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Zwei Fälle von Journalistin Annika Bengtzon in einem E-Book Bundle! Band 8: Kalter Süden Der Tod des Eishockey-Stars Sebastian Söderström schlägt hohe Wellen. Er und seine Familie sind einem Giftgasanschlag zum Opfer gefallen. Annika Bengtzon fliegt nach Marbella und recherchiert in der Welt der Superreichen, die zurückgezogen hinter hohen Mauern und umgeben von den teuersten Alarmeinrichtungen ein Leben in scheinbarer Sicherheit führen. In diesem Kosmos der glatten Oberflächen und gekühlten Räume ist Schweigen Gold, und Geheimnisse werden über Generationen bewahrt. Die spanische Polizei gibt den Fall schon bald resigniert auf. Doch Annika Bengtzon lässt sich nicht so leicht abweisen. Band 9: Weißer Tod In einer Schneewehe liegt eine blasse schöne Frau. Sie ist nicht die Erste, die in den vergangenen Monaten in einem Stockholmer Vorort erstochen wurde. Journalistin Annika Bengtzon glaubt nicht an einen Serienmörder und beginnt zu recherchieren. Plötzlich bricht eine Katastrophe über sie herein: Ihr Mann Thomas ist in Afrika entführt worden. Er ist derzeit in Nairobi mit einer internationalen politischen Delegation. Nach und nach exekutieren die Geiselnehmer die Mitglieder der Gruppe. Annika reist sofort dorthin und versucht mit allen Mitteln, ihren Mann zu retten.
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Die Bücher
Kalter Süden
Marbella, Stadt der Superreichen. Die Millionärsvillen sind gerüstet wie Hochsicherheitstrakte. Ein tödlicher Giftgasanschlag auf das schwedische Eishockey-Idol Sebastian Söderström erschüttert die Idylle der VIPs. Ganz Schweden ist entsetzt wegen der Brutalität der Morde. Die Journalistin Annika Bengtzon berichtet über den Fall. Hinter den prächtigen Fassaden stößt sie auf eine Parallelwelt aus Verbrechen, Gier und Hass.
Weißer Tod
In einer Schneewehe liegt eine blasse schöne Frau. Sie ist nicht die Erste, die in den vergangenen Monaten in einem Stockholmer Vorort erstochen wurde. Journalistin Annika Bengtzon glaubt nicht an einen Serienmörder und beginnt zu recherchieren. Plötzlich bricht eine Katastrophe über sie herein: Ihr Mann Thomas ist in Afrika entführt worden. Er ist derzeit in Nairobi mit einer internationalen politischen Delegation. Nach und nach exekutieren die Geiselnehmer die Mitglieder der Gruppe. Annika reist sofort dorthin und versucht mit allen Mitteln, ihren Mann zu retten.
Die Autorin
Liza Marklund, geboren 1962 in Piteå, arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender, bevor sie mit der Krimiserie um Annika Bengtzon international eine gefeierte Bestsellerautorin wurde.
Von Liza Marklund sind in unserem Hause bereits erschienen:
Olympisches Feuer
Studio 6
Paradies
Prime Time
Kalter Süden
Weißer Tod
Jagd
Verletzlich
LizaMarklund
Kalter Süden
___________
Weißer Tod
Zwei Kriminalromane in einem E-Book
Aus dem Schwedischen von Anne Bubenzer und Dagmar Lendt
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1348-1
Neuausgabe in Ullstein E-Books
Mai 2016
Kalter Süden
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel En plats i solen bei Piratförlaget, Stockholm.
© 2008 by Liza Marklund
© der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Published by agreement with Salomonsson Agency
Weißer Tod
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Du gamla, du fria bei Piratförlaget, Stockholm.
© 2011 by Liza Marklund
© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
TEIL I
Nach Neujahr
Nueva Andalucía,03.14 Uhr
Die Nacht war pechschwarz. Die Orangenbäume am Straßenrand glitten wie schwarze Schatten am Rand ihres Blickfelds vorbei. Aus einer Mülltonne ragten drei struppige Katzenköpfe, deren Augen im Scheinwerferlicht aufglühten und sie wie Gespenster aussehen ließen.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Asphalt glänzte immer noch nass und schluckte das Licht der wenigen Straßenlaternen. Sie hatte das Fenster heruntergelassen und hörte das Zischen der Reifen auf der Fahrbahn, das Zirpen und Singen der Zikaden, den Wind, der in den Palmkronen raschelte. Die Luft zog kühl und feucht herein.
