Kein Ort zum Sterben - Jim Kelly - E-Book
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Kein Ort zum Sterben E-Book

Jim Kelly

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Beschreibung

Wer das Böse weckt: Der fesselnde England-Thriller »Kein Ort zum Sterben« von Jim Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Ihre Zeit läuft ab … Fieberhaft sucht die Polizei von Cambridgeshire nach einem Entführungsopfer – doch wo in den düsteren Moorlandschaften um die Kleinstadt Ely herum wird Alice Sutton gefangen gehalten? Als Lokalreporter Philip Dryden auf einen alten Kriegsbunker stößt, hofft er, das Leben der jungen Frau retten zu können. Stattdessen findet er die Leiche eines Mannes, der zu Tode gequält wurde. Während bei der Polizei niemand mehr weiß, in welche Richtung ermittelt werden soll, enthält Dryden einen Hinweis, den er zunächst für völlig abwegig hält: Vor 27 Jahren stürzte über den Mooren ein Flugzeug ab, nur eine Frau und ihr Baby überlebten. Doch die beiden scheint ein Geheimnis zu umgeben, das nun wie in einem Dominoeffekt immer weitere Todesopfer fordert … »Jim Kelly ist eine Entdeckung für alle begeisterten Fans von echter englischer Krimispannung!« Library Journal Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Kriminalroman »Kein Ort zum Sterben« von Jim Kelly ist der zweite Band seiner »Mord in Cambridgeshire«-Reihe um den eigenbrötlerischen Ermittler Philip Dryden, in der jeder Krimi unabhängig gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 443

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Über dieses Buch:

Ihre Zeit läuft ab … Fieberhaft sucht die Polizei von Cambridgeshire nach einem Entführungsopfer – doch wo in den düsteren Moorlandschaften um die Kleinstadt Ely herum wird Alice Sutton gefangen gehalten? Als Lokalreporter Philip Dryden auf einen alten Kriegsbunker stößt, hofft er, das Leben der jungen Frau retten zu können. Stattdessen findet er die Leiche eines Mannes, der zu Tode gequält wurde. Während bei der Polizei niemand mehr weiß, in welche Richtung ermittelt werden soll, enthält Dryden einen Hinweis, den er zunächst für völlig abwegig hält: Vor 27 Jahren stürzte über den Mooren ein Flugzeug ab, nur eine Frau und ihr Baby überlebten. Doch die beiden scheint ein Geheimnis zu umgeben, das nun wie in einem Dominoeffekt immer weitere Todesopfer fordert …

Über den Autor:

Jim Kelly, geboren 1957, arbeitet seit vielen Jahren als Korrespondent der Financial Times in London. »Tod im Moor« war sein hochgefeiertes Krimidebüt, für das er unter anderem mit dem »Dagger Award«, dem größten britischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Jim Kelly lebt mit seiner Familie in Ely, Cambridgeshire, die auch Schauplatz seiner Krimireihe um Philip Dryden ist.

Bei dotbooks veröffentlichte Jim Kelly seine Krimireihe »Mord in Cambridgeshire« mit den Bänden:»Tod im Moor«»Kein Ort zum Sterben«»Dunkler als ein Grab«»Kalt wie Blut«»Spur der Knochen«

eBook-Neuausgabe August 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Originaltitel »The Fire Baby« bei Michael Joseph, an Imprint of the Penguin Group, a division of Penguin Books Ltd., London.

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Jim Kelly

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Carsten Mayer liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)

ISBN 978-3-98690-749-5

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Jim Kelly

Kein Ort zum Sterben

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Carsten Mayer

dotbooks.

Für John

Teil 1Dienstag, 1. Juni 1976

Die große Dürre

Östlich von Ely wirbelt unter dem Mond ein gewaltiger, roter Staubsturm über die knochentrockenen Torffelder und wirft einen bernsteinfarbenen Schatten auf die alte Kathedrale. Hoch oben zieht einsam ein blinkendes Flugzeug durch den sternenfunkelnden Himmel. Flug MH 336 hat soeben vom US-Luftwaffenstützpunkt Mildenhall abgehoben und rast in den wirbelnden Staubkessel.

Schon fängt der diamantharte Sand an, die mahlenden Turbinen zu zerfetzen, und wie rotierende Messer reißen die haltlos gewordenen Schaufeln einander in Stücke. Die Triebwerke saufen ab, der Rumpf kippt, und es kommt zu einem Sturzflug von solcher Heftigkeit, dass die Passagiere, ungeachtet ihrer Sicherheitsgurte, schwerelos dem Tod entgegenstürzen.

Um exakt 23:08 Uhr bohrt der Rumpf sich in den weichen Erdboden, so kündet es die am Unglücksort aufgefundene Uhr des Piloten. Der Aufprall lässt noch den in einiger Ferne stehenden Turm der Kathedrale erzittern, und in einer großen Wolke stieben die auf dem Oktogon des Vierungsturms schlafenden Krähen auf. Noch im zehn Meilen entfernten Littleport dreht man nach dem erdig dumpfen Schlag und der anschließenden, prasselnden Kerosinexplosion den Kopf.

Ein Feuerball markiert den Absturzort: Black Bank Farm. Hier ist es zu laut, als dass man etwas hören könnte. Im Zentrum des Feuers brennt ein kaltes, weißes Auge, und gut hundertachtzigtausend Liter Kerosin werden in einem einzigen Augenblick zu Gas. Dann folgen die Flammen, züngeln nach den Sternen.

Am Fuß der riesigen, weißen, aufwärtsstrebenden Rauchsäule knistert die Luft in der Hitze. Und in der Asche dessen, was einmal Black Bank Farm gewesen war, steht sie alleine. Sie und das Baby.

Sie sind die Einzigen, die noch leben. Sie und das Baby.

Die gesamte Familie starb am Tisch: die Mutter war von einer Flamme erfasst worden, der Vater griff noch mit der verkohlten Hand nach der Kehle. Seine letzten Worte werden sie bis an ihr Sterbebett begleiten: »In den Keller, Maggie, das muss gefeiert werden.« Sie war die Flasche holen gegangen und hatte Matty in der Wiege neben dem ausgeräumten Kamin liegen lassen. Es gab etwas zu feiern: Eine Taufe im Familienkreis stand bevor, jetzt, da Matty einen Vater hatte.

Im trockenfeuchten Gemäuer des Kellers hörte sie es kommen. Wie ein Mensch, so kann auch eine Maschine klingen, als schreie sie. Doch diese Täuschung ging im letzten Aufjaulen der versagenden Motoren unter, im Reißen des Metalls und der Explosion beim Aufprall.

Manchmal wünschte sie, sie wäre damals gestorben, wie es richtig gewesen wäre.

Stattdessen aber sah sie das Licht und hörte den Lärm des Feuers, des tropfenden Feuers, das zwischen den Fußbodendielen niederfiel. Den Flüssigbrennstoff aus den Tanks, das quecksilbrige Licht, das ihr das Leben rettete. So fand sie die Treppe und stieg hinauf, um die Toten zu zählen, die wie erlegtes Wild von den brennenden Balken hingen. Und dann der wahre Horror in Form des winzigen, gewickelten Bündels mit den verkohlten Gliedern.

Draußen, mit ihrem Geheimnis in den Armen, spürte sie das ruckende, halb unbewusste Treten und Stupsen, wie es nur ein Kind zuwege bringt.

Auch hier schon, im ehemaligen Küchengarten, spürte sie das Jucken der Hitze auf der Haut. Sie roch das kokelnde Haar, und die schwarzen, hängenden Stränge verwandelten sich in ascheweiße Korkenzieherlocken. Eine Locke entzündete sich und brannte sich ihr in die Wange. Ihr blieb ein ganzes Leben, um den Schmerz zu fühlen, und doch spürte sie mit allem Schrecken die kriechend-heimtückische Ahnung in sich aufsteigen, das Schlimmste stünde ihr noch bevor.

Ein Brennen in ihrem Blut. Und dem des Babys.

Ein stummes Brennen. Nichts war zu hören außer einem Flattern in ihrem Ohr wie von Taubenschwingen.

Sie hinkte einen Schritt hinaus in die Kühle der Nacht. Diese Asche war nicht kalt wie die im Kamin von Black Bank. Sie war weißglühend, und unter elfenbeinerner Rinde atmete kirschrot die Glut. Sie roch verbrennendes Fleisch und wusste mit der Klarheit des Schocks, es war das ihre.

Und dann sah sie ihn. Hundert Meter vom Haus entfernt schirmte er mit auswärts gerichteter Handfläche das Gesicht vor der Hitze ab.

