Kalte Sonne - Sven Koch - E-Book

Kalte Sonne E-Book

Sven Koch

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Beschreibung

Mit seinen Nordsee-Krimis, den atmosphärischen "Dünen"-Krimis um das Ermittler-Duo Tjark Wolf und Femke Folkmer, hat sich Sven Koch bisher einen Namen gemacht. Jetzt erscheint mit "Kalte Sonne" sein erster Psychothriller rund um ein atmosphärisches Naturschauspiel, das auf dem dänischen Jütland zu beobachten ist. Sort Sol, die schwarze Sonne, verwandelt den stürmischen Herbst in Dänemark in eine unheimliche Kulisse für einen eiskalten Psychothriller: Während gigantische Vogelschwärme auf Jütland den Himmel verdunkeln und Bilder von Überschwemmungen die Nachrichten dominieren, sieht die 35-jährige Maja im Fernsehen etwas, das unmöglich ist: Der Mann, der im Hintergrund durchs Bild läuft, ist Erik, ihr verstorbener Ehemann! Nur wurde Eriks Leiche vor fünf Jahren aus dem Meer gezogen und mittels DNA-Abgleich eindeutig identifiziert. Maja beginnt, die gemeinsame Vergangenheit auf den Kopf zu stellen. Was sie findet, beschwört ein Unwetter herauf, ebenso dunkel und unheimlich wie die Zeit der schwarzen Sonne.

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Seitenzahl: 472

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Sven Koch

Kalte Sonne

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Sort Sol, die schwarze Sonne, verwandelt den stürmischen Herbst in Dänemark in eine unheimliche Kulisse für einen eiskalten Thriller: Während gigantische Vogelschwärme auf Jütland den Himmel verdunkeln und Bilder von Überschwemmungen die Nachrichten dominieren, sieht die 35-jährige Maja im Fernsehen etwas, das unmöglich ist: Der Mann, der im Hintergrund durchs Bild läuft, ist Erik, ihr verstorbener Ehemann! Nur wurde Eriks Leiche vor sechs Jahren aus dem Meer gezogen und mittels DNA-Abgleich eindeutig identifiziert. Maja beginnt, die gemeinsame Vergangenheit auf den Kopf zu stellen. Was sie findet, beschwört ein Unwetter herauf, ebenso dunkel und unheimlich wie die Zeit der schwarzen Sonne.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. KapitelLeseprobe »Schwarzer Fjord«
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1.

An manchen Tagen war der Tod näher als das Leben. Heute war ein solcher Tag. Maja fuhr mit Vollgas durch die Dämmerung. Ihre Hände waren schweißnass. Sie kaute auf der Unterlippe. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Der Volvo raste über das graue Band der schmalen Straße, die den Ringkøbing-Fjord von der Nordsee trennte. Trotzdem ging es ihr nicht schnell genug. Maja wünschte sich einen Teleport-Knopf herbei, der sie sofort nach Hause beamen würde, damit sie sich vergewissern konnte, dass alles in Ordnung war.

Vor etwa einer halben Stunde hatte Maja die Agentur verlassen und recht gut gelaunt angerufen, um zu sagen, dass sie sich ein wenig verspäten würde. Aber die gute Stimmung verflog rasch, denn niemand ging ans Telefon. Es ging auch niemand ans Handy.

Das war im Prinzip nicht ungewöhnlich, denn es gab tausend Gründe, warum jemand nicht ans Telefon ging. Aber in diesem Fall lag es anders, denn es ging immer jemand ans Telefon, wenn Maja anrief. Grundsätzlich und ohne Ausnahme.

Heute allerdings nicht.

Während Maja zu ihrem Wagen ging, hatte sie sich gefragt, was da los war. Vielleicht gab es eine Störung im Funknetz, oder es lag an ihrem Telefon beziehungsweise ihrem Netzbetreiber. Zwar zeigte der Balken für die Empfangsqualität die volle Leistung an, aber man wusste ja nie. Dann war sie zum Supermarkt gefahren, hatte es noch einmal erfolglos probiert und sich selbst damit beruhigt, dass Emma vielleicht gerade auf der Toilette war – wenngleich Emma nie im Leben so lange auf der Toilette war und man im Haus außerdem trotzdem das Telefon hören würde und zurückrufen könnte. Aber vielleicht war Emma beim Spielen draußen hingefallen und matschig und nass geworden und saß daher nun in der Badewanne. Das konnte möglich sein. Doch auch dann müsste man im Bad das Telefonklingeln hören. Es sei denn, die Duschbrause lief gerade und übertönte das Schellen am Festnetz und am Handy. Das war denkbar, ja, aber nicht zehn Minuten lang. Andererseits war inzwischen möglicherweise schon der Föhn eingeschaltet worden.

Schließlich hatte Maja es während des Einkaufens nochmals versucht und nach dem Einladen erneut. Aber es änderte sich nichts. Niemand nahm ab. Weder am Handy noch am Festnetz. Auch nicht, als Maja längst unterwegs war und es im Fahren erneut probierte. Wieder und wieder sagte sie sich, dass sie nicht so hysterisch sein solle und es dafür gute Gründe geben würde und musste. Vielleicht war das Handy auf lautlos gestellt, steckte in irgendeiner Tasche oder lag in einem anderen Raum. Vielleicht war ein Hörspiel sehr laut aufgedreht, und am Festnetztelefon war der Akku leer.

Doch mit einem Mal hatte Maja die blanke Panik getroffen – unvermittelt wie ein eiskalter Windstoß im Nacken, der ein Kaleidoskop an schrecklichen Bilder mit sich führte.

Emma war in der Badewanne ertrunken.

Ihr kleiner, weißer Körper dümpelte unter der glatten Wasseroberfläche. Die toten Augen starrten unbeweglich an die Decke.

Emma war die Treppe hinabgestürzt.

Sie lag in einer Pfütze aus dunklem Blut. Ihr Kopf war mit gebrochenem Genick in einem merkwürdigen Winkel verdreht.

Emma war im Krankenhaus und überall verbrannt.

Kabel und Schläuche, piepsende Geräte, Ärzte zogen in Fetzen den Stoff ab, der sich in die zarte Kinderhaut gefressen hatte …

Schluss, sagte sich Maja, hör auf. Denk an etwas anderes. Lenk dich ab. Es ist Unsinn, was du dir einredest, und das weißt du genau.

Vielleicht aber auch nicht, weil …

Weil an manchen Tagen der Tod näher war als das Leben. Weil an manchen Tagen alles möglich war.

An Tagen wie diesem im Oktober in Jütland, an dem die Vogelschwärme über dem Fjord die Sonne wie ein schwarzes Leichentuch verdunkelten. Es war die Zeit der Schwarzen Sonne, der Sort Sol. Jedes Jahr, im Frühling und im Herbst, tauchten im Südwesten Dänemarks Zigtausende Zugvögel auf und legten in den Marschen des flachen Landes Rast ein, um zu Kräften zu kommen. Manchmal blieben sie einige Tage, formierten sich zu riesigen Schwärmen und tanzten ihr Ballett in der Luft, wobei sie wie ein Schleier die Sonne verhüllten.

Majas Finger umklammerten das Lenkrad, als sie einen solchen Schwarm vor sich sah. Im Licht der untergehenden Sonne waberte er schwarz und dunkel – wie ein Trauerflor aus leichter Gaze, den der Wind verwehte und vor sich hertrieb. Es sah aus, als sei der Himmel voller Ascheflocken, die von einem gigantischen Feuer emporgeschleudert würden.

Emma. Ein kreischendes Mädchen, brennende Kleider, ein entsetzliches Unglück …

Maja lief ein Schauder den Rücken hinab. Ihr war eiskalt, das Herz verkrampfte sich in einer weiteren Panikattacke. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als werde er von einer eisernen Faust zusammengedrückt.

Sie keuchte und trat heftig auf die Bremse, als einige Stare im Tiefflug über die Straße sausten. Instinktiv riss Maja einen Arm hoch, um ihr Gesicht zu schützen. Die Reifen quietschten, bis der Wagen stehenblieb. Es gab einen heftigen Ruck. Der Sicherheitsgurt schmerzte zwischen ihren Brüsten. Dann waren die Vögel fort. Maja keuchte und legte wieder beide Hände ans Lenkrad.

»Mein Gott«, murmelte sie und gab sich einige Momente, um sich zu sammeln, so wie sie es in der Therapie gelernt hatte. Sie sollte sich wirklich beruhigen. Sonst würde womöglich erst ihre Panik zu einem Unglück führen.

