9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Truck Robbery und Polizistenmorde an der winterlichen Nordseeküste – und ein Showdown auf dem überfrorenen Wattenmeer, zwischen mannshohen Eisblöcken bei einsetzender Flut … Die SOK um Femke Folkmer und Tjark Wolf folgt scheinbar unzusammenhängenden Spuren in ein Dickicht aus Korruption, Verrat und Mord und lässt den Leser von Puzzlestück zu Puzzlestück miträtseln. Schaurig-schöne Winterstimmung sorgt dabei für die richtige Atmosphäre. Alle Nordsee-Krimis des ostfriesischen Ermittler-Duos "Femke Folkmer & Tjark Wolf Reihe" von Sven Koch auf einen Blick: Band 1 - Dünengrab Band 2 - Dünentod Band 3 - Dünenkiller Band 4 - Dünenfeuer Band 5 - Dünenfluch Band 6 - Dünenblut
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 461
Sven Koch
Kriminalroman
Knaur eBooks
Ein ungeheuerlicher Verkehrsunfall mit mehreren Toten stellt die Autobahnpolizei Friesland-Wilhelmshaven vor ein Rätsel. Hat eine raffinierte, hoch professionell organisierte Bande tatsächlich versucht, während der Fahrt bei Tempo 120 einen Transporter auszurauben? Schwer vorstellbar. Doch die Spuren lassen sich kaum anders interpretieren. Kriminalhauptkommissar Tjark Wolf und Femke Folkmer stecken tief in den Ermittlungen um eine Mordserie an Polizisten, als sie von der Autobahnpolizei hinzugezogen werden und eine erschreckende Entdeckung machen …
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
Nachwort und Danksagung
Der Winter war ungewöhnlich hart und kalt. Seit Ende November, deutlich vor seinem meteorologischen Beginn, war das Thermometer nur an wenigen Tagen über null Grad gestiegen. Sehr viel häufiger fielen die Temperaturen sogar in den zweistelligen Minusbereich. Mancherorts in Deutschland lag der Schnee über einen Meter hoch. Die Medien befürchteten den Beginn einer neuen Eiszeit, schrieben wochenlang über Schnee- und Eischaos, über ausgehendes Streusalz, explodierende Heizkosten, ausbleibende Winterdienste und befragten Wetterforscher, ob der Klimawandel nun alles ausradieren würde. Immerhin standen weiße Weihnachten bevor. Nur ein plötzlicher Sommereinbruch von mehreren Tagen Dauer könnte Deutschland auftauen. Aber danach sah es nicht aus. An der Küste schon gar nicht, die in diesen Tagen und Wochen eher an Grönland erinnerte. Der stete Wind sorgte dafür, dass jede Menge arktische Luft aus Skandinavien herangepumpt wurde, was sich anfühlte, als befände man sich am Nordpol. Die Siele und Seen hatten sich längst in Schlittschuhbahnen verwandelt. Auf der einen Seite der deutschen Küste waren Teile der Ostsee gefroren. Auf der anderen Seite der Küste lag das Wattenmeer unter Eis. Beides geschah nur äußerst selten, und wer durch die Tag für Tag mit Eisbrechern freigeschaufelten Fahrrinnen mit einer Fähre nach Wangerooge fuhr und an Seehundbänken vorbeikam, musste sich wie ein Polarforscher fühlen.
Der Schnee lag hoch – fast einen halben Meter, seit vor zwei Wochen ein regelrechter Blizzard über die Küste gefegt war und den Verkehr komplett lahmgelegt hatte. Nichts ging mehr. Häfen, Fährrinnen, Autobahnen, Landstraßen – alles zugefroren. Einige Ortschaften und die Inseln waren komplett von der Außenwelt abgeschnitten, Strommasten umgestürzt, Sendeanlagen tiefgefroren worden. Zeitweise gab es weder Strom noch Telefon oder Internet, was in den größeren Städten schnell behoben werden konnte, in den kleineren Orten jedoch deutlich länger dauerte. Der Schneesturm hatte den Norden regelrecht ins Mittelalter zurückgefegt, wenigstens für ein paar Tage, und er hatte eine bizarre Landschaft hinterlassen. Eisberge an Küsten und Stränden, weil der Sturm die Schollen bis zu zwei Meter hoch übereinandergeschoben hatte. Auf den Inseln wirkten die Dünen wie Salzberge. Die Bäume am Festland waren vereist und sahen aus wie mit Zuckerguss überzogen. An den Ästen wuchsen die Eiszapfen wegen des beständigen Windes von der See beinahe horizontal. Als habe ein Eisriese tief eingeatmet und über Ostfriesland hinweggepustet. Als habe die Schneekönigin selbst das Land mit einem Fluch gebannt. Im hellen Mondschein in einer klaren Nacht wie heute sah das glitzernde Land einfach zauberhaft aus.
Wie aus irgendeiner Sage oder einem Fantasyfilm, dachte Tom Jorgenson und schwitzte. Seine Hände waren klatschnass. Was nicht gut war. Also starrte er weiter aus dem Seitenfenster in die Landschaft und versuchte, sich abzulenken und an gar nichts zu denken – allenfalls an die Wintermärchen seiner Kindheit, was beruhigend auf ihn wirkte.
Jorgenson schwitzte aus zwei Gründen. Erstens war es im Wagen sehr warm und er extrem dick angezogen. Jorgenson trug gefütterte Stiefel, eine Skihose und darunter eine Joggingleggings, einen Pullover, zwei Fleecejacken übereinander und eine Hardshelljacke sowie eine Strickmütze und Handschuhe. Die Gesichtsmaske aus Fleece und die LED-Stirnlampe lagen auf seinem Schoß. Er würde die Lampe brauchen, um etwas zu sehen, und die Maske gegen den Fahrtwind überstreifen, wenn er gleich in die Kälte musste. Das war der zweite Grund für sein Schwitzen, denn … Nun, es war zwar im Grunde alles ganz einfach, aber extrem gefährlich. Ganz gleich, bei welchem Wetter und trotz aller Routine. Es war lebensgefährlich. Weswegen Tom Jorgenson der richtige Mann für den Job war.
Jorgenson zurrte den Gurt fest, der am einen Ende in dem Sicherungsharnisch eingehakt war und den Jorgenson über der Jacke trug. Wie der eines Bergsteigers oder Fallschirmspringers. Am anderen Ende war der Gurt mit einem schweren Karabinerhaken in einer Öse im hinteren Fußraum des Autos arretiert. Jorgenson hatte sie eigenhändig dort angeschweißt.
»Was willst du mit dem Scheiß?«, hatte Torgo gefragt, als Jorgenson mit dem Werkzeug und dem Schweißgerät ankam.
»Was soll ich mit einem Sicherungsgurt und einer Öse wollen, Blödmann«, war Jorgensons Antwort gewesen. Torgo war nicht der Hellste. Aber auch nicht der Dämlichste. Außerdem war er Profi auf seinem Gebiet und hatte früher Rennen gefahren. Sagte er jedenfalls.
»Wozu die Sicherung? Das nimmt doch alles nur Platz weg. Das schränkt die Beweglichkeit ein. Ich denke, du bist Profi.«
»Genau deswegen«, hatte Jorgenson gesagt und sich mit dem Schweißgerät an die Arbeit gemacht.
Nun beugte er sich nach vorne und legte den Ziehfix auf den Schoß. Das mechanische Gerät sah im Grunde aus wie eine Luftpumpe und war schwer. Man schraubte es mit der Spitze in ein Türschloss und zog dann mit Kraft ein Gewicht nach hinten. Die Energie sorgte dafür, dass der komplette Schlosszylinder aus der Verankerung gerissen wurde. Jorgenson fühlte den Druck unter den Sicherungsgurten an der Brust. Direkt über dem Herzen. Es war der Knauf einer Waffe. Torgo bestand darauf, dass sie bei der Arbeit immer eine trugen. Was Jorgenson für Schwachsinn hielt. Jedenfalls für seinen Part kompletter Unfug. Was sollte er damit? Dennoch beugte er sich Torgos Anweisung. Torgo war der Boss.
Jorgenson warf einen Blick auf das Armaturenbrett, das vor Torgo in blauen Farben glühte. Der Wagen fuhr hundertzwanzig Stundenkilometer. Mit ausgeschaltetem Licht. Durch die Windschutzscheibe waren die roten Rückleuchten des Transporters zu erkennen. Wenige Augenblicke später auch die Hecktür und der Firmenaufdruck. Dann sagte Torgo, unter dessen Mütze und halb im Backenbart versunken das Kabel eines Headsets zu erkennen war: »Fertigmachen. Geht los.«
Jorgenson nickte. Paul auf dem Rücksitz nickte ebenfalls. Sie nannten ihn Paul, weil niemand wusste, wie er wirklich hieß. Der schmale Kerl stammte aus Rumänien. Seine Augen waren kalt und schwarz wie die Nacht. Er verstand kaum Deutsch, aber genug, um sich zu strecken und das Dachfenster zu öffnen. Sofort füllte sich der Innenraum mit lautem Rauschen und eisiger Kälte.