Es hätte nicht stiller sein können.
Sie bremste an einer Kreuzung und zögerte. Musste sie hier nach links oder an der nächsten? Sie umklammerte das Steuer in krampfhaftem Zehn-vor-zwei-Griff. Diese unstrukturierte Bebauung, es gab keine Bauvorschriften und keine Stadtplanung und deshalb auch keine Straßenkarten. Nicht einmal Google Earth hatte es geschafft, die neuen Gebiete zu dokumentieren.
Ja, hier musste es sein. Sie erkannte die goldenen Ornamente am Zaun rechts wieder. Im Dunkeln sah alles so anders aus.
Sie setzte den Blinker, um dem Lastwagen hinter ihr anzuzeigen, wohin es ging.
Beide Autos fuhren mit Abblendlicht, wegen der schlechten Straßen ging es nicht anders. Außerdem hätte ein unbeleuchtetes Fahrzeug mehr Aufmerksamkeit erregt als eines mit eingeschaltetenScheinwerfern. Sie wich einem großen Schlagloch mitten auf der Fahrbahn aus und kontrollierte im Rückspiegel, ob der Fahrer hinter ihr dasselbe tat.
Dann erfassten die Scheinwerfer den Zaun um die Siedlung, ein protziges schmiedeeisernes Gebilde mit zwei Betonlöwen zu beiden Seiten der Einfahrt. Sie merkte, wie ihre Schultern sich vor Erleichterung entspannten. Rasch gab sie den Code am Pfosten vor dem einen Löwen ein, das Tor erzitterte und glitt auf. Sie schaute zum Nachthimmel hoch.
Am Nachmittag waren von Afrika Wolken herangezogen und hatten sich wie eine dichte Decke über die ganze Küste gelegt. Irgendwo dahinter stand der Vollmond. Sie merkte, dass der Wind auffrischte, und hoffte, dass sie fertig sein würden, bevor die Bewölkung wieder aufriss.
Im Gegensatz zu denen draußen waren die Straßen innerhalb des umzäunten Viertels glatt und eben wie ein Tanzboden, mit exakt markierten Bürgersteigen und schnurgeraden Hecken. Sie passierte drei Abzweigungen, bevor sie rechts abbog und einen kleinen Hügel hinunterfuhr.
Die Villa stand auf der linken Seite, mit Terrassen und einem Swimmingpool auf der Südseite.
Sie fuhr zwanzig, dreißig Meter am Haus vorbei, parkte am Bürgersteig vor einem brachliegenden Grundstück und wartete geduldig, bis der Lkw-Fahrer hinter ihr anhielt.
Dann nahm sie ihre Aktentasche, schloss das Auto ab, ging zum Lkw und kletterte in die Fahrerkabine.
Die Männer wirkten konzentriert und ein bisschen verschwitzt.
Sie streifte die Latexhandschuhe über, griff nach den Spritzen und steckte die erste Injektionsnadel auf.
»Vorbeugen«, kommandierte sie.
Der Mann stöhnte leise und gehorchte. Sein dicker Bauch passte kaum unter das Armaturenbrett.
Sie machte sich nicht die Mühe, die Stelle am Gesäß zu desinfizieren, sondern jagte die Nadel mit einem schnellen Stich fast bis zum Anschlag in den Muskel und injizierte die Flüssigkeit.
»So«, sagte sie und zog die Nadel heraus. »Jetzt packt die Sachen aus.«
Siemachte Platz, damit der Dicke aussteigen konnte. Dann rutschte sie neben den Fahrer.
»Und das ist besser als eine Gasmaske?«, fragte der Mann und blickte ein wenig ängstlich auf die Spritze in ihrer Hand.
Er sprach relativ gut Spanisch, aber Rumänisch war ja ebenfalls eine romanische Sprache.
»Ich gebe mir selbst auch eine Spritze«, sagte sie.