Maja schloss die Augen und atmete tief durch. Sie öffnete die Augen wieder und blickte auf die Straße. Weit und breit kein Wagen zu sehen, den sie eventuell mit dem Kombi blockieren würde. Sie sah in den Rückspiegel. Nichts als Landschaft. Sie schaute nach rechts und blickte auf den Fjord und seine pastellfarbene, glatte Oberfläche.

Er hatte nichts von den tiefen Schluchten im Norden Skandinaviens, die das Gletscherwasser nach der Eiszeit in die Felsen gefressen hat. Am Ringkøbing-Fjord, dem größten See Dänemarks, war alles flach. An seiner schmalsten Stelle war er nur wenige hundert Meter von der Nordsee entfernt und lediglich durch eine schmale Nehrung von ihr getrennt – dem Holmsland Klit, auf dem Maja gerade im Volvo saß, sich am Lenkrad festhielt und einatmete, ausatmete, einatmete, ausatmete. Eine Verrückte, die die Vernunft in sich hineinpumpte, dachte Maja. Dann trat sie unvermittelt wieder aufs Gas und raste weiter.

Einige Minuten später furchte der Volvo über den Kiesweg, der zu dem Haus in den Dünen führte. Die Steine knackten unter den Reifen. Maja parkte neben dem kleinen VW und fiel mehr aus dem Wagen, als dass sie ausstieg. Sie konnte das Meer riechen. Der kalte Wind von der Küste strich durch das Gras, trieb welkes Laub durch die klare Luft und zerrte an ihren Haaren. Ohne die Einkäufe auszuräumen, hastete sie zur Tür, schloss auf und ging mit großen Schritten durch den Flur.

»Emma?«, rief sie und hörte das Zittern in ihrer eigenen Stimme. »Emma?«

Abrupt blieb sie im Durchgang zum Wohnzimmer stehen und schluckte schwer. Keine Antwort. Niemand zu sehen.

»Emma?«, rief sie erneut und marschierte durch den Raum.

Dann sah sie die beiden Körper auf dem Boden liegen. Der eine klein, der andere deutlich größer. Sie bewegten sich nicht. Sie lagen auf dem Bauch. Zwischen ihren Köpfen strahlte und blitzte etwas. Aus ihren Ohren kamen dünne Kabel, die zu einem flachen Gerät führten, aus dem das Licht kam.

Dann ging ein Ruck durch Emma – so als habe sie die Präsenz ihrer Mutter im Raum gespürt.

»Maaaammmmmiiii! Hilfeeeee!«, kreischte sie laut. »Ich verliere immer in ›Dumb Ways to Die‹ und sterbe! Ich will aber nicht immer sterben!«

Im nächsten Moment grinste sie übers ganze Gesicht und offenbarte eine Zahnlücke. Sie zupfte die Kopfhörer von den Ohren, sprang auf und kam auf Maja zugelaufen, um sie heftig zu drücken.

Maja schluckte schwer. Ihr fiel ein ganzer Steinbruch vom Herzen. Die beiden hatten also auf dem iPad gespielt und Kopfhörer benutzt, weswegen sie die Telefone nicht hören konnten. Dauernd und natürlich auch heute zockten sie dieses alberne und nach Majas Meinung schrecklich makabre Lieblingsspiel von Emma, in dem man verhindern musste, dass die Spielfigur vom Zug überfahren, von Haien gefressen wurde, einen Stromschlag bekam, in einen Mixer fiel oder auf ähnlich dumme Art und Weise verunglückte.

»Hallo, meine Süße«, flüsterte Maja, nahm Emma auf den Arm und drückte sie fest an sich.

Maja blickte zu Erik, der winkend aufstand und ebenfalls die Stöpsel aus dem Ohr nahm.

Sie blinzelte eine kleine Träne fort, die ihren Blick verschleierte und noch vom Wind draußen stammte oder von der Aufregung und Erleichterung, dass Emma nichts geschehen war. Im nächsten Moment wichen Eriks Züge denen von Silje, denn natürlich hatte Silje mit Emma gespielt, Silje und niemand anders – schon gar nicht Emmas Vater. Erik lebte nicht mehr. Erik war seit Jahren tot. Aber Maja sah ihn manchmal vor sich stehen – wie eine Art Wunsch- und Trugbild. Wie Phantomflecken auf der Netzhaut, wenn man zu lange ins Licht gestarrt hatte.

Wie einen Geist.

»Emma ist wirklich gut darin«, sagte Silje und lächelte etwas gezwungen. Es war ihr anzumerken, dass es ihr unangenehm war, mit Emma das Game gezockt zu haben, von dem sie wusste, dass Maja es hasste.

»Ich finde, ihr spielt das zu oft«, sagte Maja ernst. »Es ist ein schreckliches Spiel.«

»Es ist Emmas Lieblingsspiel.«

Maja ging nicht weiter darauf ein. »Ich habe angerufen, um zu sagen, dass ich noch einkaufen gehe und mich etwas verspäte.«

»Okay?«

»Es ist niemand drangegangen, Silje. Ich habe mir Gedanken gemacht. Du weißt, dass …«

»Wir hatten ja die Kopfhörer auf, tut mir leid, Maja. Ich passe in Zukunft besser auf oder stecke mir nur einen Stöpsel rein, versprochen.«

Maja hörte das Schnauben von Emma am rechten Ohr. Sie roch ihren süßen Duft, spürte ihre weichen Haare an der Wange, ihren warmen, kleinen Körper, der sie fest umklammert hielt.

»Schon gut«, sagte Maja, rang sich ein Lächeln ab und wiegte Emma wie ein Baby hin und her. »Kann ja mal vorkommen.«

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2.

An manchen Tagen war doch das Leben nah und der Tod fern, dachte Maja etwas später nach dem Essen. Maja stand in der Küche, lächelte schwach und in sich gekehrt. Sie wischte die Schüssel länger als nötig ab, die eben noch mit Spaghetti angefüllt gewesen war, Emmas Lieblingsessen.

Über die Kochinsel hinweg sah Maja Emma und Silje auf dem Teppich sitzen und mit kleinen Pferdepuppen spielen. Was Maja tausendmal lieber war als diese fürchterliche App mit dem bescheuerten Titel. Es gab nach Majas Meinung ausschließlich »dumb ways to die« und nicht einen einzigen guten Weg. Und es war fürchterlich, sich über Todesarten lustig zu machen. Auf der anderen Seite hielt sie es nicht für falsch, sich auf spielerische Art und Weise mit dem Tod zu befassen – aber diese App war keineswegs dazu geeignet. Sie sollte das blöde Spiel endlich löschen.

Im Hintergrund lief eine Zeichentrickserie im Fernsehen. Die Stimmen von Maja und Silje vermischten sich mit dem überdrehten Quäken der Cartoonfiguren. Durch die hohen Fenster der Terrasse fiel das warme Abendlicht hinein ins Haus. Graue und lilafarbene Wolken jagten von der Nordsee her über den Himmel. Der Wind bog das hohe Gras in den Dünen.

War es ein bisschen Glück, das Maja gerade fühlte? Vielleicht. Wahrscheinlich. Oder war es lediglich die Erleichterung darüber, dass nichts geschehen und ihre Ängste wieder einmal unbegründet gewesen waren? Der Sonnenschein, der jedes Mal nach der Dunkelheit kam und so verlässlich wie das Amen in der Kirche die Wolken vertrieb? Vielleicht nur das, aber immerhin.

Die glücklichen Momente im Jahr, überlegte Maja und stellte die Schüssel ins Regal, ließen sich ohnehin an einer Hand abzählen, in guten Jahren auch an zwei Händen. Das klang reichlich pessimistisch, aber es war nun einmal so. Maja dachte an die wenigen Augenblicke, an denen sich einfach alles wirklich gut anfühlte. Alle waren gesund, es gab keinerlei Probleme, keine Sorgen, alles lief rund im Leben, und es zeichnete sich nicht ab, dass sich daran demnächst etwas ändern würde.

In solchen raren Momenten überschwemmte Maja das Gefühl der Liebe zu Emma und war noch stärker als sonst, überdeckte alles andere und ließ jede schmerzhafte Erinnerung an Erik in den Hintergrund treten. Wie mit einem Fingerschnippen ersetzte es die anhaltende Trauer durch Unbeschwertheit. So wie jetzt, als Maja die Schranktür schloss und sich wieder zum Wohnzimmer wandte und zu den beiden schaute, die auf dem braunen Teppich hockten, der auf den weißlackierten Dielen des alten Reetdachhauses lag. Sie und Erik hatten es vor einigen Jahren gekauft, saniert und umgebaut. Es war ein behagliches Zuhause in einer traumhaften Lage in den Dünen am Holmsland Klit und gerade einmal hundert Meter vom weitläufigen Strand entfernt.