Torgo hielt per Headset und Handy in einer Konferenzschaltung die Verbindung mit den beiden anderen Wagen. Dem Bremser und dem Blocker. Der Bremser rollte gerade vorbei. Überholte fast gemütlich, um nicht aufzufallen. Niemand sollte denken, dass er es besonders eilig hätte. Er passierte den Transporter, blinkte artig rechts und setzte sich vor ihn. Vollkommen unauffällig. In noch gemütlicherem Tempo zuckelte der Blocker heran, der ein Ausbrechen oder Überholen des Transporters verhindern sollte und sich deswegen in aller Ruhe auf der Überholspur links neben ihn begab. Wahrscheinlich zeigte sein Tacho gerade mal fünf Stundenkilometer mehr an als der des Transporters. Schließlich erhöhte Torgo leicht das Tempo. In dem Moment, in dem der Transporterfahrer im Außenspiegel vermutlich von den Lichtern des auf der Überholspur herangleitenden Blockers irritiert wurde.
Torgo drosselte das Tempo wieder, als sie den Windschatten des Lieferwagens erreichten und sie nur noch etwa drei Meter von dessen Stoßstange trennten. Sekündlich schrumpfte der Abstand. Zwei Meter fünfzig. Zwei Meter. Immer noch bei Tempo hundertzwanzig. Lebensgefährliche Millimeterarbeit, von der vor allem ein Leben abhängen würde: Jorgensons.
Jorgenson zog die Skimaske über. Er zog die Stirnlampe darüber und schaltete sie ein.
»Go«, sagte Torgo konzentriert und starrte nach vorne wie die Schlange auf ein Kaninchen.
Jorgenson richtete sich auf und nahm den Ziehfix in die linke Hand. Mit der anderen griff er durch das geöffnete Dach und zog sich ein wenig umständlich hoch, bis er mit den Stiefeln auf dem Sitz stand. Er drückte sich aus der Hocke nach oben, mit dem Kopf und dem Oberkörper aus dem Dachfenster hinaus. Der eiskalte Fahrtwind ließ sein Gesicht selbst im Windschatten und trotz der Skimaske sofort taub werden. Jorgenson zog sich weiter hinauf, bis er schließlich oben auf dem Dach hockte. Er schob die Beine nach vorn. Halb im Liegen ließ er sich mit den Füßen voran die Windschutzscheibe hinabgleiten und spürte den Zug am Sicherungsgurt.
»Wie beim Bergsteigen«, hatte er Paul eingebleut. »Du hältst das Seil und gibst Leine, Stück für Stück.«
Was Paul schließlich kapierte, nachdem Jorgenson es ihm einige Male vorgemacht hatte. Inzwischen war Paul ziemlich gut darin. Man konnte sich auf ihn verlassen. Blieb auch nichts anderes übrig.
Dann berührte das Profil der Sohlen die Motorhaube. Für den besseren Halt war sie mit mehreren Streifen aufgerauhtem Textilband beklebt. Jorgenson fühlte die Vibration darunter. Er schob die Beine etwas auseinander. Für eine stabilere Position. Dennoch war es eine verdammt wacklige Angelegenheit. Der Wind presste sich gegen den Körper. Es war schwer, Balance zu halten. Nur eine plötzliche Lenkbewegung, und er wäre Geschichte. In diesem Moment erwischten die Reifen eine Unebenheit auf der Fahrbahn. Es gab einen Schlag unter Jorgensons Füßen. Es fühlte sich an wie in einem Jet, der in ein Luftloch stürzte. Jorgenson keuchte, spreizte die Arme. Der Magen sackte ihm in die Knie. Für einen Moment dachte er, er würde stürzen, fing sich aber und brachte seinen Körper unter Kontrolle. Er wartete ein paar Sekunden, um wieder ruhig zu werden. Dann brachte er den Ziehfix nach vorn. Nicht ganz einfach, mit dem Gerät unter diesen Bedingungen zu hantieren. Es sei denn, man war es gewohnt wie Jorgenson, der nun auf die Knie rutschte und sich gebeugt auf allen vieren voranarbeitete, bis er das Ende der Motorhaube erreicht hatte. Für einen Moment blickte er nach unten. Sah das Schwarz der Straße in dem noch verbleibenden schmalen Zwischenraum zwischen den beiden Stoßstangen. Schließlich blickte er wieder auf. Er kniete sich in eine stabile Position – beinahe wie ein Ritter, der den Ritterschlag erhalten soll. Ein Knie fest auf der Motorhaube, das andere etwas abgewinkelt. Er hob den Ziehfix – und jetzt kam der kritische Moment, in dem er das Gewicht ausbalancieren musste. Er streckte die Arme aus. Er setzte die Spitze des Geräts am Schloss der Hecktür im Windschatten des Transporters an.
Kaum zwanzig Sekunden nachdem Tom Jorgenson wie ein Schlangenmensch aus dem Dachfenster gekrochen war, machte er eine kräftige Bewegung und knackte das Schloss. Alles eine Frage des richtigen Werkzeugs, der Routine und der Motivation.
Das Motivierende wartete im Innenraum des Transporters, den Jorgenson nun von Torgos Motorhaube aus öffnete und der vom roten Schein der Rücklichter und dem weißen der Stirnlampe ausgeleuchtet wurde. Er öffnete die Tür so weit, bis eine automatische Sicherung griff und sie nicht wieder zufallen würde. Wozu Jorgenson sich recht weit nach vorne lehnen und sein Übergewicht ausbalancieren musste. Eine falsche Bewegung von ihm oder von Torgo am Steuer oder vom Fahrer des Transporters: Sayonara, Tom Jorgenson. Und alles bei wahrscheinlich immer noch hundertzwanzig Stundenkilometern.
Aber Jorgenson machte keine falsche Bewegung, denn er kannte den Ablauf und hatte ihn sicher schon mehr als zwanzig Mal vollzogen. Das Gleiche galt für Torgo. Ebenfalls für Paul. Für den Fahrer des Transporters galt das natürlich nicht. Aber er würde keinen Schimmer von dem haben, was hinter ihm geschah. Es war fast ein Wunder, dass die Kerle nie etwas davon mitbekamen. Andererseits trennten drei Meter vollgestopfte Ladefläche und eine Wand die Fahrerkabine von jeglichem Geräusch. Vermutlich außerdem ein laut aufgedrehtes Radio, und irgendwelche komischen Fahrgeräusche gab es immer auf der Autobahn. Zumal: Wer rechnete schon damit, dass ihm in voller Fahrt der Wagen aufgebrochen wurde? Und Sicherungen, die wie irre piepten oder blinkten, wenn die Hecktür nicht richtig verschlossen war, hatten die meisten dieser Karren nicht.
Jorgenson hielt sich mit der Linken an der Tür fest. Er legte mit der Rechten den Ziehfix ab. Dann machte er einen Ausfallschritt und überbrückte die knapp vierzig Zentimeter, bis seine Sohle Halt auf dem Stoßfänger des Kleinlasters fand. Er verlagerte sein Gewicht – und stand im nächsten Moment im Inneren.
Jorgenson nahm den ersten der mit Laptops gefüllten Kartons. Er drehte sich und sah Pauls Umriss am Dachfenster, der wie ein Torwart die Arme ausbreitete und die behandschuhten Finger spreizte. Jorgenson sprang zurück auf die Motorhaube und warf Paul den Karton zu. Der fing ihn routiniert auf und ließ ihn durch das Dachfenster im Kombi verschwinden. Jorgenson sprang zurück in den Lieferwagen, in dessen Windschatten sich ganz gut arbeiten ließ. Dann kam der nächste Karton. Der übernächste. Und die weiteren. Wie in einer Maurerkette warf Jorgenson Paul ein Stück teure Technik nach der nächsten herüber und hüpfte zwischen der Motorhaube und der Ladefläche hin und her. Er ging behutsam vor, als wären die Kartons mit rohen Eiern gefüllt.
