Tod im Moor - Jim Kelly - E-Book
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Tod im Moor E-Book

Jim Kelly

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Beschreibung

Ein Ermittler mit dunkler Vergangenheit … Der fesselnde Thriller »Tod im Moor« von Jim Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. An einem gespenstisch nebelverhangenen Tag wird ein Unfallwagen aus dem Moor geborgen, im Kofferraum findet die Polizei eine tiefgefrorene Leiche. Nur wenige Tage später entdeckt man auf dem Dach einer Kathedrale ein Skelett, das sich grotesk an einen Wasserspeier schmiegt. Philip Dryden, Journalist für ein Lokalblatt in Cambridgeshire, ist sich sicher, dass es hier eine Verbindung geben muss – und eine brandheiße Story! Doch die Hinweise führen ihn nicht nur zu einem jahrzehntealten Verbrechen, das nie aufgeklärt wurde, sondern auch zurück zu den dunkelsten Stunden seines eigenen Lebens: Zu dem Tag, als er im Moor bei einem schrecklichen Unfall seine Frau verlor … »Das beste Krimidebüt seit Jahren!«, urteilt Bestsellerautorin Val McDermid. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Kriminalroman »Tod im Moor« von Jim Kelly ist der spannungsgeladene Auftakt seiner »Mord in Cambridgeshire«-Reihe um den charismatischen Ermittler Philip Dryden – für alle Fans von Stuart MacBride und Ian Rankin. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 429

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Über dieses Buch:

An einem gespenstisch nebelverhangenen Tag wird ein Unfallwagen aus dem Moor geborgen, im Kofferraum findet die Polizei eine tiefgefrorene Leiche. Nur wenige Tage später entdeckt man auf dem Dach einer Kathedrale ein Skelett, das sich grotesk an einen Wasserspeier schmiegt. Philip Dryden, Journalist für ein Lokalblatt in Cambridgeshire, ist sich sicher, dass es hier eine Verbindung geben muss – und eine brandheiße Story! Doch die Hinweise führen ihn nicht nur zu einem jahrzehntealten Verbrechen, das nie aufgeklärt wurde, sondern auch zurück zu den dunkelsten Stunden seines eigenen Lebens: Zu dem Tag, als er im Moor bei einem schrecklichen Unfall seine Frau verlor …

»Das beste Krimidebüt seit Jahren!«, urteilt Bestsellerautorin Val McDermid.

Über den Autor:

Jim Kelly, geboren 1957, arbeitet seit vielen Jahren als Korrespondent der Financial Times in London. »Tod im Moor« war sein hochgefeiertes Krimidebüt, für das er unter anderem mit dem »Dagger Award«, dem größten britischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Jim Kelly lebt mit seiner Familie in Ely, Cambridgeshire, die auch Schauplatz seiner Krimireihe um Philip Dryden ist.

Bei dotbooks veröffentlichte Jim Kelly seine Krimireihe »Mord in Cambridgeshire«:»Tod im Moor«»Kein Ort zum Sterben«»Dunkler als ein Grab«»Kalt wie Blut«»Spur der Knochen«

***

eBook-Neuausgabe August 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »The Water Clock« bei Penguin Books, London. First published in Great Britain in 2002 by Michael Joseph

Copyright © der englischen Originalausgabe 2002 by Jim Kelly.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Carsten Mayer liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)

ISBN 978-3-98690-748-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Jim Kelly

Tod im Moor

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Carsten Mayer

dotbooks.

Für Midge

Teil 1Donnerstag, 8. November

Im Great West Fen

Prolog

Um Mitternacht schließlich kapitulieren auf Middle Level die Pforten der baptistischen Kapelle von Black Bank vor den steigenden Fluten und öffnen sich. Zuvor hatten die Dorfbewohner, mit Koffern und Bündeln beladen wie Flüchtlinge aus dem Balkan, sich dort zu einem letzten Gottesdienst eingefunden. Nun aber nimmt das Wasser den viktorianischen Klinkerboden in Besitz: eine schleichende Gemeinde, die die Kirchenbänke anhebt, auf dass sie sich drängelnd nach vorn gegen das Altargitter schieben. Endlich erhebt sich auch das hölzerne Lesepult und taucht den aufgemalten, goldenen Adler in die schokoladenbraune Flut. Doch da ist niemand, der dieses Geräusch hören könnte, alle sind sie fort. Draußen, unterhalb der Hochwasserdämme, stoßen platschend die aus dem triefenden Torf gesaugten Zaunpfähle an die Wasseroberfläche. Auf dem letzten verbliebenen Rest höher gelegenen Landes schreien Hasen im Chor eine Alptraumoper.

In mondheller Novembernacht breitet die Flut sich aus. Rinder mit glasigem Blick, die Hälse nach Luft schnappend zurückgeworfen, werden vom wirbelnden Strom davongerissen. Bei Einbruch der Dunkelheit tritt bei Pollard’s Eau der Old West River über die Ufer und überspült die Kohlfelder. Die Wachtposten im zwölf Meilen entfernten Beobachtungsturm der Kirche von Sutton schreiben das Geräusch einem Zug auf dem Weg nach King’s Lynn zu. Erst als es längst zu spät ist und die Sterne sich schon in den Feldern spiegeln, wird Alarm geschlagen.

Auf einer eigenen, stetig kleiner werdenden Insel steht die Ruine von Burnt Fen Farm.

Philip Dryden erklimmt die Treppen des Bauernhauses, in dem er geboren wurde.

Seine Knie knacken, und die feuchte Luft lässt in sämtlichen Gelenken des einsneunzig großen Körpers den Rheumatismus aufblühen. Auf dem Treppenabsatz bleibt er stehen, und im Licht des Mondes, das zwischen den Dachbalken hereindringt, scheint sein Gesicht auf, ausdruckslos wie ein in Stein gemeißelter Kopf an einer Kathedralenmauer.

Er stützt sich auf das verzogene Treppengeländer und durchlebt noch einmal die Ängste seiner Kindheit – die ihm im Vergleich zu dem jetzt sich nähernden Schrecken durchaus willkommen wären.

Wird der Mörder kommen?

Draußen auf dem Old West River knirscht das Eis. Ungehört schwingen sich mit dem Nahen des Todes leiseste Stimmen reinster Furcht auf. Ratten versuchen in choreographierter Flucht Haken schlagend dem Wasser zu entkommen und zwängen sich zwischen die steilen Pyramiden der Winterrüben.

Zitternd durchquert er den Flur und stößt die Lattentür zur Speichertreppe auf. Wieder steigt er hinauf in das alte Klassenzimmer, dessen einziger Schüler er gewesen war. Der Blick aus dem Fenster der Dachgaube rahmt einen Schnappschuss der Erinnerung: sein Vater, der im blau gestreiften Liegestuhl sitzt und unterm breitkrempigen Kirschpflückerhut in sommerlicher Sonne dahindöst.

Von draußen trägt der Wind das langsame Krachen eines Baums herein, der in die Fluten sinkt. Eine sterbende Kuh brüllt, gefolgt von einem Brausen himmlischer Klänge, als ganz kurz nur die Kirchenglocken aus Littleport verspätet Alarm läuten. Ein Blitz reißt eine klaffende Wunde in die Nacht, und Dryden sieht die eng geschlossenen Reihen der Wellen auf dem Marsch nach Süden.

Er wartet auf Burnt Fen auf den Mörder. Auf den einzigen, den Doppelmörder, der kommt.

Am Horizont weisen vereinzelt Autoscheinwerfer nach Quanea. Einheimische, die im wirklich allerletzten Moment die Flucht ergreifen und das höher gelegene Land zu erreichen suchen. Einer hält an, die Scheinwerfer schwenken herum, mit laufendem Motor steht er am Eighteen Foot Drain. Falscher Alarm: eine Kehre in drei Zügen, ein Lichtertanz von gelb nach rot, und Dryden rast das Herz in der Brust. Er zittert inzwischen so krampfhaft, dass er kaum die Taschenlampe halten kann.

Wieder ein Auto auf dem Fenn. So plötzlich ist es aufgetaucht, dass Dryden Mühe hat, die näherkommenden Scheinwerfer scharf in den Blick zu bekommen. Er kommt von Süden, über den Viehweg. Er ist fast da, und Dryden hat ihn unterschätzt. Auf den schmalen Dämmen der Bewässerungsgräben bahnt er sich den Weg durch die Felder.

Als er noch eine halbe Meile entfernt ist, bleibt der Wagen stehen. Die Lichter gehen aus.