Maja erinnerte sich noch gut daran, wie Erik sie vor ein paar Jahren in seinem Saab hergefahren und ihr voller Stolz das Haus präsentiert hatte. Es war, gelinde gesagt, in einem alptraumhaften Zustand gewesen – das verfallene und verlassene Haupthaus des früheren Gehöfts eines Dünenbauern. Das rauhe Klima, der Wind und das Wetter hatten den Putz und den Anstrich zerstört sowie das Dach. Zum Teil lag das Gebälk offen. Die Fenster waren blind und teils zersplittert. Drinnen roch es feucht, Schimmelpilze hatten Wände und Boden erobert. Es schien, als wolle sich die Natur wieder zurückholen, was man ihr entrissen hatte. Erik war dennoch Feuer und Flamme gewesen.

»Ist das nicht phantastisch?«, sagte er und ignorierte, dass sich schlagartig die Miene von Rasmus, dem Makler, erhellte, der nach dieser Bemerkung die Kronen sicher nur so in seine Kasse hüpfen sah.

»Das ist eine Ruine«, erwiderte Maja und vergrub die Hände in den Taschen ihres alten Armeemantels, der ihr heute – Jahre nach der Schwangerschaft – längst nicht mehr passte. Der Wind zerrte an ihrem blonden Haar und löste einzelne Strähnen aus dem Pferdeschwanz, die sie vergeblich aus dem Gesicht zu streichen versuchte.

»Aber das Potenzial ist doch enorm«, erklärte Erik. »Es gibt einen großen alten Kamin.«

»Ich mag keine Kamine, und das weißt du.«

»Ja, aber die Bausubstanz ist völlig in Ordnung, die Lage ist großartig, und der ganze Rest ist nur kosmetisch. Du musst dir die üblen Stellen einfach wegdenken und durch hübsche ersetzen.«

Das war typisch Erik. Regnete es, war für ihn der Himmel bald schon wieder blau. War Maja krank, war sie für Erik fast schon wieder gesund. Sein Glas war immer halb voll, während Maja stets ein halb leeres sah.

»Außerdem«, fügte er hinzu, »macht Rasmus uns einen Spitzenpreis.«

Rasmus lächelte ein wenig gönnerhaft. Er und Erik arbeiteten zwar für vollkommen unterschiedliche Immobilienmakler – Rasmus für eine klassische Agentur und Erik für Fondsgesellschaften und Anleger –, aber sie kannten sich gut und schoben einander gelegentlich Projekte zu. Vermutlich hatten sie ohnehin schon alles besprochen und bereits Finanzierungsmodelle im Kopf.

Maja stand regungslos da, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, sich das Haus in einem anderen Zustand vorzustellen.

Das änderte sich, als Erik die Architektenpläne aus der Tasche zog. Sie zeigten das Haus von innen und außen in einer Computergraphik so, wie es sein könnte: ein frischgedecktes Reetdach, eine Außenverkleidung mit hellgrauem Holz, weiße Fensterläden und eine zum Meer hin ausgerichtete Terrasse, auf der ein Fahnenmast mit dem flatternden Danebrog stand. Innen waren die Räume weiß, hoch und weitläufig, die Fachwerk- und Balkenkonstruktionen offen und naturbelassen. Eine moderne Küche und ein Wohnzimmer, dessen Glasverkleidung vom Giebelkreuz bis hin zum Boden reichte. Und ein Kamin. Maja war überrascht gewesen, dass Erik bereits solche Pläne hatte, ohne mit ihr überhaupt gesprochen zu haben. Zuerst war sie perplex, dann beleidigt und enttäuscht. Schließlich hatte sich Rasmus eingemischt und erklärt, dass seine Firma die Pläne bei einem Architekten habe ausarbeiten lassen, um Kunden vom Potenzial des Hauses zu überzeugen.

»Erik«, sagte Maja, »wir sollten trotzdem realistisch sein: Es wird jede Menge Geld und Arbeit kosten, das Haus so herzurichten. Außerdem ist es doch viel zu groß für uns beide.«

»Zweihundert Quadratmeter sind nicht zu viel. Und vielleicht bleiben wir ja nicht zu zweit.« Er zwinkerte bedeutungsvoll.

Maja lächelte schwach und atmete tief ein. Erik verdiente sehr gut, Maja als Mediendesignerin hingegen eher mittelmäßig.

Im Ausatmen fragte sie: »Können wir uns das wirklich leisten? Und wenn einer von uns plötzlich kein Geld mehr verdient, was dann?«

»Wir können es uns leisten. Ich habe das durchgerechnet. Wir kriegen das hin.«

Maja war sich da nicht so sicher. Sie hatte es nämlich nicht durchgerechnet und außerdem weder im Lotto gewonnen noch geerbt, und der Ausbau würde fraglos jede Menge kosten. Aber Erik wirkte sehr selbstsicher und wollte sich nicht beirren lassen. Und irgendwie fand Maja ihn auch süß in seinem Enthusiasmus und augenscheinlichen Nestbautrieb.

»Das Schicksal halten wir beide sowieso nicht in den Händen.« Erik zuckte mit den Achseln. »Ich will ein richtiges Zuhause für uns und werde alles dafür tun. Und jetzt will ich einfach nur wissen, ob du das siehst, was ich auch sehe.«

Erneut musterte Maja die Ruine. Vor ihren Augen verwandelte sie sich in das Haus auf den Architektenplänen und verschmolz damit. Sie nickte. »Ja«, hatte sie zögernd gesagt, »ich glaube, ich sehe es jetzt.«

Maja hing noch einen Moment ihren Gedanken nach und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Arbeitsplatte. Dann schaute sie zur Seite und betrachtete Silje und Emma. Emma lag auf dem Bauch, die Beine angewinkelt, und wackelte mit den Füßen. Sie hatte Eriks wasserblaue Augen und Majas hellblondes Haar geerbt. Ihr kleiner Körper war immer in Bewegung, was auch immer sie tat. Selbst wenn sie es tatsächlich schaffte, beim Zähneputzen einmal still zu sitzen, bewegte sie dennoch die Zehen, fummelte an einem Handtuch herum, spielte an den Haaren oder griff sich irgendetwas, das gerade in Reichweite war, um es zu befühlen.

Maja hatte sich einmal gefragt, ob Emmas Rastlosigkeit das Anzeichen einer kindlichen Fehlentwicklung sein könnte, dann aber beschlossen, dass Kinder sich nun einmal permanent bewegen mussten, um ihre Muskeln auszubilden und weil die Welt um sie herum nun einmal so fürchterlich interessant war. Deswegen vergaß Emma auch manchmal innerhalb von dreißig Sekunden, was ihr zuvor gesagt worden war oder was sie gerade tun wollte. Sie stand auf, um zur Toilette zu gehen, aber schon auf halbem Weg war alles wieder gelöscht, weil der auf dem Flur geparkte Tretroller gerade spannender war. Manchmal hörte sie auch gar nicht zu, wenn man mit ihr sprach – selbst wenn man direkt vor ihr stand und ihr zehnmal erklärte, dass sie nun die Schuhe anziehen sollte, weil sie sich sonst im Kindergarten verspäten würden, sah sie einfach durch einen hindurch, schien in ihrer eigenen Gedankenwelt gefangen zu sein und erwiderte wie aus dem Nichts heraus etwas, das überhaupt nichts mit Schuhen zu tun hatte, zum Beispiel: »Mama, wie lange kann man unter Wasser eigentlich die Luft anhalten, bis man stirbt?« An anderen Tagen hingegen bekam Emma sehr viel mehr mit, als sie sollte, und sagte in ihrem Kindersitz im Auto solche Sachen wie »Afghanistan ist ein schwieriges Land«, weil im Radio gerade davon gesprochen worden war – obwohl man eigentlich annahm, sie sei in das Betrachten der am Autofenster vorbeirauschenden Landschaft vertieft.

Auch in diesem Zusammenhang hatte Maja sich immer wieder bei dem Gedanken ertappt, ob das womöglich doch das Anzeichen einer Fehlentwicklung war wie von einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom – an manchen Tagen vollkommen abwesend, an anderen übergenau. Aber das war natürlich Unfug und maßlos übertrieben. Solche Befürchtungen waren Majas ganz persönliches Problem und nicht Emmas. Emma war ein normales fünfjähriges Mädchen, das vielleicht etwas in sich gekehrter und reifer war als andere Fünfjährige. Maja hatte die Ängste um sie, die jede Mutter hat. Punkt. Man konnte diese normalen Ängste, wie Maja gelernt hatte, zudem sehr gut von denen unterscheiden, die eher nicht normal waren.

