chaucer-Erzählung. Er hätte für fünfunddreißig durchgehen können, aber bis zum Abend sähe er wieder ein Jahrzehnt älter aus.

Der Mond warf einen langen Schatten von seinen knapp einsneunzig Körpergröße, der das Flussufer entlangstakste, während er versuchte, nicht an die Vergangenheit zu denken. Ein Geräusch erlöste ihn, das Reifenknirschen eines Autos, das von der Landstraße abbog und sich im Zickzack über das Moor des Fen-Distrikts auf Barham’s Dock, das längst stillgelegte Hafenbecken, in dem die PK 129 vor Anker lag, zubewegte. Er sah auf die Uhr: 7.25. Sein anderes Leben hatte begonnen.

Das Licht spielte jetzt mehr ins Graue, die Sterne verblassten, und eine leblose Farbigkeit stahl sich in die Dezemberlandschaft. Die weiße Eisdecke spendete mehr Licht als der noch unbesonnte Himmel.

Er setzte den rituellen Kaffee auf und freute sich auf das Eiersandwich, das ihn als Gegenleistung erwartete. Als er wieder an Deck kam, hatte Humph das Taxi bereits eine halbe Meile vom Dock entfernt abgestellt und umkreiste es, seine einzige körperliche Betätigung für den Tag. Der Taxifahrer war nicht schwer zu erkennen, selbst auf diese Entfernung. Mühelos balancierte er die beeindruckende Körperfülle auf seinen Ballerinabeinchen, ein Hüpfkreisel, der seinen innigst geliebten Ford Capri umtänzelte, das einzige zweitürige Taxi weit und breit.

Nachdem er die dritte Runde beendet hatte, ließ Humph Boudicca, den Windhund, von der Rückbank und holte die Tennisballwurfmaschine aus dem Kofferraum, die Dryden den beiden zu Weihnachten geschenkt hatte. Der Taxifahrer baute das dreifüßige Gerät auf, legte einen neongrünen Ball in den Schlitz, lehnte sich gegen den abblätternden Lack des Capri, zog den Auslöser, und schon sauste der Ball satte fünfzig Meter weit am Flussufer entlang. Schwalbengleich schoss die von der Leine gelassene Boudicca über den schwarzen Torf, eine elegant galoppierende Ikone der Geschwindigkeit.

Sie apportierte den Ball, Humph lud erneut und feuerte.

Dryden zog den Reißverschluss der grünen Abdeckplane am Ruderhaus zu und ging zu ihnen. Schweigend tranken sie den Kaffee, nachdem sie die Eiersandwiches aus Humphs Lieblingsimbissbude aus der Folie gewickelt hatten. In zwei Bissen hatte Humph seines verdrückt: Der triefende Dotter war der einzige Farbtupfer in diesem anbrechenden Morgen.

»Wie kalt ist es?«, fragte Dryden.

»Durchsuch mich«, entgegnete Humph, der sich am wilden Lauf der Hündin entlang des Hochwasserdeichs ergötzte.

Dryden lenkte den Blick auf den phänomenalen Bauchumfang des Freundes. »Dafür haben wir nicht genug Personal«, entschied er.

Boudicca kam zurück und schnüffelte schamlos an Drydens Schritt.

»Noch ein Toter«, berichtete der Taxifahrer mit einem Kopfnicken zum Capri. »Kam grad im Radio.«

»Erfroren?«

Der Taxifahrer nickte. »Irgend so ein armes Schwein in der Jubilee-Siedlung. Lag tot in der Wohnung.«

Die Jubilee-Siedlung war Elys weniger betuchtes Viertel, ein Straßengewirr aus Ziegelreihenhäusern, hie und da aufgelockert durch einen geschmacklosen Anfall von Natursteinfassade. Seit seiner ausgesprochen unschönen Scheidung besaß Humph dort ein Haus, das er aber so gut wie nie betrat, da er es vorzog, in einer gemütlichen Folge von Parkbuchten im Taxi zu nächtigen.

»Wann denn?«, fragte Dryden, der die Beifahrertür des Capri aufzog und sich auf das vertraute Jaulen der rostigen Scharniere gefasst machte.

Humph ließ Boudicca auf die Rückbank springen, dann hakte er sich an Dach und Tür ein und senkte sich zum Fahrersitz ab. Der Capri neigte sich bedenklich, von unten ächzten die Federn.

»Sein Nachbar hat ihn gestern spätabends entdeckt, weil ihm auffiel, dass die Fenster offen standen«, berichtete Humph.

Dryden versuchte, sich das auszumalen. Eine Wohnung, hoch oben im Himmel, durchströmt von eisiger Luft.

Er sah noch einmal auf die Uhr. Bis zum Redaktionsschluss des Crow blieben noch etliche Stunden, aber heute war Drucklegung, und den Reporter in ihm dürstete nach einer vernünftigen Story.

»Dann schauen wir uns das doch mal an«, entschied er, und die Erleichterung, wieder ein Ziel zu haben, blähte ihnen beiden die Segel.

Kapitel 3

Die Urinpfütze am Fuß des Treppenhauses der High-Park-Appartements war fest gefroren. Im Aufzug fand sich ebenfalls eine gefrorene Pfütze, farblich war sie allerdings keiner bekannten Körperflüssigkeit zuzuordnen.

Dryden drückte den Knopf mit der Ziffer 12, doch der Aufzug rührte sich nicht. Die Türen tanzten einen kurzen Shimmy: Sie schoben sich zu und wieder auf. Draußen auf dem Asphalt saß Humph grinsend in seinem Capri.

Dryden stapfte die erste Treppe hinauf, sämtliche Wände waren mit Schmierereien überzogen, nur ein neongelber Anschlag stach heraus und bot Senioren Hilfe während der Kältewelle an. Vierundzwanzig Treppenabsätze später erreichte Dryden den Laubengang »Frobisher«, das Stockwerk, auf dem Declan McIlroy bis in die ersten Stunden des heutigen Tages gelebt hatte. Es war windig hier oben und satte fünf Grad kälter. Drydens Atem dampfte, und die Luft schmerzte in der Kehle. Die Kältewelle dauerte nun schon eine ganze Woche lang an, und die arktische Kaltfront brachte strahlendes Wetter und Schneeschauer voll übergroßer Flocken mit sich.

Dryden schlang den Mantel eng um sich und spürte das Eis im Haar.

Auf der Fahrt in die Stadt hatte er sich von der Polizei von Ely telefonisch die bloßen Fakten geben lassen: Ein Nachbar war auf den Laubengang hinausgegangen, um seine winselnde Katze zu retten, die durch eine festgefrorene Klappe ausgesperrt war. Dabei hatte er bemerkt, dass das Gangfenster von McIlroys Appartement offen stand, was um zwei Uhr nachts für sich genommen schon ungewöhnlich war, angesichts der eisigen Temperaturen aber Anlass zur Besorgnis gab. Der Nachbar stellte fest, dass die Tür nicht verschlossen war, trat ein und fand McIlroy bei laufendem Fernseher mit einer gefrorenen Tasse Kaffee neben sich tot in einem Wohnzimmersessel vor. Sämtliche Fenster des Zimmers standen offen. Tod durch Unterkühlung hatte der Arzt festgestellt. Es würde ein Todesermittlungsverfahren geben, aber McIlroy hatte seit langem unter psychischen Störungen gelitten und bereits zwei Suizidversuche hinter sich: beide mit einem Messer.