Er hatte gewartet, um sich der Feier anzuschließen. Ihr Vater war überzeugt gewesen, heute Nacht würde Maggie ihre Meinung ändern: »Sei um elf da. Sie wird kommen, wegen Matty. Wegen dem Baby. Sie wird kommen.«

Und mit der Intuition einer Liebenden wusste Maggie, wo er gewesen war, wo er den Abend über gewartet hatte. Im alten Bunker. In ihrem Bunker, dieser sechseckigen Betonkammer, von der sie in der feuchten, sündigen Nacht geträumt hatte, dem Ort, an dem sie Matty gezeugt hatten.

Da hörte sie die Sirene, die erste. Vom Stützpunkt her. Gleich würden sie auf Black Bank sein, aber doch nicht schnell genug, um ihn zu retten. Nicht schnell genug, um ihn vor dem Leben zu bewahren, das sie in jenen kurzen Momenten für ihn entworfen hatte. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens. Und die schnellste. Gefällt in der Zeit, die es braucht, ein Streichholz anzureißen.

Und dann waren sie beieinander. Und zitternd lächelte sie. In seinen Augen schimmerte gelbblau das Kerosin, und da erinnerte sie sich kurz, weshalb sie ihn einmal geliebt hatte. Aber sie bemerkte, dass er nur nach unten sah auf das Baby. Sein Finger schlug die Falte der Decke zurück. Und zum ersten Mal sah er das Gesicht, die winzige, rote, suchende Zunge. Und der Narr lächelte auch noch.

»Unser Sohn«, sagte er und wünschte, so wäre es. »Er ist gerettet. Unser Sohn.«

Sie ließ es ihn noch einen Moment lang glauben.

»Tot«, sagte sie dann und schlug die Decke zurück, damit er die blau aufgedruckten Großbuchstaben auf dem weichen Stoff sah: USAF: LUFTFRACHT.

Dann blickte er auf das zerstörte Farmhaus. »Tot? Das kannst du nicht wissen.«

»Ich hole ihn«, entschied er. »Bleib hier.« Sie sah ihn in die Flammen laufen, die sich hinter ihm schlossen wie der purpurne, flüsternde Vorhang eines Krematoriums.

Teil 2Samstag, 14. Juni 2003

27 Jahre später

Wie ein Ausstellungsstück stand das Glas Wasser auf der Konsole des Bunkers. Die Sonne berührte den westlichen Horizont, ihre Strahlen fielen durch die Geschützöffnung in den sechseckigen Raum und auf die Feuchtigkeit und ließen einen Regenbogen von überirdischer Schönheit über die tristen Betonwände wandern.

Er konnte sich nicht mehr davon losreißen. Selbst mit geschlossenen Augen konnte er ihn sehen. Die kühle, klare Erscheinung hatte sich ihm auf alle Ewigkeit ins Gedächtnis eingeschrieben. Doch er wusste auch, dass – für ihn – die Ewigkeit keine lange Zeit war. Wenn gegen Mittag die Hitze stieg, sah er den Wasserstand sinken, und er saugte die Luft ein, in der Hoffnung, eine Erinnerung von Feuchtigkeit aufzufangen.

Das war jetzt sein Leben, der Versuch, an das Glas zu gelangen. Und doch wusste er, als er sich lang machte und die Handschellen ihm ins Handgelenk einschnitten, er würde es niemals erreichen. Er hatte das ganze Ausmaß seiner Passion auf dem Boden verzeichnet. Am ersten Tag hatte er sich ausgestreckt und eine Linie im Sand hinterlassen, fast einen Meter vor der gegenüberliegenden Wand. Am dritten Tag hatte er sich gestreckt, bis er die Gelenke krachen hörte, ein erbärmliches Schnalzen losgelöster Knorpel.

Tags darauf hatte er in einem einzigen, panikgesteuerten Sprung fünfzehn Zentimeter gewonnen und vor Schmerz das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich kam, war das Blut getrocknet, und durch den Schnitt an seinem Handgelenk blitzte der Knochen wie bei einer Haxe auf der Fleischertheke. In dieser Nacht kam zum ersten Mal der Fuchs, der seine Kreise zog und den Tod roch.

Mit unverhohlener Befriedigung vermerkte sein Kerkermeister diese Anstrengungen, an das Glas zu kommen, und strich den Sand glatt und füllte das Glas mit dem klaren Wasser aus der glitzernden Plastikflasche wieder auf. Dann löste er das verzierte Messer aus dem Türrahmen und setzte es seinem Opfer an die Kehle. Eine Minute lang, vielleicht auch zwei, dann steckte er es zurück, blutlos.

Er hatte etwas Vertrautes, dieser Kerkermeister. Die Art, wie er sich neben dem Glas an die Betonmauer lehnte und rauchte. Der gesenkte Blick.

Er sehnte sich danach, seine Stimme zu hören, der Kerkermeister aber sprach nicht.

Der stumme Ablauf blieb immer gleich. Erst die Schritte auf den zundertrockenen Zweigen unter den Kiefern. Das Aufstoßen der Eisentür, das Nachfüllen des Glases. Dann stellte er sich hin und rauchte. Manchmal eine ganze Schachtel. Wie lange braucht man dazu? Eine Stunde? Zwei?

An manchen Tagen kam er zweimal, dann war plötzlich das laute Geräusch seines Autos zu hören, das er hinter den Bäumen parkte, die man durch die Geschützöffnung sah. Und immer ging er, ohne eine einzige Frage beantwortet zu haben. Und einmal kam er nachts. Da überfiel ihn zum ersten Mal die Angst, sein Kerkermeister könne ihn umbringen, bevor der Durst es tat. Sein Peiniger war betrunken, die Sturmlaterne warf kleine rote Blitze in seine Augen, und noch immer sprach er kein Wort.

Er würde sprechen, bevor es zu Ende wäre. Davon war er überzeugt. Aber er wollte es jetzt wissen. Wollte jetzt wissen, für welches seiner Verbrechen er bestraft wurde.

Teil 3Donnerstag, 5. Juni

Neun Tage früher

Kapitel 1

Philip Dryden sah zum Taxi hinunter, das auf dem ordentlich gekiesten Vorplatz des Tower Hospital parkte. Auf dem Fahrersitz saß schlafend eine große, von einem Ipswich-Town-Sweatshirt umfangene Gestalt. Die gepflegten Hände des Fahrers ruhten säuberlich gefaltet auf seinem ausladenden Bauch. Den Mund hatte der schlummernde Taxichauffeur zu einem makellosen O gerundet.

»Wie hält er das nur aus?«, fragte Dryden und wandte sich der unter einem weißen Leinentuch ausgestreckt auf dem Krankenbett liegenden Frau zu. »Es hat neunundzwanzig Grad. Er parkt in der prallen Sonne. Und schläft. Dieser Fleischberg. Der wird doch gegrillt.«

Die Gestalt auf dem Bett rührte sich nicht. Diese Bewegungslosigkeit war eine Konstante in seinem Leben, wie die Hitze dieses Sommers, und ebenso bedrückend. Er wandte sich wieder dem großen, viktorianischen Bogenfenster zu und drückte die Stirn an das Glas.

Hitze. Unentrinnbar lag die Hitze wie ein gigantisches Federbett über dem Fenn. Von seinen pechschwarzen Haaren aus begab sich ein Schweißbach auf den Zickzackkurs über sein Gesicht. Seine Züge waren architektonisch geprägt. Frühromanisch, um genau zu sein. Es hätte der Kopf eines Ritters sein können, im Schiff einer Kathedrale oder in einer illuminierten mittelalterlichen Handschrift. Wie gemalt: facettenreich und zur Passivität verdammt, eine dramatische Ironie, mit der er gar nicht mal schlecht umschrieben war.

Er bog den Kopf in den Nacken und richtete das Gesicht zur Decke. Mit seiner ausgeprägten Phantasie beschwor er, wie schon tausendmal zuvor in diesem erdrückenden Sommer, einen Schneesturm herauf. Eiskalt taumelten die Flocken auf sein himmelwärts gewandtes Gesicht. In der Stille, die nur vom Ticken des Weckers neben dem Bett unterbrochen wurde, lauschte er ihrem Fallen.

Als er die Augen öffnete, war es exakt 11.57 Uhr. Drei Minuten.

Wieder schloss er die Augen, um die Hitze fortzudenken. Das Tower Hospital stand auf dem einzigen Hügel Elys. Gute hundert Fuß über der endlosen Weite der schwarzen Fenns, die sich als ausgedörrtes Panorama hinstreckten, bis an den welligen Horizont. Hinter Hitzeschwaden ruckelte ein Traktor über ein Feld, das nur unwesentlich kleiner als Belgien war.