Dabei handelte es sich um Zwangsvorstellungen, die Maja seit geraumer Zeit quälten. Sie hatte Angst davor, dass Emma etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen könnte. Etwas, das sich nicht in Worte kleiden ließ, weil es nicht greifbar war und unvermittelt eintreffen könnte. Wie ein Blitzschlag. Wie eine skelettierte Hand, die aus dem Abgrund schoss und nach Emma griff. Wenn sie auf dem Spielplatz waren, blitzten schlimme Bilder durch Majas Gehirn: Emma, wie sie von der Rutsche fällt und sich das Rückgrat bricht. Oder beim Spielen mit Murmeln: Emma, wie sie eine verschluckt und die Heimlich-Methode nicht funktioniert. Manchmal geschah es auch beim Einkaufen: Maja sah für einen Moment nicht hin, und im nächsten war Emma fort und von einem Fremden entführt worden. Es gab kaum eine Situation, in der diese Ängste nicht nach Maja fassten und für Bruchteile von Sekunden aufflammten. Wie gesagt: Einige waren normal, andere nicht, und natürlich waren diese Gedanken nicht an jedem Tag präsent. Manchmal war es besser, manchmal schlechter – zum Beispiel vorhin, als niemand ans Telefon ging, war es sehr schlecht gewesen.

Genau genommen waren es auch keine klassischen Zwangsvorstellungen, wie Majas Therapeutin Kirsten ihr immer wieder erklärte.

»Es ist den Umständen geschuldet, Maja«, sagte sie. »Es ist eine ganz normale Reaktion auf das, was du erlebt hast. Du hast Furcht davor, dass einem wichtigen Menschen in deinem Leben etwas zustößt, weil einem anderen wichtigen Menschen in deinem Leben etwas Unvorhergesehenes geschehen ist. Du darfst dir diese Ängste erlauben. Sie sind vollkommen okay und absolut nicht irrational. Unfälle geschehen, das ist so. Angst kann helfen, sie zu vermeiden. Bloß darfst du dein Leben und das von Emma nicht diesen Gedanken unterwerfen und es davon bestimmen lassen. Wenn du nicht mehr mit ihr auf den Spielplatz gehst, weil du zu sehr befürchtest, es könnte etwas geschehen, wenn du nicht mehr ins Schwimmbad oder zum Einkaufen gehen magst – dann müssen wir anfangen, uns ernsthaft Sorgen zu machen. Solange du dich außerdem weiterhin damit konfrontierst und die Ängste als einen Teil deiner momentanen Lebenssituation akzeptierst, ist deine Balance noch gegeben.«

Jetzt kicherte Emma und ließ zwei rosafarbene Ponys miteinander sprechen. »Mir geht es gut. Geht es dir auch gut? Ja, mir geht es auch gut. Wollen wir am Strand reiten und Lilalein besuchen? Oh ja. Lilalein hat Geburtstag und hat uns eingeladen. Oh, wie schön, komm, ich reite schon vor.«

Lilalein war die beste Freundin der beiden anderen Ponys, und sie wohnte in einem Haus direkt am Meer. Sie war eine Pferdeprinzessin – so wie eigentlich alle Spielfiguren in Emmas Welt Prinzessinnen waren, Feen-Majestäten oder Meerjungfrauen-Königinnen, und meistens hatten sie Geburtstag oder gaben sonst ein Fest. Lilalein stand im Moment erhaben auf Siljes Unterschenkel.

Maja schaute zur Seite, umfing sich selbst mit den Armen und spürte, wie ihr Blick verschwamm und undeutlich wurde. Dann sah sie Erik am Sockel der Treppe stehen. Er lehnte lässig an der Wand – so wie er es immer tat, wenn Maja ihn sehen konnte. Seine hauteng sitzende Chino hatte die Farbe des Sandes am Strand. Dazu trug er einen schwarzen Hoodie und Stricksocken, die so grau meliert wie sein Haar wirkten. Das mit den Haaren war damals sehr plötzlich geschehen – nicht einmal innerhalb von einem Jahr. Maja hatte keine Ahnung, wie das so rasch passieren konnte, aber er sah gut damit aus, wirklich gut. Weswegen sie ihn auch davon abgebracht hatte, die Haare wieder braun zu färben. Es verlieh ihm etwas Reifes, Souveränes, das auf attraktive Art und Weise im Widerspruch zu seinem jungenhaften Wesen stand.

Maja blinzelte das Trugbild fort und schaute wieder ins Wohnzimmer. Silje ließ Lilalein hin und her wackeln und sich freuen: »Oh, da kommen ja meine Freundinnen zu Besuch. Wie gut, dass ich schon Kuchen gebacken und den Tee aufgesetzt habe.«

Ja, dachte Maja, genauso sollte es sein. So und nicht anders. Das Haus am Meer, die Familie, das Glück und die untergehende Sonne.

Nur leider war alles ganz anders.

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3.

Silje bemerkte, dass Maja sie beobachtete. Sie stellte Lilalein ab und überließ sie ihrem Besuch. Etwas umständlich drückte sie sich aus dem Schneidersitz nach oben und kam auf Maja zu.

»Denkst du wieder an ihn?«, fragte Silje mit ihrer warmen, jugendlichen Stimme. Sie war Ende zwanzig, duftete schwach nach Mademoiselle von Chanel und trug zu ihrer zerschossenen Jeans einen grobgestrickten Pullover, der den gepiercten Nabel frei ließ.

Maja fragte: »Sieht man mir das an?«

Silje nickte.

»Er war auf einmal da. Einfach so.« Sie schaute zur Treppe, wo Erik immer noch stand – immer auf die gleiche Art und Weise, immer in den gleichen Sachen. Maja fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und schloss die Augen.

»Es tut mir leid«, erwiderte Silje.

Maja nickte erneut und presste die Lippen zusammen. Sie rieb sich mit den Fingern über die Lider und öffnete die Augen. Erik war fort.

Maja versuchte ein Lachen und stützte sich auf der Arbeitsplatte ab. »Es ist okay, Silje. Es geht schon wieder. Ich war nur kurz abwesend.«

Was untertrieben war. Die Echos zwischen den Wänden hatten ihr Gehirn wieder einmal umnebelt, und Maja hatte sich vorgestellt, wie perfekt alles wäre, wenn Erik statt Silje mit Maja »Dumb Ways to Die« zockte, Spaghetti bolognese am Familientisch aß und mit dem Pony Lilalein spielte. Aber Erik war nicht mehr da. Und würde auch nicht wiederkommen. Nie mehr.

»Mach Schluss für heute«, sagte Maja zu Silje. »Es ist schon spät.«

»Geht es dir wirklich gut?«

»Alles okay.«

Silje wirkte nicht überzeugt.

Maja lächelte und strich sich eine lose Strähne aus der Stirn. »Es ist nur einer dieser Tage, weißt du. Alles ist ein wenig durcheinandergeraten.«

Silje nickte. Sie wusste, was Maja damit meinte. Silje kümmerte sich als Tagesmutter um Emma, wenn es nötig war. Maja hatte nicht den Luxus, sich auf Oma und Opa verlassen zu können – Eriks Eltern lebten nicht mehr, und ihre eigenen wohnten in Odense. Zudem, nun, das Verhältnis war nicht sehr gut und nur auf das Nötigste beschränkt, was seine Gründe hatte und nicht von Maja ausging.

Nach der Elternzeit hatte sich Maja Gedanken um die Betreuung machen müssen. Sie hatte noch nicht einmal nach einer Tagesmutter gesucht, da stand Silje buchstäblich schon auf der Matte. Sie war vom Jugendamt empfohlen worden. Maja erinnerte sich an die kuriose Situation von damals – sie hatte erst angenommen, Silje wolle für irgendetwas sammeln oder nach dem Weg fragen. Silje wiederum war darüber erstaunt gewesen, dass von den Behörden versäumt worden war, sie anzukündigen. Sie hatten sich eine Weile irritiert angestarrt und einander abwechselnd immer wieder versichert, wie überrascht sie seien – bis sich alles im Kreis drehte und Maja gelacht und Silje auf einen Kaffee hereingebeten hatte.

Wie dem auch sei: Sie war Gold wert und inzwischen zu einer echten Freundin geworden. Einer Vertrauten, von denen es in Majas Leben nicht viele gab und – und was am wichtigsten war: Emma liebte sie wie eine große Schwester. Silje war eine Seele von Mensch und hatte früher als Erzieherin gearbeitet. Sie hatte keine Kinder und pflegte lediglich wechselnde Beziehungen. Sie bezeichnete sich als eingefleischten Single. Die letzte feste Beziehung war nach ihren Worten ziemlich ins Auge gegangen und zudem der Grund dafür, weswegen sie aus Kopenhagen weggezogen war.