Als Dryden über die Kante des Aufzugschachts zum Parkplatz hinunterspähte, flog eben eine Möwe unter ihm durch. Das High-Park-Appartementgebäude war in den Sechzigern erbaut worden und bildete den Mittelpunkt der Jubilee-Siedlung. Es ragte fünfzehn Stock hoch auf und rang mit dem Westturm der Kathedrale um die Vorherrschaft über den Horizont. Jedes Stockwerk verfügte über einen außen liegenden Laubengang, der die Türen der einzelnen Appartements miteinander verband. McIlroy wohnte in Nummer 126, einem Eckappartement, dem letzten auf diesem Gang.

Dryden ging zur Tür und drückte die Klinke: verschlossen. Es überraschte ihn, dass Polizei und Notarzt schon abgezogen waren. Nirgends gab es ein Anzeichen dafür, dass hier jemand gestorben war, vom Leben ganz zu schweigen. Er klopfte einmal, zweimal, wartete, schaute gen Süden, zum Stadtzentrum und darüber hinaus. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, und nach Osten fädelte sich eine lange Halskette aus Scheinwerfern bis Newmarket durch den Fen-Distrikt.

Dryden spähte durch das Fenster, konnte im Zwielicht aber nur wenig erkennen – den trüben Schimmer unpolierter Hähne, die orangefarbene Kücheneinrichtung aus Plastik und einen rostigen Gasboiler.

»Ist nicht daheim«, sagte jemand.

Dryden drehte sich um und sah einen älteren Mann; er mochte um die siebzig sein, hatte einen Morgenrock in Schottenkaro über Pulli und Jogginghose gezogen und hielt eine Tasse Tee fest umschlossen.

»Ich habe gehört – was passiert ist«, sagte Dryden und trat einen Schritt zurück. »Mein Name ist Dryden, ich bin vom Crow.«

»Sag ihm, er soll sich verpissen«, rief eine Frau aus der halb geöffneten Tür hinter dem Nachbarn.

Dryden nickte zu dem Appartement hin. »Da haben Sie wohl die Herzogin von Kent zu Besuch?«

Der Nachbar grinste und nickte. »Beachten Sie sie gar nicht. Sie sieht nicht gut – Gürtelrose«, erklärte er und streckte die Hand aus: »Buster. Buster Timms. Ich bin der, der ihn gefunden hat.« Er nickte zur Tür von Nummer 126 hin und hörte nicht zu nicken auf. »Wollen Sie mal sehen?«, fragte er.

»Und die Polizei?«, meinte Dryden, aber Buster sperrte längst die Tür auf. »Der ist das egal. Ich bin die ganze Nacht rein und raus und hab Tee gebracht. Jetzt sind sie abgezogen – haben gemeint, ich soll die Bude im Auge behalten.« Gekonnt schnalzte er mit seinen Dritten.

»Wie war er denn so – McIlroy?«, erkundigte Dryden sich, als Buster durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer voranging. Dort gab es zwei Panoramafenster, eins nach Osten, das andere nach Norden. Eine Fenstertür führte auf einen kleinen Balkon hinaus, auf dem ein einsamer Holzstuhl stand, darunter ein Aschenbecher voller Eis. Jetzt, da die Sonne aufgegangen war, war das Zimmer lichtdurchflutet.

Buster überging die Frage. »Da hab ich ihn gefunden – in dem Sessel da. Steif wie ein Brett – kein Witz.« Buster strahlte. »Tragisch. Er war keine vierzig.«

»So so – aber wie war er denn nun?«

»Declan? Verrückt tät ich sagen. Sie wissen schon. Meschugge – hat andauernd Schwierigkeiten gehabt. Wir sind ja nur Nachbarn, nicht wahr, da mischt man sich natürlich nicht ein, bringt ja nichts.«

Dryden nickte. »Hier sind nirgends Türen«, stellte er fest.

Buster sah sich um und ließ einen Finger am Türrahmen bis dorthin hinabgleiten, wo einmal die Angeln gewesen waren. »Hat sie rausgenommen. Stehen in der Abstellkammer. Mich dürfen Sie da nicht fragen – aber man macht sich natürlich so seine Gedanken.« Er zwinkerte und schnalzte die Platte seiner dritten Zähne in die Höhe, so dass kurz sein kirschrotes Zahnfleisch aufblitzte. Drydens Magen verquirlte das Eiersandwich. »Ich schätz’ mal, er hat gesessen. Wenn er’s auch nie zugegeben hat.«

Dryden ging in die Küche. Auf einem Resopaltisch lag ein Bund Möhren, die Wurzeln voller Erde. Unter einem Blumenkohl auf dem Abtropfbrett lag eine Zeitung ausgebreitet.

»Scheint ja ein großer Gemüsefreund gewesen zu sein«, sagte Dryden und öffnete den Kühlschrank, der ausgeschaltet und leer war.

»Hat nichts anderes gegessen. Er hatte einen Kleingarten – da draußen.«

Durch das schmierige Fenster schweifte der Blick fort von der Stadt, hin zum finsteren Strich der Eisenbahnlinie in der Ferne. Dicht an dicht reihten sich Bohnenstangen und erfrorene Gemüsebeete zu einer Landschaft, die von Hütten und Lauben durchsetzt war: eine weitläufige Barackensiedlung aus modrigem Holz und Kunststoffplanen.

Dryden zog das Schränkchen über der Spüle auf. Hier lagerten die Teevorräte – Darjeeling, Earl Grey, Pfefferminz, Kamille.

»Du meine Güte«, staunte Dryden und untersuchte eine der halb leeren Schachteln.

Buster grinste viel sagend, und in Dryden erwachte ein kaum gekanntes Gefühl: akute Antipathie.

»Was ist denn so witzig?«, fragte er und drängte Buster einen Schritt zurück.

»Gesoffen hat er«, sagte Buster. »Schnaps. Mit dem Tee hat er sich nur über Wasser gehalten, wenn ihm mal wieder die Knete ausging.«

Dryden griff nach dem Wasserglas, das auf dem Abtropfbrett stand und schwenkte es unter der Nase: Es war gespült, aber dennoch kamen ihm Whiskyschwaden daraus entgegen.

Busters Zähne klapperten allmählich.

Sie gingen in die Diele. Dort hing ein Stromzähler, an dessen schwarzer Emailscheibe Dryden ablas, dass er praktisch voll war: £ 22,50.

Die erste Tür im Flur führte in ein kleines Schlafzimmer: ein Schlafsack auf einer Matratze, kein Teppich. Dann die Abstellkammer, das heißt, das Zimmer war als Kammer genutzt worden, eigentlich wäre es das Elternschlafzimmer gewesen. In Teekisten lagerten unterschiedlichste Kabel und elektrische Schaltelemente. An der Wand standen zwei alte Fernseher und ein Videorekorder. Es gab einen robusten Holztisch, das einzig vernünftige Möbelstück in der ganzen Wohnung, das als Werkbank diente und mit Zeitungen bedeckt war. An der gegenüberliegenden Wand lehnten vier der fünf Zimmertüren der Wohnung.

»Er konnte alles reparieren«, erzählte Buster ungefragt und drängte sich an Drydens Schulter. »Hauptsächlich für die Leute, die hier wohnen. Er war billig.«

»Und das?« Dryden zog eine mit einem bunt beklecksten Blatt unterlegte Staffelei von der Wand weg.