Sie sitzen da und warten. Tick um Tick vergeht eine Minute. Dann fünf. Sie sitzen, schauen, das Wasser steigt. Er kommt auf Bitten eines Toten. Im Tosen der Flut versucht Dryden andere, tödliche Geräusche auszumachen.

Der Mond findet eine Wolke, der Wind flaut ab, und in der plötzlich einsetzenden, erstickenden Stille fällt leise eine Autotür ins Schloss.

Er kommt.

Teil 2Donnerstag, 1. November

Sieben Tage früher

Kapitel 1

Das Privattaxi von Humphrey H. Holt rückte über das Fenn vor wie ein Spielzeugauto auf einem gigantischen Monopolybrett. Dieser Ford Capri war eine Ikone – von den Plüschwürfeln am Rückspiegel bis zu den Holzperlen der Sitzbezüge. Unter der Heckscheibe stapelten sich eselsohrige Kinderbücher, die seine Tochter dort hortete – von der auch die rote Plastiknase am Kühlergrill und die Piratenflagge an der Antenne stammte. Verziert war die Mietkarosse mit einem dreifachen H und wurde daher, kaum verwunderlich, zu Hochzeiten eher selten nachgefragt. Einmal hatte sie einen Leichenzug vervollständigt – und die Hinterbliebenen hatten, ihrer Trauer zum Trotz, Geistesgegenwart genug gehabt, das Geld zurückzuverlangen.

Als der Bahnübergang bei Queen Adelaide hinter ihnen lag, rückte sich Philip Dryden auf dem Beifahrersitz zurecht, stellte den Kragen des riesigen, schwarzen Mantels auf und warf einen Blick auf das Taxameter. Er hustete und sog die Feuchtigkeit ein, die ringsum aus den Feldern kroch. Der angezeigte Preis war £ 2,95. Es waren immer £ 2,95 gewesen. Er sah die losen Drähte, die unter dem Armaturenbrett baumelten. Das Taxi fuhr auf einen Buckel, und der Auspuff schepperte auf dem Asphalt wie eine Kuhglocke.

Humph krümmte sich auf seinem Sitz zusammen, was dazu führte, dass der annähernd einhundertzehn Pfund schwere Oberkörper, den er so schmuck in der Nylon-Ips-wich Town-Trainingsjacke verstaut hatte, von konzentrischen Wellenbewegungen durchgeschüttelt wurde. Irgendwo tief im Inneren tanzte ein beträchtliches Stück Darmabschnitt.

Ein weiterer Buckel auf dem Viehweg ließ das Auto kurzzeitig abheben, dann donnerte es mit einem dumpfen Schlag, der einem alle Knochen stauchte, wieder auf den Boden. Die Federung, ein Netzwerk aus rostigem Stahl, war nicht so sehr verschweißt als vielmehr längst eingeäschert.

Durch den Stoß klappte der Schminkspiegel auf der Beifahrerseite herunter, so dass er Dryden direkt vor dem Gesicht hing. Verärgert starrte er sich an: Er hatte eine romantische Phantasie, der sein Gesicht auf dramatische Weise nicht gerecht wurde, was insofern seltsam war, als die meisten Menschen, darunter so gut wie alle Frauen, es als ansprechend, wenn nicht gutaussehend empfanden. Doch treffende Selbsteinschätzung zählte nicht zu seinen Stärken. Der Knochenbau war archaisch, und das Gesicht wirkte, als habe der Meißel eines normannischen Steinmetzes es mit einigen wohl platzierten Hieben aus einem Kalksteinblock gehauen. Das pechschwarze Haar orientierte sich an der architektonischen Anlage – kurz geschoren und schlicht. Es war ein Gesicht, wie man es in den Miniaturen einer angelsächsischen Chronik zu finden erwartet hätte.

Er klappte den Schminkspiegel hoch und wischte auf der angelaufenen Fensterscheibe ein Bullauge frei. Zehn nach vier. Ein eisiger Wolkenmantel lag bleiern über dem Fenn und wurde hin und wieder vom Rot und Grün halbherzig abgebrannter Feuerwerke erhellt. Den ganzen Tag über war die Temperatur nicht über den Gefrierpunkt gestiegen und nun, da das Tageslicht langsam zerrann, kroch aus den Abzugsgräben neben der Straße ein Nebel, der sich in die vorbeirollenden Taxireifen zu krallen versuchte.

Dryden sah auf die Uhr. »Wäre nicht schlecht, wenn wir langsam da wären«, meinte er. Wie die meisten Journalisten hatte er leidvoll erfahren müssen, dass Geduld ein Laster ist.

Humph nahm eine gehetzte Haltung ein, die aber keinerlei erkennbaren Tempogewinn mit sich brachte. Das Taxi rauschte weiter dahin, begleitet von einem Schwarm Kanadagänse, der sich eben in die Lüfte geschwungen hatte und sich nun an den langen, bedächtigen Aufstieg in den Himmel machte.

Zwei Meilen vor ihnen blinkte ein Blaulicht – ein Leuchtfeuer im Nebelmeer. Eine Meile im Osten zwinkerten verheißungsvoll die bunten Lichter eines Pubs durch das Zwielicht.

»Tesco-Einkaufswagen«, orakelte Dryden, der in den Manteltaschen nach einem Stift suchte. Stattdessen fand er eine Mini-Schweinefleischpastete, die Überreste eines Viertelpfunds Jungchampignons sowie ein nicht angebrochenes halbes Pfund Weingummi.

Anstelle einer Antwort verstellte Humph den Rückspiegel. Er kannte Dryden seit zwei Jahren, seit dem Unfall, durch den Drydens Frau, Laura, ins Koma gefallen war. In diesen ersten, kritischen Wochen hatte Humph ihn regelmäßig ins Krankenhaus gefahren. In jener Zeit hatte er gelernt, Dryden seine Sätze selbst zu Ende führen zu lassen. Sofern es denn überhaupt jemandem möglich war, ein Gespräch ausschließlich mittels rhetorischer Figuren zu führen, so diesen beiden.

Dryden, der sich ärgerte, dass das Taxi nicht mehr Beinfreiheit bot als jedes gewöhnliche Auto, stieß mit dem Fuß aus.

Hatte Humph ihm geantwortet? Er war sich nicht sicher.

»Was willst du wetten? Drei vollgeschlammte Tesco-Wagen und eine Radkappe. Wenn wir Glück haben. Du wirst schon sehen: Schon wieder ein Pulitzerpreis im Anmarsch.« Dryden trieb seinen Skeptizismus gewöhnlich bis zum Äußersten, was dann oft, fälschlicherweise, für Zynismus gehalten wurde.

Unvermittelt kamen sie an eine T-Einmündung. Die waren im Fenn weit verbreitet: Ohne Vorwarnung zwangen sie auf den schnurgeraden Viehwegen zur Vollbremsung. Tödliche Fallen. Urplötzlich sahen unvorsichtige Fahrer, eingelullt von sieben Meilen asphaltierter Anlaufstrecke, eine Böschung vor sich, dahinter einen Graben, angefüllt mit zehn Fuß eisigen Wassers.

Schräg zur Straße stand ein Schild: ABZWEIGUNG »FIVE MILES ANYWHERE« – Fünf Meilen von nirgendwo. Dryden lachte, hauptsächlich, weil es kein Scherz war.

Vor ihnen lag die Uferböschung des Lark, eines Zuflusses der Great Ouse – der Hauptlebensader des Fenn. Sie parkten vor einem schwarzgelben Polizeiabsperrband.

Dryden erklomm gerade die Böschung, als knatternd eine Industriebogenlampe ansprang und einen kreisrunden Abschnitt auf dem Eis in gleißendes Licht tauchte. Auftritt Torvill und Dean, dachte er.

In der einsetzenden Dunkelheit tat ihm der grelle Lichtkreis in den Augen weh. Die Kanadagänse, die inzwischen zu ihnen aufgeschlossen hatten, flatterten erschreckt durch den Lichtstrahl wie von Flakscheinwerfern erfasste Bomber im Krieg. Sie versuchten ein Stück flussabwärts auf dem Eis zu landen – ein Tohuwabohu aus wild rudernden Schwimmfüßen, in düsteres Zwielicht gehüllt.