Er sah zu Laura hinab. Beinahe vier Jahre lag seine Frau seit dem Unfall am Harrimere Drain nun schon im Tower. Dryden war dem anderen Auto auf einer einsamen Straße durch das Fenn entgegengekommen, war über die Böschung hinausgeschossen, und dann versank der zweitürige Corsa sechs Meter tief im Wasser des Kanals neben der Straße. Harrimere Drain. Immer, wenn Dryden das Schild sah, spürte er, wie der Sicherheitsgurt ihm in die Brust einschnitt, und er hörte wie von fern das dumpfe, zweimalige Knacken, mit dem sein Schlüsselbein brach.

Er war an Land gezerrt worden, aber Laura, die verborgen auf dem Rücksitz gelegen hatte, blieb zurück. Er versuchte, sich niemals auszumalen, was ihr durch den Kopf gegangen sein musste, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Ganz allein in der Schwärze rang sie unter Schmerzen in einer unbarmherzig schwindenden, feuchten Luftblase um Atem.

Drei Stunden später hatte das Notarztteam sie befreit. Da lag sie im Koma. »Locked-in-Syndrom«, kurz LIS. Eingesperrt in dem Grauen jener hundertachtzig Minuten völliger Einsamkeit, eingesperrt in dem Wissen, im Stich gelassen worden zu sein, eingesperrt von ihm.

Der Wecker klappte eine Ziffer weiter – 11:58. Dryden zupfte am ausgefransten Leinenkragen seines weißen Hemds und tastete nach dem Goldkettchen um seinen Hals. Er zog daran, bis ihm der messingfarbene Sicherheitsschlüssel in die Hand glitt. Der Unfall Lauras hatte sich zwei Tage vor Drydens dreißigstem Geburtstag ereignet, und es war ein ganzer Monat vergangen, bis er wieder in die gemeinsame Londoner Wohnung zurückkehrte. Dort fand er dann sein Geschenk, an einer Stelle, von der sie gewusst hatte, dass er darüber stolpern würde: In der obersten Schreibtischschublade. Ein einfaches, weißes Kuvert, darin eine Karte mit einem schwarz-weißen Landschaftsfoto aus dem Fenn nahe Ely, dazu ein neu gefertigter Schlüssel. Auf der Karte stand »Alles Liebe, Laura«, sonst nichts.

Als Erstes hatte er die Schlösser in der Wohnung durchprobiert, dann die im Restaurant ihrer Eltern, dann die in deren Wohnung, alles ohne Ergebnis. Er klapperte sämtliche Schlosser in ihrem Nordlondoner Vorort ab, doch keiner konnte sich an den Besuch der jungen Italienerin mit dem kupferfarbenen Haar erinnern. Er versuchte es bei den beiden Landhäusern auf Adventurer’s Fen, die sie sich während der langen Debatten über Umzug und Familiengründung angesehen hatten. Doch dort waren die Türen vermodert und die Schlüssellöcher eingerostet. Das Schild im Gemäuer war mit Efeu überwuchert und praktisch nicht mehr zu sehen: »Einflugschneisenhäuser«.

Wie viele weitere Schlösser hatte er seit Lauras Unfall wohl schon durchprobiert? Tausend? Zweitausend? Immer ohne Erfolg. Laura allein wusste, welche Tür der Schlüssel öffnete, und sie hatte seit der Unfallnacht nicht mehr gesprochen. Es war ein Rätsel, das ihn auf subtile Weise quälte, erschien es ihm doch als das perfekte Symbol für sein Leben seit dem Unfall. Er verfügte über den Schlüssel, nicht aber über die Tür. Über eine Antwort ohne Frage.

»Unerträglich«, sagte er laut, und die lastende Hitze schien noch drückender zu werden.

11:59. Noch eine Minute bis zu den Nachrichten. Er klappte das Handy auf und wählte Humphs Geschäftsnummer: Humphrey H. Holt, Privattaxi für alle Anlässe. Nicht wirklich für jeden Anlass allerdings, eigentlich eher so gut wie für gar keinen Anlass. Humphs Taxi, ein klappriger Ford Capri, sah aus, als stammte er von einem Schrottplatz am Rande Detroits.

Drydens für gewöhnlich von steinerner Ungerührtheit geprägtes Gesicht legte sich in amüsierte Falten, als er den Chauffeur aufschrecken und nach dem Handy kramen sah.

»Ich bin’s«, erklärte er überflüssigerweise. Sie kannten die Stimme des jeweils anderen besser als die eigene. »Stell das Radio an. Lokalsender. Letzte Meldung. Muss ich hören.«

Die Frequenzen rauschten, bis Humph das Signal gefunden hatte.

»Die Mittagsnachrichten auf BBC Radio Littleport ...«

Vollkommen ungerührt ließ Dryden, der ein Jahrzehnt lang einer der heißesten Journalisten der Fleet Street gewesen war, die altbekannten Geschichten aus der Welt politischer Intrigen, internationaler Gewalt und seichtestem Showbusiness über sich ergehen, bis der Sender sich schließlich den regionalen Themen widmete.

»... mit einer kompletten Lastwagenladung Rüben. Dagegen hatten die Badestrände bei Cromer erneut massiv unter der Hitzewelle zu leiden. Die Sonnenhungrigen am Pier wurden von einem riesigen Schwarm Marienkäfer angefallen. Ein Sprecher des zuständigen Gesundheits- und Umweltamtes erklärte, die Insekten schlüpften derzeit in riesiger Zahl und seien verzweifelt auf der Suche nach Nahrung. Die bietet menschlicher Schweiß, ihren Angaben zufolge, in Hülle und Fülle. Und mit dieser Meldung ist es nun 12:04 Uhr.«

Es ertönte ein kurzer Jingle, die digitale Version der Hebriden-Ouvertüre. Dryden stieß eine Verwünschung aus.

»Hier ist BBC Radio Littleport. Die Stimme der Fenns, um 12:05 Uhr. Wir bringen jetzt einen dringenden Aufruf der Polizei von East Cambridgeshire.«

Drydens Reporterblock lag griffbereit auf dem Fenstersims. In flüssiger Stenografie füllte er die Seite mit elegant geschwungenen Notizen. Elegant, aber unentzifferbar: Er machte sich selbst etwas vor.

»Estelle Beck, einzige Tochter von Maggie Beck, wohnhaft Black Bank Farm, wird dringend gebeten, schnellstmöglich das Tower Hospital in Ely aufzusuchen. Ihre Mutter befindet sich in kritischem Zustand. Ich wiederhole diesen dringenden Aufruf ...«

Dryden kappte die Verbindung, ohne Humph zu danken. Er verscheuchte eine Fliege, die sich auf Lauras Arm niedergelassen hatte. Dann durchquerte er das große, mit Teppichboden ausgelegte Zimmer und bog seine hundertneunzig Zentimeter Körpergröße zurecht, bis sie auf dem Krankenhausstuhl Platz fanden, der neben dem einzigen weiteren Bett des Zimmers stand. Darin lag zusammengerollt und keuchend Maggie Beck.

»Wieso jetzt?«, fragte er niemand im Besonderen.

Es hatte vier Radioaufrufe gegeben, ein jeder so eindringlich wie der gerade gehörte. Er hoffte, die Tochter käme bald. Er hatte erst sehr wenige Menschen sterben sehen, aber die Symptome waren schockierend eindeutig. Sie hielt sich beide Hände an die Kehle, wo sie sich in ein Papiertuch krallten. Die Haare klebten ihr am Schädel. Den Atem schien sie aus einem Abgrund tief unter sich zu schöpfen, und jeder einzelne Zug bedeutete eine Anstrengung, an der sie zugrunde zu gehen drohte. Ihre Haut war trocken und ohne Spannung – mit Ausnahme der einen, bläulichen Brandnarbe, die sich korkenzieherartig über eine Seite ihres Gesichts zog.

»Sie werden kommen«, sagte er in der Hoffnung, sie könne ihn hören.