Er öffnete den Gürtel, legte die Hände aufs Lenkrad und beugte sich vor, damit sie an seinen Gesäßmuskel kam.
»Das tut weh«, beschwerte er sich.
»Stell dich nicht so an«, erwiderte sie.
Dann schob sie ihren Rock hoch und drückte die letzte Ampulle in ihren Oberschenkelmuskel.
»Und Sie wollen nur den Tresor?«, fragte der Mann, während er die Tür öffnete und aus der Fahrerkabine stieg.
Sie lächelte, beugte sich über ihre Aktentasche und stellte zwei Literflaschen San Miguel auf die schmale Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz.
»Nur den Tresor«, sagte sie. »Alles andere gehört euch. Prost.«
Der Fahrer sah die Bierflaschen an und lächelte.
Der Dicke hatte bereits das Werkzeug und die Rohre hervorgeholt und alles neben das Tor gestellt.
»Und Sie garantieren, dass sie davon ausgeschaltet werden?«, fragte er und musterte die Behälter skeptisch. Sie sahen anders aus als sonst.
Sie blickte zum Haus hinauf. Der Vollmond schimmerte bereits durch die Wolkendecke. Sie mussten sich beeilen.
Konzentriert tippte sie den Code ein, die Lämpchen der Alarmanlage wechselten auf Grün, und das Gartentor öffnete sich mit einem Klick.
»Oh ja«, sagte sie. »Die werden garantiert ausgeschaltet.«
Die Prinzessin im Schloss über den Wolken
Das Licht war vollkommen weiß. Es schwebte durch die Räume wie Elfen, um Kronleuchter und Quasten und Hirschköpfe herum. Sie konnte hören, wie es unter den Deckenbalken wisperte und kicherte.
Das Atmen fiel so leicht.
Die Luft war so klar und rein, dass sie manchmal wirklich zu einer kleinen Feder wurde, einer stillen, kleinen, hellblauen Feder, die zusammen mit dem weißen Licht auf Sonnenstrahlen und Gobelins mit Jagdmotiven tanzte.
Sagte ich bereits, dass sie still war?
Oh, sie war still, ganz still, denn der Führer durfte nicht gestört werden.
Alle Menschen sprachen leise und ehrfürchtig dort oben im Schloss über den Wolken. Dicke Teppiche auf allen Böden und Steintreppen nahmen dieses Flüstern auf und versteckten es an einem sicheren Ort.
Ihr Lieblingsplatz war die Halle, der Raum, der so groß war wie ein ganzer Ozean, mit einem Fenster zu den Wolken und dem Schneeberg draußen.
Manchmal tanzte sie in der Halle, leise natürlich und ganz leicht auf nackten Füßen, mit den Skulpturen und den Gemälden und allen Puppen als begeistertem Publikum. Ihr Kleid aus dünnem Stoff flatterte um sie herum, sie sprang und drehte sich, bis der ganze Kopf jubelte, ja, sie war eine Prinzessin, die Prinzessin im Schloss über den Wolken, und sie tanzte für die Pferde und die toten Hirsche und all die schönen Holzschnitzereien an der Decke. Nanna versuchte natürlich ständig, sie daran zu hindern, aber was kümmerte sie Nanna, die war nur ein schmutzigesBauernmädchen und hatte kein Recht, ihr zu sagen, was sie tun und lassen sollte, denn sie war die Prinzessin im Schloss über den Wolken.
Einmal tanzte sie direkt in den Führer hinein.
Nanna war weinend weggelaufen, weil sie ihr in den Arm gebissen hatte, der dummen Kuh, und sie hatte ganz allein in der großen Halle getanzt, immer und immer weiter, aber der Führer war nicht böse auf sie geworden, überhaupt nicht.
Er hatte sie einfach in seinen langen Armen aufgefangen, hatte sich herabgebeugt und ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Er hatte blaue Augen mit leicht geröteten Lidern, aber die Prinzessin hatte ihm nicht in die Augen gesehen, sondern gebannt auf die Haare gestarrt, die ihm aus den Nasenlöchern krochen.
Sie wusste, dass sie etwas falsch gemacht hatte.