Dryden fing an, das aufgefahrene Gerät in seinem Notizbuch aufzulisten – er wusste sehr wohl, es könnte ihm letztlich an Fakten mangeln, und er brauchte etwas, womit der Artikel sich ein bisschen strecken ließe. Am Fuß des Lark-Deichs standen sechs Einsatzfahrzeuge. Zwei Streifenwagen der örtlichen Polizei, Ford Fiestas mit blauen Streifen an den Seiten; die Tauchereinheit der Polizei von Cambridgeshire, ein schicker Cavalier mit Purpurstreifen und Anhänger; das Spezialbergungsfahrzeug der Feuerwehr; ein Ford-Van des Three Rivers-Wasseramts und ein ziviler, blauer Rover, dessen Nummernschild auch den Hinweis Kriminalpolizei in leuchtender Neonschrift hätte tragen können.

Auf dem Fluss versuchten vier Froschmänner das Eis zu durchbrechen, um ein Etwas, das sich unmittelbar unter der Oberfläche befand, mit Stahltrossen zu sichern. Einer verlangte nach Schneidbrennern, und kurz darauf zischten diamantblaue Flammen, und pilzförmige Dampfwolken stiegen in die eisige Luft auf.

Was Dryden brauchte, war ein Aufhänger für seinen Artikel – und dazu brauchte er jemanden, an dem er sich festmachen ließ. Was ihm fehlte, war Zeit. Der definitive Redaktionsschluss des Crow war um 17 Uhr.

Er betrachtete die kleine Runde. Den Einsatzleiter der Feuerwehr konnte er ausschließen – der war, vorsichtig ausgedrückt, als »den Medien nicht freundlich gesonnen« bekannt –, selbiges galt für den PR-Menschen des Wasseramts, der gerade damit beschäftigt war, den silbrig glitzernden Anzug unter dem bodenlangen Cashmere-Mantel glatt zu streichen.

Erleichtert entdeckte er auf dem anderen Flussufer einen Kriminalpolizisten in Zivil. Detective Sergeant Andy Stubbs war mit einer der Krankenschwestern verheiratet, die Drydens Frau pflegten. Sie waren sich gelegentlich im Krankenhaus über den Weg gelaufen, wobei beide eine professionelle Distanz gewahrt hatten. Dryden entschied sich für den sachlich-distanzierten Ansatz: »Detective Sergeant.«

Es war beinahe eine Frage – aber eben nicht ganz. Die Einladung zum Schwatz.

Detective Sergeant Stubbs schlug sie aus. »Dryden.« Er zog den Reißverschluss der orangerot-phosphoreszierenden Schutzjacke hoch. Misstrauen, schrie seine Körpersprache förmlich.

Mit einer Begeisterung, die gut auf die Zuschauerränge von Old Trafford gepasst hätte, sah Dryden auf den in Flutlicht getauchten Fluss. Er grinste, rieb sich freudig erregt die Hände und startete dann seinen Konter. »Weshalb denn nun der ganze Aufwand hier, Mr. Stubbs?« Genau die Mischung aus Respekt und Unbekümmertheit, die Dryden für Erfolg versprechend hielt. Die Unbekümmertheit war mehr als nur Fassade. Er litt unter dem Gegenteil einer klinischen Depression – einer Art irrationalem Überschwang.

»Die Behörden haben einen totalen Informationsstopp verhängt, Dryden. Wir wissen nicht genau, womit wir es zu tun haben. Wir sind schon seit drei Stunden hier zugange. Lassen Sie mir noch zehn Minuten. Wenn sich bis dahin nichts ergeben hat, kriegen Sie ein Statement von mir.«

»In zwanzig Minuten muss es bei der Redaktion sein, damit es noch in Satz geht.«

DS Stubbs nickte fröhlich. Das störte ihn nicht im Geringsten.

In der Ferne sah Dryden Humphs Taxi. Das Leselicht war angeknipst, und undeutlich konnte er den Taxifahrer wild gestikulieren sehen. Mit Sprachkassetten hatte Humph es zu Grundkenntnissen in vier europäischen Sprachen gebracht. Heuer war Katalanisch an der Reihe. Um dem Weihnachtstrubel zu entgehen, wollte er im Dezember zwei Wochen in Barcelona Urlaub machen – selig schwatzend und allein. Es war ihm ein Bedürfnis, jede Sprache fließend zu sprechen, solange es nur nicht die eigene war.

Stubbs hatte offenbar dasselbe Problem.

Dryden versuchte es noch einmal. »Is’n Auto – unterm Eis.« In der darauffolgenden Stille strahlte er, als hätte er eine Antwort bekommen.

Die Froschmänner hatten mit Schneidbrennern, die aus dem Feuerwehr-Bergungsfahrzeug mit Gas versorgt wurden, ein Loch in die Eisdecke geschmolzen und befestigten nun vier Stahltrossen an den tragfähigsten Stellen des Autodachs. Die Stahltrossen führten zur mobilen Polizeiwinde, die über ein Kabel am Generator der Feuerwehr angeschlossen war. Am Ufer stand eine Hochleistungspumpe, die einen dampfenden Strahl heißen Wassers ausspie und so den Bereich um die Taucher herum allmählich in ein blubberndes Becken aus knirschendem Eismatsch verwandelte. Neben der Bogenlampe stellten Streifenpolizisten entlang des Ufers Warnleuchten auf. Einer der Feuerwehrleute filmte das Geschehen mit einer tragbaren Videokamera. Hier gab es Gerät genug für den Showdown eines Hollywoodkatastrophenfilms – auf Eis.

Für Dryden war das nichts Neues. Niemals würden sich die Rettungsdienste eine Chance entgehen lassen, ihr Spielzeug aus der Kiste zu holen und ein wenig unter Ernstfallbedingungen zu trainieren. Es hätte ihn nicht überrascht, jetzt das Schropp-schropp-schropp des Polizeihubschraubers zu hören.

»Keine schlechte Show, Mr. Stubbs.«

Stubbs sah einfach durch ihn durch. Die Wirkung war eigentümlich unbedrohlich. Dryden fühlte sich wohler und grinste zurück.

Für einen Detective Sergeant der Polizei Mid-Cambridgeshire strahlte Andy Stubbs ein beinahe völliges Fehlen jedweder Autorität aus. Sein Gesicht war so durchschnittlich, dass man es in tausend Gegenüberstellungen hätte verwenden können, und das Grau seiner Augen machte keineswegs mehr Eindruck. Die Haare waren kurz und blond. Er müffelte nach Old Spice.

Dryden spielte an seinem Kragen herum. Stubbs’ farblose Unterkühltheit bereitete ihm immer wieder Unbehagen. Er setzte seine Verzweiflungsmiene auf: halb suizidal, halb mörderisch. Er trat näher. »Ein Hinweis vielleicht? Mir wird langsam die Zeit knapp.«

Stubbs entschloss sich zu reden, nicht weil er irgendeinen Vorteil darin gesehen hätte, sondern weil er Dryden mochte, oder genauer: Er beneidete ihn, neidete ihm das Fehlen von Ordnung und Verantwortung, die Freiheit, die ungebundene Lebensweise. Und er tat ihm leid. Und der Auslöser dieses Mitleids war exakt der Grund für seine Freiheit: eine schöne Frau, die den Rest ihres Lebens in einem Krankenhausbett verbringen würde.

»Da ist was unter dem Eis«, erklärte er.

Dryden schrie innerlich auf. Das sah er selbst.

»Und das muss jetzt unter uns bleiben – und zwar alles – klar?«

Dryden streckte ihm beide Hände entgegen, um zu demonstrieren, dass er das Notizbuch längst wieder in die Manteltasche gesteckt hatte – nicht, dass ihn das je daran gehindert hätte, sich einen guten O-Ton zu merken. »Wir haben nie miteinander gesprochen, Mr. Stubbs.«

»Der Fluss ist gestern Nacht gegen zwei zugefroren, und die Froschmänner sagen, die Eisdecke sei nicht durchbrochen worden. Das Auto muss also vorher schon drin gewesen sein. Die nächstgelegene Behausung ist das Five Miles From Anywhere, der Pub da hinten. Muss gut eine Meile sein. Da ist im Winter kaum Betrieb. Die haben nichts gehört; haben gestern Nacht zwar diverse Raketen gesehen, aber das ist ganz normal für die Zeit um den Guy Fawkes Day.« Wie auf Stichwort hallte eine Detonation über das Fenn. Sie drehten sich um und sahen über der weit entfernten Silhouette der Kathedrale von Ely, die zweihundert Fuß hoch über den schwarzen Torf der Fenns aufragte, eine Stafette orange- und rotglühender Feuerwerkskörper explodieren.