Auf die seltsam distanzierte Art, in der er so gut wie alle seine Emotionen zeigte, hatte Dryden Maggie Beck lieb gewonnen. Als sein Vater in der Flut von 1977 gestorben war, zog Maggie, damals noch keine zwanzig und frisch verheiratet, zu ihnen, um sich seiner Mutter anzunehmen. Dryden war damals elf Jahre alt gewesen. Maggie hatte das freie Zimmer genommen und seiner Mutter über die Wochen bis zur richterlichen Untersuchung durch den Coroner und dem unerträglichen Nicht-Stattfinden eines Begräbnisses hinweggeholfen. Man hatte seinen Vater für ertrunken erklärt, nachdem er vom Welch-Damm fortgespült und seine Leiche nie gefunden worden war. Für seine Mutter war dies das Schlimmste, und Maggie half ihr, es zu ertragen. Dieser herzzerreißende Schmerz und keine Leiche, die sie beweinen konnte. Später vereinten sie ihre Nöte in oftmals geselligem Schweigen. Maggie hatte ihre eigene Tragödie zu ertragen – den Absturz auf Black Bank, bei dem ihre Eltern und ihr neugeborener Sohn ums Leben gekommen waren. Gemeinsam schulterten sie ihren Gram, zwei Bäuerinnen, die sich von der Last des Unglücks nicht auf die Knie zwingen lassen wollten, nicht kampflos zumindest. Sie hatten zusammen Fahrten unternommen – Tagesausflüge und Wochenendreisen, die sie weit von der Vergangenheit fortführten. Er hatte sie oft in der Küche der Mutter auf Burnt Fen gesehen, eine große Frau von bäuerlicher Statur, so vertraut und Vertrauen einflößend wie der unverrückbare Herd, und auf dem Gesicht, wie eine Tätowierung, die Korkenzieherbrandnarbe.

Maggie wusste, dass sie Krebs hatte. Die Strahlentherapie sollte sechs Wochen dauern, die Rekonvaleszenz sogar noch länger. Als Dryden sie auf Black Bank besuchte, wusste er sofort, dass sie erwartete, zu sterben. Die Spezialisten hatten gemutmaßt, es könne Laura in therapeutischer Hinsicht guttun, wenn sie sich das Zimmer teilten. Maggie sagte ohne zu zögern Ja und plünderte ihre Ersparnisse, um die beträchtlichen Gebühren des Tower Hospital bezahlen zu können. Es sollte ihr in ihren letzten Monaten an nichts mangeln, denn sie hatte noch eine Aufgabe zu vollbringen, bevor der Krebs ihr das Leben nahm. Sie wollte ihre Geschichte erzählen. Dryden brachte ihr einen Kassettenrekorder, damit sie einem stummen Publikum ihre Geschichte präsentieren könne. Die Geschichte, die sie erzählen wollte, die Laura mit anhören sollte. Und Laura, so sie denn hören konnte, sollte auch wirklich etwas zu hören bekommen.

Wenn Dryden in jenen ersten Wochen zu Besuch kam, traf er Maggie stets voll verzweifelter Unsicherheit an. Sie nahm dann seine Hand und erklärte ihm, sie habe ihr Leben verpfuscht, sie habe Estelle im Stich gelassen und Black Bank verraten. Und doch verbarg sie immer noch den Kern dieses Versagens, und Dryden ahnte, dass dieses Geheimnis sie von innen her verzehrte. Und dann vor einer Woche plötzlich, er hatte bei ihr gesessen und die nächtliche Brise genossen, die durch die offenen Fenster hereinwehte, da hatte sie sich an ihn gewandt. Sie hörten die Kathedrale Mitternacht schlagen, und Maggie nahm seine Hand und drückte zu, als hielte sie eine Stierhodenquetsche: »Versprich mir, dass sie kommen«, forderte sie.

Sie lag nun seit einem Monat im Tower, und Estelle hatte sie jeden Tag besucht – bis jetzt, hatte jeden Tag bei ihrer Mutter gesessen. Die schönsten Tage aber waren für Maggie die, an denen sie den Amerikaner mitbrachte. Dryden war ihm zweimal begegnet, an Lauras Bett. »Freund der Familie«, hatte Maggie gesagt. Ein Pilot, groß gewachsen und leicht ausgezehrt, mit den angespannten Zügen dessen, der zum Opfer geworden war. Jeden Tag waren sie gekommen – bis zum vergangenen Wochenende. Die Ärzte hatten ihnen versichert, es dauere noch Monate, bis es zu Ende ginge, wenn nicht gar Jahre. Maggie hatte einer Pause zugestimmt und die Tochter ziehen lassen. Hatte die beiden ziehen lassen.

Kaum waren sie fort, da verschlechterte Maggies Zustand sich rapide. Die Krebszellen hatten angefangen, sich in ihrem Blut zu vermehren, und sie hatte diese Veränderung gespürt, den kaum merklichen Beginn des Sterbens. Estelle musste zurückkehren, sie hatte ihr etwas zu sagen. Über die Geheimnisse, die ihr Leben aufgezehrt hatten.

»Versprich mir, dass du sie rechtzeitig findest«, forderte sie. Dryden überhörte den Plural nicht.

Er log nicht gern. »Das kann ich nicht«, sagte er. »Die Polizei gibt ihr Bestes, was soll ich da noch tun können?«

Sie flehte ihn mit den Augen an, mit einem Blick, der verfrüht die Schranke zwischen den Lebenden und den Toten passiert zu haben schien. »Versprich es mir«, sagte sie. »Und versprich mir, dass auch du mir vergibst.«

»Was sollte ich dir vergeben?«

Zitternd suchte ihre Hand nach dem Nachttischchen, auf dem der Kassettenrekorder stand. »Hier habe ich es erzählt. Aber ich muss es ihnen selbst sagen. Versprich es mir.«

Nie würde er die arthritisch weißen Finger und die papierene Haut vergessen, die nun nach seinen Fingern griffen. Er stand auf, wütend über die Andeutung, es bedürfe eines öffentlichen Schwurs, damit er sein Wort hielte, eine Wut, die sich noch steigerte, weil sie es geschafft hatte, seine emotionalen Schutzwälle zu durchbrechen. »Ich verspreche es.« Sie weinte. Es war das erste Mal, dass er sie nach all den Monaten des Schmerzes zusammenbrechen sah.

»Ich verspreche es«, wiederholte er und spürte in einer eigentümlichen Gefühlsübertragung sehr deutlich, dass er dieses Versprechen seiner Mutter gegeben hatte, ihrem Angedenken, dem Grabstein auf Burnt Fen. Auch jetzt noch ließ dieser Gedanke ihm den Schweiß auf die Stirn treten. Er tat, was er konnte. Die polizeilichen Aufrufe, Anzeigen in den Zeitungen entlang der Küste, wohin Estelle und der Amerikaner sich aufgemacht hatten. Weshalb rief sie nicht an? Weshalb ging sie nicht ans Handy?

Er trat zu seiner Frau und berührte ihre Schulter unter dem weißen Baumwolllaken. »Laura?«

Ihre Augen standen offen. Scheinbar blind, aber offen. Er stellte sich vor, sie schlafe – warum nicht? Also musste man sie wecken wie jeden anderen. Und er sagte gern ihren Namen, jetzt, da er wusste, dass sie ihn auf irgendeine Art, wie tief in ihr und wie entfernt auch immer, hören konnte.

Draußen auf dem Flur lief der Hausmeister vorüber, schleifte Wäschesäcke hinter sich her und pfiff die Ode an die Freude, ohne einen einzigen falschen Ton.

In ihrem Bett drehte Maggie Beck sich um und rang wie immer darum, nicht in Tränen auszubrechen.

Im Taxi hupte Humph. Es gab Arbeit. Dryden musste fort, wieder hinaus in die Welt, in der die Menschen sprachen. Aber Dryden wusste, dass nicht wirklich Eile geboten war. The Crow, die Zeitung, deren Chefreporter er war, hatte den letzten Redaktionsschluss um fünfzehn Uhr. Die paar Artikel, die er noch abzugeben hatte, ließen sich in einer Stunde herunterrattern, wahrscheinlich sogar schneller.

»Überhaupt keine Eile«, sagte er, setzte sich aufs Bett und nahm Lauras Hand.

Der Durchbruch hatte sich vor drei Monaten ereignet. Dryden konnte nicht schlafen und hatte die Nacht auf dem Deck seines Bootes in Barham’s Dock verbracht. Bei Sonnenaufgang zog er los, und ein Fuchs folgte ihm über verbrannte Felder bis in die Stadt. Das Tower Hospital lag noch im Schlaf, nur die Nachtschwester sah von ihren Studienpapieren auf und winkte ihn durch. Er hatte dieses Spiel schon tausendmal gespielt: Er nahm Lauras Hand und fing an, endlos das Alphabet durchzugehen. Immer auf der Lauer nach der winzigsten Bewegung, die auf intelligentes Leben schließen ließ, wie ein durch die Galaxis gefunktes Piepsen.