Waren sie natürlich nicht. Es befanden sich mobile Computer, Tablets oder X-Boxen, Digitalkameras oder was auch immer darin. Teurer Scheiß, den sie nachher abliefern und abkassieren würden. Und zwar Cash. Dreitausend bar auf die Hand für Jorgenson. Bei einem Gesamtwert einer Fuhre von fünfzigtausend Euro, wie er einmal überschlagen hatte. Daran gemessen waren dreitausend Euro zwar nicht allzu viel. Aber die übrigen Fahrer inklusive Paul und Torgo mussten ebenfalls bezahlt werden. Dann noch dieser oder jener, der im Hintergrund agierte. Und natürlich musste man sich vor Augen führen, dass das Zeug nicht für den vollen Ladenpreis zum Neuwert von fünfzigtausend Euro weiterverkauft wurde. Fünfzigtausend war die Versicherungssumme, die die bisherigen Eigentümer abkassierten. Ein Hehler nahm die Ware für die Hälfte ab. Insofern war die Gage von dreitausend Euro pro Fahrt unter dem Strich okay und deutlich mehr, als Jorgensons ansonsten an einem Abend verdienen konnte.
Torgo blendete einmal auf. Was der Transporterfahrer im toten Winkel niemals bemerken würde, war für Jorgenson das Signal, dass es jetzt reichte: Um einen kompletten Transporter auszuräumen, war nicht genug Platz im Kombi und ein Job von mehr als fünf Minuten zu riskant. Worauf Jorgenson den Ziehfix nahm und wiederum einen vorsichtigen Ausfallschritt auf die Kühlerhaube des Kombis machte und sich dort hinhockte. Er drehte sich um die eigene Achse, beugte sich nach vorn und schloss die Tür des Transporters. Schließlich kroch er über die Motorhaube in Richtung Windschutzscheibe, um Paul das Werkzeug anzureichen.
In diesem Moment hörte Jorgenson das merkwürdige Geräusch. So merkwürdig, dass er sofort begriff, dass etwas schiefgelaufen war. Es war eine Kombination aus einer Art Schrei, verbunden mit einem Kreischen und einem harten Aufschlag und Splittern. Alles Weitere ging dann so schnell, dass Tom Jorgenson nicht mehr darauf reagieren konnte.
Das Wildschwein gehörte zu einer der Rotten, die es sich in den letzten Jahren in Ostfriesland bequem gemacht hatten. Sie waren in den Norden gezogen, weil der immer intensivere Anbau von Mais sie anlockte. Beinahe zwei Drittel der Ackerflächen wurden mittlerweile für den Maisanbau genutzt, der lukrativ geworden war, da Mais den Rohstoff für Biogasanlagen bildete, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Ein Paradies für die Schwarzkittel, deren meist im Januar geborenen Jungtieren sich im Herbst ein randvoller Esstisch bot. Außerdem konnten sie sich in den hochstehenden Feldern erstklassig verstecken.
Das Wildschwein hatte sich auf der Suche nach Futter von der Rotte gelöst. Es hatte an einer verlassenen Hühnermastanlage herumgestöbert, aber nichts gefunden. Dann war es weitergelaufen, einige hundert Meter durch den Schnee gestapft. Es hatte einen Sprung über einen zugefrorenen Graben gemacht, war dann die Böschung hinaufgeklettert und unter der Leitplanke der Autobahn hindurch auf die Fahrbahn geschlüpft.
In der nächsten Sekunde starb das Wildschwein mehrere Tode fast gleichzeitig. Es bekam einen Herzinfarkt, als es in den Lichtkegel des Wagens rannte, der an der Spitze der Kolonne rund um den Transporter den Job des Bremsers erledigte. Sein Herz explodierte regelrecht und zahllose Knochen brachen, als der siebzig Kilo schwere Körper von der Front des Wagens erfasst durch die Luft und über das Autodach hinwegkatapultiert wurde. Einen Wimpernschlag später krachte es durch die berstende Windschutzscheibe des hinter dem Bremser fahrenden Transporters und wurde ins Gesicht von dessen Fahrer geschleudert. Siebzig kompakte Kilo, die den Mann trafen wie ein tonnenschweres Geschoss und seinen Oberkörper zerquetschten.
Hinzu kam, dass die Fahrbahn zwar gestreut, aber dennoch glatt war. Insbesondere der Seitenstreifen. Das führte dazu, dass der vom Aufprall als Erster getroffene Bremserwagen um die eigene Achse kreiselte, als der Fahrer instinktiv auf die Bremse trat. Heck und Motorhaube krachten gegen die Leitplanke, was dafür sorgte, dass der Wagen mit Wucht zurückgeworfen wurde und wie eine außer Kontrolle geratene Billardkugel über die Autobahn schleuderte.
Der dahinterfahrende Transporter bremste hingegen nicht. Dem Fahrer hatte es das Genick und den Schädel gebrochen, als das zerfetzte Wildschwein ihn erwischt hatte. Er war sofort tot. Der Transporter krachte folglich ungebremst und in voller Fahrt wie ein Rammbock gegen den quer über die Fahrbahn schlingernden Bremserwagen.
Die Gewalt des Aufpralls quetschte den eigentlich zwei Meter breiten Mondeo inklusive des Insassen auf einen halben Meter zusammen und wuchtete ihn um die horizontale Achse, wobei der Tank aufriss und Benzin durch die Luft spritzte wie ein Aerosol. Anschließend erwischte das zusammengepresste Wrack den Blocker und seinen Kangoo, der auf der Überholspur bislang keine Gelegenheit gehabt hatte, auf das Geschehen zu reagieren. Das, was einmal der Kofferraum des Mondeo gewesen war, krachte in die Front des Kangoo. Es verschmolz regelrecht mit dessen Motor, der dabei aus der Verankerung gerissen wurde und glühend heiß die Beine des Fahrers zerquetschte.
Die Geschwindigkeit des Transporters wurde beim Aufprall auf den Mondeo massiv gebremst. Außerdem hob das Heck ab. Weswegen Torgo, der keine Ahnung hatte, wie ihm oder was ihm gerade geschah, in voller Fahrt unter den Kleinlaster raste. Dann senkte sich das Heck des Transporters. Die rotierenden Hinterreifen brachen durch die Windschutzscheibe und erwischten Torgos Kopf. Der Stoßfänger schnitt Jorgenson, der sich noch halb auf der Motorhaube und halb auf der Windschutzscheibe befand, wie eine Guillotine in der Mitte durch, tötete ihn sofort und zertrennte dabei auch das Sicherungsseil. Paul, der noch aus dem Dachfenster lugte, wurde zurück in das Wageninnere geschleudert, durch den Laderaum des Kombis und aus der zerberstenden Heckscheibe katapultiert.
Das Knäuel aus Stahl, Blech und Gummi schlitterte in voller Fahrt gegen die beiden anderen Fahrzeuge, verkeilte sich mit ihnen und krachte gegen die Leitplanken, was den Oberkörper von Tom Jorgenson wie einen Sektkorken durch die Luft und auf das verschneite Feld fliegen ließ, in dem noch die Trippelspuren des Wildschweins zu erkennen waren. Fünfzig Meter weiter ging der Oberkörper nieder und blieb mit dem abgetrennten Teil des Rumpfes voran im Schnee stecken. Was es ein wenig so aussehen ließ, als habe sich Tom Jorgenson aufgerichtet, um sich das Spektakel auf der Autobahn anzusehen.
Dort entzündete sich gerade die mit Benzin gefüllte Dunstwolke in den umherstiebenden Funken der Autowracks. Eine gewaltige Verpuffung ließ sie in einem glühenden Feuerball verschwinden, der die stille, weiße ostfriesische Landschaft für einen Moment in orangefarbenes Licht tauchte und damit einem atemberaubenden Sonnenuntergang glich. Mit Tom Jorgenson als einsamem Betrachter, der – zugegeben – nicht bei der Sache zu sein schien.
Tjark starrte in die Glühbirne. Dann sah er wieder fort und blinzelte. Die grellen Phantombilder auf der Netzhaut verbanden sich mit dem Licht der Neonreklame hinter der Theke zu einem psychedelischen Gemisch. Ein Bild mit umso grelleren Farben, weil sich die Farbschlieren mit der Wirkung einiger Gin Tonics und Wodkas verbanden. Tjark wischte sich über die Augen und legte die Handflächen auf dem Tresen ab. Er fixierte seine Fingernägel. Meinte am Ringfinger eine kleine Vertiefung wahrzunehmen. Genau dort, wo sich noch vor einigen Jahren der Ehering befunden hatte. Er starrte auf die drei Schnapsgläser vor sich, die sich leicht zu bewegen schienen. Er lauschte dem Klang aus den Boxen im Hintergrund und rang damit, das Gerede der beiden Vollidioten neben sich weiterhin zu ignorieren.