Jetzt würde Mutter böse werden!
Das war Nannas Schuld!
»Du bist mir vielleicht eine kleine Arierin«, sagte der Führer, und dann berührte er ihre blonden Locken und sie spürte die Kraft, die von ihm ausströmte, genau wie Vater es der Mutter beschrieben hatte, und sie fragte:
»Bin ich jetzt gesegnet?«
Er ließ sie los und ging hinüber in den Wohntrakt, und Blondi folgte ihm schwanzwedelnd. Das war das letzte Mal, dass sie ihn sah.
Sie war nicht immer im Schloss über den Wolken, natürlich nicht.
Wenn sie in Obersalzberg waren, wohnte sie mit Vater und Mutter unten im Hotel Zum Türken, zusammen mit den anderen Offiziersfamilien, »im Türken« wie ihre Mutter es nannte: »Warum müssen wir im Türken hausen, wenn die Goebbels oben auf dem Berghof wohnen dürfen?«
Mutter sprach oft von der Wohnung in der Friedrichstraße, die jetzt von den verdammten Alliierten vollkommen zerbombt war.
»Ein Glück, dass wenigstens einer von uns bei Verstand geblieben ist«, pflegte sie zu sagen und dabei Vater scharf anzusehen, denn der wollte nicht evakuiert werden. Er fand, es sei Verrat am Führer, nicht zuglauben, aber Mutter hatte darauf bestanden, sie hatte die ganze Wohnung leer geräumt und dafür gesorgt, dass ihr Hab und Gut mit dem Zug zum Adlerhorst transportiert wurde.
Alsder Russe näher rückte, bestellte Mutter ein Auto von der Parteizentrale und schickte die Prinzessin und Nanna und drei Koffer mit all ihren schönen Puppen und Kleidern zum Harvestehuder Weg.
Die Prinzessin wollte nicht weg. Sie wollte im Adlerhorst bleiben, sie wollte zum Schloss fahren.
Aber Mutter hängte ihr ein Schild um den Hals, sie war wortkarg und ganz heiß im Gesicht und gab ihr einen krampfhaften Abschiedskuss, den die Prinzessin sofort abwischte. Die Autotür schlug mit einem Knall zu.
Sie kamen niemals im Harvestehuder Weg an.
Vor einer Stadt, deren Namen sie nicht kannte, wurden sie angehalten. Soldaten nahmen ihr das Gepäck weg und verschleppten Nanna in den Wald, und dem Fahrer schossen sie in den Kopf, so dass der Mantel der Prinzessin Flecken bekam.
Außer ihrem Mantel, ihrer Puppe Anna und dem Kleid, das sie am Leib trug, besaß sie nichts, als sie nach Gudagården kam.
Denn auf dem Schild um ihren Hals stand die Adresse von Onkel Gunnar und Tante Helga,Gudagården in Sörmland, Schweden,und dorthin wurde die Prinzessin geschickt, als es niemanden mehr gab, der sich um sie kümmern konnte.
Ich selbst erinnere mich nicht daran, aber man hat es mir erzählt.
Wie Onkel Gunnar ihr schönes Kleid und die Puppe auf den Hofplatz legte, Petroleum darübergoss und dann ein Feuer entzündete, dessen Widerschein durch die Jahrzehnte fortleuchten sollte.
»Möge der Sünder in der Hölle schmoren«, soll er gesagt haben, und das ist sicherlich wahr.
Presseagentur TT, 09.13 Uhr
Eilmeldung
Generalstaatsanwältin beantragt Wiederaufnahmeverfahren in Dreifachmord
Stockholm (TT) Generalstaatsanwältin Lillian Bergqvist wird am kommenden Montag die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den sogenannten Axtmörder, Finanzmann Filip Andersson, beantragen.
Filip Andersson war wegen dreifachen Mordes im Stockholmer Stadtteil Södermalm zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden.
»Im Dezember letzten Jahres, als die tatsächliche Mörderin ums Leben kam, konnte Filip Andersson endlich die Wahrheit ans Licht bringen«, sagte sein Anwalt Sven-Göran Olin. Die Morde waren von Anderssons Schwester Yvonne Nordin verübt worden.