»Wer hat es entdeckt?«

»Jugendliche. Beim Eislaufen. Von oben erkennt man ganz deutlich, dass da was ist. Aber sie waren heute zum ersten Mal wieder am Fluss draußen – es könnte also schon seit Wochen da unten liegen.« Stubbs wollte es offenbar dabei bewenden lassen. »Ich habe offen gestanden keinen Schimmer, womit wir es zu tun haben, Dryden, und auch das muss gefälligst unter uns bleiben. Ich kann es mir nicht leisten, in der Presse als Idiot dazustehen.«

Nicht noch einmal.

Vor sechs Wochen hatte die Zentrale einen Notruf an Stubbs weitergeleitet. Ein anonymer Bürger hatte gemeldet, ein Auto sei in Pocket Park, einer Freifläche am Stadtrand, verunglückt. Die Gegend war, nicht zuletzt als Schauplatz des Jahrmarkts von Ely, weithin bekannt. Als Stubbs schließlich dort eintraf, war es bereits dunkel, und von einem Auto war nirgends etwas zu sehen. Er glaubte an einen schlechten Scherz und fuhr zum Abendessen heim.

Tags darauf wurde im angrenzenden Feld der Fahrer tot hinter seinem Steuer aufgefunden. Der Coroner erklärte, der Mann, ein vierundachtzigjähriger Rentner, sei von der Straße abgekommen, im Graben gelandet und auf der Stelle an Herzversagen gestorben.

Das Regionalfernsehen aber zerriss Stubbs in der Luft. Ein Zweimannteam aus Cambridge fing ihn am folgenden Abend vor seiner Haustür ab. Der Baustil seines Hauses war Barrett Estate Tudor von der schlimmsten Sorte. Seine Frau Gaynor machte den Fehler, nach draußen zu gehen und ihn mit den beiden Kindern willkommen zu heißen – eine äußerst telegene Solidaritätsbekundung. Die Nachrichtenleute leuchteten den Vorgarten mit einer Bogenlampe aus, so dass die Kinder geblendet wurden und zu weinen anfingen. Es hätte kaum einen schlechteren Augenblick geben können, um ihm die Frage zu stellen, die er beim besten Willen nicht beantworten konnte.

»Gibt es etwas, was sie der Familie des Verstorbenen mitteilen möchten, Detective Sergeant?«

Fatalerweise versuchte Stubbs es mit Ironie: »Wir machen alle Fehler.«

Es war eine großartige Schlagzeile, und im Fernsehen war es unerträglich. Stubbs stand nun ein Disziplinarverfahren bevor – wegen fahrlässiger Vorgehensweise. Da half es auch nichts, dass er der Sohn des ehemaligen Vizepolizeipräsidenten war. Deshalb: keine O-Töne mehr. Und er durfte keinesfalls noch einmal etwas vermasseln – was diese augenscheinlich dramatische Überreaktion auf ein illegal entsorgtes Auto erklärte.

Dryden lief die Zeit davon. »Kein Problem, Diskretion ist Trumpf. Ein kurzes, nichts sagendes Statement geht völlig in Ordnung, aber geben Sie uns wenigstens einen Anhaltspunkt. Schließlich muss ich einen Artikel abgeben, und im Augenblick erkenne ich hier nur allgemeines Rätselraten. Bisschen dünn. Wissen Sie wenigstens, ob der Fahrer noch drinsitzt?«

Stubbs setzte gerade zur Antwort an, da hörten sie es: das Schropp-schropp-schropp des Grafschaftspolizeihubschraubers, der sich, von Mildenhall her, Lark-aufwärts näherte.

»Na, da fühlen wir uns aber geehrt.« Dryden notierte mental, sich vom Video der Feuerwehr ein paar Standfotos für den Express, das Schwesterblatt des Crow, zu besorgen.

Stubbs ließ eine Kaugummiblase zerplatzen, zupfte an der zu fest gebundenen Krawatte und dem gestärkten weißen Nylonkragen seines Hemds. »Ist ein Pkw. Muss gute sechzig Meilen draufgehabt haben, um so weit übers Ufer rauszuschießen. Entweder der Fahrer steckt noch drin, oder er hat es gerade noch rechtzeitig geschafft rauszukommen – und wenn er rechtzeitig vorher rausgesprungen ist, dann hat er ihn absichtlich versenkt. Aber weshalb versenkt er ihn so weit vom Ufer weg? Wir haben halbwegs frische Reifenspuren, die auf die Deichkante zuführen, aber keinerlei Bremsspuren auf der Straße. Und soweit wir das feststellen können, gibt es innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden überhaupt keine weiteren Reifenspuren.«

Der Detective marschierte davon, um das Ende der Unterredung anzuzeigen. Der Hubschrauber hatte jetzt den Schauplatz erreicht, schwebte etwa zweihundert Meter über den Froschmännern und verstärkte das elektrische Lichtermeer um seinen Suchscheinwerfer. Dryden sah auf die Uhr. Ihm blieben noch zehn Minuten, bis dahin musste er seinen Text durchgegeben haben – allerspätestens. Durch den Luftstoß des Hubschrauberrotors war es noch einmal etliche Grad kälter geworden, deshalb marschierte Dryden zum Hochwasserdeich und weiter nach Osten, zu einem tristen Feld Winterrüben.

Er ließ den Blick über das schwarze Wasser gleiten, und eine Erinnerung aus seiner Kindheit ließ ihn zittern. Wieder ein zugefrorener Fluss und ein Kind auf Schlittschuhen. Das Geräusch splitternden Eises und der plötzliche Sturz in das schreckliche Wasser. Die Farbe war einmalig gewesen. Das schmerzlich klare Blau des Winterhimmels, gesehen durch die zerstoßene, weiße Linse des Eises. Er war untergegangen, von der Strömung abgetrieben worden, fort von dem gezackten Kreis, den er ins Eis gebrochen hatte. Er hatte aufgeblickt, zu dieser Welt, die sich von ihm zurückzog, doch er war zu jung gewesen, um zu erkennen, dass er ertrank. Als die erste Panik nach dem Einbruch abgeebbt war, hatte er das Gefühl gehabt, er schliefe. Er schliefe, dort, wo das Licht weniger grell war und ihm nicht in den Augen schmerzte. Drunten. Zehn war er da gewesen, und er ertrank und blickte hinauf in eine Welt, aus der er nicht scheiden wollte.

Zweiter Weihnachtsfeiertag. Er hatte Schlittschuhe bekommen und die Mahnung, auf dem zugefrorenen Weiher hinter der Scheune zu bleiben. Aber das war öde. Bei der Scheune fing auch der Kanal an, und der führte von der winzigen Insel fort, auf der Burnt Fen stand, und hinaus in das geheimnisvolle Labyrinth der Bewässerungs- und Abzugsgräben, das in diesem strengen Winter zu Eis erstarrt dalag. Er war schneller über das Eis dahingefegt, immer schneller, und schließlich, mit einem lauten Freudenschrei, hinaus auf die breite Fläche des Flusses.

Er liebte diese Stelle noch heute, keine zehn Meilen von da, wo er nun stand. Das war seine Welt gewesen. Dort konnte er endlos schauen und keine Menschenseele sehen. Er war kein einsames Kind gewesen. Er hatte eine Stimme in sich, die ihm Gesellschaft leistete. Doch am Morgen dieses Zweiten Weihnachtsfeiertags hatte sie ihn im Stich gelassen. Sie hatte das dünnere Eis nicht gesehen, dort, wo die Schwäne geschlafen hatten.

Aber die Stimme hatte ihn nicht verlassen. Als er tiefer und tiefer sank, flüsterte sie ein einziges Wort. »Schlittschuhe.« Sie waren sein schönstes Geschenk gewesen. Er hatte sich neben den Weihnachtsbaum gesetzt und das blausilberne Geschenk ausgepackt. »Schlittschuhe«, wiederholte die Stimme. Und da hatte er verstanden. Er zog die Schnürsenkel auf und sah sie im Dunkel unter sich versinken.

Er war höher gestiegen, bis er mit dem Kopf an das Eis schlug: Seine Haare froren daran fest und gaben ihn nicht mehr frei. Er hatte weinen wollen, um den Rest des Weihnachtsfestes, das nun ohne ihn stattfinden musste. Seine Stimme war verschwunden. Oder sie war zu weit entfernt, um noch gehört zu werden.

Und diesen einen Moment würde er nie vergessen. Den unglücklichsten Moment einer glücklichen Kindheit. Die absolute Verlassenheit, sich auf der falschen Seite dieser Eisdecke zu befinden, im kalten, lebensfeindlichen Wasser, wo doch im selben Moment auf der Farm das Kaminfeuer knisterte und aus der Küche der Duft des Weihnachtsessens drang. Und über sich für immer das Zickzackmuster der eigenen Schlittschuhe.