Bei diesem ersten Mal hatte sie es perfekt hinbekommen. L-A-U-R-A. Kein Zweifel. Er hatte auf dem Bett gesessen und für sie geweint, aus Freude, dass sie irgendwo war. Zum größten Teil aber hatte er um sich geweint, der womöglich dazu verdammt war, sein Leben damit zuzubringen, an einem Krankenhausbett auf Botschaften aus einer anderen Welt zu warten.

Humph hupte erneut. Dryden legte den kleinen Finger von Lauras rechter Hand auf seine Handfläche, sodass er kaum die Haut berührte. Der Neurologe hatte es ihm vorgemacht. Es gab auch eine Maschine dafür, mit Namen COMPASS, aber so war es Dryden lieber – so wie sie es beim ersten Mal gemacht hatten. Diese Art der Verständigung war überaus intim, als wäre er der Blitzableiter, in dem ihre Energie sich bündelte und wieder zur Erde fand.

»Also dann. Konzentrieren wir uns.« Der Spezialist, der mit dem Blick wie ein toter Fisch, hatte ihm geraten, sie vorzuwarnen.

Wieder hupte Humph, und Dryden musste eine Aufwallung kleinlichen Zorns unterdrücken.

»Überhaupt keine Eile.«

Er zählte bis sechzig und hüstelte dann verlegen. »Gut. Los geht’s. A, B, C, D, E, F ...«, und immer so weiter, mit je zwei Sekunden Pause. Er spürte den vertrauten Kitzel der Aufregung, als er näher kam: »J, K, L« – und da war es, das leichte, zweifache Tippen.

Es kam nicht immer. Nur jedes fünfte, sechste Mal vielleicht. Den nächsten Punkt hatten sie nie getroffen, bis Dryden auf die Idee gekommen war, nicht bei A, sondern bei M anzufangen und das Alphabet von dort ab rückwärts durchzugehen. Er machte weiter, mit immer zwei Sekunden Pause dazwischen, aber sie traf es nicht. Zwei leichte Bewegungen, aber beim B.

Er wurde böse und hatte sofort Schuldgefühle. Der Neurologe hatte ihm erklärt, wie schwer es für sie sein musste. »Das ist ungefähr so einfach, wie wenn man im Gedanken Schach spielt. Sie hat gelernt, gewisse Muskelbewegungen, winzige Faserzuckungen so zu kombinieren, dass sie diese zeitlich abgepasste Reaktion zuwege bringt. Wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit sie für jeden Buchstaben braucht. Wie lang sie sich konzentrieren muss.«

Er machte weiter, nur um Humph eins auszuwischen. L-B-U-S-A. Drei Buchstaben richtig, zwei nur jeweils eine Stelle im Alphabet daneben.

Ein ungemeiner Stolz und eine ungemeine Liebe flammten angesichts dieser Leistung kurz in ihm auf. Der Spezialist, ein Experte aus einer der großen Londoner Lehrkliniken, der seine Frau behandelt hatte wie ein in einem viktorianischen Museumsgefäß konserviertes Exponat, hatte ihn zur Geduld ermahnt – ein Wort, bei dem Dryden innerlich unweigerlich aufschrie. Lauras Botschaften waren stockend, verdreht, bisweilen surreal. Er konnte nur warten, ob sie je aus dem wirren Halbschatten des Komas erwachte.

»Geduld«, sagte er laut. Eine Tugend, so es denn eine war, von der ihm sogar die geringste Spur fehlte.

Kapitel 2

Auf einem Rastplatz drei Meilen östlich von Ely stellte Humph den Motor ab. Es war ein Rastplatz wie alle Rastplätze, ohne jedes Merkmal. Die Ost-West-Fernstraße A14, die den Seehafen Felixstowe mit den Industriestädten Mittelenglands verband, war gesäumt davon. Um diese Zeit – es war Mittag – bildete er eine Schluchtenlandschaft aus LKWs, die im Leerlauf Kohlenmonoxid in die heiße Luft bliesen, die ohnehin schon mit dem Billigfett aus dem Ritz-Imbiss geschwängert war.

»Kaffee. Vier Zucker«, bestellte der Taxifahrer und schlug mit lässiger Gewohnheit eine fünf Tage alte Financial Times auf. Er spekulierte an der Börse, wie andere auf Pferde wetten, und verlor viel. Wenn sie ausgelesen war, dann gab die FT immer noch eine erstklassige rosa Decke ab.

Humph war Drydens Chauffeur. Anders ließ es sich nicht ausdrücken. Seit Lauras Unfall vor beinahe vier Jahren verband sie nun schon ein gemeinsames Leben des ziellosen Unterwegsseins. Humph hatte ein paar Stammkunden, die ihn gut bezahlten – frühmorgendliche Schulfahrten und Lumpensammlertouren für Nachtschwärmer in Newmarket und Cambridge. Die übrige Zeit stand er für Dryden zur Verfügung. Der Crow, Drydens Zeitung, war nur zu gern bereit, seine moderaten Rechnungen zu begleichen, betrachtete man das doch als Ausgleich für die Tatsache, dass offenbar übersehen wurde, dem Chefreporter ein Gehalt zu zahlen. Drydens Privatleben war ebenso inexistent wie dasjenige Humphs, in seinem Fall aufgrund einer höchst unschönen Scheidung. Auf dem Armaturenbrett hatte er ein Foto seiner beiden Töchter. Dryden und Humph teilten, sofern das möglich ist, eine stark verengte Sicht der Welt, und das die meiste Zeit, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

Auf dem Rastplatz herrschte eine Mischung aus Mittagshitze und den Abgasen von fünfzehn Schwerlastwagen, die Schwindel erregend an Athen im Smog erinnerte. Unter den LKWs befanden sich auch zwei umfunktionierte Tankwagen des Milchvermarktungsverbundes, die – inzwischen ein vertrauter Anblick – Wasser zur Berieselung der verdorrenden Salatköpfe durch das Fenn transportierten. Blau wabernd machte die Luft entlang der Straße Reklame für die globale Klimaerwärmung. Dryden versuchte zu husten und stieß ein abgewürgtes, bleihaltiges Quieken aus.

Der Ritz-Imbiss war einer der Treffpunkte Drydens und jener Bande von Nichtsnutzen, die er seine »Informanten« nannte. Er nahm zur Kenntnis, dass Inspector Andy Newmans Auto bereits auf einem Grashügel am Ende des Rastplatzes stand. Der Kriminalpolizist fuhr einen schrottreifen Citroën mit einem Sticker des Wildvogelschutzbunds Welney auf der Scheibe. Andy Newman, »Letzter Fall«-Newman, wie seine Kollegen ihn nannten, war weit mehr daran interessiert, einen Sperber vor die Linse zu bekommen, als einen Galgenvogel. Mental saß er schon seit einem Jahrzehnt auf dem Altenteil. Oder genauer gesagt, auf einem der Ansitze, von denen aus er seinen geliebten Vögeln nachspionieren konnte. Dreiundzwanzig Tage fehlten ihm noch bis zum gesetzlichen Pensionsalter. Nicht, dass er herunterzählen würde, aber zwei Urlaubstage und ein Arzttermin waren da noch nicht mit dabei.

Dryden stellte sich um eine Tasse Kaffee an. Was die Welt mobiler Imbissbuden anging, war das Ritz reine Grundausstattung. Zuckerdose mit einem Löffel und diversen Batzen verklebter Glukose darin. Eine Ausgabe der Sun, mit einer Schnur an der Theke festgemacht. Eine Heizplatte, auf der eine Reihe Würstchen harmonisch auf Stufe sechs vor sich hin brutzelten. Nur eine Auffälligkeit: Am hölzernen Vordach hing ein Vogelkäfig, in dem ein mottenzerfressener Papagei hockte. Es war kein schöner Anblick.

Auf einer Tafel an der Imbissrückwand stand:

DONNERSTAGSANGEBOT DOPPELWÜRSTCHEN-SANDWICH 99 PENCE.

Der Inhaber war groß, hatte nikotingelb verfärbtes Haar. Seine Konversationsfähigkeit, die Dryden früher bereits ausgelotet hatte, beschränkte sich strikt auf die Themen Premier-League-Fußball, Brummifahrerinnen und das Wetter im Umkreis von zwei Meilen um den Rastplatz. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, und er saugte mit der ganzen Kraft eines Puppenstubenblasebalgs an einer Selbstgedrehten. Er schob den Styroporkaffeebecher über die Theke, und Dryden bemerkte auf seiner Hand ein verfärbtes, angeschwollenes Stück transplantierter Haut.

»Johnnie«, sagte Dryden und legte sein Kleingeld auf die Kunststoffplatte.