Buster zuckte die Schultern. Sie kehrten in die Diele zurück, und Dryden ließ sich die feuchte Luft in die Lungen strömen. Hier stand ein Schrank, den Dryden gern geöffnet hätte, doch er war abgesperrt.

»Schlüssel?«

Buster schüttelte den Kopf: »Ich hab nur den für die Wohnung. Wir haben die Zweitschlüssel getauscht. Hat die Polizei nicht weiter interessiert.«

»War er denn oft knapp bei Kasse?«, wollte Dryden wissen und ging ins Wohnzimmer zurück.

»Allerdings. Aber er hat ja Sozialhilfe gekriegt – wegen der Krankheit.«

»Krankheit?«

»Husten. TBC, hat er gesagt. Deswegen hab ich gestern Nacht ja auch gemerkt, dass was nicht stimmt – ich hab gehorcht, aber kein Husten. Er hustet andauernd im Schlaf. Das macht die Frau völlig irre«, setzte er mit einem Nicken zur Trennwand hinzu.

»Aber Sie sind nicht nachsehen gegangen?«

Buster verkrallte sich in seine Morgenrockkordel. »Er wollte nicht gern gestört werden.«

Über dem gekachelten Kamin hing ein gerahmtes Bild: Zwei Männer auf einer Bank unter einer Magnolie. Hinter ihnen breitete sich das endlose Moor aus, im Vordergrund lag ein Teich. Dryden tippte an den Rahmen.

»Das ist sein Kumpel – Joe«, erläuterte Buster. »Hab nicht viel mit ihm zu tun gehabt. Declan hat erzählt, dass er Kehlkopfkrebs hat und deswegen nicht mehr groß rumfahren kann. Hat ein Haus irgendwo da draußen ...« Er nickte zu dem Fenster hin, das nach Norden auf die weite Moorlandschaft zeigte.

Dryden besah sich die Gesichter: Joe, mit weißem, kurz geschnittenem Haar, teurem, hochwertigem Hemd und ebensolchen Schuhen, dazu eine Zigarette, deren Rauch mit dem Sommerwind aufstieg. Declan sah im Vergleich dazu schmächtig aus, die Schultern vornübergeneigt, die Brust eingesunken, die Handgelenke schmal und schwächlich.

Trotz dieser Freundschaft spürte Dryden geradezu eine große Einsamkeit in der Wohnung. »Kamen noch andere Freunde? Zu Weihnachten, wann immer?«

Buster schüttelte den Kopf, aber Dryden war sich ziemlich sicher, dass er die Frage gar nicht mitbekommen hatte, deshalb fragte er erneut.

»Eine Schwester. Marcie. Sie bringt ihm Essen, kümmert sich um ihn. Gestern ist sie hier gewesen.«

Im Wohnzimmer stand eine billige Anrichte aus Kiefernholz. Darauf eine Schale mit Nüssen, das einzig andeutungsweise Weihnachtliche in der ganzen Wohnung. Darin fand Dryden Gläser: nicht zueinander passende Weinkelche, verzierte Biergläser und eine einzelne, gesprungene Sektflöte. Sie standen allesamt mit dem Fuß nach oben präzise auf einem staubfreien Ring. Alle außer einem: einem Whiskyglas.

Kapitel 4

Dryden saß an seinem Schreibtisch und schaute durch das in das Milchglas des Redaktionsfensters gravierte Crow-Logo auf die Market Street. Unter der stolzierenden Krähe stand der seit der Gründung des Blattes im Jahr 1882 unverändert gültige Wahlspruch: Bene agendo nunquam defessus (Niemals müde, Gutes zu tun).

»So bin ich«, sagte Dryden und suchte unter dem Chaos auf seinem Tisch nach der Kaffeetasse.

Er fischte passendes Kleingeld aus der Plastikwanne unter der Kaffeemaschine und schob es in den Schlitz. Die Maschine zischte, und in der beißenden Kälte stieg Dampf auf. Die Kathedrale schlug neun Uhr, und die Heizkörper bebten, als das eiskalte Wasser in den ratternden Boiler strömte.

Dryden hielt die Tasse in beiden Händen und sah noch einmal auf die Straße hinaus. Von Osten her beschien die Sonne die Gehsteige, und auf der anderen Straßenseite dampften die Dächer. An der Dachrinne des Crow hingen Eiszapfen, von denen aber nicht einer tropfte, und eine einsame Schneeflocke, mehr als zwei Zentimeter im Durchmesser, trudelte nieder wie eine Feder.

Er setzte sich und fuhr den PC hoch. So hatte er Büros am liebsten: leer.

Aber leer würde es nicht lange bleiben. Heute war Drucklegung, und wenn es im Crow auch nur selten wirklich rundging, ein wenig Hektik zumindest sollte bis Mittag doch spürbar sein. Die Schreibtische der drei Reporter lagen unter langsam sich voranschiebenden Papiergletschern, aus denen hie und da eine metallene Aufspießnadel ragte. Auf der Setzerbank an der Wand standen zwei klobige Layout-Computer, die noch aus der Prä-Flatscreen-Ära stammten und drei Fuß tief waren. Zwischen den PCs standen zwei ebenso dimensionierte Aschenbecher, die nur um eine Winzigkeit zu klein waren, um als Radkappen durchzugehen. Dem Raum war kaum etwas von jener Zeitungsromantik zu eigen, deretwegen Dryden seinen Beruf vor mehr als einem Jahrzehnt ergriffen hatte. Das war auf der Fleet Street gewesen, und immer, wenn im Kellergeschoss die Druckerpressen angeworfen wurden, war ein Beben durch die Redaktion gegangen. Inzwischen aber war der Geruch von Druckerschwärze nur noch eine ferne Erinnerung, wie die Schlagzeilen von gestern.

Splash, die Redaktionskatze, lag eingerollt auf Drydens Schoß und schlief. Er streichelte sie und neidete ihr die Unabhängigkeit nicht minder als das Fell.

Das Telefon klingelte, und beide sprangen auf.

»Hast du ’ne Minute?« Er kannte diese Stimme, weiblich und kraftvoll, das beißende Aroma des Bauarbeitertees in ihrem großen Becher stieg ihm förmlich in die Nase.

»Vee?«

»Komm rüber«, sagte sie. »Ich hab was, was dir gefallen wird.«

Er verließ die Crow-Redaktion durch den Hintereingang, lief durch den ehemaligen Druckereihof zur Market Street und gelangte dann durch eine gefährlich vereiste Gasse auf die High Street. Vee hatte ihr Büro über einem der unzähligen Wohltätigkeitsläden im Stadtzentrum, und zwar direkt neben der Mesnerpforte, dem normannischen Zugang zum Bezirk der Kathedrale. Ein mittelalterlicher Schatten hatte den dunklen, gewölbten Durchgang zum permanenten Frostgebiet gemacht, seit mit der Kältewelle selbst die Mittagstemperaturen nicht mehr über den Gefrierpunkt stiegen. Unter dem Kopfsteinpflaster waren, wie Dryden sich erinnerte, Bauarbeiter in den Sechzigerjahren auf die in einem Beinhaus aufgehäuften Schädel der Mönche der Kathedrale gestoßen. Er schauderte und schlang den großen schwarzen Trenchcoat ein Stück enger um seine hagere Gestalt.