Im Taxi hupte Humph. Dryden schlurfte zu ihm hin, denn die vertraute, frostige Erinnerung hatte ihm jede Energie genommen. Der Crow hatte sich über Handy gemeldet, der Artikel musste in Satz gehen. Humph spulte Nachrichten grundsätzlich in einem tonlosen Singsang herunter, der seine Gleichgültigkeit zum Ausdruck bringen sollte. »Ich hab denen gesagt, die Polizei gibt gleich ’ne Erklärung ab und dass du die noch abwarten willst ... zehn Minuten noch. Sie melden sich wieder ...«

Dryden warf die Autotür zu und lehnte sich mit dem Notizbuch auf das Dach. Wie so oft, wenn er sich mit einem weißen Blatt Papier und einem Abgabetermin konfrontiert sah, dachte Dryden an etwas völlig anderes. Er sah Humph auf den Stufen des Justizgebäudes stehen, in der einen Hand das vorläufige Scheidungsurteil, seine Tochter an der anderen. Damals hatte er ihn zum letzten Mal lächeln sehen.

Durch das Türfenster winkte Humph mit dem Handy. Dryden gab dem Wagen einen Fußtritt und fing an, einen Absatz für die letzten Meldungen zusammenzuschustern. Gemäß den hehren Traditionen des britischen Journalismus berichtete er nichts, aber das in vollendetem Stil.

Er wappnete sich gerade für die Marter, das Resultat Jean, der halbtauben Typistin des Crow, zu diktieren, da jaulte plötzlich die Polizeiwinde auf. Das Eis splitterte unter den sich straffenden Trossen. Als er die Uferböschung erreicht hatte, zog sich bereits ein Spinnennetz aus silbrigen Rissen über die Eisdecke. Der Hubschrauber ließ sich hundert Meter absacken, und der Rückstoß trieb die losen Eisschollen an das Ufer. Der Wagen wurde einen halben Meter nach oben gerissen, und die Karosserie krachte und ächzte unter dem Druck. Das metallicblaue Dach tauchte auf, dann die Heckscheibe, schließlich der Kofferraum. Als das Auto endlich ans Ufer gehievt war, quoll aus beiden zerschlagenen Türfenstern das Wasser. Es kam, von den Trossen gehalten, auf der Krone der Uferböschung zu stehen, und die Froschmänner suchten mit Taschenlampen das Innere ab.

Es dauerte dreißig Sekunden, dann konnte er an ihrer Körpersprache ablesen, was er wissen musste. Jede der perfekt eingeübten Bewegungen verriet ein Nachlassen der Anspannung. Kein Zeichen von Fahrer oder Beifahrern.

Auto entsorgt – tolle Sache. Aber er notierte sich die Einzelheiten. Ein Nissan Spectre. Neueste Zulassung. Keine Dellen, keine Kratzer, keine Aufkleber an den Fenstern. Straßenbenützungssteuer bezahlt. Handschuhfach leer. Sie richteten die Taschenlampen auf Kofferraumdeckel und Motorhaube. Dryden stieg schon in das Taxi ein, als einer der Feuerwehrleute plötzlich einen Schrei ausstieß. Er rannte zurück und befahl Humph, die Typistin nicht von der Strippe zu lassen.

Mit der Bogenlampe leuchteten sie den offenen Kofferraum aus. Im ersten Augenblick verstand Dryden nicht, was er da sah: Es kam ihm vor wie die Ladefläche eines Fleischereilasters. Im Kofferraum lagen die Überreste eines gewaltigen Eisblocks, auf dem das Schmelzwasser glitzerte. Darin war ein Kadaver eingeschlossen, dessen ursprüngliche Gestalt nicht mehr zu erkennen war. Man hatte ihn zwar nicht passend zurechtgeschnitten, ihn aber gewaltsam in den vorhandenen Raum gequetscht.

Hoch oben explodierte ein riesiger Guy Fawkes-Feuerwerkskörper, und das reinweiße Licht brannte das Bild in Drydens Netzhaut ein.

Im Kofferraum lag eine Leiche. Männlich? Das Gesicht starrte ihnen entgegen – einer der Augäpfel lag so nahe an der Eisoberfläche, dass er das blaue, elektrische Leuchten der Bogenlampe in die Nacht zurückwarf. Das dichte, grau melierte, goldblonde Haar war vollständig mit Blut verkrustet.

Zunächst dachte Dryden, der Kopf sei vom Körper getrennt. Er war über die Schulter nach hinten verdreht. Doch dann sah er den blutigen Strunk der Wirbelsäule aus dem Hals ragen und den dicken Fleischlappen, der den Kopf auch jetzt noch mit der Schulter verband. Durch die Hitze der Lampen schmolz das Eis rasch ab, und schon ragten die Finger der einen Hand, ebenso wie ein nackter, von Krampfadern durchzogener Fuß daraus hervor. Unter den Bahnen aus schwarzem Blut wirkte die weiße, sichtbare Haut wie Eiskrem, mit Schokolade beträufelt.

Einer der Froschmänner musste sich ins hohe Gras übergeben. Stubbs schien ungerührt. Hatte die Lage im Griff. Er rief den Polizeifotografen zu sich, er solle die Lage der Leiche dokumentieren, bevor das Eis gänzlich geschmolzen wäre. Dann forderte er über Funk einen Pathologen, den diensthabenden Coroner und die Spurensicherung an. Das Routineprogramm bei Mordermittlungen.

Dryden erklärte der Typistin, der Artikel sei unterwegs. Das tat er zweimal, um sicherzugehen, dass sie es auch wirklich verstanden hatte. Dreihundert Worte, bis halb sechs. Er schrieb die Einleitung, den Rest diktierte er frei herunter. Überragend war es nicht, dafür aber rechtzeitig fertig.

Polizei macht Jagd auf Mörder. Gestern wurde im zugefrorenen River Lark nahe Ely ein Pkw gefunden, in dessen Kofferraum eine grausam zugerichtete Leiche lag. Die Polizei barg den Neuwagen, einen blauen Nissan Spectre, aus einer Wassertiefe von etwa viereinhalb Metern, nachdem Schlittschuh laufende Kinder ihn zwei Meilen südlich der Ortschaft Prickwillow unter dem Eis entdeckt hatten.

Det. Sgt. Andrew Stubbs von der Polizei Ely erklärte: »Selbstverständlich wird dieser Vorfall von uns untersucht. Eine Mordermittlung ist bereits eingeleitet, und wir bitten dringend darum, dass jeder, der eine Information beizutragen hat, sich umgehend mit uns in Verbindung setzt.«

Zur Identität des Toten und zum Halter des Fahrzeugs konnte die Polizei bislang keinerlei Angaben machen. Für den späten gestrigen Abend wurde am Fundort ein Spurensicherungsteam aus Cambridge erwartet. Die Leiche wurde inzwischen für die Überführung in das städtische Leichenschauhaus Waterbeach vorbereitet.

Ein Augenzeuge der Fahrzeughebung, der Taxifahrer Humphrey H. Holt aus Ely, beschrieb die Szenerie so: »Als die den Wagen gehoben haben, war es ein einziger Eisblock. Den haben sie dann mit Schneidbrennern bearbeitet. Als sie an den Kofferraum kamen, war wirklich die Hölle los. Das muss ein absolut furchtbarer Anblick gewesen sein – das hat sie offensichtlich fertig gemacht.«

Die Kriminalpolizei wird zunächst alles daransetzen, die Identität des Toten festzustellen. Offiziellen Angaben zufolge war der Hals beinahe vollständig durchtrennt. Noch gestern Abend wurden in der Nachbarschaft Befragungen durchgeführt, um etwas über mögliche verdächtige Beobachtungen zu erfahren.

Allerdings dürfte die Abgelegenheit des Tatorts der Polizei noch zu schaffen machen. Das nächstgelegene Gebäude ist ein Gasthaus – Five Miles From Anywhere – mehr als eine Meile östlich. Verkehrsaufkommen an der T-Einmündung ist so gut wie nicht vorhanden. Angesichts der derzeitigen Wetterlage sind die landwirtschaftlichen Arbeiten in der Umgebung zum Erliegen gekommen.

Dryden ließ sich den Artikel von der Typistin noch einmal vorlesen, dann fragte er bei der Redaktion nach, ob er noch rechtzeitig dran war. Er war es.