»Dreckshitze«, sagte Johnnie und schob die Münzen zwischen den Reihen von Fünf-, Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigpencestücken hin und her, die er in den endlosen Stunden der Langweile, die ein Leben als Inhaber des Ritz so mit sich brachte, auf der Theke angeordnet hatte.

Damit ließ Dryden es bewenden. Er setzte sich in Newmans Wagen und tat fünf Minuten lang so, als nippe er am Kaffee. Newman, den Feldstecher an die Augen gedrückt, beobachtete das weite Feld vor sich. Schließlich ließ er ihn mit einem Seufzen in den Schoß sinken. »Wiesenweihe«, erklärte er. Selbst seine Stimme war erschöpft. Ausgelaugt. Reif für den Ruhestand, wie alles an ihm.

»Nicht mehr lang hin«, sagte Dryden und sprach damit Newmans Lieblingsthema an – den Ruhestand.

»Genau. Nicht mehr lang.«

Dryden zog ein Blatt weißes Papier hervor. Darauf stand ein fünf Absätze langer Artikel, den die Press Association heute Morgen herausgegeben hatte. Der Crow ließ sich von der Nachrichtenagentur gegen Gebühr laufend online Nachrichten und Artikel auf den Redaktionscomputer überspielen. Dryden hatte eine Suchfunktion auf dem Monitor installiert, die ihn benachrichtigte, wann immer ein Artikel eintraf, dessen Überschrift die Schlagwörter ORNITHOLOGE, VOGEL, SELTEN oder SCHRÄG enthielt.

Er hatte Newman heute Morgen angerufen, gleich als die Sache über den Ticker kam. Vielleicht war es den überregionalen Zeitungen eine Meldung in der morgigen Ausgabe wert, eventuell sogar den regionalen Abendzeitungen, aber auf jeden Fall bescherte Drydens Gefälligkeit Newman einen Vorsprung von fast vierundzwanzig Stunden auf seine Mitenthusiasten.

SELTENESIBIRISCHE MÖWEGESICHTET, lautete die Überschrift Das völlig erschöpfte Tier war in das Vogelschutzgebiet bei Holme an der Nordküste Norfolks verweht worden. Stünde das erst in den Zeitungen, würden schlagartig Tausende von Vogelfreunden über das Reservat hereinbrechen, ausgestattet mit genug fotografischem Equipment, um eine Pariser Modenschau abzulichten. So aber war Andy Newman der Erste.

»Danke«, sagte er und steckte das Blatt ins Handschuhfach. Diese, wie Dryden freimütig eingestand, nicht gerade subtilen Bestechungsmethoden schienen ihm stets ein wenig peinlich zu sein. Längst hatten sie es aufgegeben, sich in irgendeiner Form weismachen zu wollen, das beiderseitige Verhältnis basiere auf etwas anderem als Zynismus: Newman bekam seine Tipps und Dryden seine Story. So einfach war das.

Newman zog einen großen braunen Umschlag aus dem Handschuhfach des Citroën. Mit spitzen Fingern entnahm Dryden dem Umschlag mehrere Fotoabzüge. »Nicht jugendfrei«, warnte Newman und griff wieder zum Feldstecher, um einen Schwarm Flamingos zu beobachten, der sich in der Ferne gerade über die Wasser des Naturschutzgebiets von Wicken Fen schwang.

Und er hatte Recht. Zwanzig Abzüge, schwarzweiß. Zwei Körper. Einer weiblich. Auf einigen schaute das Mädchen mit glasigen Augen in die Kamera. Dryden vermutete, dass man sie unter Drogen gesetzt hatte. Das Gesicht des Mannes war roher. Ein Profi. Pornostarkörper. Haarlos und glatt, aber hässlich. Auf diesen Fotos waren sie immer hässlich, egal, wie sie aussahen.

Sie dagegen wäre in jeder anderen Situation schön gewesen. Blond, helle Augen, lange Beine. Dryden schätzte sie auf zwanzig, eher jünger. Der Hengst war älter, Ende zwanzig, und das zynische Grinsen schlug noch einmal ein paar Jahrzehnte darauf. Was Dryden aber wirklich ein ungutes Gefühl machte, war der Raum. Wände, aber keine rechten Winkel. Nackter Beton. Graffitis: schichtenweise, über Jahrzehnte hinweg. Auf dem Boden Jacken und Kleider, und darunter, was? Stroh vielleicht.

Die Kameraposition war immer gleich. Der Blick ging von draußen durch einen schmalen, horizontalen Schlitz nach innen. Nachts. Ein bestellter Spanner, der hineinsah und alles aufzeichnete.

Dryden steckte die Fotos in den Umschlag zurück und kramte in den Hosentaschen nach den Drops, die er sich in der Früh gekauft hatte. Er nahm kaum je eine vernünftige Mahlzeit zu sich und zog es vor, sich von dem zu ernähren, was seine Taschen eben so hergaben. Er kurbelte das Fenster herab, doch das hatte keine Auswirkung auf die erstickende Hitze. Lustlos knallte eine Fliege mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe.

»Ist ein Bunker«, sagte Newman, der den Feldstecher absetzte und ihn vorsichtig in ein mit fleckenlosem, grünem Tuch ausgeschlagenes Futteral legte.

Dryden nickte, als wisse er, wovon der Polizist sprach.

»Soll das ein Hinweis sein?«, erkundigte sich Dryden und unterdrückte ein Gähnen. Manchmal war Dryden bewusst, dass er den deutlich geringeren Nutzen aus diesen Bestechungsspielchen zog. Um an seine Tipps zu kommen, musste Newman sehr kurzfristig eine Story für ihn auftreiben, und bisweilen hatte die Fenn-Unterwelt eben absolut nichts anzubieten, was auch nur halbwegs aufregend gewesen wäre.

»Eigentlich nicht«, gestand Newman ein und überlegte schon, wie er es anstellen konnte, sich über Mittag ein paar Stunden zu verdünnisieren und nach Holme zu fahren, um einen Schnappschuss der Sibirischen Möwe zu ergattern. »Davon haben sie Ende der dreißiger, vierziger Jahre dreißigtausend Stück gebaut. So um die zehntausend dürften noch stehen. Die meisten sehen genau so aus wie der auf den Fotos. Angeblich gibt’s einen eigenen Klub, der die Dinger aufstöbert.«

Dryden konnte sich Newman gut als Mitglied vorstellen. »Man sollte überhaupt viel mehr an die frische Luft gehen.«

»Die haben’s gemacht«, erwiderte Newman und nickte zu dem braunen Umschlag hin. »Die Fotos wurden in einem Haus in Nottingham gefunden. Bei einer Razzia – illegale Einwanderer.«

Einer der Schwerlaster donnerte vorbei und übertönte einen Moment lang das Heulen der Autos auf der A14. Dryden spürte ein Gehörknöchelchen im Takt des Dieselmotors vibrieren.

»Operation Ironside«, erklärte Newman. »April neunzehnhundertvierzig. Die sind davon ausgegangen, dass die Deutschen an der Ostküste einmarschieren wollten. Der Plan war, die Schleusen bei Denver zu sprengen und das ganze Fenn zu fluten. Die Isle of Ely sollte das regionale Hauptquartier für die Nachinvasionszeit werden. Also hat man Bunker gebaut. An die hundertfünfzig in der ganzen Region, hauptsächlich am Rand des Hügels und an der ehemaligen Steilküste.«

Newman deutete nordwärts über das ausgetrocknete Torffeld zu einem Windschutz aus Pappeln.

Es dauerte eine Weile, bis Dryden ihn mit dem Feldstecher ausfindig gemacht hatte. Eine seiner sechs Seiten lag in der Sonne. Darin wie ein hässliches Maul der pechschwarze Schatten des schmalen Maschinengewehrschlitzes.

»Ist es der?«

»Nein. Das Dach ist eingefallen.«

Dryden sah noch einmal durch den Feldstecher. Eine Seite war zusammengebrochen, und das Dach thronte in der Tat sehr windschief oben drauf. Es gab zwar alle möglichen Arten von Bunkern, aber dieser, so viel wusste er, war das Standardmodell. Sechseckig, einstöckig, Geschützöffnungen an bis zu vier Seiten. Eine Tür war an der »Rückseite« angebracht, was immer davon abhing, aus welcher Richtung der Erbauer den Angriff erwartete. War die Tür erst verriegelt, konnte eine kleine Gruppe Soldaten es darin mehrere Tage, ja, sogar Wochen lang aushalten. Im Zuge einer Vielzahl von Recherchen, von Satansmessen bis zum Drogenmissbrauch durch Jugendliche, hatte Dryden im Fenn etliche von innen gesehen. Die meisten waren verwahrlost, die Böden aschebedeckt, voll vom Abfall gescheiterter Existenzen, von alten Spritzen bis hin zu benützten Kondomen. Einer war mit dem Tierkreis bepinselt gewesen.