In dem Wohltätigkeitsladen probierte ein Rentner Hüte auf. Ein elektrischer Kamin mit zwei Stäben spendete der schlafenden Verkäuferin etwas Wärme. Vor ihr auf der Ladentheke stand ein Spendenteller, in dem Silber- und Kupfermünzen blitzten. Über eine steinerne Wendeltreppe gelangte Dryden in Vees Büro. Selbst hier, zwischen feuchten Pappkartons und unbehauenen Bodendielen, war Vees Klasse unübersehbar: Sie war ein reales, lebendes Fossil aus altem Adel und radikalliberalen Ansichten. Sie war das Westentaschenschlachtschiff unter den Rentnern: Kompakt, mit sehnigen Händen und wettergebräunter Haut. Eines ihrer Augen war in jungen Jahren schon erblindet, und die Pupille, die immer ein wenig von Tränenflüssigkeit glänzte, glich einem weißen Mond. Sie hatte das Büro – die Zentrale der von ihr selbst ins Leben gerufenen Aktion gegen Unterkühlung – nebst einem einzelnen Schlafzimmer darüber angemietet. Dazu verfügte sie über einen Kontostand von einer Million Pfund, mehr brauchte man über Vee Hilgay nicht zu wissen.

»Heut früh gab’s schon wieder einen«, sagte sie, als Dryden eintrat und sich auf dem für ihn viel zu kleinen, wackligen Holzstuhl drapierte.

»Ich weiß. Ich war dort – in High Park.«

Sie nickte. »Das macht acht in einer Woche«, resümierte sie und stellte die Halbliter-Teetasse mit dem Tony-Benn-Portrait ab. Aus einer braunen Kanne auf dem Schreibtisch schenkte sie Dryden ebenfalls eine Tasse ein. Dann trat sie an ein schmales Lanzettfenster im Gemäuer, öffnete es und holte ein Thermometer herein.

»Drei Grad unter null. Das Monatsmittel liegt bei Minus zwei – der niedrigste Wert seit Siebenundvierzig. In Mildenhall hatten wir gestern Nacht zehn Grad minus. Das ist eine Katastrophe; heute wird wieder jemand sterben, und morgen ...«

Dryden machte sich eine kurze, unentzifferbare Notiz in den Block, damit er sich später besser an das Zitat erinnerte. »Was soll ich dazu sagen?«

»Schau dir das an«, erwiderte sie und ließ eine Akte auf den Tisch fallen. Auf den Versuch einer seelischen Erpressung gefasst, schlug Dryden sie auf. Vor ihm lag das Foto einer betagten Dame, das weiße Haar frisch zum Altweiberhelm aufgedonnert, unter dem die Kopfhaut gerade noch erahnbar war.

»Millie Thompson. Sechsundachtzig. Vor drei Tagen tot in ihrem Bett in Manea gefunden«, erläuterte Vee. »Auf dem Fußabstreifer drei Schecks vom Sozialamt und ihre Rente. Sie hat so furchtbar gefroren, dass sie nicht mehr vor die Tür konnte, ihr Gasboiler war defekt – sie hat zwar beim Gaswerk angerufen, hat denen aber gesagt, sie brauchten sich nicht die Mühe zu machen, jemanden rauszuschicken. Stattdessen hat sie sich ins Bett gelegt – das war vor zehn Tagen. Zehn Tage ohne eine warme Mahlzeit und Heizung. Ihr Landhaus war völlig feucht. Als man sie fand, war sie zwischen den Laken festgefroren.«

Dryden nahm das Bild zur Hand. »Ich kann was drüber bringen – wenn ich’s bei dem von heute Morgen mit dazunehme.«

Vee lächelte, sie wusste, Drydens Gewissen war seiner journalistischen Karriere massiv im Weg gestanden. Sie warf einen Blick in ihre Unterlagen. »Declan McIlroy. In psychiatrischer Behandlung – war er so verwirrt oder so verzweifelt?«

Dryden schlürfte am Tee. »Wahrscheinlich ...« Sekundenbruchteile zu lang blickte er in Vees gesundes Auge.

Sie streichelte die Tony-Benn-Tasse. »Du glaubst nicht, dass es die Kälte war?«

»Das hab ich nicht gesagt, Vee. Ich finde nur, dass die Polizei diese Todesfälle ein bisschen sehr schnell zu den Akten legt ... Also, wenn ich ein Mörder wäre, dann würde ich diese Gelegenheit nützen. Das kommt doch nie raus. Genau wie im Blitzkrieg damals. Das kann mir doch keiner einreden, dass in den Bombenkratern nicht die eine oder andere offene Rechnung beglichen wurde ...«

»Auch bei Millie?«, fragte sie und klopfte auf die Akte.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich spreche von McIlroy – nur von McIlroy.«

Vee ließ das Schweigen dauern. Dryden sah aus dem Fenster zum Westturm der Kathedrale, der das Blickfeld ausfüllte, und auf das gefrorene Wasser, das sich wie Schneckenspuren das normannische Mauerwerk hinabzog. Wieder taumelte eine Riesenflocke nieder.

»Der Nachbar hat mir erzählt, er sei die meiste Zeit pleite gewesen. Hätte sich ein bisschen was mit Elektroreparaturen dazuverdient, aber das waren nur Kinkerlitzchen. Bezog Krankengeld. Aber der Stromzähler war bis oben hin voll mit Kleingeld – über zwanzig Pfund insgesamt. Die meisten Leute würden doch warten, bis der letzte Groschen fällt und die Lichter ausgehen ...«

»Aber er ist verwirrt ...«

»Natürlich. Und er säuft. Also hat er womöglich das ganze Krankengeld in den Zähler gedrückt, damit er es nicht im Schnapsladen auf den Kopf hauen kann. Und ...«

»Hättest du denn gerne, dass es Mord war?«, fragte Vee scharfsinnig.

Dryden schreckte zurück. »Nein. Natürlich nicht.« Er stand auf. »Ich setz was ins Blatt – mit den üblichen Hinweisen und Notfallnummern. Mehr kann ich leider nicht tun ...« Dryden war alles andere als begeistert über den Kältewelle-Artikel, teils, weil ganz Ostengland davon betroffen war und die Lage im Fen-Distrikt daher keineswegs einzigartig, und teils, weil der Leserschaft des Crow eine tief sitzende, sittenwidrige Gleichgültigkeit gegenüber jedermann zu eigen war, der keine Hauptrolle in Neighbours spielte.

Im Crow war inzwischen das Spitzenteam aufgelaufen. Septimus Henry Kew, der Herausgeber, hatte sich hinter seiner Trennscheibe positioniert und las die Druckfahnen Korrektur. Charlie Bracken, der Nachrichtenredakteur, saß an seinem Schreibtisch und schwitzte in das blaue Hemd, das er schon die ganze Woche trug. In der Luft lag ein abgestandener Alkoholdunst, der von Charlies Haut genauso ausging wie von der halb geöffneten Schreibtischschublade, in der er die Notflasche Bell’s Whisky verwahrte.

Mit einem kurzen Fingerschlag auf die Tastatur erweckte Dryden den Monitor zum Leben und tippte sofort drauflos:

Gestern fand man einen Einwohner Elys erfroren in seinem Wohnzimmersessel auf – neuestes Opfer einer Kältewelle, die in einer einzigen Woche die Leben von acht ungeschützten, gebrechlichen oder hochbetagten Menschen forderte.