Über der Kathedrale erreichte das Feuerwerk inzwischen den Höhepunkt, und der Himmel erstrahlte in einer gespenstischen Farborgie. Die Spurensicherung hatte die Leiche aus dem Nissan geborgen und auf einen Transportsack gelegt. Zwei Mediziner in weißen Schutzanzügen gaben sich alle Mühe, die starren Glieder in die Plastikhülle zu bekommen. Stubbs telefonierte eifrig, und Dryden trat ein Stück näher. Noch waren die Füße der Leiche zu sehen, die auf groteske Weise unter das Kreuz gebogen waren. Um einen Knöchel war ein kurzes Stück Tau geschlungen, das offenbar zur Rolle eines gusseisernen Flaschenzugs führte. Einer der Arme hing heraus. Die Hand war sonnengebräunt und kräftig, am Ringfinger steckte ein goldener Ehering. Irgendwo, überlegte Dryden, hat das lange Warten begonnen.

Kapitel 2

Dryden legte mit Humph noch einen Zwischenstopp in einer Frittenbude ein und kehrte dann in das Redaktionszimmer zurück, in dem es inzwischen aussah wie in einer Kajüte auf der Marie Celeste. Seit Einführung des Computers wird viel vom papierlosen Büro geredet – aber eben nur geredet. Und der Crow – gegründet 1882 – durfte kaum als Vorreiter in Sachen neuer Technologie gelten. Beinahe der gesamte Boden war mit Papiermüll übersät, und neben den PCs stapelten sich Kaffeebecher aus Plastik. Eine als Aschenbecher dienende Radkappe enthielt den Ausstoß eines kleineren Vulkans. Aufspießnadeln – die doch eigentlich mit Einführung des PCs ausgemustert worden waren – reckten sich immer noch auf jedem einzelnen Schreibtisch empor, um abgearbeitete Entwürfe und Reinschriften festzuhalten, wie auch um hin und wieder jemandem im Vorübergehen ins Auge zu stechen. Das Redaktionszimmer bestand aus drei Arbeitsplätzen für die Reporter, dem Mahagonitisch des Redakteurs vor dem Erkerfenster, einem Tisch mit zwei unförmigen Umbruchcomputern für den Setzer und dem Schreibtisch der Typistin, deren Headset 1965 beim Abriss des alten Postamts hatte ergattert werden können. Splash, die Bürokatze, hatte sich Wärme suchend auf dem einzigen Faxgerät zusammengerollt. Hinter einer Glaswand befand sich das Büro des Herausgebers. Die Scheibe war von unzähligen, absolut unverzichtbaren Zetteln verdeckt, die vom Tidenkalender für Brancaster bis hin zur Zusammensetzung des Three Rivers-Wasseramts reichten. Diese papierene Tarnwand war im Lauf vieler Jahre von den Reportern angelegt worden, und sie vereitelte inzwischen jedweden Versuch des Herausgebers, seine Mannschaft zu sehen.

Die Redaktion befand sich im ersten Stock des Verlagshauses im Zentrum von Ely, über der Rezeption und dem Callcenter. Die Fenster gingen zur Market Street hinaus, wo heute Abend der Eisregen den bernsteinfarbenen Schein der Straßenlampen in schrägen Bahnen durchschnitt. Gerade hielt das Oberdeck des Busses nach Littleport an der Haltestelle unmittelbar vorm Fenster, und darin saß allem Anschein nach, hinter dem strömenden Regen und den beschlagenen Scheiben kaum zu sehen, die komplette Besetzung von St. Trinian.

Wie zu erwarten, gab Drydens Geschichte den Aufmacher: DIE JAGDNACHDEM FENNMÖRDER schrie es zweizeilig in Achtundsechzig-Punkt-Schrift von den Korrekturabzügen, die noch auf dem Tisch des Setzers lagen. Die größte einzeilige Schlagzeile gehörte einer anderen Gewichtsklasse an: FEUERWERKSKÖRPERSINDKEIN SPIELZEUG.

Er las den Abzug gegen, als Kathy Wilde, die zweite Reporterin in Vollzeit, die Treppe heraufgepoltert kam, mit dem Fuß die Tür zum Redaktionszimmer aufstieß und die fünfzig druckfrischen Belegexemplare mit einer solchen Wucht zu Boden schleuderte, dass es die Dielen, auf denen Dryden stand, anhob.

Kathy, die rothaarige Nordirin, versuchte mit ihrer permanent zur Schau gestellten Extrovertiertheit sowohl die latente Depression wie auch die Neigung, Fett anzusetzen, zu kaschieren. Das Licht war an, daher hatte sie gewusst, dass jemand im Büro war. Es war einer ihrer weniger dramatischen Auftritte.

»Das ist doch wirklich die Höhe.« Der nordirische Akzent war so schneidend, dass sie damit die Fenster zum Klirren brachte. »Seite acht! Steht der Typ mit seiner Fickpuppe sage und schreibe schwanznackicht vor seinem Scheißmondeo, und anstatt dass sie es richtig groß aufblasen, packen diese Trantüten das Ganze zum Vermischten auf Seite acht!«

»Schade, dass er nicht aufs Aufblasen verzichtet hat«, sagte Dryden.

Es gefiel ihm, wenn Kathy lachte. Sie lachte rückhaltlos – das gehörte zu Drydens Lackmustests in Sachen Charakter. Sie kam auf ihn zu.

Kathy hatte sich eine Art Modenschau-Gang angewöhnt, mit dem sie die Blicke auf ihre sanduhrhafte Figur lenken wollte. Es war zwar eine sehr ausladende Sanduhr, durch die schon eine Menge Sand gerieselt war, aber eben doch eine Sanduhr. Der Effekt war sanft hypnotisierend, und Dryden erstarrte wie ein Kaninchen im Licht eines näherkommenden Autos.

Kathy drang in seinen persönlichen Bereich ein, der in seinem Fall geringfügig kleiner als Norfolk war. Wenn sie sich bewegte, machte sie Geräusche wie ein Mobile im Wind, so sehr klingelten Ohrringe, Halskette und Armbänder.

Sie pickte einen imaginären Fussel von Drydens Schulter. »Also sag du es mir – na los, mach schon. Dir nehm ich’s ab. Erzähl mir, dass ich zu blöd bin, eine gute Geschichte zu sehen, wenn ich sie vor mir hab.« Sie stieß Dryden ein zerfleddertes Exemplar der druckfrischen Zeitung – gerade dass die Druckerschwärze trocken war – in die Hände.

Kathy war nach England gekommen, um sich mit großen Reportagen für die Sonntagszeitungen der Fleet Street zu profilieren. Ihre journalistischen Lehrjahre hatte sie an den leidgeprüften Türschwellen nordirischer Bürgerkriegsheime absolviert. Der Crow diente ihr nur zum Broterwerb, er verschaffte ihr das Geld, um die laufenden Rechnungen zu bezahlen, und dem lippenstiftroten MG-Sportwagen einen Standort, von dem aus London immer noch schnell genug zu erreichen war. Sie hatte keine hohe Meinung von der gesammelten Kompetenz des Crow-Teams und hatte sich gelegentlichen Zurechtweisungen durch die wenig begabte Führungsriege der Zeitung nicht gerade als zugänglich erwiesen. Für Dryden machte sie eine Ausnahme: Seine Fleet Street-Meriten machten ihn zu etwas Besserem. Und sie ließen ihn doppelt attraktiv erscheinen. Sie mochte seine emotionale Distanziertheit, sein gutes Aussehen, um das er wusste, die nicht ganz sauberen, schlotternden Klamotten am über einsachtzig großen Körper und die dichten, pechschwarzen Haare. Am besten aber gefiel ihr sein Lebenslauf.

Plötzlich fiel ihr auf, wie nahe sie ihm tatsächlich gekommen war, und sie trat verwirrt einen Schritt zurück. Sie ließ sich in den einzigen, abgenutzten Sessel des Redaktionszimmers fallen und brach in zornige Tränen aus. Dieses Schauspiel war so alltäglich wie effektiv. Das schelmische, lebhafte Gesicht fiel in sich zusammen und wurde schrumpelig. Beträchtliche Mengen Make-ups liefen ineinander und verliehen ihr ein Tragödinnenfluidum, auf das Dryden durchaus ansprach.

Er riss sich aus seiner Trance. »Die würden eine gute Geschichte nicht mal dann erkennen, wenn sie ihnen in den Hintern beißt. Das ist aber nichts Neues.«

Kathy dämmte die Fluten ein und schniefte nur noch ein paar Mal flehentlich.

Dryden bewunderte den Aufmacher. Er war seit zehn Jahren Reporter und hatte oft die Schlagzeile für die Seite eins der News mit ihrer Millionenauflage geschrieben. Aber der Crow setzte nicht weniger Glückshormone bei ihm frei – und dessen Auflage lag bei 17000 und sank.