Vor gut vier Jahren war Filip Andersson sowohl vor dem Amtsgericht als auch vor dem Landgericht zur Höchststrafe für dreifachen Mord, Nötigung, Erpressung sowie Störung der Totenruhe verurteilt worden.
Die Beweislage gegen Filip Andersson wurde bereits im Zuge der früheren Verfahren als dürftig eingeschätzt. Der Angeklagte wurde aufgrund von Indizien verurteilt, darunterDNA-Spuren eines Opfers an Anderssons Hosenbein, ein Fingerabdruck an einer Türklinke sowie unbezahlte Schulden.
Das Schreiben der Generalstaatsanwältin an den Obersten Gerichtshof wird eine Zusammenfassung des Beweismaterials beinhalten, auf das sich die Anklage beruft.
(wird fortges.)
© PresseagenturTTbzw. Verfasser des Artikels
Montag,3. Januar
Annika Bengtzon steckte den Kopf durch die halboffene Glastür des Chefredakteurs und klopfte an den hölzernen Türrahmen. Anders Schyman stand mit dem Rücken zu ihr und sortierte Stapel von losen Blättern, die über Schreibtisch und Fußboden verstreut lagen. Als es klopfte, drehte er sich um, sah ihren fragenden Gesichtsausdruck und deutete auf den Besucherstuhl.
»Machen Sie die Tür zu und setzen Sie sich«, sagte er, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, der unheilverkündend knackte.
Sie zog die Schiebetür zu, warf einen misstrauischen Seitenblick auf die Blätter zu ihren Füßen und entdeckte etwas, das wie eine Planskizze der Redaktionsräume aussah.
»Sagen Sie nicht, dass hier schon wieder umgebaut werden soll.« Sie setzte sich.
»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte Schyman. »Wie sehen Sie Ihre Zukunft hier bei der Zeitung?«
Annika blickte hastig auf und begegnete dem Blick des Chefredakteurs.
»Wieso?«
»Um es auf den Punkt zu bringen: Wollen Sie die Redaktionsleitung übernehmen?«
Ihr Hals schnürte sich zusammen, sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und blickte auf ihre Hände.
»Sie übernehmen die Verantwortung für das gesamte Nachrichtengeschehen eines Tages«, fuhr Schyman fort. »Sie arbeiten fünfTage und haben fünf Tage frei. Sie koordinieren Sport und Unterhaltung mit Leitartikel, Kommentar und Nachrichten. Entscheiden anhand der Nachrichtenlage über den Aufmacher. Die Linie in den verschiedenen Ressorts legen Sie zusammen mit den anderen Ressortchefs fest. Keine Onlinegeschichten oder so ein Mist. Sie nehmen an den Vorstandssitzungen teil und haben die Budgetplanung und die Marketingstrategien in der Hand. Ich will, dass Sie so schnell wie möglich anfangen.«
Sie räusperte sich, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Die Redaktionsleitung war eine große, schwere Aufgabe. Damit wäre sie die Nummer zwei in der Hierarchie der Zeitung, Schyman direkt unterstellt, Chefin über alle Unterabteilungen. Sie würde das Kommando über die Nachrichtenchefs haben, über die Unterhaltungs- und Sportchefs und all die anderen Kleinkönige, die sich immer so gern wichtigmachten.
»Ich muss umstrukturieren«, sagte Anders Schyman leise, als sie nicht antwortete. »Ich brauche Leute direkt unter mir, auf die ich mich verlassen kann.«
Sie starrte immer noch auf ihre Hände. Seine Stimme ging über ihren Kopf hinweg, prallte von der Wand zurück und traf sie im Nacken.
»Sind Sie interessiert?«
»Nein«, erwiderte Annika.
»Ich verdopple Ihr Gehalt.«
Jetzt blickte sie auf.
»Das mit dem Geld habe ich schon mal ausprobiert«, sagte sie. »Es war bei weitem nicht so toll, wie alle behaupten.«
Der Chefredakteur erhob sich und stellte sich an die Glastür. Sein Büro war so klein, dass seine Waden beinahe Annikas Knie berührten.