Während Dryden noch tippte, betrat Garry Pymoor, der Nachwuchsreporter des Crow, angetan mit seinem typischen bodenlangen Ledermantel, die Redaktion. Garry hatte, seit er in der Kindheit an Meningitis erkrankt war, einen gestörten Gleichgewichtssinn, so dass er den Stuhl, auf den er sich jetzt fallen ließ, um ein Haar verfehlte.

»Hab den Hammer«, erzählte er Dryden und versuchte dabei gleichzeitig mit einer Hand eine Zigarette aus dem Päckchen zu klopfen und sich mit der anderen das Headset über die Ohren zu ziehen.

Dryden machte sich auf das Schlimmste gefasst. Garrys Beurteilungsvermögen für Nachrichten war ähnlich verlässlich wie sein Gleichgewichtssinn.

»Es gibt eine Warnung für Eltern: Ein Drogendealer hat’s auf die Jugendlichen abgesehen. Vertickt den Stoff am Schulhof. Billiges Cannabis für die Kids – Zwölf- bis Fünfzehnjährige in der Hauptsache. Anscheinend wird das Zeug von jemandem hier in der Gegend angebaut und dann zum Schleuderpreis verscherbelt. Schätzungsweise ein Bauer. Was sagst du dazu?«

Dryden nickte. »In Ordnung. Besorg dir einen O-Ton vom Bauernverband. Und sag Charlie Bescheid – das gehört definitiv auf die erste Seite.«

Dryden legte den eigenen Artikel vorläufig auf Eis und setzte sich ans Telefon: Ein letztes Nachhaken bei den Notrufnummern vor dem endgültigen Redaktionsschluss des Crow. Es gab einen Unfall auf der Umgehungsstraße und einen kleinen Wohnungsbrand in einem Dorf nahe am Stadtrand. Und eine Sache, die zum Mindesten einen Absatz wert war: Die Polizei warnte Hausbesitzer vor betrügerischen Klempnern, die vorgaben, geplatzte Rohre reparieren zu wollen. Ein Betrügerpärchen hatte sich bereits mit den gesamten Ersparnissen eines Kunden auf und davon gemacht.

»Was ist der Aufmacher?« fragte Dryden in den Raum.

Charlie zuckte auf seinem Stuhl zusammen, als ihm klar wurde, dass er es war, der eine Antwort auf diese Frage parat haben musste.

»Ich denk mal, der Typ in dem Appartement – mit dem übrigen Kälteschmonzes. Schreib mir fünfhundert Worte drüber. Und lies dir mal den Artikel über St. Vincent’s im Innenteil durch ... Henry hat die Anwälte etliche Änderungen machen lassen.«

Mit einem Tastendruck am PC rief Dryden Charlies Nachrichtenliste auf. Das Beurteilungsvermögen des Nachrichtenredakteurs war nicht selten zweifelhaft, insbesondere so kurz vor Öffnung der Pubs. Dryden scrollte sich durch die Liste und versicherte sich, dass er ihm auch wirklich den richtigen Artikel als Aufmacher genannt hatte – nicht, dass der Herausgeber in letzter Minute noch alles über den Haufen schmiss, Dryden seinen Text in den Papierkorb werfen und sich einen Ersatz aus den Fingern saugen konnte.

Nachrichtendispo:

Crow – Donnerstag, 29. Dezember 2005

Titel.

Weihnachtsaktion Bürgermeister bringt £ 2000,- Spendengelder – FOTOS. Pymoor

Auto stürzt in Thirty Foot Drain: drei Verletzte – FOTOS. Dryden

Streit wg. Sperrzeitverkürzung an Silvester für Innenstadtdisco. Pymoor

Kältewelle fordert neues Opfer: Zus.fassung Eiszeit. Verweis auf Bilder innen. Redaktion und Agenturtexte.

Seite 2.

SEITENAUFMACHER: Untersuchung wg. Kindesmissbrauch in St. Vincent’s: Weitere Opfer aufgetaucht. Dryden

Brandstiftung an Weihnachten in Dorfschule. £ 12 000, – Schaden. FOTOS. Pymoor.

Hund nach Beißattacke auf Baby eingeschläfert. Dryden Gericht verhandelt acht Fälle von Trunkenheit und Ruhestörung. »Kampftrinken« gerügt. Pymoor

Seite 3.

SEITENAUFMACHER: TV-Promi eröffnet aufgemotzten Bingosaal – FOTOS. Pymoor

Einwohner von Littleport macht ganzer Straße »Leben zur Hölle«. Agenturtext zur Verhandlung Fen-Distrikt-Eislauf-Komitee trifft Rennvorbereitungen ... ArchivFOTO.

Aus meiner Sicht: Bischoff schreibt blabla ... Klassenfoto: Kirchenschule Little Downham 1923.

Seite 5.

SEITENAUFMACHER: Mann in Chittering wg. Bigamie verklagt – schon wieder. Archivbilder von allen drei Hochzeiten. Pymoor

Eis blockiert Schleusentore in Denver – FOTOS. Dryden Schule Lantern Grafschafts-Tabellenführer – FOTOS. Dryden

Seite 7.

Kurz und Knapp

Studie zeigt: Überschwemmung würde 100 000 Häuser betreffen – Versicherungen werten Immobilien im Fen-Distrikt neu ein. (Übernahme von den Überregionalen.) Zus.fassung Weihnachtseinbrüche. Pymoor

30 Jahre alter Mordfall evtl. neu verhandelt – Agentur Manea: Pferd geht durch – Treibhaus demoliert. Dryden Beheizter Morgentee für Rentner – aktuelle Wochenübersicht: inkl. Marienkapelle Kathedrale.

Dryden schloss die Dispo. »Jungejunge. Ganz schön mau.« Vor allem fiel ihm auf, dass der Artikel über den »TV-Promi« sich nur auf einen absoluten Niemand beziehen konnte, da ansonsten der Name genannt würde. Es war typisch für Ely, dass sich hier nur diejenigen blicken ließen, die es zwar nie auf die A-Liste geschafft hatten, die eines Tages aber unvermeidlich auf der Z-Liste landen würden. Schlimmer aber war, dass der Nachrichtenredakteur eine gute Story übersehen hatte. Die richterliche Rüge des »Kampftrinkens« hätte sich im Vorfeld der Silvesterfeierlichkeiten zu einer größeren Reportage ausweiten und mit dem Streit über die Sperrzeitverkürzung verknüpfen lassen. Er machte Charlie in einer internen E-Mail den entsprechenden Änderungsvorschlag.

Dann öffnete er den Artikel, den er zu St. Vincent’s geschrieben hatte: Das neueste Kapitel einer nicht enden wollenden Saga um ein hiesiges Waisenhaus. Die Anwälte hatten massiv in die Einleitung eingegriffen – und die Dramatik herausgenommen. Dryden löschte seinen Namenszug und ersetzte ihn durch eine anonymisierte Verfasserangabe. Wenn sie ihm schon die Texte versauten, dann sollte wenigstens sein Name nicht darunter stehen.

Von unserer Redaktion

Die Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen gegenüber einem katholischen Waisenhaus in Ely durch Rechtsanwälte brachte Anschuldigungen von zwei weiteren, potenziellen Opfern ans Licht, die in den 1970-er Jahren in dem Heim lebten.