Kathys Geschniefe drohte sich zum Schluchzen auszuweiten. Tätiges Eingreifen, entschied er, war die beste Art, Emotionen aufzufangen. »Ach ja, ich hab noch was heute Abend – die Eröffnung der Mälzerei. Komm doch mit. Wir trinken was zusammen und unterhalten uns über Henrys Nachrichtenbeurteilungsvermögen.«

Henry war der ehrwürdige Herausgeber des Crow und unablässig im Brennpunkt der Kritik. In einer denkwürdigen, flammenden Rede hatte Kathy einmal dem versammelten Redaktionsteam des Crow – in Abwesenheit Henrys – erklärt, für den zeitgemäßen Journalismus sei der Herausgeber was »überbackene Scheiße für die Haute Cuisine ist«. Dryden hatte das ausgesprochen erheiternd gefunden, während alle anderen sich erst einmal vorgenommen hatten, daheim den Begriff »Haute Cuisine« nachzuschlagen.

Kathy war wie ausgewechselt. Sie stand auf und schwang die koffergroße Handtasche über die Schulter, knapp an Drydens Kopf vorbei. »Gute Idee. Gehen wir. Einen Drink kann ich jetzt wirklich vertragen, die Runde geht auf mich.« Zu dem Vielen, das Dryden an Kathy mochte, gehörte auch, dass das kein leeres Versprechen war.

Die Mälzerei der alten Ely Brewery war unter dem Namen The Maltings zu einem Kino- und Restaurantkomplex am Flussufer umgebaut worden. Der Kreisrat hatte, mit Unterstützung des Millenniumsfonds, den Großteil des nötigen Geldes aufgebracht. Das hatte zur Folge, dass nun die Würdenträger Elys alles daransetzten, auch noch das letzte Tröpfchen Publicity aus dem Projekt herauszuquetschen. Der heutige Abend galt der Premiere des ersten Films: Waterland – die Umsetzung von Graham Swifts Beschreibung des Lebens im Fenn.

Dryden und Kathy gingen über Forehill zum Fluss und tauchten in eine Postkartenlandschaft ein: Frostbestäubte Weiden streckten ihre Äste über die Eislauffläche des Flusses hinaus. Über renovierten Hütten am Fluss, die Zuzügler in eine Gegend gelockt hatten, die einst als feuchtes Elendsquartier traurige Berühmtheit erlangt hatte, kräuselte sich der Rauch in die Schneewolken. Am gegenüberliegenden Flussufer hatte sich einmal die mittelalterliche Vorstadt Babylon erstreckt, heute aber lag dort im Dunkel nur noch der Jachthafen, in dem allein die gespenstisch weißen Umrisse der schwimmenden Schickimicki-Lokale Akzente setzten, die den Winter über dort aufgebockt waren. Dahinter erstreckten sich die Feuchtwiesen, die ein frostkalter Dunst sanft erstickte.

Am Ufer hatte sich eine Menschenmenge um ein Schmalboot versammelt, das vor dem Cutter Inn vertäut lag. Durch die Stille hallten die schmerzlichen Geräusche splitternden, überbelasteten Holzes. Das Boot hatte Schwindel erregende Schlagseite, die Blumentöpfe waren auf dem Eis zerbrochen, und die in heiterem grün und gelb gestrichenen Planken waren verzogen und geborsten. Ein Hund verbellte das knarzende Holz.

Die Menschenmenge, erwärmt durch die Aussicht, einer kleinen Tragödie beiwohnen zu dürfen, hatte um die Sally Anne – der Name war oberhalb des Eises gerade noch sichtbar – ein kleines Amphitheater gebildet, während die Eigner versuchten, durch Seitenfenster und Luke vor dem Untergang zu retten, was zu retten war.

Aus den Tiefen seines Mantels angelte Dryden ein Notizbuch – ein probates Mittel, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein junger Mann mit alter, blauer Seemannskappe sah ihn misstrauisch an.

»Kann ich helfen?«

Drydens Erfahrung nach war das ein Euphemismus für »Verzieh dich«. Der Sprecher war etwa fünfundzwanzig, groß, durchtrainiert, und seine Bräune stammte nicht aus dem Sonnenstudio.

»Philip Dryden, vom Crow.«

Kathy tänzelte neben ihn und warf sich in Pose. »Kathy Wilde, ebenfalls vom Crow.«

»Ihr müsst ja völlig am Ende sein – zwei Leute zu schicken...«

»Wir kommen nur zufällig vorbei. Wir möchten Sie auch gar nicht weiter belästigen, vor allem jetzt. Aber wenn Sie einen Augenblick für uns erübrigen könnten?«

Das war genau der richtige Ansatz. Drydens Körpersprache, ebenso wie die von Kathy, verriet Entspanntheit und vages Desinteresse. Jahrelange Erfahrung hatte sie beide gelehrt, dass aggressive Anspannung – die Standardhaltung des Fleet Street-Reporters – in praktisch jeder Situation, die nicht einem Fernsehdrehbuch entsprang, die falsche war.

»Paul Camm, Camm’s Jachthafen. Das ist eins von unseren.«

Dryden nickte, den Stift gezückt. Kathy marschierte den Treidelpfad ab und sah nach den übrigen Booten. Sie zückte ebenfalls ein Notizbuch und machte sich daran, einen Mitarbeiter des Wasseramts zu befragen, der gekommen war, um die letzten Stunden der Sally Anne mitzuverfolgen.

Camm hatte es eilig, seine Geschichte loszuwerden. »Sie hat Leck geschlagen. Wir haben zwei Grad Minus. Wahrscheinlich sind die Planken heute am frühen Morgen gerissen, und als es tagsüber wärmer wurde, hat sie sich quergelegt. Jetzt sitzt sie wieder fest. Kann gut sein, dass sie morgen komplett sinkt.«

»Heizen Sie die Boote denn im Winter nicht?«

Camm sah ihn böse an.

Taktlos, überlegte Dryden. Konzentrier dich.

Camm wandte den Blick ab und ließ ihn über die Feuchtwiesen schweifen: »Doch – meistens wenigstens. Aber wir haben dreißig Kähne. Uns fehlt Personal – dieses haben wir wohl vergessen. Im Ofen muss das Öl ausgegangen sein.« Camm machte ein sorgenvolles Gesicht. Angsterfüllt geradezu. Aber nicht allein wegen eines Schmalbootes.

»An sich laufen die Heizöfen aber schon noch?« Dryden dachte an sein eigenes Boot, das in Barham’s Dock lag. Heute Vormittag erst hatte er Heizöl nachgefüllt.

»O ja. Jaja.« Camm spähte zum anderen Ufer, suchte den Mittelgrund ab, wo Schilf und Bäume mit weißem Reif überzogen waren. »Alles kein Problem. Man kann auch einfach die Pumpe laufen lassen, damit das Wasser immer in Bewegung bleibt – solange das Eis sich irgendwo anders hin ausbreiten kann. Bloß bei dem hier haben wir’s verbockt.«

Dryden nickte zu einem Stapel von Küchengeräten, Kissen, Büchern und Schnickschnack hin. »Das gehört?«

»Das ist die übliche Ausstattung – wir vermieten die Dinger mit allem Drum und Dran. Fernseher, Hightech-Zeugs, Korkenzieher. Das ist es schließlich, was die meisten wollen – eine Woche lang richtig ausspannen und sich zuschütten.«

»Das kostet sie aber sicher eine schöne Stange?«

Kein schlechter Versuch, aber Camm war nicht dumm.

»Es geht.«

»Was verlangen Sie dafür an Miete?« Vernünftige Frage – und sollte er sie nicht beantworten wollen, Dryden konnte es anderweitig herausfinden.

»Im Sommer vierhundert die Woche – hat Platz für acht Mann.«

»Dann sollte das anderen also eine kleine Mahnung sein?« Genau das, entschied Dryden, war, was der Geschichte noch fehlte: der Ausblick in die Zukunft.

»Allerdings. Wenn uns ein Boot verreckt, kann’s jeden anderen auch treffen – ganz besonders bei dem Wetter. Und es wird noch viel schlimmer werden.«

In krakelig unregelmäßiger Steno notierte Dryden den Satz.