»Vor einem Jahr um diese Zeit standen wir kurz vor dem Aus«, sagte er. »Wussten Sie das?«
Er warf einen Blick über die Schulter, um ihre Reaktion zu prüfen. Sie zeigte keine. Drehte nur an dem Smaragdring ihrer Großmutter auf dem linken Zeigefinger, an dem sie eine hässliche rote Narbe hatte. Sie pochte und schmerzte – besonders wenn es kalt war.
»Esist uns gelungen, das Ruder herumzureißen«, sagte Schyman und blickte dabei ins Großraumbüro der Redaktion, das sich auf der anderen Seite der Glaswand erstreckte. »Ich glaube, dass es weitergeht, aber ich weiß nicht, wie lange ich noch bleibe.«
Er wandte sich um und sah sie an. Sie ließ den Blick an ihm vorbei in die Redaktion schweifen.
»Ich will Ihren Job nicht«, sagte sie.
»Meinen Job biete ich Ihnen ja auch nicht an«, erwiderte er. »Sondern den der Redaktionsleiterin.«
»Und Berit? Die würde das schaffen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass sie den Job will?«
»Was ist mit Jansson? Oder Spiken?«
Er setzte sich an den Schreibtisch und seufzte.
»An Freiwilligen mangelt es nicht«, sagte er. »Aber ich brauche jemanden mit Verstand.«
Sie musste unwillkürlich lachen.
»Und da fragen Sie mich? Das sagt ja eine Menge über das Potential in dieser Redaktion.«
»Die Alternative wäre, dass Sie nach Dienstplan arbeiten. Am Schreibtisch sitzen, Zettel abtelefonieren und tun, was der Nachrichtenchef Ihnen sagt.«
Sie merkte plötzlich, wie unbequem der Stuhl war, und setzte sich anders hin, um keine Rückenschmerzen zu bekommen.
»Hat derMBLda nicht auch ein Wort mitzureden?«
»Die Gewerkschaft ist kein Problem«, versicherte er. »Glauben Sie mir.«
»Mich nach Dienstplan arbeiten zu lassen wäre doch völliger Unsinn«, wandte sie ein. »Sie wissen, dass ich viel bessere Sachen an Land ziehe, wenn ich freie Hand habe.«
Er beugte sich zu ihr vor, sie starrte auf seine Knie.
»Annika«, sagte er. »Die Personalkürzungen, die wir im Herbst ausgehandelt haben, sind umgesetzt. Wir haben keine Ressourcen mehr für Spezialreporter. Sie würden Patrik als unmittelbaren Vorgesetzten bekommen.«
Jetzt blickte sie zu ihm auf.
»Sie machen Witze.«
Er verschränkte die Arme.
»Wirhaben das zwischen Weihnachten und Neujahr beschlossen. Als Redaktionsleiterin wären Sie seine Chefin. Sie würden ihm Anweisungen geben und ihm sagen, wo es langgeht. Wenn Sie jedoch als Reporterin nach Dienstplan arbeiten, müssen Sie tun, was er Ihnen sagt.«
»Aber ich habe ihn damals eingestellt«, protestierte Annika. »Ich kann ihn nicht als Chef über mir haben. Und wenn Sie auf Verstand Wert legen, ist Patrik wohl der Letzte, der …«
»Verstand und Urteilsvermögen müssen weiter oben in der Organisation angesiedelt sein. Auf Nachrichtenchef-Niveau brauche ich Patriks Enthusiasmus, jemanden, der immer sofort auf alles anspringt.«
Annika reckte den Hals und blickte hinüber zur geschrumpften Kriminalredaktion, wo Patrik sich die Nase am Bildschirm plattdrückte und mit abgespreizten Ellbogen etwas tippte. Sie erinnerte sich, wie es ihm gelungen war, den einzigen Kommentar des Ministerpräsidenten zu ergattern, an dem Tag, als der Wirtschaftsminister zurücktrat. Er war dem Auto des Staatsschutzes durch die ganze Stockholmer Innenstadt hinterhergelaufen und schließlich mit den Worten belohnt worden: »Haben Sie noch alle Tassen im Schrank, Sie Idiot?« Er war in die Redaktion zurückgekehrt und hatte den Vorfall wie einen Sieg dargestellt.