Es war mittlerweile zwei Uhr morgens, und die Kneipe namens Lindenort hatte sich schnell geleert, nachdem die zwei Schwachköpfe sie betreten hatten. Beiden stand das Wort »Ärger« geradezu auf die Stirn tätowiert. Dem mit dem Bart und dem mit der Glatze. Dabei war die Kneipe Tjark eigentlich wie ein guter und ruhiger Ort vorgekommen, um sich systematisch abzuschießen. Eine kleine Eckkneipe, die aussah, als werde sie vorwiegend von Fachleuten aufgesucht. Profis, die morgens schon herkamen, wenn sich ihre Tankanzeige nach der Nacht im roten Bereich befand. Ein kleiner Laden, der nach kaltem Bier und Zigaretten roch und in dem es eine lange Theke aus dunklem Holz und ein paar Sitzecken aus ebenfalls dunklem Holz gab, wo an den Wänden Gemälde von der See in schweren Rahmen hingen und Andrea Berg in Endlosschleife lief – allenfalls unterbrochen von Helene Fischer. Tjark war sich nicht sicher, welche von beiden das kleinere Übel war, und hatte überlegt, ob es sich bei den beiden wie früher mit den Ärzten und den Toten Hosen verhielt. Man stand entweder auf die einen oder die anderen. Beides gab es nicht.
In einer Ecke hatte eine Frau gesessen. Allein und in einem roten Kleid. Nicht billig, nicht teuer. Gepflegt und adrett. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte sich neben Tjark gestellt. Ihr Name war Reinhild und ihr Alter nach seiner Einschätzung knapp über fünfzig Jahre. Seit vermutlich der Hälfte dieses halben Jahrhunderts, nahm Tjark an, besaß sie einen Ausweis für diesen speziellen Klub, der abwechselnd von den Herren Jim Beam und Jack Daniels geleitet wurde. Ein Klub, dessen Mitglieder für einen spendierten Drink umso mehr zu tun bereit waren, je länger ihre Mitgliedschaft andauerte. Vielleicht hielt sie Tjark für eine »Barfly«, die neu in der Stadt und neu in ihrem Stammschuppen war. Jemanden, den sie abchecken wollte. Vielleicht hoffte sie darauf, dass er sie später mit nach Hause nahm. Vielleicht ging es ihr aber nur darum, dass man in Gesellschaft besser trank als alleine und mit etwas Glück noch den einen oder anderen ausgegeben bekam. Obwohl sie schon mächtig einen geladen hatte, war sie keine der unangenehmen Kneipenbekanntschaften und nicht aufdringlich. Jemand, der lediglich dezent signalisierte, dass er in alle Richtungen offen war, was das Ende dieses Abends anging, und jemand, der routiniert und professionell mit seinem Suff umzugehen wusste. Die Macht der Gewohnheit eben.
Sie hatten über Gott und die Welt geredet – die Lieblingsthemen an jeder Theke. Mit dem Ergebnis, dass die Welt schlecht und Gott wahrscheinlich nicht vorhanden und in jedem Fall großartig im Wegsehen war, falls es ihn denn doch gab. Reinhild hatte außerdem von Mallorca erzählt, wo sie einmal an der Playa del Inglés eine Bar besessen habe und bald wieder eine eröffnen wolle. Das sei eine großartige Idee, war Tjarks Antwort gewesen. Er hatte dabei nicht kommentiert, dass die Playa del Inglés eher ein Teil von Gran Canaria war und Tausende Kilometer von Mallorca entfernt lag.
Schließlich war die Tür aufgegangen und hatte die beiden Kerle hereingeweht. Zwei große Typen mittleren Alters mit jeder Menge Alkohol im Blut und ziemlich wenig Anstand in den Knochen. Der etwas älter wirkende von beiden trug die Glatze. Der andere den Bart – ein Bart allerdings, der von uneinheitlichem Wuchs zeugte und damit recht spillerig aussah. Sie nahmen sofort den gesamten Laden in Anspruch, was die vebliebene Handvoll Gäste zügig vertrieb. Sie wollten keine Konfrontation. Sie wollten lieber ihre Ruhe, worauf die beiden Typen allerdings nicht programmiert zu sein schienen. Tjark blieb sitzen. Und Reinhild neben ihm. Er hatte ebenfalls kein Interesse an Ärger. Er wollte ebenfalls lieber seine Ruhe, hatte aber andererseits nicht im Geringsten die Absicht, sich von irgendwelchen Hornochsen mit großer Klappe bei der Arbeit stören zu lassen, die in Form von drei bis zum Eichstrich mit Wodka gefüllten Schnapsgläsern vor ihm stand.
Allerdings war es beim Wunschdenken geblieben.
Glatze und Bart hatten begonnen, Reinhild zu befummeln, anzügliche Bemerkungen zu machen und Tjark mit blöden Sprüchen zu provozieren. Witze über ihn zu machen, nach dem Motto: Die Pfeife bekommt ihn eh nicht mehr hoch, ganz im Gegensatz zu uns, Süße. Oder: Ist das ein Kinnbart oder das Fell von einem Rauhhaardackel in seinem Gesicht? Was Tjark an sich nichts weiter ausmachte. Vor allem nicht, wenn solche Sprüche von Glatzköpfen ohne Gehirn kamen oder Torfnasen, denen es an Testosteron für einen ordentlichen Bartwuchs mangelte. Zudem brauchte man als Polizist ein extrem dickes Fell, weil man andauernd provoziert und beschimpft wurde. In Tjarks Fall war es mit diesem Fell allerdings wie mit Eisdecken: Es war manchmal dicker und manchmal, heute zum Beispiel, sehr viel dünner. Deswegen ging nicht alles vollkommen spurlos an Tjark vorbei, und, wie man so sagt: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Die Kerle pöbelten immer heftiger herum und begannen damit, auch den Barmann anzumachen, der schließlich mit der Polizei drohte. Was Tjark kurzfristig zu einem schwachen Lächeln veranlasste. Worauf Glatze fragte, was es denn da so dumm zu grinsen gebe. Tjark überlegte, ob er einfach kommentarlos den LKA-Ausweis auf den Tisch legen sollte, entschied sich aber dagegen. Das hier war seine Privatsache, und es würde außerdem nicht gerade das beste Bild auf die Polizei werfen, wenn man sich mit zwei Komma fünf Promille im Blut in einer billigen Kaschemme als Kriminalhauptkommissar outete. Es würde außerdem nicht das beste Licht auf den eigenen Charakter werfen, wenn man es für nötig befand, die Marke oder den Ausweis wie einen Schutzschild zu nutzen, und seine persönlichen Angelegenheiten nicht anders klären konnte.
Tjarks Lächeln gefror und verschwand schließlich vollständig, als Glatze sich zwischen Tjark und Reinhild drängte und Reinhild den Vorschlag machte, ihr jetzt und gleich eine Flasche Korn zu spendieren, wenn sie auf den Tresen steige und den Verschluss mit ihrer Muschi aufdrehe. Und Bart sie mit einem Griff zwischen die Beine fragte: »Du hast doch eine, oder bist du ’ne Transe?«
Tjark ließ die drei Gläser vor sich nicht aus den Augen. Als die Farbschlieren verschwunden waren und er der Meinung war, dass die Gläser sich vor seinen Augen nicht mehr bewegten, sagte er ruhig und ohne aufzublicken: »Ihr solltet jetzt gehen. Beide.«
Worauf die Typen sich in Bewegung setzten. Aber nicht, um zu gehen. Sie bauten sich stattdessen neben Tjark auf und nahmen ihn regelrecht in die Zange. Was Reinhild die Chance gab, sich zurückzuziehen. Glatze zog sich demonstrativ die Hose hoch, um noch imposanter zu wirken. Bart rollte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück. Wie ein Boxer. Aus den Augenwinkeln nahm Tjark wahr, dass der Barmann zum Telefon griff. Der Mann kannte sich aus und ahnte nicht nur, was hier jeden Moment passieren konnte. Er wusste es. Dennoch zögerte er und schien der Sache noch eine allerletzte Chance geben zu wollen.
Bart fragte: »Und was hast du Dösbaddel hier zu melden? Mister Superheld, oder was?«
Tjark sagte nichts und starrte weiter vor sich hin.
Glatze sagte: »Mein Freund hat dich was gefragt, du Lutscher.« Und untermalte den Satz damit, dass er Tjark mit der flachen Hand an den Hinterkopf schlug.