Silje ging zur Garderobe. »Es tut mir leid«, sagte sie noch mal, »dass wir vorhin die Kopfhörer aufhatten und ich das Telefon nicht hören konnte. Kommt nicht wieder vor.«

»Warum habt ihr überhaupt Kopfhörer benutzt?«

»Emma fand es lustig. Sie mag es, wenn sie auch akustisch von der Außenwelt abgekoppelt und voll und ganz auf ihr Spiel konzentriert ist.«

Da war etwas dran. Emma trug ihre »Mickymausohren« auch gern, wenn sie Geschichten auf dem iPod anhörte. Am Anfang hatte sie sich mit Leibeskräften gegen die Kopfhörer gewehrt – Maja hatte sie gekauft, weil sie gelegentlich von zu Hause aus arbeitete und sich bei voll aufgedrehten Hörspielen einfach nicht konzentrieren konnte. Nach einer Woche Widerstand und Ablehnung hatte Emma es dann doch mit den Kopfhörern versucht und war seitdem ein Fan. Manchmal trug sie die Dinger einfach deswegen, weil sie sie todschick fand.

Silje nahm ihre Jacke und die Umhängetasche von der Garderobe. »Kommt jedenfalls nicht mehr vor.«

»So schlimm war es nun auch nicht.«

Silje hielt ihr Handy in der Hand und wedelte damit, bevor sie es in ihre Umhängetasche plumpsen ließ und in ihre Jacke schlüpfte. »Du hast fünf Nachrichten geschickt und zehn Mal angerufen. Das klingt für mich ziemlich schlimm.«

»Okay. Ja, ich gebe es zu: Ich war besorgt.«

»Du musst nicht besorgt sein, Maja. Genau deswegen bin ich hier, oder? Damit du dir keine Sorgen machen musst.«

Maja lächelte. Sie nickte.

Silje knöpfte die Jacke zu. Sie schulterte ihre Tasche und winkte Emma zu, die Silje nicht einmal registrierte, weil die Kindernachrichten gerade zu Ende waren und sie beim Herumswitchen mit der Fernbedienung eine fesselnde Werbung für Disneys Eisprinzessin gefunden und deswegen gerade keine Sprechstunde hatte.

Silje schmunzelte. »Bis morgen.«

»Bis morgen«, erwiderte Maja.

Ein eiskalter Wind blies in den Flur, als Silje im Gehen die Tür öffnete und wieder schloss.

Aus dem Küchenfenster blickte Maja den kleiner werdenden Rücklichtern von Siljes Wagen nach. Schließlich riss sie sich vom Fenster und ihren Gedanken los und ging ins Wohnzimmer, um den Fernseher auszuschalten und die protestierende Emma ins Bett zu bringen.

»Das ist gemein!«, plärrte Emma und boxte in die Kissen. »Ich wollte erst noch die Sendung sehen.«

»Nein, du bist schon über deine Zeit, Süße.«

»Das ist unfair!«

»Es ist spät.«

»Ich wollte wissen, ob der komische Mann noch mal kommt!«

Maja machte ein genervtes Geräusch, ignorierte die Bemerkung, weil es zweifellos wieder einer von Emmas tausend Gründen zum Hinauszögern war, und sagte: »Danach kannst du morgen noch mal schauen, jetzt ist Schluss mit Fernsehen. Waschen. Pipi. Bett.«

Emma kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Über ihrer Nasenwurzel erschien eine kleine Falte. Genau wie bei Erik.

Maja warf einen kurzen Blick auf das Hochzeitsbild, das sie und Erik zeigte. Es war nicht groß und stand in einem silbernen Rahmen im Buchregal. Erik trug einen schmal geschnittenen schwarzen Anzug und lächelte. Maja hielt ihren Brautstrauß in die Kamera und strahlte. Ihr Kleid war champagnerfarben, kurz und ebenfalls körperbetont geschnitten – keine klassische Brautmode. Sie erinnerte sich noch daran, als sie es mit ihrer besten Freundin Charlotte gekauft hatte und wie sie sich über die vielen Prinzessinnen-Kleider amüsierten. Das schlimmste davon, eines mit einer zwei Meter langen Schleppe, hatte Maja angezogen. Es war ein Alptraum in Spitze und Tüll und ließ sie aussehen wie ein Bonbon mit Beinen. Charlotte hatte mit dem Handy ein Bild gemacht und Erik mit der Frage »Zu viel Spitze?« geschickt, der keine Ahnung gehabt hatte, wie er darauf reagieren sollte, und völlig verunsichert gewesen war. Was man seiner Antwort entnehmen konnte, in der stand: »Ja, ach so ein Kleid soll es werden? Darf ich das denn überhaupt vorher schon sehen?«

Maja und Charlotte hatten sich ausgeschüttet vor Lachen. Anschließend hatten sie eine weitere Flasche Sekt geöffnet, bevor sie mit der Anprobe weitermachten. Später war Erik sichtlich erleichtert gewesen, dass es sich doch nur um einen Scherz handelte – aber hatte Stein und Bein geschworen, dass er wirklich verunsichert gewesen war.

»Ich meine«, hatte er erklärt, »man weiß ja nicht, was in Frauen so vorgeht, wenn es um Hochzeitskleider geht. Das ist etwas sehr Spezielles. Vielleicht hast du ja als kleines Mädchen immer schon von so einem echten Schneewittchen-Kleid geträumt, woher soll ich das wissen? Jedenfalls seid ihr echt fies.«

Was bei Maja erneut einen Lachanfall verursacht hatte. Dann hatte sie Erik geküsst und ihm ins Ohr geflüstert: »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du auch nur den Saum meines Hochzeitskleids vorher zu sehen bekommst.«

Maja erinnerte sich an den Moment, in dem Erik ihr den Antrag gemacht hatte. Sie saßen damals im gleichen Restaurant in Kopenhagen, in dem sie ihr erstes Date verbracht hatten – Charlottes Vorschlag, sie kannte die Gastronomie und die In-Spots seit je wie keine Zweite. Erik hatte Majas Hand genommen und ihr einen Ring an den Finger gesteckt. Bevor sie überhaupt nur irgendwie darauf reagieren konnte, fragte er schon, ob sie seine Frau werden wollte. Was sie bejahte. Dann küssten sie sich und sprachen darüber, wie sie sich durch Zufall mehrmals an der Supermarktkasse getroffen hatten, wie daraus eine Art Running Gag geworden war, der schließlich zum Austausch von Telefonnummern führte – und nun am Ende dazu, wer hätte das jemals erwartet? Die Hochzeit hatten sie dann im kleineren Rahmen gefeiert – Erik hatte wie Maja nur wenige gute Freunde, und er lebte wie Maja ziemlich für sich und war kein Partytiger. Er bevorzugte gute Gespräche oder ein Buch, weswegen sie sich so gut ergänzten. Charlotte fand das langweilig, aber so war es eben, und es war gut so. Familie hatte Erik nicht, er war als Baby von seiner Mutter weggegeben worden und in einem Heim aufgewachsen. Maja wiederum – tja, mit ihrer überschaubaren Familie war es nicht immer einfach, aber wenigstens waren Mama und Papa zur Hochzeit gekommen und hatten gesagt, dass sie Erik mochten.

Maja wandte sich von dem Foto ab und beugte sich zu Emma hinab, die eine Schnute zog und sich wütend auf das Sofa warf.

»Na komm«, sagte Maja und schnappte sich die widerspenstige Emma, um sie nach oben zu tragen. »Zeit fürs Bett. Morgen müssen wir wieder früh aufstehen. Du musst in den Kindergarten, Mami muss zur Arbeit.«

Emma brummte in Majas Halsbeuge. Maja vergrub ihre Nase in Emmas Haaren und stieg die Treppe hinauf.

»Ist das ein kleiner Brummbär auf meinem Arm?«

»Nein.«

»Ist das etwa die Prinzessin Schlechtgelaunt?«

»Nein.«

»Ist das etwa die bockige Emma?«

»Ich bin nicht bockig.«

»Nein? Was bist du denn?«

»Du bist gemein. Ich will nicht immer machen müssen, was du sagst, wenn ich etwas anderes machen möchte.«

»Das ist eben manchmal so.«

»Ich wollte den komischen Mann sehen.«

Nun stutzte Maja doch. »Den komischen Mann? Welchen komischen Mann?«

»Den im Fernsehen. Ich wollte sehen, ob er noch mal kommt.«

»Hast du den eben im Kinderprogramm gesehen?«

Emma nickte.

»War der lustig?«

Emma schüttelte den Kopf.