Dryden glaubte nicht an Gespenster oder den Teufel, doch von manchen Orten, das spürte er, ging das Böse aus. Selbst jetzt erahnte er es, über das weite, im Sommertag daliegende Feld hinweg, diese greifbare Aura der Bedrohung, die sich über dem Bunker ballte.

»Und dann ist da noch das«, fügte Newman hinzu.

Einer der Abzüge, die Dryden nicht beachtet hatte, zeigte einen vergrößerten Wandausschnitt. Er hatte es erst für eine verpfuschte Aufnahme gehalten, aber jetzt entdeckte er darauf die verblichenen, säuberlich aufgemalten Ziffern an einer Wandkonsole.

»Wahrscheinlich stand mal ein Telefon drauf«, sagte Newman. »Mit der Nummer lässt sich der Bunker identifizieren. Das heißt, er ließe sich, wenn wir die Unterlagen hätten. Haben wir aber nicht.«

»Aber?« Das konnte noch nicht alles sein.

»Die ersten drei Ziffern bezeichnen das Gebiet. Hundertdrei. Isle of Ely. Danach orientieren sich die Jungs von der freiwilligen Landwehr bis heute.«

Dryden rührte sich nicht. Er dachte an hundertfünfzig oder mehr Bunker, die sich ringförmig um die Stadt zogen und von denen womöglich jeder Einzelne seine schmutzigen Geheimnisse barg. »Und was ist nun die Story? Oder präziser gefragt, was ist das Verbrechen?«

Newman stieg aus und lehnte sich an das glühend heiße Citroëndach. Dryden tat es ihm gleich, und sie blickten einander über heißem Metall ins Gesicht. »Wir interessieren uns für jeden, dem bei einem Bunker etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Autos bei Nacht. Liegen gebliebene Klamotten. Bestimmt haben Kinder irgendwas gesehen. Was das Verbrechen ist? Ich vermute, dem Mädchen wurde was eingeflößt. Sie hat Eltern, Freunde.«

Dryden ließ sich sein hochgerecktes Gesicht ein paar Sekunden von der Sonne braten. Er dachte an das Mädchen auf den Fotos, dachte an die sechs beengenden Schmuddelwände und den Modergestank: »Wird sie vielleicht vermisst?«

»Gut möglich. Erwähnen Sie ruhig, dass wir den Zentralcomputer der Polizei darauf angesetzt und die Vermisstenverzeichnisse durchforstet haben.«

Was für ein Ort, um in der Falle zu sitzen, überlegte Dryden, und die Klaustrophobie trieb ihm den Puls in die Höhe. Sechs Wände, die auf dich einstürzen. Er dachte an Harrimere Drain, an die immer kleiner werdende Luftblase, in der er Laura bei dem Unfall hatte zurücklassen müssen. Ein entgegenkommender Fahrer hatte das Auto von der Straße gedrängt, und es war ins eisige Wasser des tiefen Grabens gestürzt. Der andere Fahrer hatte ihn befreit und durch das dunkle Wasser der rettenden Luft entgegentauchen lassen. Als ihm das Bewusstsein schwand, hatte er sich – wie auch im Nachhinein – immer wieder gesagt, er habe Laura zurückgelassen, um Hilfe zu holen, aber er wusste, dass andere seine Motive in Zweifel zogen. War er nicht schlicht dem Albtraum des Unterwasserkerkers entflohen? War es nicht die panische Flucht des Feiglings?

Er dachte an das Mädchen auf dem Foto und den Ausdruck wirrer Angst in ihrem Blick. Dryden war nicht mehr viel an Mitleid verblieben, nicht einmal für Laura. Aber er hatte eine Menge Wut.

Kapitel 3

Die Geschäftsräume der Wochenzeitung The Crow lagen an der Market Street, zwischen einem Samengroßhändler und dem ehemaligen Stadtgefängnis. Zur Straße hin gab es eine schmale Tür mit Katzentürchen und einem Plastikschild zum Umdrehen mit der Aufschrift »Offen« und »Geschlossen«. An einem einfachen Empfangstisch auf bloßem Parkett saß Jean, die halbtaube Empfangsdame und Telefonistin des Crow. Was Empfangshallen anging, konnte diese es kaum mit der der News aufnehmen, Drydens ehemaligem Brötchengeber auf der Fleet Street, die mit zwei Vollprofis in paramilitärischer Uniform und einem Springbrunnen nebst ausreichend Sitzgelegenheiten für eine ganze Flugzeugladung wartender Urlauber ausgerüstet war. Beim Crow gab es drei Holzstühle, ein klappriges Beistelltischchen und einen Stapel Zeitschriften, die total zerlesen waren und in denen die Anzeigen noch mit Pfund, Shilling und Pence warben.

Der Crow. Gegründet 1846. Auflage konstant bei siebzehntausend. Auflage der News: 3,6 Millionen, steigend. Dryden rauschte durch die Tür, sah auf die Uhr und drehte, da es halb zwei war, das Schild auf »Geschlossen« um. Ely gehörte noch immer jenem Zirkel verschlafener Städte an, in denen etliche Geschäfte über Mittag geschlossen haben, schließlich könnte ja jemand etwas kaufen wollen. Außerdem war donnerstags generell früher Geschäftsschluss, und die meisten Ladenbesitzer hatten sich schon zur Siesta nach Hause verzogen. Jean strickte und sang eine eintönige Ballade vor sich hin. Die High Street draußen briet in der Mittagshitze, und niemand bewegte sich. Die Mädchen im Schuhgeschäft gegenüber hatten sämtliche Türen aufgerissen, um es der Klimaanlage ein wenig leichter zu machen, wobei ihnen natürlich nicht auffiel, dass sie von der Anlage verlangten, erst einmal ganz East Anglia herunterzukühlen, bevor sie sich dann des Ladeninneren annehmen konnte.

Mit jedem Schritt nahm Dryden drei der hölzernen, nicht mit Teppichboden belegten Treppenstufen und stieß oben die Hartfasertür auf, deren Aufschrift NACHRICHTENBÜRO einem unangebrachten Selbstvertrauen geschuldet war. Auf der Fleet Street wäre der dahinter liegende Raum nicht einmal als Abstellkammer durchgegangen. Dryden hatte die News nach Lauras Unfall verlassen. Der Crow bezahlte die Rechnungen für sein schwimmendes Heim, und ihm blieb genug Zeit, um an Lauras Bett zu sitzen. Die Versicherung kam für das Tower Hospital auf, und im Augenblick zumindest ließ sich daran auch nicht rütteln. Lauras Unfall hatte eine wahre Medienschlacht ausgelöst, und die Geschichte hatte mit Unterbrechungen einen ganzen Monat lang die Titelseiten der Boulevardblätter beherrscht. Sie hatte zu dieser Zeit eine der Hauptfiguren in der Fernsehserie Clyde Circus gespielt. Ihr Zustand hatte, sobald die Diagnose feststand, das Interesse wach gehalten. »Locked-in-Syndrom« – kurz LIS – das hatte Nachrichtenwert. Das Opfer befindet sich augenscheinlich in tiefem Koma, kann aber, zumindest zeitweise, trotz aller Bewegungsunfähigkeit bei vollem Bewusstsein sein.

Resigniert war Dryden den Fleet-Street-Angriffen entgegengetreten – immerhin hatte er selbst ein knappes Jahrzehnt lang auf deren Seite gestanden. Während der Interviews ließ er bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Namen der Versicherung, der Mid-Anglian Mutual Insurence Company, fallen, und er pries deren sofortige Bereitschaft, für Lauras Pflege im Tower aufzukommen und die Behandlung durch einige der weltweit führenden Komaexperten zu finanzieren. Es war ihnen kaum etwas anderes übriggeblieben, als weiterhin die Rechnungen zu bezahlen. Aber er wusste, das konnte nicht von Dauer sein. Eines wahrscheinlich nicht mehr allzu fernen Tages würde ein Brief ihn höflich darauf hinweisen, dass man eine weniger kostspielige Therapie für angemessen erachte. Das war eine stets nagende Furcht, und die Vorstellung, Laura läge in einem verlassenen Vorzimmer irgendwo in einem der unterfinanzierten, überbelegten Krankenhäuser der Umgegend, machte sie nur noch akuter.