»Bist du zu fein, um mit mir zu reden?«, fragte Bart. »Hältst mich wohl für ein Arschloch, wie?«
Glatze ditschte Tjark erneut an den Hinterkopf und fragte: »Hast du gerade Arschloch zu meinem Freund gesagt, du Heiopei? Dir ist doch wohl klar, was das heißt, ne? Wer A sagt, der muss auch B sagen. Und weißt du, wofür B steht?«
Tjark sog die Luft tief durch die Nase ein. Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was ihm Dr. Kevin Schröder damals in den therapeutischen Pflichtsitzungen beim Deeskalationstraining immer wieder gesagt hatte. Schröder, der Polizeipsychologe. Er hatte Tjark vorgeschlagen, den Ärger anderer nicht zu seinem eigenen zu machen. Schröder hatte erklärt, dass aus solcher Wut Aggressionen erwachsen konnten. Diese Aggressionen konnten unterschiedliche Dimensionen und Formen annehmen. Diese verschiedenen Aggressionstypen machten jeweils darauf angepasste Lösungsansätze erforderlich. Wozu Schröder das Bild von den nervigen Spatzen bemüht hatte, auf die man mit Kanonen schoss, was eine unverhältnismäßige Reaktion wäre. Schröder hatte außerdem erklärt, dass Interaktion stets ein Weg war, auf alle möglichen Verhaltensweisen zu reagieren, und dass es erheblich zur gegenseitigen Stressbewältigung beitrug, wenn man mit dem Gegenüber eine gemeinsame Sicht auf das jeweilige Problem entwickelte, um es zu lösen.
Weswegen Tjark nun aufblickte, sich auf dem Barhocker zur Seite wandte und Glatze den nach seiner Meinung besten Lösungsansatz des gemeinsamen Problems vorschlug, indem er seine Frage nach dem Buchstaben B gewissenhaft beantwortete.
Tjark sagte: »Ich glaube, B steht für Blöde Hackfresse. Eventuell für Bekloppter Vollidiot, bin mir aber nicht ganz sicher.«
Glatze war mit der Antwort augenscheinlich nicht einverstanden. Absolut nicht. Er sah Tjark etwa vier Sekunden lang an. Dann packte er Tjark am Kragen und zog ihn mit einem Ruck halbwegs über den Tresen. Was zur Folge hatte, dass einige Gläser zu Bruch gingen, darunter auch die drei von Tjark, und der Barmann sich nun endgültig veranlasst sah, das Telefon zu benutzen und die Polizei zu rufen.
Glatze zog Tjark dicht zu sich heran und zischte: »Du nennst mich Hackfresse und Vollidiot?«
Tjark dachte an das Naturgesetz, das er auf der Straße gelernt hatte, wo er aufgewachsen war. Es lautete: Wenn ein Gewitter aufzieht, gibt es Donner, Blitze und Regen. Daran konnte man nichts ändern. Höchstens weglaufen, um sich unterzustellen. Oder klatschnass werden. Tjark war niemand, der weglief. Nicht immer klug, aber auch nicht zu ändern.
»Es war das Freundlichste, was mir einfiel«, erwiderte Tjark und klang etwas angestrengt, weil der Griff am Hemdkragen ihm etwas die Luft abschnürte.
»Dich mach ich fertig, Motherfucker.«
Tjark fragte: »Mutterficker?«
»Irgendwas daran auszusetzen, Mutterficker?«
Schlagartig fühlte Tjark sich nüchtern. Er hatte das Gefühl, ihm sei kochendes Wasser injiziert worden. Denn es war so: Niemand beschimpfte seine Mutter. Weder direkt noch indirekt oder wie auch immer. Gar keiner und niemals. Erst recht nicht an einem Tag wie heute. Heute war ihr Geburtstag. Oder besser: Es wäre ihr Geburtstag gewesen, wenn sie nicht vor vielen Jahren von einer Fähre in Dänemark gefallen und in der Nordsee ertrunken wäre. Gestürzt oder … gestoßen oder gesprungen. Ihr Geburtstag war der Anlass, aus dem Tjark hierhergekommen war, um sich gezielt zu besaufen und an sie zu denken. Was ein Wort wie Mutterficker nachhaltig beeinträchtigte.
Tjark sah die groben Poren auf der Nase des Kerls. Kleine Schweißtropfen. Dann beantwortete er höflich Glatzes Frage: »Ich habe etwas an dem Wort auszusetzen. Mir gefällt die Reihenfolge der Buchstaben nicht.«
Im nächsten Moment ließ er den Kopf vorschnellen und rammte Glatze die Stirn auf die Nase. Sie brach mit einem widerlichen Knirschen. Worauf Glatze Tjark losließ und sich die Hände vors Gesicht hielt, um den blutigen Sturzbach zu stoppen. Zeitgleich glitt Tjark vom Tresen herab und kam auf die Füße. Er riss das rechte Knie hoch und rammte es Glatze in die Weichteile. Worauf dieser sich mit einem Keuchen zusammenkrümmte und Tjark den Nacken als erstklassige Zielscheibe für einen harten Faustschlag darbot. Zwei Sekunden später lag Glatze jammernd und schnaufend und blutend am schmutzigen Boden, wo er sich nach Tjarks Meinung ausgezeichnet machte. Er überlegte, ob er Glatze mit einem herzhaften Tritt ins Gesicht das Licht komplett ausknipsen sollte. Denn das Gesetz der Straße besagte außerdem: Lass keine halben Sachen liegen. Aber er überlegte einen Moment zu lange, denn schließlich war da noch der andere Kerl.
Bart stürzte mehr nach vornüber, als dass er zuschlug. Was dem Hieb umso mehr Wucht verlieh. Er erwischte Tjark mit der Faust halb am Kinn und halb an der Unterlippe, was Tjark fällte. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Stuhl und hörte die Englein singen. Als er wieder zu sich kam, konnte er nicht einschätzen, ob sie nur eine Strophe oder ein ganzes Requiem geträllert hatten. Das Nächste, was er hörte, war jedenfalls ein Gewirr aus lauten Stimmen und metallisches Krächzen. Irgendjemand packte ihn hart an den Aufschlägen der Jacke und richtete ihn wieder auf. Worauf Tjark mit wankenden Beinen zum Stehen kam.
Nachdem sich sein Blick einigermaßen geklärt hatte, erkannte er drei Polizisten. Allesamt in dicken Jacken und Mützen. Das Krächzen kam aus Funkgeräten. Durch die Fenster blitzte Blaulicht ins Innere der Kneipe. Und der Kerl, der ihn wieder aufgerichtet hatte, stellte sich als Polizistin heraus. Groß und schlank und mit langen blonden Haaren, die zu einem Zopf geflochten waren. Im ersten Moment dachte er, Femke stünde vor ihm. Im zweiten war ihm klar, dass das nicht der Fall war.
»Geht’s wieder?«, fragte die Beamtin.
Ihre Kollegen waren mit den beiden anderen Männern und dem Barmann beschäftigt. Sie redeten laut durcheinander und gestikulierten. Immer wieder wurde auf Tjark gezeigt. Ein weiterer Polizist unterhielt sich mit Reinhild. Deutlich ruhiger.
»Hallo?«, fragte die Polizistin und verrenkte sich ein wenig, um Tjark tief in die Augen zu schauen. »Alles okay? Sagen Sie mir bitte mal Ihren Namen?«
Tjark wusste, dass sie ihn deswegen so intensiv ansah, weil sie feststellen wollte, ob seine Pupillen okay waren. Harter Schlag an den Hinterkopf, Bewusstlosigkeit – das konnte mindestens eine Gehirnerschütterung sein.
»Tjark Wolf«, sagte Tjark und rieb sich den Hinterkopf. Sein Schädel dröhnte.
»Und welchen Tag haben wir? Wissen Sie das?«
Der Geburtstag seiner Mutter. Eigentlich. Was Tjark aber nicht sagte. Er nannte stattdessen den Wochentag.
Die Polizistin nickte. »Fühlen Sie sich in Ordnung, Herr Wolf?«
»Wie das blühende Leben.«
Sie nickte erneut, ohne zu lächeln. Tjark sah, dass sie Latexhandschuhe trug und ihm damit jetzt ein Tempotaschentuch reichte.
»Ihre Lippe ist aufgeplatzt«, sagte sie. »Das muss sicher genäht werden.«
Tjark nahm das Tuch an, tupfte sich den tauben Mund ab und musterte das rot getränkte Tempo. Er hatte ein Déjà-vu wegen der Lippe und dem Nähen und dachte an einen anderen Faustschlag zu einer anderen Jahreszeit und versuchte, das Namensschild an der Jacke der Beamtin zu entziffern. Was ihm nicht gelang.
»So, was war denn hier genau los, Herr Wolf?«, fragte sie, und Tjark gab ihr seine Sicht der Dinge wieder.
Erneut nickte sie und fragte ihn, ob er sich ausweisen könne. Tjark gab ihr seinen Personalausweis und außerdem seinen Dienstausweis – wohl wissend, dass das Stress nach sich ziehen würde. Andererseits hätten sie es sowieso herausgefunden, nachdem sie den Computer in ihrem Dienstwagen mit seinen Daten gefüttert hatten. Die Polizistin musterte beide Ausweise. Sie lupfte eine Braue und sah kurz zu ihren Kollegen, als wolle sie ihnen etwas mitteilen, entschied sich im letzten Moment aber dagegen und wandte sich wieder zu Tjark. Unentschlossen wedelte sie mit den Ausweisen herum, presste den Mund zu einem Schlitz zusammen und sagte: »Hm.«
Sie gab Tjark die Ausweise zurück. Er steckte sie beide ein.