Wie auch immer, dachte Maja, manchmal sahen Kinder ganz normale Dinge, die ihnen Angst machten oder die sie merkwürdig fanden, aber sie konnten nicht ausdrücken, warum. Das kam dauernd vor. Und solange es kein »komischer Mann« am Kinderspielplatz gewesen war …

Maja sagte: »Den kannst du morgen auch noch im Kinderprogramm sehen. Vielleicht kommt der dann ja wieder. Was hat er denn gemacht?«

»Gar nichts.«

»Und warum war er dann komisch?«

»Ich weiß nicht.«

Mit dem Fuß stieß Maja die Tür zum Bad auf und drückte den Lichtschalter mit dem Ellenbogen. Sie setzte Emma auf ihren Hocker, drückte etwas Zahnpasta auf die elektrische Zahnbürste, schaute so böse wie möglich zu ihr und verstellte ihre Stimme eine Oktave tiefer.

»Wehe«, knurrte Maja, »wehe, du lässt dir deine Zähne putzen, dann werde ich komplett verrückt …«

Sofort erhellte sich Emmas Gesichtsausdruck. Sie mochte das Spiel, das für Maja eher ein Trick war. Man bekam Emma schnell dazu, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollte, indem man es ihr spielerisch verbot.

Emma kicherte. »Doch, ich will.«

»Nein!«, erwiderte Maja und hielt Emma die Zahnbürste vor den Mund. »Wehe, du steckst dir das in den Mund.«

Emma lachte. Ihre Augen blitzten. Langsam öffnete sie den Mund.

Maja schob die Zahnbürste hinein und schaltete sie an. Sie verdrehte die Augen, gab lustige Geräusche von sich und schnaubte: »So ein ungezogenes Kind! Dabei habe ich es doch extra verboten, die Zähne zu putzen!«

Emma lachte und machte den Mund weit auf. Perfekt, dachte Maja, genauso will ich dich haben, Emma Lundgren.

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4.

Jesper Moeller saß im Keller und lächelte. Es geschah nicht allzu oft, dass er sich so gut fühlte. Eben hatte er ein Lied im Radio gehört, das ihn an alte Zeiten erinnerte, als er noch jung gewesen war und die Welt grenzenlos. Jetzt war er alt und seine Welt sehr eingeschränkt. Vielleicht widmete er sich deswegen im Ruhestand so intensiv seinem Hobby, der Ornithologie. Vögel kannten keine Grenzen.

Eben hatte er das Radio ausgestellt und die CD mit den Vogelstimmen eingelegt. In sich versunken lauschte er eine Weile dem Lied der Stare. Es waren sehr kluge Tiere. Sie waren sogar in der Lage, den Klang anderer Vogelstimmen zu imitieren. Vielleicht kam dieses Talent nicht von ungefähr. Es war bekannt, das die Weibchen die Männchen bevorzugten, deren Gesang am vielfältigsten und am ausdauerndsten war. Es gab noch andere Erklärungen für diese Fähigkeit des Nachahmens – zum Beispiel, dass die Tiere andere mit den Rufen eines Fressfeinds verschreckten, um sich Vorteile bei der Nahrungssuche zu verschaffen. Manche waren sogar in der Lage, Bruchstücke der menschlichen Sprache darzustellen – oder von Alarmanlagen, wie es hieß. Sie zählten zur artenreichsten Familie der Singvögel, die man zu den Sperlingen rechnete.

Wenn die Stare flogen, so wie jetzt zur Sort Sol, fühlte sich Jesper Moeller immer etwas merkwürdig. Kamen die Stare im Herbst, dann war klar, dass bald die dunkle Jahreszeit beginnen würde. Kamen sie im Frühling, war offenkundig, dass der Winter beendet war. Ihr Erscheinen markierte Finsternis und Aufbruch zugleich, und somit hatte es, abgesehen von dem sagenhaften Naturphänomen der Schwarzen Sonne, stets eine tiefere Bewandtnis für Jesper Moeller. Es ging um Ende und Anfang, um Leben und Sterben.

Jesper Moeller stand umständlich auf und ging zur Gefriertruhe. Er öffnete die Abdeckung und spürte einen eiskalten Luftstrom. Er beugte sich hinab und zog einen kleinen Beutel heraus, um ihn auf dem Tisch abzulegen. Es würde eine Weile brauchen, bis alles aufgetaut war. Jesper hatte sich genau überlegt, was er damit tun würde und wie er es anstellte. Für einen kurzen Augenblick fragte er sich, was Maja Lundgren wohl gerade tat und ob sie die kleine Emma ins Bett brachte. Vermutlich, es war an der Zeit dafür. Dann öffnete er den Gefrierbeutel und ließ das, was sich darin befand, auf den Tisch fallen. Es gab ein hohles Geräusch.

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5.

Wenig später schlief Emma bereits tief und fest. Maja hatte mit ihr die Geschichte von »Laura beim Arzt« gelesen. Es war Emmas Lieblingsbuch aus der Reihe, in der die kleine Laura alle möglichen Geschehnisse des Alltags erlebte und mal zur Schule ging, einen Bruder oder ein Pferd bekam, Ferien machte oder Weihnachten feierte. Danach hatte Maja sich um die Wäsche gekümmert, ein wenig gebügelt und sich anschließend mit einem Glas Wein aufs Sofa gefläzt, wo sie noch mit Charlotte über deren Instagram-Account ein paar Kommentare austauschte. Charlotte hatte jede Menge Follower und machte phantastische Bilder. Sie führte in Kopenhagen ein Geschäft für Inneneinrichtungen – ein großer Teil der Einrichtung in Majas Haus stammte von Charlotte und war hier eingezogen, nachdem Eriks Möbel ausgezogen waren. Maja hatte sich von fast allem getrennt und das eher strenge und technische Design gegen gemütliche Möbel ausgetauscht, die altmodisch wirkten, aber nagelneu waren. Shabby und hygge. Was sich auch in Emmas Zimmer niederschlug, dessen Wände rosafarben gestrichen waren und das mit absolut niedlichen Möbeln ausgestattet war, die Charlotte bei einem Spezialversender aus England bestellt hatte. Früher oder später, das war Maja klar, würde sie auch diese austauschen müssen, obwohl sie ein Vermögen gekostet hatten. In fünf oder sechs Jahren würde Emma das Rosa und das Prinzessinnenbett albern und uncool finden und sich dafür schämen, in so einem albernen Kinderzimmer wohnen zu müssen.

Schließlich hatte Maja noch eine Weile ferngesehen – die Wiederholung einer Folge von »The Nightmanager« mit Tom Hiddleston und Hugh Laurie, besser bekannt als »Dr. House«. Maja wusste nicht, worum genau es dabei ging, weil sie die vorherigen Teile nicht kannte. Aber Tom Hiddleston hatte ihr gefallen, jedoch nicht verhindern können, dass sie nach etwa einer halben Stunde eingenickt war. Sie hatte das Weinglas geleert, den Fernseher ausgestellt, sich im Bad fertig für die Nacht gemacht, ihre Zahnschiene eingesetzt und im Bett noch eine Weile dem Wind gelauscht, der ums Haus strich, bevor sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen war.

Etwa drei Stunden später wachte sie auf.

Maja öffnete die Augen, aber sah nichts als Dunkelheit um sich herum – bis auf die grünen Ziffern des Radioweckers, die anzeigten, dass es kurz vor zwei Uhr war. Sie rieb sich durchs Gesicht, richtete sich auf und nahm sich einen Moment, um sich zu orientieren und ausfindig zu machen, was sie geweckt hatte. Sie schaute zur Tür, sah aber kein Licht durch den Schlitz dringen. Emma war also nicht aufgestanden und hatte sich zur Toilette getastet. Maja konzentrierte sich auf die Geräusche, auf den Wind. Und hörte sehr leise etwas, das sie zunächst nicht zuordnen konnte, weil es keinen Sinn ergab. Aber es handelte sich tatsächlich um Stimmen. Musik. Dann wieder Stimmen.

Maja schlug die Bettdecke zurück. Sie stand auf, tastete sich zur Tür und öffnete sie. Die Stimmen wurden etwas lauter. Dann die Musik, dann wieder Stimmen, und andere Geräusche kamen hinzu. Aus Emmas Zimmer kam das jedenfalls nicht, denn Maja nahm einen schwachen und flackernden Lichtschein auf den Treppenstufen wahr, die nach unten führten. War der Fernseher wieder angesprungen? Sie hatte ihn doch ausgeschaltet? Oder hatte sie versehentlich irgendeine Timer-Taste berührt?

Maja blickte zu Emmas Zimmer. Die Tür stand offen. Weiter offen als üblich.

»Emma?«, fragte Maja und bewegte sich auf Zehenspitzen vorwärts.