»Ja«, sagte sie. »Wenn Sie glühenden Eifer wollen, müssen Sie Patrik befördern.«
»Gut. Sie arbeiten also Tagschicht von Montag bis Freitag«, sagte Schyman und erhob sich. »Keine Überstunden und keine Erschwerniszuschläge. Da wir im ganzen Land die Lokalredaktionen dichtgemacht haben, können Sie jederzeit überall hingeschickt werden, auch ins Ausland. Patriks geplante Artikelserie über die Kokainküste werden Sie übernehmen, zum Beispiel. Sie können sich an den Newsdesk setzen, dann gibt Patrik Ihnen Ihre Aufgaben.«
»Dieses Schreibtischprodukt?«, sagte sie. »War das nicht nur ein Alibi, damit Patrik in den Badeurlaub fliegen kann?«
»Da irren Sie sich. Die Kokainküste ist eine exklusive Artikelserie, die Initiative geht von der Redaktionsleitung unserer Zeitung aus. Wir arbeiten mit der Polizei und mit dem Justizministeriumzusammen und erhalten Zugang zu einzigartigen Informationen. Die Serie wird gemacht.«
»Was passiert mit dem Desk der Tagesreporter?«, fragte sie und blickte zu ihrem Arbeitsplatz mit Computer, Jacke, Tasche und den ganzen verstreuten Papieren.
»Wird Feature-Abteilung«, sagte Schyman und deutete auf die Planskizze zu seinen Füßen. »Wo jetzt das Polizeiressort ist, kommt die Redaktion der Kommentarseite hin.«
Sie stand auf und verließ das gläserne Büro des Chefredakteurs, ohne sich umzudrehen.
Ihr war vollkommen egal, auf welchem Stuhl sie saß oder welche Artikel sie schrieb. Ihr Mann hatte sie verlassen und die Kinder waren die Hälfte der Zeit bei ihm, ihr Haus war abgebrannt und die Versicherung wollte nicht zahlen. Sie wohnte in einem Haus der Polizeigewerkschaft, in einer Dreizimmerwohnung in der Agnegatan, die Kommissar Q auf höchst zweifelhaften Wegen organisiert hatte und aus der sie jederzeit wieder rausfliegen konnte.
Sie raffte ihre Siebensachen zusammen und balancierte alles hinüber zu einem der engen Plätze am Newsdesk. Auf dem Tisch war kaum Platz für den Laptop, also ließ sie Jacke und Tasche und alle Notizen einfach auf den Fußboden neben dem Bürostuhl fallen. Sie setzte sich, stellte den Stuhl höher, stöpselte den Laptop ans Netz und schickte eine Mail an Kommissar Q: »Ich bin in die Wohnung gezogen, hab aber noch keinen Mietvertrag gesehen. Zu Ihrer Info: Ich habe vor, die Auslieferung der Miezekatze unter die Lupe zu nehmen./A«
Jetzt hatte er was zum Nachdenken.
Dann streckte sie die Hand nach einem der Telefone aus, wählte die Nummer des Ministeriums und bat, mit der Pressesprecherin des Justizministers verbunden zu werden. Die Frau meldete sich genervt, während der Wind in ihr Handy pfiff.
Annika sagte, wer sie war und wo sie arbeitete.
»Ich hätte gern einen Kommentar des Ministers zur Auslieferung einer amerikanischen Auftragsmörderin, die unter dem Namen ›das Kätzchen‹ bekannt ist«, sagte sie.
»Einer was?«, fragte die Pressesprecherin.
»Ichweiß, dass sie an dieUSAausgeliefert wurde. Im Gegenzug hat Schweden den verurteilten Polizistenmörder Viktor Gabrielsson aus dem Gefängnis in New Jersey bekommen. Ich würde gern den Grund und die näheren Umstände erfahren.«
»Der Minister gibt keine Kommentare zu Fragen, die die Sicherheit des Staates betreffen.« Die Pressesprecherin versuchte, mechanisch und desinteressiert zu klingen.