»Herr Wolf, Sie wissen schon, dass ich …« Sie machte eine Geste.
Die Personalien aufnehmen und ihn möglicherweise mit zur Wache nehmen, dachte Tjark. Es würde eine Anzeige gegen ihn geben. Vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich eher nicht, falls weder der Barmann noch der Bart oder die Glatze davon Wind bekamen, dass Tjark ein Kripobeamter des Landeskriminalamts Niedersachsen war. Eher doch, wenn sie davon Wind bekamen. Und Tjark nahm an, dass die Kollegin genau das verhindern wollte. Denn jeder Kollege kannte den Scheiß. Herumschreierei wegen Polizeigewalt, durchgedrehte Rechtsanwälte, nervende Journalisten, irrsinnige Debatten im Netz, interne Ermittlungen und so weiter. Ohne seinen LKA-Hintergrund war das hier nur eine kleine Auseinandersetzung. Mit LKA-Hintergrund könnte ein Mordsballon aus der Schlägerei werden, und die Beamtin sowie ihre Kollegen würden mit hineingezogen.
Sie seufzte. »Sie haben sich also mit der Dame unterhalten, worauf die beiden Herren die Frau angingen, und Sie sind eingeschritten. Daraufhin kam es wegen Missverständnissen unter Alkoholeinwirkung zu Beleidigungen und dann zu Handgreiflichkeiten. Der Wirt bestätigt diese Aussage. Frau Neumann bestätigt das ebenfalls.«
Neumann, so hieß Reinhild offenbar mit Nachnamen.
Die Polizistin fuhr fort: »Die beiden anderen Herren bestätigen das im Grundsatz, sehen die Schuld aber nicht bei sich. Was eigentlich gleichgültig ist, wenn jetzt einfach alle beruhigt wieder nach Hause gehen und ihren Rausch ausschlafen. Ist alles so abgelaufen?«
Tjark nickte. »So ist es abgelaufen.«
»Wollen Sie eine Anzeige gegen jemanden erstatten?«
»Nein.«
»Der Wirt ebenfalls nicht, Frau Neumann auch nicht, die beiden Herren nicht.« Die Polizistin blickte vielsagend. Tjark nickte erneut.
Sie sagte: »Ihre Personalien muss ich dennoch aufnehmen, Herr Wolf.«
»Klar.« Tjark und spürte etwas in seiner Hosentasche summen. Sein Handy.
Er sagte: »Mein Handy. Ist es okay, wenn ich drangehe?«
»Vollkommen okay«, sagte die Polizistin, deren Namensschild Tjark nun endlich lesen konnte. P. Berghan stand auf ihrer Jacke. Er zog das Telefon aus der Hosentasche. Schaute angestrengt auf das Display und ging dran. Er hörte etwa zwei Minuten lang zu, was Femke ihm zu sagen hatte. Dann beendete er das Gespräch, schob das Handy zurück und blickte die Polizistin an.
»Ich muss weg«, sagte er.
»Das ist aber ganz schlecht jetzt, Herr Wolf.«
»Ich weiß«, antwortete er. »Notfall. Ein dringender Einsatz. Die Arbeit.«
»Hm«, machte die Beamtin.
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Frau Berghan?«
Sie zuckte mit den Achseln. Tjark sagte, was er wollte. Worauf Berghan einen ungläubigen Laut von sich gab und kaum merklich den Kopf schüttelte. »Ich hör wohl nicht richtig. Das meinen Sie jetzt nicht ernst, oder?«
Tjark lächelte schwach und nickte. »Doch. Ich bin nämlich viel zu blau zum Fahren.«
Blau.
Alles war blau und leuchtete und flackerte. Paul keuchte und sah wieder weg. Schaute an sich selbst herab. Musterte sich und prüfte, ob noch alles an ihm dran war, und es schien einigermaßen gut auszusehen. Jedenfalls den Umständen entsprechend gut. Ihm tat alles weh, wirklich alles, und er hatte das Gefühl, dass zumindest der Arm gebrochen war. Wenn nicht gleich die Schulter und das Schlüsselbein mit. Außerdem war ihm saukalt. Aber ein Teil der Kälte, die ihn umfing, hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, dass er noch lebte. Hatte seine Verletzungen gekühlt, die Wunden geschlossen, den Kreislauf ruhig gehalten.
Paul war ein drahtiger Kerl und hart im Nehmen. Er biss die Zähne zusammen und richtete sich auf, worauf er sofort wieder in die Knie ging. Kurz wurde ihm schwindelig. Der Schmerz in seinem Körper flammte auf. Dann ebbte er wieder etwas ab. Schnee und kleine Eisstücke rieselten von seiner Daunenjacke. Nein, das war kein Eis. Es war Glas. Verbundglas von der Heckscheibe.
Paul, der eigentlich Vitalis hieß und aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Bukarest stammte, starrte wieder auf das Blaulicht und dachte nach. Er hatte die Sachen aus dem Transporter ins Heck des Kombis verladen. Dann hatte es einen Unfall gegeben. Die Kartons mussten wie ein Puffer gewirkt haben, bevor es ihn durch die Heckscheibe geschleudert hatte. Er musste dann über die Autobahn hinweg in eine Schneewehe geflogen sein, vor der er nun kniete. Dort war er einigermaßen weich gelandet und wohl eine Zeitlang bewusstlos gewesen. Und jetzt war vor ihm auf der Autobahn oberhalb der Böschung alles voller Polizei, Feuerwehr und Notärzten. Hinter ihm nicht. Dort leuchtete schwach im Widerschein die Fassade einer Scheune auf. Die Entfernung bis dorthin war schlecht abzuschätzen. Es mochten einige hundert Meter sein. Vielleicht ein Kilometer.
Vitalis versuchte erneut aufzustehen. Was dieses Mal gelang. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Was schmerzte. Aber es ging. Also machte er den nächsten Schritt. Dann noch einen. Fort von dem Blaulicht. Hin zu der Scheune. Es war ihm gleichgültig, ob man seine Fußspuren im tiefen Schnee erkennen würde. Er dachte nicht einmal darüber nach.
Mit dem noch funktionierenden Arm öffnete er den Reißverschluss der Jacke. Fasste hinein und griff mit tauben Fingern nach dem Telefon. Das Display war zersprungen. Er presste die klappernden Zähne aufeinander und drückte mit dem gefühllosen Daumen auf den Systemschalter, der nicht größer war als ein Stecknadelkopf. Er strauchelte im Schnee, der ihm bis zu den Knien reichte. Mit dem Gesicht voran schlug er hin und tauchte ins kalte Nass. Er versank in einer Welt aus Schmerz. Minuten oder Jahre später rappelte er sich wieder auf die Knie. Er sah, dass das Handydisplay leuchtete. Er versuchte aufzustehen und murmelte dabei etwas vor sich hin. »Du strafst, aber du tötest nicht, du stützt die Strauchelnden und richtest die Gestürzten wieder auf.«
Ein altes Gebet aus seiner Heimat, und als er wieder stand und schließlich die Nummer wählte, betete er weiter und bat um Vergebung – unsicher darüber, ob ihm diese widerfahren würde.
Die Autobahn war weiträumig auf einem ganzen Teilstück abgesperrt worden. Da es noch sehr früh am Morgen war, gab es bislang noch keine längeren Staus. Außerdem waren Umleitungen ausgeschildert.
Die Unfallstelle hatte auf Tjark den Eindruck gemacht, als sei dort eine Passagiermaschine abgestürzt. Zahllose Feuerwehr- und Polizeiautos und Notarztwagen standen herum, Abschlepp- und Rettungsfahrzeuge. Nur dass es hier sicher nicht mehr viel zu retten gab. Eigentlich gar nichts. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn irgendjemand heil aus der Sache herausgekommen wäre. Unter den Flutlichtern lagen Hunderte verglühter Trümmer. Die Metallklumpen waren nur noch mit viel Phantasie als Autos zu identifizieren und befanden sich unter einer dicken Eisschicht. Einer Eisschicht, mit der auch die Fahrbahn bedeckt war. Mit dem Löschwasser hatten die Feuerwehren die A29 in eine Schlittschuhbahn verwandelt.
Die meisten Einsatzkräfte hielten sich an warmen Getränken fest oder saßen in ihren Fahrzeugen herum. Das Wichtigste schien getan zu sein. Kaum jemand sprach. Es waren nur das Summen der Generatorengeräusche zu hören und das Sausen des eisigen Windes. Tjark schlug den Kragen hoch, als er vorsichtig über die verbeulte Leitplanke stieg und durch den verharschten Schnee die Böschung herabging. Die Kälte sorgte dafür, dass er sich deutlich nüchterner fühlte als noch vor einigen Minuten. Nur das Wummern in seinem Schädel blieb.