Sanft öffnete sie die Tür ein Stück weiter. Die Decke in Emmas Bett war zerwühlt und halb auf den Boden gefallen. Emma lag nicht in ihrem Bett.

Maja runzelte die Stirn. Sie ging zurück auf den Flur und dann zur Treppe, nahm behutsam ein paar Stufen und blinzelte von oben zunächst in die Küche, wo sie nichts sah, und dann ins Wohnzimmer.

Wo sie durchaus etwas sah.

Bis auf das Licht des Fernsehers war alles dunkel. Die Programme wechselten blitzschnell zwischen Nachrichten und Verkaufssendungen sowie Zeichentrick zu Dokumentationen, Werbung, Serien, Sport und wieder zurück. Sehr dicht vor dem Bildschirm stand Emma. Maja sah nur ihre schwarzen Umrisse. Vermutlich hielt sie die Fernbedienung in der Hand und zappte durch die Programme. Oder besser: Sie hielt einen Finger auf die Taste zum Weiterschalten gepresst und ließ die Bilder nur so flitzen. Nachts um diese Uhrzeit.

»Emma?«, fragte Maja leise und bewegte sich weiter die Stufen hinab.

Emma reagierte nicht. Vielleicht hatte sie ihre Mutter nicht gehört, weil der Fernseher so laut war. Vielleicht war sie aber auch gar nicht wach. Es schnürte Maja die Kehle zu. Es könnte sein, dass Emma schlafwandelte. Sie hatte etwas in der Art zwar noch nie getan, aber … Aber andererseits war sie auch noch nie mitten in der Nacht aufgewacht und einfach so zum Fernseher marschiert, weil sie nicht schlafen konnte. Falls so etwas doch einmal vorkam, wenn sie schlecht träumte oder krank wurde oder war, schlich sie sich zu Maja ins Bett. Niemals aber vor den Fernseher.

Maja schritt von der letzten Treppenstufe und setzte die Zehenspitzen vorsichtig auf den Holzfußboden auf. Sie hatte gelesen, dass Kinder in bestimmten Lebensphasen schlafwandeln konnten. Das war nichts Schlimmes, aber sehr unheimlich.

Leise schlich Maja voran. Sie erinnerte sich daran, dass man schlafwandelnde Kinder nicht einfach aufwecken sollte. Man sollte sie behutsam wieder zu ihrem Bett führen, weil sie sich heftig wehren konnten, wenn man sie aufhielt oder einfach so packte und zurück ins Zimmer trug. Also näherte sich Maja weiterhin vorsichtig, stand schließlich hinter Emma und hockte sich dann neben sie. Emmas Augen waren weit geöffnet. Sie wirkte überhaupt nicht, als sei sie nicht ganz da. Sie wirkte vollkommen wach.

»Emma?«, fragte Maja leise und legte ihre Hand auf Emmas Hand, um die Fernbedienung an sich zu nehmen. Emma ließ es geschehen. Sie wandte sich zu Maja und sah sie an. Nein, jetzt war sich Maja sicher, dass Emma nicht schlief oder schlafwandelte. Sie war rundherum bei sich.

»Was machst du hier, Emma? Warum hast du den Fernseher eingeschaltet?«

»Ich habe den Mann gesucht, der wie Papa aussieht«, erwiderte Emma.

Maja schluckte. Eine Gänsehaut rieselte über ihren Rücken.

»Einen Mann, der wie Papa aussieht?«

Emma nickte.

»Wo hast du ihn gesehen?«

»Im Fernsehen, aber dann hast du es ausgemacht, und ich konnte nicht mehr gucken, ob er noch da ist. Ich habe geträumt von dem Mann, wie er die Straße langgeht. Dann bin ich wach geworden, und ich wollte noch einmal schauen, ob ich ihn im Fernseher finde.«

Maja strich mit beiden Händen über Emmas Arme.

»War das in den Kindernachrichten?«

»Ja. Da war er am Hafen, und die Leute hatten Fahnen. Er aber nicht. Er ging da nur vorbei und hatte eine Tasche und einen Bart. Auf den Fotos hat er nie einen gehabt.«

Maja streichelte Emmas Haar. Natürlich wusste Emma, wie Erik aussah. Immerhin war er ihr Vater, und Maja hatte nie gewollt, dass dieser Vater gesichtslos blieb. Wenngleich es sie reichlich Überwindung gekostet hatte, von ihm zu erzählen, als Emma größer wurde und Fragen nach ihrem Papa stellte. Maja hatte außerdem im Haus Bilder von ihm aufgestellt. Das Hochzeitsfoto stand ja genau neben dem Fernsehgerät.

Maja überlegte, ob Emma am Abend vielleicht in einer ähnlichen Stimmung gewesen war wie sie selbst und dass das Foto beim Fernsehgucken mit den Bildern aus den Kindernachrichten verschmolzen war. Vielleicht hatte Emma aber auch tatsächlich jemanden in den Kindernachrichten gesehen, der Erik ähnelte. Er selbst konnte natürlich nicht durchs Bild gelaufen sein. Denn Erik war tot und hatte seine Tochter niemals kennengelernt oder in den Armen gehalten, er hatte ja nicht einmal davon gewusst, dass es sie einmal geben würde.

Maja nahm Emma in die Arme und stellte den Fernseher aus. Emma kuschelte sich dicht an ihre Mutter und klammerte sich an sie, als Maja sie hochhob, um sie zurück ins Bett zu bringen.

»Das war nur irgendein Mann, Emma, und du hast gedacht, er sah so aus wie Papa.«

»Mhm«, brummte Emma in Majas Halsbeuge.

Maja roch Emmas Haar, ihren Nachtduft. Das betörendste Parfüm von allen. Langsam schritt sie die Treppenstufen hinauf.

»Aber er sah genauso aus, Mama«, sagte Emma, die schon fast wieder eingeschlafen war.

»Manchmal«, flüsterte Maja im Gehen, »spielt unser Gehirn uns Streiche. Es ist, als ob wir träumen, weißt du? Dann stellen wir uns Dinge vor, die wir ganz doll möchten, und dann ist es fast so, als sei es wirklich geworden. Wenn du mit deinen Pferden spielst, dann ist dein Teppich eine Wiese und der Schuhkarton ein großer Stall, und beides sieht in deinen Gedanken genauso aus, nicht? So als ob es Wirklichkeit wäre.«

»Mhm«, machte Emma schlaftrunken.

»Genauso ist es mit dem komischen Mann gewesen. Papa schläft doch in seinem Schloss im Meer. Er kann nicht im Fernsehen sein.«

»Mhm.«

Maja ging mit Emma über den Flur und nahm sie mit in ihr eigenes Schlafzimmer. Sie wollte nicht, dass Emma jetzt allein war. Und sie selbst wollte ebenfalls nicht allein sein. Denn mit den Drachen des Lebens mochte man tagsüber gut fertigwerden. Aber nachts war das eine völlig andere Sache.

»Das Schloss haben wir doch neulich gemalt«, flüsterte sie Maja ins Ohr und stieß die Tür mit dem großen Zeh auf. »Dort wohnt Papa auf dem Grund der Nordsee, wo er der König ist und ganz viele bunte Fische herumschwimmen und die Meerjungfrauen wohnen, und es geht ihm ganz prima, und er denkt jeden Tag an uns, aber leider kann er von dort aus nicht zu uns kommen und wir nicht zu ihm. Wir können ihn immer nur beim Träumen treffen.«

Emmas Atmung hatte sich verändert, sie schlief. Maja beugte sich mit ihr auf dem Arm zum Bett hinab, legte sie hin und deckte sie zu. Dann schlüpfte Maja selbst ins Bett, schloss die Augen und lauschte dem Atem ihrer Tochter. Schließlich öffnete sie die Augen, schaute und hörte dem Wind zu. Er strich über das Land und jagte die Wolken am Mond vorbei, dessen Licht in Majas Vorstellung kalt auf den Friedhof an der alten, weißen Kirche fiel, wo Erik in Wirklichkeit schlief. Wo Maja ihn vor rund sechs Jahren begraben hatte, als sie mit Emma schwanger war.

An dem Abend, an dem er verschwunden war, hatte sie noch nicht gewusst, dass sie ein Kind bekommen würde. Maja war in der Küche beschäftigt gewesen, und Erik war aufgestanden, um noch einen Spaziergang zu machen und angeblich über ein zukünftiges Projekt nachzudenken. Von dem Spaziergang zum Strand war er jedoch nie zurückgekehrt. Erst Tage später war seine Leiche angespült worden. Und dann hatten sie den Abschiedsbrief an Maja gefunden. Diesen Zettel, auf dem lediglich stand: »Ich kann nicht mehr. Verzeih mir bitte.« Doch Maja konnte ihm nicht verzeihen.