Wie ein Sprecher gestern verlautbarte, gehe man nun fünf voneinander unabhängigen Fällen von Misshandlungen neun- bis fünfzehnjähriger Jugendlicher nach, darunter Schläge, Einzelarrest, sowie Entzug von Nahrung und Bett.

»Wir sind überzeugt, dass die Last der Beweise eine Klärung dieser Vorwürfe vor Gericht unabdingbar macht«, erklärt Hugh Appleyard, Kanzlei Appleyard & Co., der Vertreter der mutmaßlichen Opfer.

Derzeit ist eine Zivilklage in Vorbereitung, welche massive Schadensersatzansprüche gegen die Diözese East Cambridgeshire, den damaligen Betreiber des Waisenhauses St. Vincent de Barfleur, geltend machen wird.

Das Waisenhaus in Lane End, Ely, wurde im Jahr 1989 geschlossen, die zugehörige Kirche allerdings wird noch genutzt.

Diözesansprecher Fr. Ignatius O’Halloran erklärt: »Wir kooperieren mit den Behörden und werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Wahrheitsgehalt jedes einzelnen dieser Fälle aufzuklären.«

Die Polizei von Ely lässt verlautbaren, man stehe in dieser Sache sowohl mit der Diözese als auch mit dem grafschaftlichen Sozialamt in Verbindung und werde gegebenenfalls einen Schriftsatz an die Königliche Staatsanwaltschaft überstellen. Ein späterer Strafprozess ist nicht ausgeschlossen.

Der während der Zeitspanne der Mehrzahl der mutmaßlichen Missbrauchsfälle für die Leitung von St. Vincent’s verantwortliche Priester wurde von offizieller Seite nicht namentlich genannt und verweigert jeden Kommentar.

»Der Anwalt hat die knackigen Sachen alle rausgeschmissen«, ärgerte sich Dryden, während er den Cursor durch den Artikel wandern ließ. Garry schrie ein rituelles Buh. »Und er hat den Namen des Pfaffen gestrichen.«

Charlie zupfte am Kragen seines blauen Hemds, und Dryden argwöhnte, dass die Streichung ihm – und nicht den Anwälten – zu verdanken war, um den Artikel doppelt abzusichern.

Dryden speicherte den Artikel wieder in der Produktions-Zwischenablage ab und konnte ein Aufwallen der Entrüstung angesichts der Opfer von St. Vincent’s nicht unterdrücken. Er selbst hatte eine im Wesentlichen freundliche katholische Erziehung durchlaufen, doch auch er hatte willkürliche Gewaltakte und institutionalisierte Grausamkeiten erlebt, die ihm eine gewisse Empathie mit den Misshandelten erlaubten.

Er füllte die Kaffeetasse nach, wozu er Münzen aus der Automatenrückseite herausholte und wiederverwertete, dann schusterte er unter Einbeziehung eines Zweihundert-Wort-Textes der Press Association über das Wetter den Rest des Aufmachers zusammen und flickte mehrere Berichte über Riesenschneeflocken ein, zu denen es aufgrund der außergewöhnlich kalten, aber trockenen Witterung derzeit kam. Er zitierte einen Meteorologen mit der Prophezeiung, der Weltrekord – eine Flocke von achtunddreißig auf zwanzig Zentimeter, die 1887 in Montana niedergegangen war – dürfte wohl kaum übertroffen werden.

Dann überarbeitete Dryden Garrys Artikel über den Cannabis-Dealer so weit, dass er Sinn ergab. Garry, dessen Dankbarkeitsbezeugungen ans Peinliche grenzten, wollte ihn, da die übliche Mittagspause am Drucklegungstag nun auch offiziell eingeläutet war – es war 11.30 Uhr – in der Fenman Bar gegenüber auf einen Drink einladen.

Doch der klaustrophobe Declan McIlroy ging Dryden nicht aus dem Kopf. Er teilte mit ihm die bedrückende Angst vor geschlossenen Türen, und das noch am Glas haftende Whiskyaroma faszinierte ihn. Was war das für ein Mensch, der sich einen allerletzten Schnaps einschenkt und dann noch abwäscht? Und für wen war das andere Glas gewesen, das so akkurat wieder in der Anrichte verstaut worden war?

»Erst einmal ein Spaziergang«, entschied Dryden und stand auf. »Na los«, fügte er an Garry gewandt hinzu. Sie machten sich auf den Weg zur Tür und zeigten Charlie ihre Handys. »Wenn wer fragt, wir sind auf Nachrichtenjagd.« Lächelnd träumte der Nachrichtenredakteur von seinem ersten Bier.

Kapitel 5

Der lange Schatten des High-Park-Appartementhauses reichte bis fast an die Kleingärten heran, die Dryden von Declan McIlroys Wohnzimmer aus gesehen hatte: Der gewaltige Halbschatten lag über dem Ödland, dessen Herzstück das verrostete Chassis eines herrenlosen Autos bildete – das Modell längst nicht mehr erkennbar, die Radkästen und scheibenlosen Fenster von Brandspuren entstellt. Zwei Jungs mit steifen Ami-Baseballkappen standen auf einem Wurfmal aus entsorgten Paletten und schmissen mit Steinen auf das Metallgerippe. Von den Feiertagen gelangweilte und aus der warmen Wohnung vertriebene Schulkinder hatten in einer Öltonne Feuer gemacht und stocherten mit Holzstöcken darin herum. Ein kleineres Kind, das noch kaum laufen konnte, die Haut unter der knapp sitzenden Kleidung rot gefroren, spielte mit einem Puppenofen aus Plastik.

Rasch liefen Dryden und Garry ins schwache Sonnenlicht hinter der Schattenzone. Hier hatte einstmals ein Lattenzaun das Ende der Gartenanlage markiert, und seine verbliebenen, weiß getünchten Überreste waren mit Brettern, Treibgut und einer hinterhältigen Rolle Stacheldraht aufgefüllt.

»Was suchen wir überhaupt?« fragte Garry und betastete seine Pickel.

»Schauen wir mal, ob wir jemanden finden. Wen auch immer«, sagte Dryden, der die Frage nicht weiter beachtete und nach Anzeichen von Leben Ausschau hielt. Eine mit einem Strandwindrad für Kinder geschmückte Vogelscheuche fiel ihm ins Auge – in einer plötzlich aufkommenden Brise drehten sich die Flügel –, doch ansonsten war alles unbewegt. Dryden rammte den Fuß auf den Boden, doch es lösten sich nicht mehr als ein paar Krümel vom durchgefrorenen Erdreich.

»Au wei«, meinte Garry mit einem Blick auf die umgeknickten Bohnenstangen, die vereisten Pampasgrasbüschel und die gesprenkelten Schuppen und Lauben.

Sie gingen den Hauptweg entlang. Die meisten Gärten waren leer, und der schwere Lehm der Isle of Ely war weiß bestäubt, nur ein paar Möhrenspitzen ragten hervor und das ins Kraut geschossene Gemüse, das inzwischen vom tagelangen Dauerfrost schwarz war. Die einzigen Farbtupfer waren die wahllos herumstehenden Plastikregentonnen.