In der Mälzerei hatten die Feierlichkeiten schon begonnen. Das Gebäude war ein Industriepalast aus frisch verfugtem Klinker. Auf einer improvisierten Bühne hatten sich die üblichen Verdächtigen eingefunden, wobei die meisten sich irgendeine Art von Zeremonialklunkern um den Hals geschlungen hatten. An die hundert Leute waren, durch einen Gratissherry angeregt, willens, eine Rede des Bürgermeisters, Councillor Roy Barnett, höflich über sich ergehen zu lassen. Kathy fing an sich Notizen zu machen und gab Dryden ihren Geldbeutel.

An der Theke verlangte er ein Pint Bitter und einen Campari-Soda – diesem krankhaften Rot konnte er einfach nicht widerstehen. In der Brieftasche steckte ein Foto von Kathys Vater Eugene. Dryden hatte die Geschichte mehrmals gehört, und zwar immer in einer Bar. Der katholische Rechtsanwalt hatte sich in Londonderry darauf spezialisiert, Fälle gegen die IRA zu übernehmen – Bedrohungen, Straferschießungen, Erpressung. Er hatte sich mit Erfolg für die Wahl zum neuen Regionalparlament von Ulster aufstellen lassen, bis es eines Mitternachts an der Tür klopfte und er einen Kopfschuss erhielt. Für das Leben seiner Tochter war er das einflussreichste aller Vorbilder – ein totes.

Wenn der Anschein nicht trog, sprach der Bürgermeister nach einem handschriftlich, in grüner Tinte abgefassten Manuskript: gleich zwei böse Omen. Er sah kein bisschen besser aus als gewöhnlich – die Bobby Charlton-Frisur quoll über eine Gesichtshaut von der Farbe und Konsistenz grauen Schweineschmalzes. Kathy schrieb in Stichpunkten mit; sie würde sich später ordentliche Sätze für einen Artikel zusammenreimen. Sie wusste, die meisten Politiker würden vor Gericht gehen, sollten sie jemals korrekt zitiert werden.

Neben dem Bürgermeister saß Liz, seine Frau, ebenfalls Labour-Kreisrätin und ehemals Vorsitzende der Kreisratsfraktion. Das Bürgermeisteramt war hauptsächlich repräsentativ. Der Fraktionsvorsitz dagegen war mit einer gewissen realen Macht verbunden gewesen – wenn auch nur auf sehr beschränktem Provinzniveau.

Roy Barnetts Rede war abschweifend, zusammenhanglos und grauenvoll vorgetragen. Und sie dauerte geschlagene dreiundzwanzig Minuten. Kathy blieb Zeit genug, in regelmäßigen Abständen die Bar aufzusuchen; als der Bürgermeister schließlich wieder Platz nahm, was der Menge ein entzücktes Aufseufzen entlockte, das allerdings nicht Zeichen der Bewunderung, sondern der Erleichterung war, befanden sich sowohl sie als auch Dryden bereits in deutlich gehobener Stimmung.

Kathy entdeckte ein paar leicht zugängliche Kreisräte und zog los, um zu sehen, ob sie in auskunftsfreudiger Stimmung waren. Liz Barnett leerte gerade den zweiten Sherry, als sie Drydens Blick einfing, und animierte ihn zu einer weiteren Bestellung. Als sie schließlich selbst an der Bar eintraf, hatte er schon einen großen Malt-Whisky für sie und einen bewusst gehaltlosen Brandy mit Babycham für sich besorgt.

Für den Whisky hatte sie ein kurzes, anerkennendes Nicken übrig, für Drydens Getränk blankes Entsetzen. »Auf die Presse«, sagte sie und stieß mit ihm an.

Liz Barnett war eine jener Frauen, die zu zwei Fragen Anlass geben. Wie, dicht gefolgt von Wieso: Wie hatte der schreckliche Roy es geschafft, sie vor den Traualtar zu bekommen, und wieso war sie mehr als dreißig Jahre bei ihm geblieben? Einstens war sie eine Schönheit gewesen, und auch heute noch war ihre Erscheinung beeindruckend. Das kastanienbraune Haar wurde allmählich grau, und sie unternahm keinen Versuch, die Natur zu überlisten. Markante Gesichtszüge und natürliche Sonnenbräune, unterstützt von gekonnt appliziertem Make-up in Großabnehmerdimensionen. Ihr Geheimnis lautete Farbe: Sie trug Schultertücher, Kleider, Kopftücher und diverse weitere textile Schichten, alle in grellbunten Zigeunermustern. Sie war vierundfünfzig und attraktiv – Gemahl Roy war sechzig und hatte schwer zu kämpfen, damit sein Bierbauch nicht das Nylonhemd sprengte.

Ihr politisches Potenzial war beeindruckend. Selbst wenn man sie zum fünften Mal im selben Jahr durch einen Korbflechterkurs führte, war sie noch in der Lage, echte, hingerissene Begeisterung zu heucheln. Sie hatte ohne Probleme das Gewand von New Labour übergestreift, ohne allerdings den klassenkämpferischen Impetus gegenüber dem gehobenen Bürgertum aufzugeben. Der Sozialismus war im Fenn nie eine große Macht gewesen – hier hatte in schönster Selbstverständlichkeit der radikale Liberalismus den religiösen Nonkonformismus und das bäuerliche Elend abgelöst. Während der Thatcher-Ära aber war es Liz Barnett gelungen, einige dieser Strömungen zu einer Unterstützung für Labour zu bündeln. Wäre sie keine Frau gewesen, sie wäre in Westminster eingezogen. Doch eine Frau zu sein hatte sie eines gelehrt: wie zersetzend nämlich das Böse namens Vorurteil sein konnte. Dryden sah auf ihre Füße. Sie trug noch immer ihr Fußkettchen, ein zigeunerhaftes Accessoire, das bei Roys Ernennung zum Bürgermeister zu Jahresbeginn einen Skandal ausgelöst hatte.

Außerdem wusste Liz Barnett immer ganz genau, wo’s langgeht, und sie hatte schon sehr früh erkannt, welche Macht die Presse in Händen hielt. Die Freundschaft zu Dryden sollte ihr – ursprünglich – ausschließlich dazu dienen, sich Möglichkeiten der Einflussnahme zu sichern. Inzwischen war auch ein Körnchen aufrichtigen Respekts dazugekommen.

»Deine Frau?«, erkundigte sie sich und nickte dem Barmann zu, er solle noch einmal einen Whisky und dieses Gebräu, das Dryden trank, hinstellen.

Dryden konnte auf diese Frage nie etwas erwidern, ohne das Gefühl zu haben, er würde irgendwie lügen, würde einen Teil der Wahrheit verbergen.

»Unverändert. Nicht besser, nicht schlechter. Was soll ich sagen?«

Sie war Profi genug, sich nicht für die Frage zu entschuldigen. Sie trat einen Schritt näher. Das war wohl heute nicht gerade Drydens Glückstag. Es gehörte zu den großen Talenten der Bürgermeisterin, dass sie trotz ihres Alters so eine Wirkung hervorrufen konnte. Derweil redete auf der anderen Seite des Saals ihr Mann auf eine gefesselte Zuhörerschaft ein, die aussah, als habe man sie mit Beton ausgegossen. Sein Gesicht war purpurrot angelaufen und trug einen unübersehbaren Stich ins Herzinfarktblaue.

Sie neigte sich näher zu ihm, denn der Geräuschpegel im Saal stieg in Relation zum genossenen Gratissherry.

»Du hast doch sicher die Stellungnahme vom Planungs- und Unterhaltsausschuss gesehen, zu diesem Antrag auf zusätzliche Gelder für die Restaurierung der Kathedrale?«

Das war eine rhetorische Frage. Liz Barnett war eine seiner zuverlässigsten Informantinnen.

Sie wartete keine Erwiderung ab. »Offen gestanden ist das schon ziemlich dreist. Letztlich fordern die einen Zuschuss von sage und schreibe dreißigtausend Pfund, weil sie im allerletzten Moment draufgekommen sind, dass sie eins von den Querhäusern einrüsten müssen, um an die oberen Abflussrinnen zu kommen.«

Sie brach ab, küsste einen Kreisrat, der gerade vorbeikam und sie mit falschem Namen ansprach, bevor er dann von hinnen torkelte. »Egal, jedenfalls müssen die Rinnen wohl freigeräumt werden, bevor Tauwetter einsetzt. Wenn sich das Wasser sammelt und wieder gefriert, sprengt es das Mauerwerk – dann heißt es herabstürzende Wasserspeier, Plagen von Fröschen, diese Kategorie.«

»Und was ist das Problem dabei?« Dryden spürte langsam die Wirkung des Alkohols, der sich über seinen bescheidenen Verstand hermachte. Er rülpste und bestellte eine neue Runde Drinks.