Bis heute wusste niemand, aus welchen Gründen Erik sich ins Meer gestürzt und sich das Leben genommen hatte. Maja hatte sich ungezählte Male vergeblich nach dem Warum gefragt. Irgendwann hatte sie wenigstens versucht zu akzeptieren, dass es für ihn schlicht und ergreifend gute Gründe gegeben haben musste, weil sich niemand ohne irgendeinen Anlass das Leben nahm – selbst wenn sich diese Motive Maja niemals erschließen würden. Vielleicht hatte er eine Depression gehabt, ohne dass Maja es bemerkt hatte – und der Gedanke daran war immer noch unendlich quälend.

Bis zu diesem Akzeptieren war es ein sehr harter Weg, und dass Maja Eriks Selbstmord inzwischen als gegeben annahm, hieß noch lange nicht, dass sie ihm das, was er getan hatte, jemals vergeben würde. Denn Erik hatte nicht nur sich selbst getötet. Er hatte auch ein Stück von Maja ermordet und für alle Ewigkeit einen Schatten auf das Leben seines ungeborenen Kindes geworfen. In Emmas kleiner Seele würde es immer wieder Finsternis geben, wenn sie an ihren Vater dachte. So wie die Stare über dem Fjord wie ein Leichentuch von Zeit zu Zeit die Sonne verhüllten. Wenn Maja darüber nachdachte, dann hasste sie Erik aus tiefstem Herzen – ihren Mann, von dem sie damals geglaubt hatte, alles über ihn zu wissen. Doch das hatte sie nie getan, nie vollständig.

Maja blickte zur Seite, als Emma leise seufzte und sich im Bett herumdrehte und streckte. Sie zuckte und schien intensiv zu träumen. Dann schlug sie für einen kurzen Moment die Augen halb auf und blickte Maja an.

»Der komische Mann sah nicht nur so aus wie Papa«, murmelte sie mit belegter Stimme. »Der Mann war Papa.« Schließlich drehte sie sich wieder fort und schlief weiter. Maja nicht.

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6.

Vor sechs Jahren

Amar und Sahir lächelten breit. Sie machten eine Reihe Selfies voneinander und einen Filmclip mit dem Handy, den sie anschließend auf einem privaten YouTube-Kanal hochluden. Sie strichen sich gegenseitig mit den Händen über die kahlgeschorenen Köpfe und beschlossen, etwas später noch ein Video in den anderen Outfits aufzunehmen. Draußen auf dem Flur des Wohnheims wurde etwas auf Arabisch gerufen. Leise spielte Musik im Hintergrund. Aber das störte Amar und Sahir nicht. Sie waren mit ihren Gedanken längst ganz woanders. Die Herzen schlugen ihnen vor Aufregung bis zum Hals.

Amar trug eine Jeans und Turnschuhe von Nike. Das Einzige, was ihn von den meisten Fünfundzwanzigjährigen in Kopenhagen auf der Straße unterscheiden würde, war, dass er kaum Dänisch sprach. Das galt auch für Sahir. In den vergangenen zwei Jahren hatten sie vom Leben draußen ohnehin nicht viel mitbekommen – allenfalls, wenn sie zur Moschee gingen.

Sahirs Handy meldete sich. Er las die SMS. »Komm, mein Bruder«, sagte er zu Amar. »Bist du bereit?« Er schluckte schwer. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.

»Bereiter geht es nicht mehr«, erwiderte Amar und klopfte Sahir auf die Schulter.

Sie zogen sich ihre Jacken an, setzten die Strickmützen auf, nahmen ihre Rucksäcke und verließen das Zimmer. Sie gingen über den Flur, lächelten den anderen zu und grüßten sie. Niemand von ihnen wusste, wohin Amar und Sahir auf dem Weg waren. Die beiden fühlten sich stark. Unbesiegbar. Ihr Gang war leicht, beschwingt und kraftvoll zugleich.

Draußen war es bereits dunkel und kühl. Amar und Sahir bogen um die Ecke, wo ein weißer Nissan mit laufendem Motor wartete. Der Fahrer trug den Namen Abdullah. Er machte auf sich aufmerksam, indem er einmal kurz das Warnblinklicht einschaltete. Sie stiegen ein, grüßten den Fahrer jeweils mit einem Kuss auf die Wange.

»Heute ist ein Festtag«, merkte Abdullah an. »Ich werde meinen Kindern davon erzählen.«

»Allahu akbar«, sagte Amar.

»Allahu akbar«, fügte Sahir hinzu.

Dann gab Abdullah Gas, um zu einer Scheune außerhalb von Kopenhagen zu fahren, von der aus Amar und Sahir wieder zurück in die Stadt kommen würden.

»Ihr werdet Helden sein«, sagte Abdullah.

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7.

Ringkøbing war eine Kleinstadt direkt am Fjord. Dort gab es außer einer zu Ferienzeiten von Touristen überlaufenen Fußgängerzone mit vielen Geschäften eine überschaubare Marina für Motor- und Segelboote, die oft von Anglern gemietet wurden, sowie eine Handvoll kleiner Kutter, die auf dem Gewässer fischten. Auch Wassersport war auf dem Fjord gut möglich, der an guten Tagen Kite- und Windsurfern optimale Voraussetzungen bot. Im Gegensatz zur nahen Nordsee waren die Wellen auf dem Fjord kaum erwähnenswert, der Wind aber gleich stark und die Bedingungen somit vor allem für Anfänger hervorragend.

Am Hafen wie im Rest der Stadt waren die meisten Wohnhäuser alt und aus rötlichen Ziegeln gebaut, flach und mit weißen Fensterrahmen ausgestattet. In einem solchen Gebäude befand sich in Hafennähe am Vest Strandsbjerg die Firma Digital Solutions – was nach Majas Meinung zwar kein besonders kreativer Name für eine Medienagentur war, aber den Kern traf und außerdem aus einer Zeit stammte, in der alles Digitale noch sehr neu war und E-Mail-Adressen sowie die von Websites lang und kryptisch.

Die Sonne schien. Der Himmel war knallblau und die Rinnsteine mit braunem Laub bedeckt. Ein goldener Herbsttag, an dem es wegen des Nordseewindes ziemlich kalt war. Im Großraumbüro von Digital Solutions hingegen war es sehr warm – diese alten Häuser waren effizient gegen Wind und Wetter gebaut und sorgten in heißen Sommern für kühle Räume und im Winter für das Gegenteil. Zudem knallte die Sonne durch die großzügige Fensterfront. Der Duft nach frischem Kaffee durchzog das Büro, an dessen Ziegelwänden große, gerahmte Bilder von erfolgreichen Kampagnen und skandinavischen Werbeklassikern hingen. Auf den Schreibtischen standen große iMacs mit Zusatzbildschirmen.

An einem dieser Tische saß Maja mit einer Tasse Tee, kaute auf einer Haarsträhne und klickte sich durch einige der Bilddateien, die von der Fotoagentur gekommen waren. Es handelte sich um hochauflösende Bilder von privaten Ferienhäusern an der Küste und kurze Videoclips. Sie waren im Sommer mit Drohnen aufgenommen worden und sollten nun in die Website einer Firma eingefügt werden, die die Ferienhäuser vermietete. Davon gab es reichlich an der Küste – Ferienhäuser wie auch Vermieter, kommerzielle und private. Manche Dänen kauften sich Ferienhäuser, die sie zeitweise selbst nutzten und zu anderen Zeiten zur Miete anboten, worum sich spezialisierte exklusive Agenturen kümmerten, für die Maja gerade arbeitete.

Emma war im Kindergarten. Maja würde sie dort später abholen – Siljes Einsatz war heute nicht nötig. Und die Sache mit dem merkwürdigen Mann von gestern Nacht war für Emma kein Thema mehr gewesen. Sie hatte es nicht mit einem Wort erwähnt – nicht beim Aufstehen, nicht beim Frühstück und nicht auf dem Weg in den Kindergarten. Was Maja für ein gutes Zeichen hielt, aber – wie bei Kindern üblich – längst nicht bedeuten musste, dass das Thema erledigt war. Vielleicht würde Emma in drei Tagen wieder von dem Mann reden, vielleicht sogar schon heute Abend oder auch gar nicht mehr.

Lars kam herüber und warf Maja einen Blick über die Schulter.

»Was haben die benutzt?«, fragte er mit einem Blick auf Majas Computerbildschirm, der einen gestochen scharfen Rundumflug um ein Haus aus der Vogelperspektive zeigte.

»Eine Drohne?«, erwiderte Maja. »Sie haben wohl kaum einem der Stare eine GoPro-Kamera auf den Rücken geschnallt, oder was meinst du?«