In einer Hecke am hinteren Ende der Gartenanlage klaffte ein schmaler Spalt, hinter dem eine träge Rauchwolke sich wie ein verzwirntes Stück Darm in den Himmel schraubte. Sie standen an der Öffnung, blickten hindurch, scheuten sich aber, den Bann zu brechen, der über diesem Abschnitt zu liegen schien. Die Parzellen hier waren besser gepflegt, hatten ordentliche, unvermüllte Furchen, und die ganze, geräumige Enklave war von einer hohen Hecke umgeben. Der Eingang war von zwei Pfählen flankiert, zwischen denen ein Seil gespannt war, daran baumelten etliche tote Krähen, dazu ein Fuchs und eine vertrocknete Katze.

»Für eine Begrüßungsgirlande hat wahrscheinlich das Geld nicht mehr gereicht«, vermutete Dryden.

Der Schuppen in der Mitte der Fläche war größer als die übrigen und verfügte zudem über ein Ofenrohr, aus dem Rauch aufstieg: eine Folge schwarzer Eruptionen, unterlegt mit orangestichigem Weiß. Die Fenster des Schuppens waren beschlagen, aber Dryden konnte erkennen, dass sich dahinter mehrere Personen bewegten.

»Das Reich der Möhren«, sagte Dryden, während Garry in den Taschen seines übergroßen Ledermantels nach einer Zigarette fahndete.

Dann sah Dryden den Hund. Er war an einem Ring angekettet, der mit einem Bolzen in der Erde befestigt war. Es war ein stattlicher Dobermann mit erstaunlich zurückziehbaren Lefzen. Dryden, ein Feigling von beachtlichem Ausmaß, tat einen Schritt zurück. Hunde – Boudicca ausgenommen – waren nur einer seiner Angstauslöser. Aber sie waren Auslöser einer seiner größten Ängste.

Der Wachhund hatte nicht gebellt, ein – wie Dryden aus Erfahrung wusste – ganz, ganz schlechtes Zeichen. Er erhob sich und wartete ab, ob die Eindringlinge beharrlich blieben. Dryden versuchte die Länge der Kette abzuschätzen und zog einen imaginären Kreis um die Kleingartenbarackensiedlung.

Zögerlich trat er voran, war es doch sein schlimmster Alptraum, als Feigling dazustehen, und Hunde konnten Angst schließlich riechen. Es dauerte nur einen entsetzlich kurzen Moment, bis der Dobermann hochgeschnellt und losgespurtet war. Dryden stand wie angewurzelt, die Eingeweide kamen ihm hoch und sein Puls war auf 120, bis der Hund keine zwei Meter mehr von ihm entfernt war, als die Kette sich plötzlich straffte, dem Hund die Kehle abschnürte und ihn wie einen nassen Sack zu Boden gehen ließ. Verdattert rappelte er sich hoch und fletschte das hellrosa Zahnfleisch und die mustergültigen Reißzähne.

»Zurück und sitz!« Eine Frauenstimme, volltönend, aber nicht maskulin. Der Hund legte sich sphingengleich nieder und legte den Kopf auf die gewaltigen Tatzen.

Sie stand vor dem Schuppen, und Drydens geschultes Auge meinte in ihrer Hand – selbst auf fünfzig Meter Entfernung – ein Glas Bier zu erkennen. Garry stieß ihn in den Rücken, und sie schoben sich an dem Hund vorbei, Drydens Blick blieb stier auf den Ofenrohrqualm im Himmel gerichtet.

Auf dem kurzen Weg zur Hütte passierten sie zwei »PRIVAT, NUR FÜR MITGLIEDER«-Schilder, sowie den vertiefenden Hinweis: »VORSICHT GIFT!«.

»Kann ich helfen?«, erkundigte sich die Frau, als sie dicht bei ihr waren, in einem Ton, der das genaue Gegenteil verhieß.

Ihr Gesicht war bemerkenswert – das heißt, eigentlich die Haut. Dryden schätzte sie auf Ende dreißig, Anfang vierzig, aber in vielerlei Hinsicht war ihr kalendarisches Alter irrelevant: Sie war durch und durch wettergegerbt. Ihr Teint hatte diesen ganz speziellen Ockerton, der entsteht, wenn man Wind und Regen ebenso ausgesetzt ist wie der Sonne, und über das ganze Gesicht zog sich ein Netz aus kleinen Fältchen, vor allem um die feuchten und lebhaft grünen Augen herum. Vieles an ihr war schön: die dichten schwarzen Haare, welche das Licht schluckten, die Haut, von der Dryden sich vorstellte, ihr müsse der berauschende Duft von Meersalz anhaften. Es war ein Gesicht, das ein ganzes Leben an der frischen Luft verbracht hatte.

Der Blick aber ließ ihn nicht los. Es lag etwas Hypnotisches in diesen Augen. Warum sah sie über Drydens Schulter hinweg? Er sah sich um. Wie ein Grabstein ragte das High-Park-Appartementhaus über dem nahen Horizont auf, in einem dunklen Fenster funkelte ein einsamer Weihnachtsbaum.

Plötzlich fiel ihm ein, dass sie ihn etwas gefragt hatte. »Ja. Entschuldigen Sie. Mein Name ist Dryden – ich komme vom Crow – es geht um Declan McIlroy.«

Nun tauchte ein in eine dicke Arbeitsjacke gehüllter Mann neben ihr auf. Er hielt seinen geierhaft spitz zulaufenden, schmalen Schädel tief zwischen die Schultern gezogen und nach vorn gereckt, die grauen Haare hatte er millimeterkurz abrasiert. Er legte der Frau den Arm um die Hüfte und zog sie mit einem Ruck zu sich.

»Alles in Ordnung«, sagte sie und berührte seine freie Hand, dann wandte sie sich wieder an Dryden. »Kommen Sie rein. Wir wissen über Declan Bescheid.«

Sie ging voran, streckte beide Hände nach dem Türrahmen aus und tastete kurz nach den hölzernen Kanten. Genau da ging Dryden auf, dass sie blind war, dass die grünen Augen, in denen sich alles spiegelte, nichts sahen.

Drinnen war es heiß. Das Ofenrohr stieg nicht in gerader Linie zum Dach auf, sondern lief schräg durch die gesamte Hütte, um dann im Außenkamin zu verschwinden. Es strahlte Hitze ab, und ein halbes Dutzend Männer saß auf diversen Stühlen und Holzkisten um das Rohr herum. In der Ecke stand ein großes Plastikfass, und die dicke Luft war geschwängert von einem Dryden bestens vertrauten Duft: Nach selbstgebrautem Bier.

»Willkommen im Gardener’s Arms«, sagte die Frau mit einem müden Lächeln. »Ich bin Marcie, Marcie Sley.«

Immer wieder wanderte Drydens Blick zu dem Fass hin. »Wer ist der Brauer?«

»Wir machen das gemeinschaftlich«, sagte der Mann in der Arbeitsjacke, der sich neben Marcie gestellt hatte. Er streckte eine Hand wie eine Baggerschaufel aus. »John Sley.« Den grauen Stoppeln an seinem Kinn nach schätzte Dryden ihn auf zehn Jahre älter als seine Frau. Sley nahm einen Schluck Bier, und Dryden sah seine kaputten Zähne. »Wir sind ein Verein – aus Gartenbesitzern. Das ist unser Vereinsheim, wenn Sie so wollen. Tee machen wir auch ...«

Garry strahlte. »Bier ist völlig in Ordnung.«

Zwei weitere Gläser wurden aufgetrieben und gefüllt. Das Bier hatte keine Kohlensäure, aber einen malzigen Geschmack, und Dryden spürte den Alkoholschub. »Gehaltvoll?«

»Sechseinhalb Prozent«, erwiderte Sley, und Garry pfiff begeistert.