Die Böschung mündete in einen Graben, den Tjark mit einem Ausfallschritt überquerte. Er gelangte auf ein flaches, weites Feld und versank bis über die Knöchel im Schnee. Mitten auf dem Feld befand sich im Licht mehrere Taschenlampen der Grund, warum die Unfallstelle nicht schon längst freigeräumt und wenigstens eine Spur wieder befahrbar war. Der Grund, aus dem Tjark hierhergerufen worden war. Tjark und der Rest der vierköpfigen Sonderkommission für Gewaltverbrechen und Organisierte Kriminalität des Landeskriminalamts Niedersachsen – kurz: SOK. Tjark nannte sie manchmal die Fantastic Four, was von seinem Comic-Spleen herrührte und ausdrücken sollte, dass sie eine eingeschworene Einheit bildeten. Eine Einheit, die an der Unfallstelle einer Massenkarambolage so viel zu suchen hatte wie die Delta Force in einem Nagelstudio: falsche Baustelle. Aber wie immer kam es auf die Begleitumstände an.
Er erkannte Fred, dessen Umrisse wegen der dicken Daunenjacke an ein Michelin-Männchen erinnerten. Fred war Tjarks Kollege, sein alter Partner. Sie kannten sich seit Jahren und waren ein eingespieltes Team. Auf Fred war stets Verlass. Auf seinen Geschmack jedoch nicht immer. Zum Beispiel trug er heute diese blöde Holzfällermütze. Tjark wusste, dass Fred sie von seiner Frau Greta zum Nikolaustag geschenkt bekommen hatte. Weniger ein rustikales Original als eine Hipster-Kappe, die zu einem smarten dreißigjährigen Model in einem Katalog für Outdoormode passte. Aber nicht zu Fred, der weder dreißig und noch weniger ein Model war. Bemerkenswert genug, dass Fred und Greta einander überhaupt etwas zum Nikolaus schenkten. Eventuell tat man das als Paar, wenn man keine Kinder hatte und den ewigen Frühling lebte.
Neben Fred stand Femke. Die echte – nicht die vermeintliche mit dem Namen Berghan, die schließlich doch ein Einsehen gehabt und Tjark mit dem Streifenwagen hergefahren hatte, damit er sich kein Taxi rufen musste. Was einen ziemlich merkwürdigen Eindruck gemacht hätte. Er mit dem Taxi zum Einsatzort.
Femke gehörte ebenfalls zum Team. Sie hatte früher eine kleine Polizeiinspektion geleitet, bevor sie ihren größten Wunsch erfüllt bekommen hatte und zur Kripo gelangt war. Tjark wusste nicht, ob sich der Job für Femke inzwischen als einer dieser Wünsche herausgestellt hatte, die einen enttäuschten, wenn sie wahr wurden. Femke war eine spröde nordische Schönheit, einige Jahre jünger als Tjark und Fred, die keine Schminke brauchte, um gut auszusehen. Ihre Haare und die Schöße ihres Mantels wehten im Wind, der den Schnee flach über das Feld trieb. Femke starrte auf das, was sich im Mittelpunkt der Maglite-Strahlen befand. Ebenso wie Ceylan, die deutlich kleiner war als alle anderen. Die Deutschtürkin leitete die SOK und war somit Tjarks Boss. Was ihr eigentlich nicht gefiel, aber so war das eben, und nach Tjarks Meinung war es gut so. In Ceylan steckte eine Menge von dem, was in den vergangenen Jahren aus Tjark gewichen war. Ceylan knotete sich gerade die Kordeln ihrer bunten Lapplandmütze unter dem Kinn zusammen und sprach mit zwei Streifenpolizisten, die in der Gegend herumdeuteten und Beweismittelbeutel in die Luft hielten. Sie merkte auf, als Tjark sich durch den knirschenden Schnee näherte. Drehte sich um und leuchtete ihm ins Gesicht. Tjark blinzelte und hörte Fred »Ach du Scheiße« sagen.
Fred fragte: »Ist das wieder dieselbe Lippe?«
»Ja.«
»Deine Sollbruchstelle?«
»Scheint so.«
»Will ich wissen, wie das passiert ist?«
»Nein«, meinte Tjark und schob sich ein Minzbonbon in den Mund, als er neben Fred zu stehen kam.
Fred rümpfte die Nase, roch natürlich den Alkohol und meinte, dass man besser auf offenes Feuer in Tjarks Gegenwart verzichten solle.
Femke sagte mit einem kritischen Seitenblick: »Die Lippe solltest du nähen lassen. Einer der Notärzte kann sich das ansehen. Sind ja genug da.«
Erneut hatte Tjark ein Déjà-vu. Und ein zweites, als er Ceylans Stimme aus dem Lichtkegel heraus sagen hörte: »Können wir uns jetzt wieder auf die Arbeit konzentrieren? Das wäre dermaßen klasse.«
Damit richtete sie die Maglite auf den zerfetzten Torso, der aufrecht im Schnee steckte. Ein bizarrer Eiszapfen aus gefrorenem Blut hing am Kinn.
Fred gab Tjark die Kurzfassung: »Der schwere Verkehrsunfall ereignet sich vor etwa zwei Stunden. Vermutlich bei einem Überholvorgang auf schneeglatter Fahrbahn. Drei Pkws und ein Kleintransporter sind beteiligt. Sie verkeilen sich in voller Fahrt, überschlagen sich mehrfach. Ein Fahrzeug gerät in Brand, die anderen ebenfalls. Der Melder des Unfalls kommt mit seinem Wagen hinzu, als alles schon passiert ist. Die Autobahn steht in Flammen. Er hält an und setzt einen Notruf ab. Die Einsatzkräfte treffen ein. Es brennt noch immer alles. Sie löschen ein bisschen herum, bis sie kapieren, dass sie die Fahrbahn damit in das Eiskunstlaufstadion von Sotschi verwandeln. Mindestens vier Tote – die jeweiligen Fahrer. Ob es mehr sind, wissen wir erst, wenn alles abgesucht ist und wir die Wracks auseinandergefaltet haben.« Fred sah die beiden Streifenpolizisten an. Offenbar Autobahnpolizei. »Alles richtig so weit?«
Sie nickten.
Tjark deutete in Richtung des Torsos. »Und er hier? Durch die Windschutzscheibe geschleudert worden?«
»Wissen wir nicht«, sagte der größere der beiden Polizisten.
Femke sagte: »Er hier ist unser Problem.«
Ceylan erklärte: »Drei Infos für dich, Cowboy. Erstens: Mitten in der Nacht ein Pulk von Fahrzeugen so dicht aufeinander auf einer nahezu leeren Autobahn. Zweitens: Schau dir mal den Oberkörper genauer an. Der Mann hat über der Jacke einen Sicherungsgurt getragen. Mit Schnallen, breiten Riemen. Wie ein Fallschirmspringergurt.«
Tjark sah es. Blaues Nylongewebe. Teilweise zerfetzt. Ziemlich kräftig und breit. Überall Schnallen, und an einem Karabinerhaken am Rücken befand sich ein abgetrenntes Seil. Eines, wie Bergsteiger es benutzen. Fingerdick.
Er fragte: »Und drittens?«
Ceylan nickte in Richtung der beiden Autobahnpolizisten. Der größere von beiden hieß nach dem Namensschild auf seiner Jacke Frevert.
Er sagte in breitem Norddeutsch: »Wir sehen ziemlich viel bei Unfällen, aber ein so sauber durchtrennter Körper ist schon bemerkenswert. Hinzu kommen die merkwürdigen Gurte. Wir haben seine Jacke nach Papieren durchsucht, um ihn zu identifizieren. Aber wir haben keine Papiere gefunden.« Der Polizist machte eine Pause.
»Sondern?«
Statt zu antworten, hielt Frevert einen Beweismittelbeutel hoch. Darin befand sich nach Tjarks erster Einschätzung eine kleinkalibrige Walther oder Sig. In jedem Fall eine Pistole, und neben der Pistole ein Magazin und Patronen. Was – abgesehen von Fallschirmspringergurten und Bergsteigerseilen – bei einem verunfallten Fahrer ebenfalls so viel zu suchen hatte wie die Delta Force im Nagelstudio. Aber auch hier galt: Es kam auf die Umstände an.