Im Augenblick aber brauchte er eine Einkommensquelle nur, um für seine Rechnungen aufzukommen, um Laura nahe genug für regelmäßige Besuche zu sein und um seine Gedanken von etwas anderem ausfüllen zu lassen als dem Bild seiner Frau, die ausgestreckt unter einem Baumwolllaken lag. Die Anstellung als Chefreporter beim Crow, die man ihm nach einem Monat der freien Mitarbeit angeboten hatte, war eine elegante Lösung für alle drei Probleme.

Das Erkerfenster der Redaktion ging auf die Straße hinaus. Dort war Mittag, und nichts bewegte sich. Siesta auf Fenn-Art. Der Haushaltswarenhändler auf der anderen Straßenseite hatte die weiße Leinenjalousie heruntergelassen. Über den Läden dräute das Turmoktogon der Kathedrale, und in den Aufwinden über den heißen, bleiverkleideten Holzfialen kreisten die Krähen.

Für ein Stadtzentrum war es vielleicht doch eine Spur zu ruhig. Dryden hörte das Ticken seiner Armbanduhr.

Der Newsdesk nahm eine ganze Wand ein. Bill Bracken, der Nachrichtenredakteur, befand sich augenblicklich im Fenman auf der anderen Straßenseite, wo er sich stressmildernde Essenzen zu £ 2,30 das Pint verabreichte. Bracken hatte eine Säufernase, was allerdings nicht ganz so sehr auffiel, da sie mitten in einer Säufervisage steckte.

Dryden ging zum Kaffeeautomaten. Der nahm eine Fülle ausländischer Münzen an, die die Belegschaft des Crow im Urlaub ansammelte. Der Herausgeber, Septimus Henry Kew, pries ihn als eine bedeutende Sozialleistung. Wahrscheinlich war es die Einzige. Donnerstag war Drucklegung und früher Geschäftsschluss, und das hieß, um drei Uhr wäre es in der Redaktion so voll wie niemals sonst. Drei Setzer, der Redakteur, der Herausgeber und Splash, die Bürokatze. Der Crow beschäftigte zwei Reporter, Dryden und sein jugendliches Faktotum, Gary Pymore. In der mittäglichen Stille hörte Dryden Gary die High Street entlangkommen. Im Alter von vier Jahren hatte er eine akute Meningitis durchgemacht und dabei den Gleichgewichtssinn vollständig verloren. Die Heilung sei ganz einfach, hatten die Ärzte erklärt und ihm die Schuhe mit Metallplatten ausstaffieren lassen, die er beim Gehen auf den Boden rammen konnte. So verfügte er über eine Art stereophones Sonar, das es seinen Ohren erlaubte, ihre Funktion als Stabilisatoren doch noch wahrzunehmen. Gary polterte durch die Eingangstür, stapfte die Treppe herauf und ließ sich an seinen Schreibtisch plumpsen.

Der Jungreporter versicherte sich, dass der Herausgeber nicht hinter seiner Milchglastrennscheibe saß, und zündete sich eine Zigarette an. Die Redaktionsräume waren offiziell rauchfreie Zone. Er schlug sein Notizbuch auf. »Was ist ein steifes Fenn-Blasen?«, fragte er kichernd. Dryden zog die obszöne Antwort, auf die Gary spekulierte, in Erwägung, sagte dann aber doch nichts. Es reichte, wenn die Hormone des postpubertierenden Jungreporters es miteinander trieben.

»Das ist ein Staubsturm, eine Art Windhose, Gary. Bei lang anhaltender Trockenheit kommt es vor, dass die schwarzen Torffelder ihre Ackerkrume verlieren. Trockener Torf wiegt praktisch nichts. Setzt in Zeiten ohne Getreidebewuchs ein starker Wind ein, können ganze Felder buchstäblich abheben, und wenn die Staubwolke erst einmal in der Luft ist, kann sie viele Meilen weit ziehen.«

Gary nickte. »Da kommt eine auf uns zu. Ich hab vom Amtsgericht aus die Polizeiabfrage gemacht. Die haben gesagt, es ist was im Fenn unterwegs, im Westen, bei Manea, und es zieht nach Osten.«

»Klasse. Ruf Mitch an. Ich hab sowieso in der Gegend zu tun – ich werd die Augen offen halten.« Mitch war der Crow-Fotograf. Er war ein Westentaschen-Highlander mit einer Vorliebe für nachgemachte Schottenmützen. Fenn-Windhosen gaben prima Bilder und miese Geschichten ab. Wenn sie nicht mitten durch einen Ort zogen, dann richteten sie nur am Einkommen der Bauern einen gewissen Schaden an, und das war selbst für eine Zeitung wie den Crow kein großes Thema, angesichts der Tatsache, dass Automatisierung und dauerhaft niedrige Löhne die Farmarbeiter zu Tausenden von den Feldern vertrieben hatten.

»Und es gab was Neues zu dem Beck-Aufruf«, erzählte Gary weiter.

Dryden hatte niemandem beim Crow gesagt, dass Laura mit Maggie Beck in einem Zimmer lag. Er versuchte, sein Gefühlsleben von der Arbeit getrennt zu halten. Mehr noch, er versuchte, es von seinem gesamten Leben getrennt zu halten. Aber sein Interesse an den immer verzweifelteren Aufrufen der Polizei, Estelle Beck möge zurückkehren, ließ sich nur schwer verbergen. Das Versprechen, das er Maggie gegeben hatte, ließ ihm keine Ruhe. Tat er genug, um sie zu finden? Würde sie rechtzeitig wiederkommen?

»Auf die Radiomeldungen gab’s überhaupt keine Reaktion. Die Polizei sagt, in vierundzwanzig Stunden ist sie vielleicht schon tot. Offenbar gehen die davon aus, dass die Tochter auf Urlaub ist – irgendwo an der Küste von Nord-Norfolk. Deswegen haben sie sich direkt an die Fremdenverkehrsämter gewandt, Seenotrettungsdienst, Bed-and-Breakfast-Häuser – einfach alles.«

»Schön«, meinte Dryden. »Dann lass dir für die Titelseite mal zwei Absätze dazu einfallen. Und drei über den Staubsturm.«

»Einer da auf Black Bank – einer von den Farmarbeitern –, der behauptet, sie ist mit irgend ’nem Ami unterwegs.«

»Name?«

Überaus beflissen blätterte Gary durch das Notizbuch. »Koskinski. Lyndon. Ist zurzeit wohl in Mildenhall stationiert, aber vorübergehend freigestellt oder so ...«

Dryden sah im Geiste noch einmal den großen, hageren Piloten an Maggies Bett stehen. »Mach was draus«, sagte er und fuhr den eigenen PC hoch. Er schrieb schnell und flüssig, in reinster, objektiver Zeitungsschreibe. Er berichtete von der Gerichtsverhandlung eines Mannes, der nachts Kohlköpfe stahl, und bat um Mithilfe bei der Suche nach einer entwischten Schlange.

Dann klingelte sein Telefon. »Hall-oo ...« Inspector Newman klang immer so, als stünde er drei Meter vom Hörer entfernt.

Dryden hörte Vogelgezwitscher im Hintergrund, was vermutlich von Newmans Bildschirmschoner kam.

»Ein bisschen was hätte ich noch. Der Hengst. Seine Visage ist aktenkundig. Auch wenn er die meiste Zeit nicht zur Kamera geschaut hat. Die Polizei von West Midland hat ihn geschnappt. Paar Stunden her, in seiner Bude. Hatte etliche Hundert Videos im Gästezimmer – die von der Sitte sitzen im Moment gerade drüber.«

Dryden kritzelte mit, während Newman noch sprach. »Name? Anklage?«

»Darf ich nicht mitteilen. Bislang noch keine Anklage.«

»Wohnhaft?«

»Kidderminster.«

»Und die Kleine?«

»Behauptet, er kann sich nicht erinnern. Behauptet, es wäre alles einvernehmlich gewesen. Sie hätte ihn da rausgeführt. Blablabla.«

»Er wusste also, dass die Kamera lief?«

»Sieht ganz so aus. Jedenfalls hat es ihn nicht überrascht, als er seinen Hintern auf dem Abzug gesehen hat.«

»Beschäftigung?«

»Abgesehen vom Rammeln? Fernfahrer, wie’s aussieht. Erstaunlich, dass er noch so viel Zeit hatte. Und, Dryden ... nichts Reißerisches, okay? Nur ein Zeugenaufruf.«

»Wie könnte ich?« Das war eine von Drydens Lieblingsfragen. Die Antwort lautete: »Ganz einfach könnte ich.«

Am anderen Apparat entstand eine Gesprächspause, die von Vogelgezwitscher erfüllt war.