Dryden nickte. »Bitte verzeihen Sie – sind Sie Dedans Schwester?« Unvermittelt nahm Marcie Platz, und ihr Schweigen bejahte die Frage. »Ich hätte gerne etwas mehr über ihn erfahren. Ich weiß, das kommt sehr früh – zu früh –, aber die Gesundheitsapostel möchten die Gefahren der Kälte für die Alten und ... Gebrechlichen groß herausstreichen. Es war ein furchtbarer Unfall. Was glauben Sie, ist passiert?«

Marcie tastete nach etwas an ihrem Hals. Ein Kruzifix, erkannte Dryden.

»Declan ging es nicht gut«, sagte sie und nahm einen Schluck Bier. »Er war verwirrt, und er trank – er trank zu viel. Ab und zu hat er die Fenster aufgemacht, gegen die Beklemmung, drinnen zu sein.«

Dryden ließ die Stille sich dehnen, denn er wusste, je weniger er drängte, desto mehr würden sie erzählen.

»Was sagt die Polizei?«, wollte Marcie schließlich wissen. »Ich habe heute Morgen dort angerufen, als wir erfuhren, ... dass ich die Wohnung auflösen muss.« Ihre Stimme überschlug sich, und ihr Mann füllte die Gläser nach, damit sie Zeit fand, sich zu sammeln. Dann setzte er sich zu ihr und massierte ihr mit knochiger Hand zärtlich den Nacken.

»Nicht viel. Die halten es ebenfalls für einen Unfall. Aber gestern Abend hat Declan noch mit jemandem etwas getrunken«, berichtete Dryden. »Vielleicht auch gestern Nachmittag. Hatte er Besuch?«, erkundigte er sich und wiegte sie in dem Glauben, die Polizei habe auch einen Verdacht.

Marcie stand auf und schlug mit einem langen Anzünder die gusseiserne Ofentür auf. Die plötzlich auflodernde rote Glut tauchte die Hälfte ihres Gesichts in tiefe Schatten: »Ich hab ihm das Mittagessen gebracht, aber wir haben nichts getrunken. Wie kommen die auf so was?«

Dryden spürte, dass die Atmosphäre ins Feindselige zu kippen drohte, daher überging er die Frage. »Wie war er so?«, fragte er, nahm einen Schluck Bier und kam zu dem Schluss, dass John Sleys Einschätzung des Alkoholgehalts um den Faktor zwei zu niedrig lag.

Es war Marcie, die antwortete; alle Übrigen hielten den Kopf gesenkt und betrachteten das Bier. »Declan ging’s miserabel, uns war allen klar, dass er Probleme hatte. Im Winter war es immer am schlimmsten – wenn es hier draußen nichts zu tun gibt.«

Dryden nickte. »Das war wohl seins – die frische Luft? Ich war in der Wohnung – da sind keine Türen ...«

»Klaustrophob«, sagte Marcie. »Am liebsten wäre er immer im Freien gewesen. Aber wegen der TBC ging das nicht ... die hatte er seit der Kindheit. Wir mussten ihn zwingen, dass er während der Kältewelle drin bleibt. Ich hätte noch mal vorbeischauen müssen ...«

John Sley schüttelte den Kopf. »Du hättest nichts tun können. Wenn er sich entschieden hat –« An dieser Stelle brach er ab, bedeutungsschwer lastete die Stille im Raum, akzentuiert vom Girren einer Ringeltaube.

»Er hat auch früher schon versucht, sich das Leben zu nehmen, nicht wahr?«, fragte Dryden, der froh war, dass das Thema zur Sprache kam. »Die Fenster seiner Wohnung standen offen, als man ihn fand. Hatten Sie, hatte irgendjemand von Ihnen je Angst, er könnte einen Selbstmordversuch unternehmen?«

Marcie Sleys Hand wanderte zum Hals hinauf. Einer der Männer, ein dünner, der einen kleinen, ruhigen Hund an einem Seil hielt, zündete sich eine Selbstgedrehte an.

»Wie Sie schon sagten, er hatte es auch früher schon versucht«, antwortete Marcie. »Aber als ich bei ihm war, da hatte ich das Gefühl, es geht ihm gut, er war fast glücklich. Er hatte nichts getrunken, das weiß ich.«

Dryden dachte an den bis oben mit Kleingeld gefüllten Stromzähler und an den Maltwhisky.

»Er hatte einen guten Freund, nicht wahr – Joe, hieß er nicht so?«

Etliche Köpfe nickten. »Ich würde mich wirklich gerne mit ihm unterhalten, um dem Bild mehr Farbe zu verleihen, verstehen Sie. Vielleicht hat er ihn ja besucht?«

»Joe legt Wert auf seine Privatsphäre«, sagte John Sley. »Wir können ihm etwas ausrichten.«

Dryden schrieb seine Handynummer auf die Visitenkarte. »Er kann mich jederzeit anrufen. Wie, sagten Sie doch gleich, war sein Nachname?«

»Wir haben nichts gesagt«, entgegnete Sley und brachte sie zu Tür, wo er den Hund bei Fuß rief.

»Danke für das Bier«, sagte Dryden, als sie sich ins Freie zwängten. »Eins a Sicherheitsvorkehrungen hier. Wahrscheinlich klauen die Jugendlichen sonst das ganze Gemüse, was?«

»Wenn sie’s versuchen, dann nur ein Mal«, sagte er und schlug Dryden die Tür vor der Nase zu. Durch das Milchglas sah er Sley von hinten, wie er zum geselligen Schein des Feuers zurückkehrte; für sie beide aber war das Gardener’s Arms geschlossen.

Kapitel 6

Sie hatten die Jubilee-Siedlung noch nicht verlassen, da meldete sich Charlie, der leicht angesäuselte Nachrichtenredakteur des Crow, bei Dryden.

»Bist du’s?« Dryden hörte den Anflug von Panik und ein allgemeines Hintergrundrumoren, das nur von der Theke des Fenman stammen konnte. Er hörte das Klirren von Gläsern beim Zuprosten und das kitschige Gesäusel des aktuellen Weihnachtshits. Es klang warm und freundlich – doch sein Weg führte ihn woandershin.

»Henry hat sich den Kindesmissbrauchsartikel noch mal durchgelesen – keine Beanstandungen«, erzählte Charlie und nahm einen großen Schluck. »Aber die Anwälte haben eine E-Mail geschickt. Weil sie wissen wollen – du hast es dem Pfaffen doch vorgelegt, oder? Im Text steht, kein Kommentar – aber heißt das, kein Kommentar, nachdem er gehört hat, was wir schreiben werden, oder kein Kommentar, weil du ihn gar nicht an der Strippe hattest?«

»Letzteres«, erwiderte Dryden, während Garry schon ungeduldig auf den Zehen wippte, weil er es nicht mehr erwarten konnte, sich der rituellen Fenman-Runde endlich anzuschließen.

»Mist«, sagte Charlie, der wusste, dass er diese Frage schon viel früher hätte stellen müssen.