Frevert sagte: »Nachdem wir das gefunden hatten, waren wir der Meinung, wir sollten die Kripo verständigen …«
Ceylan ergänzte: »… und der Kriminaldauerdienst fand, dass er keinen Bock hat, sich hier draußen den Arsch abzufrieren, und klingelt mich aus dem Bett und ich die anderen, und ich sage Fred: Tjark soll auch kommen.« Sie warf Tjark einen scharfen Blick zu und fuhr fort: »Ohne natürlich zu wissen, dass ich dich gerade bei total wichtigen Sachen störe, wie dir das Hirn wegzulöten und dir das Gesicht neu richten zu lassen.«
Fred meinte: »Ist sicher nur die Treppe heruntergefallen. Zu viel Glühwein und so. Teufelszeug ist das.«
Ceylan machte ein genervtes Geräusch. Femke verdrehte die Augen.
»Das ist noch nicht alles, oder?«, fragte Tjark. »Die rufen nicht uns an, bloß weil jemand eine Waffe in der Tasche hat.«
»Truck Robbery«, sagte Frevert.
Tjark verstand nicht.
»Was?«, fragte Fred.
»Truck«, hörte er eine Stimme sagen. »Robbery.«
Tjark drehte sich herum. Femke, Fred und Ceylan ebenfalls.
Wie aus dem Nichts war eine Frau hinter ihnen aufgetaucht.
»Exakt«, erwiderte Frevert und ließ den Beutel mit der Waffe wieder sinken.
Die Frau stellte sich als Nele Grimm vor. Sie leitete das zuständige Autobahnkommissariat. Im Halbdunkel und im Streulicht der vom Schnee reflektierten Scheinwerfer und Taschenlampen war nicht viel von ihr zu erkennen. Sie war weder jung noch alt. Weder groß noch klein. Wie die anderen trug sie die dunkelblaue Winteruniform, die bekanntlich viel zu dünn war. Weswegen sie mit Sicherheit noch eine Daunenweste oder einen dicken Pullover darunter trug. Ihre Figur war daher schlecht einzuschätzen. Aber ihre Stimme klang fest und selbstsicher.
Grimm sagte mit einer Geste auf den Torso: »Die Kollegen haben mich ebenso wie Sie aus dem Schlaf geklingelt, weil ihnen ein paar Dinge merkwürdig vorkamen und sie wollten, dass Sie und ich uns das vor Ort ansehen.«
Fred fragte wieder: »Truck Robbery?«
Grimm nickte leicht. Ihre Kollegen ebenfalls. Sie fragte Ceylan: »Und Sie sind?«
Ceylan stellte sich vor. Stellte auch den Rest kurz vor und fragte dann: »Ist das irgendein Geheimnis oder Code, dieses Truck Robbery, oder erfahren wir irgendwann auch noch mal mehr darüber?«
Grimm musterte Ceylan einen Moment. Tjark musste an zwei Alphatiere denken, die einander ins Gehege kamen. Zwei Kommissariatsleiterinnen, deren Gebiete sich hier und jetzt in dieser nächtlichen Arschkälte überschnitten und die sich rasch abcheckten wie zwei Katzen, weil auf der Hand lag, dass sie einander in der folgenden Zeit noch des Öfteren ins Gehege kämen. Also im Grunde kein Unterschied, ob sie Frauen oder Männer waren. Chefs waren nach Tjarks Erfahrung eine Spezies für sich.
Grimm sagte: »Ein Unfall mit drei Autos und einem Transporter kann ein Zufall sein. Ein Unfallopfer mit einer Waffe in der Tasche kann ebenfalls Zufall sein. Vielleicht war es ein Straftäter auf der Flucht. Oder ein Geiselnehmer. Ein Unfallopfer mit einem professionellen Gurt und einer Art daran befestigtem Sicherungsseil kann ebenfalls Zufall sein. Vielleicht handelte es sich um eine waghalsige Mutprobe, die danebengegangen ist. Alles drei zusammen abzüglich des Unfalls – drei Pkws und ein Transporter sowie ein Bewaffneter mit professionellem Sicherungsequipment –, das ist nach Meinung der Kollegen jedoch kein Zufall. Es ist vielmehr ein möglicher Modus Operandi. Und ich stimme ihnen zu.«
»Ein klarer Fall von Truck Robbery, logisch, hätte ich ja gleich draufkommen können«, sagte Ceylan spöttelnd.
Grimm betrachtete den Torso und atmete eine weiße Fahne aus, die der Wind sofort verwehte. Sie fragte »Keller?« und sah zu einem der beiden Autobahnpolizisten. »Sind Sie so freundlich, die Kollegin ins Bild zu setzen?«
Keller erklärte in leichtem Ruhrpottslang: »Truck Robbery ist die Bezeichnung für die Methode. Es gab eine Reihe von derartigen Fällen in Nordrhein-Westfalen. Durchgeknallte Typen, die Lkws und Transporter während der Fahrt ausrauben. Zwei Wagen keilen das Ziel ein, der dritte fährt von hinten heran, knackt den Lieferwagen und räumt ihn leer und wirft einem anderen im hintenan fahrenden Wagen die Ware zu. Auf Anweisung des LKA haben sie beim Polizeipräsidium Dortmund eine Sonderkommission gebildet. Soko ›Truck Robbery‹ ist der Name. Gab fast fünfzig Fälle in den letzten Jahren.«
»Fünfzig?« Freds Stimme überschlug sich leicht.
»Ja, annähernd. Zwei Fälle bislang in Niedersachsen auf der A2 im Bereich von Hannover. Tendenz steigend.«
»Die knacken Transporter ernsthaft in voller Fahrt auf?«
»Ja.«
Fred blähte die Backen, prustete und streckte den massigen Körper. »Meine Fresse«, murmelte er und simulierte einen Scheibenwischer vor seinem Gesicht. »Komplett meschugge. James-Bond-like, aber vollkommen irre.«
Keller sagte: »Vor ein paar Jahren haben Kollegen es im Osten mit eigenen Augen gesehen und mit einer Restlichtkamera gefilmt. Ein paar Burschen rauschen im Dunkeln von hinten an einen Lastwagen heran. Einer klettert über die Motorhaube bis zur Ladetür, und die Kollegen denken erst, sie sehen nicht richtig – und nehmen die Knaben natürlich hops.«
Tjark blinzelte und versuchte, der Beschreibung gedanklich zu folgen. Die Fahrt hierher, der Fall selbst und die eiskalte Luft hatten ihn zwar wieder einigermaßen nüchtern gemacht, aber nicht vollständig. Er zerknackte des Minzbonbon mit den Zähnen. Er hauchte gegen die Handfläche, sog die Luft durch die Nase ein, roch eine Mischung aus Menthol und Alkohol und gab sich Mühe, weiterhin aufmerksam zuzuhören.
»Wo war das?«, fragte Fred.
»Bulgarien oder so.«
»Und die haben die gefasst? Und gefilmt auch?«
»Die haben die gefasst und vorher gefilmt.«
»Jesses.«
»Sonst wüssten wir ja nicht, wie die Methode funktioniert.«
»Die Fahrer merken das nicht?«
»Nein. Bis vor drei Jahren war ich beim PP Dortmund und kenne die Sache.«
»Aber ich merke doch, wenn mir wer den Wagen aufbricht.«
»Die Fahrer aber nicht. Passiert alles im Windschatten.«
Fred öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben. Denn der Erfolg von Truck Robbery sprach offenkundig für sich. Da gab es nichts zu zweifeln.
»Sind das mehrere Banden?«, fragte Ceylan.
»Wissen wir nicht«, erwiderte Grimm. »Die Methode könnte sich als erfolgreich herumgesprochen haben.«
»Oder es steht ein organisiertes Netzwerk dahinter. Eines, das seinen Schwerpunkt von NRW aus verschoben hat«, meinte Ceylan.
»Weswegen der Kriminaldauerdienst wohl Ihre Abteilung in Kenntnis gesetzt hat, Frau Özer. Tut mir leid, ich hätte damit noch etwas gewartet, bis wir mehr über diesen Unfall wissen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir hier erst mal für Klarheit gesorgt.«
Tjark sah Ceylan nicken und die Nase krausziehen. Sie dachte sich offensichtlich ihren Teil. Und zwar vermutlich, dass Nele Grimm eigentlich sagen wollte, dass sie die Sache lieber so lange selbst in der Hand behalten hätte, bis man sagen konnte: Grimm und ihre Truppe haben klare Belege für eine Truck-Robbery-Bande in der Hand und übergeben nun feierlich den Fall ans LKA, das sich damit herumschlagen kann – aber die Lorbeeren gehören der Autobahnpolizei und nicht irgendeiner Sonderkommission, die im Norden seit einiger Zeit allen Kollegen auf ihrem eigenen Territorium ins Handwerk pfuscht. Das war im Grunde ähnlich wie bei der Mondlandung: Alle sprachen von Neil Armstrong. Für die Leute, die hinterher alles auswerten mussten, interessierte sich kein Schwein.