»Wer hat denn was von Sicherheit des Staates gesagt?«, entgegnete Annika. »Ich möchte nur wissen, was Sie mit dem Kätzchen gemacht haben.«
»Kann ich Sie zurückrufen?«
Annika ratterte ihre Handynummer und ihre Durchwahl he-runter. Als würde das Ministerium jemals zurückrufen. Vielen Dank auch. Als Nächstes wählte sie die Mobilnummer ihrer Kollegin Berit Hamrin, die sofort abnahm.
»Bist du auch degradiert worden?«, fragte Annika.
»Mit Patrik als Chef«, bestätigte Berit.
Im Hintergrund war Verkehrslärm zu hören.
»Wo bist du jetzt?«
»Eben auf die E18gefahren.«
Annika sah Patrik mit einem Stapel Zettel in der Hand auf den Newsdesk zugerauscht kommen und hielt sich den Hörer dichter an den Mund.
»Der Boss ist im Anmarsch«, flüsterte sie. »Jetzt wird’s interessant.«
Sie legte im selben Moment auf, als Patrik sich auf ihren Schreibtisch setzte. Schnell rückte sie den Laptop beiseite.
»Jetzt passiert endlich mal was«, sagte der frischgebackene Nachrichtenchef und blätterte in seinen Papieren. »Wir haben einen Wohnungsbrand in Hallunda, einen Mord durch Gas an der spanischen Costa del Sol und ein Busunglück in Dänemark. Fang mit dem Bus an und versuch rauszukriegen, ob Schweden drinsaßen. Schlimmstenfalls war es eine schwedische Schulklasse auf dem Rückweg vom Tivoli.«
»Lillian Bergqvist beantragt eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Filip Andersson«, sagte sie und schaltete den Laptop neben Patriks Oberschenkel ein.
»Uninteressant«,sagte Patrik. »Dass sie das tun würde, wussten wir doch schon, als wir herausgefunden haben, dass der wirkliche Mörder seine Schwester war. Berit kann eine Kurzmeldung schreiben.«
Als ich den wirklichen Mörder gefunden habe, dachte Annika, sagte jedoch nichts.
»Der Gasmord scheint eine ziemlich brutale Angelegenheit zu sein«, fuhr er fort und gab ihr die Zettel. »Eine ganze Familie tot, inklusive Hund. Sieh mal zu, ob du da was organisieren kannst, möglichst ein Foto von allen zusammen und dazu Name und Alter des Hundes. Die Leute interessieren sich ja für Spanien, das ist wohl immer noch das beliebteste Urlaubsziel der Schweden.«
»Haben wir keinen Korrespondenten da unten?«, fragte Annika, die sich an eine Verfasserzeile mit dem Foto eines sonnengebräunten, verkniffen lächelnden Mannes erinnerte.
»Der ist auf Weihnachtsurlaub zu Hause in Tärnaby. Das Feuer in Hallunda reißt auch keinen vom Hocker, aber vielleicht mussten die Leute ja evakuiert werden und Tante Hedvig ist mit dem Rollstuhl nicht runtergekommen, oder irgendwas anderes, was die Chose aufpeppt.«
»Okay«, sagte Annika und dachte, dass er den Jargon ja schnell gelernt hatte.
Was die Chose aufpeppt,du lieber Gott.
»Ich wollte noch ein paar andere Sachen abchecken«, sagte sie und strengte sich an, ruhig und beherrscht zu klingen. »Ich habe einen Tipp bekommen, dass die Regierung in einen fragwürdigen Gefangenenaustausch verstrickt war, und außerdem treffe ich mich um zwei mit einer Frau, woraus vielleicht ein Interview …«
Aber Patrik war schon aufgestanden und unterwegs zur Feature-Redaktion.
Annika sah ihm lange hinterher, beschloss dann aber, sich nicht zu ärgern. Wenn er meinte, seinen … hm … Untergebenen nicht zuhören zu müssen, war das seine Sache.
Sie lehnte sich zurück und ließ den Blick durch die Redaktion wandern.
Sie war praktisch die Einzige hier.
Schyman hatte sie schon um acht Uhr morgens angerufen und zusich bestellt, und sie hatte gleich angenommen, dass er wieder mal versuchen wollte, sie zu einem der Führungsposten zu überreden. In der Regel vergingen immer ein paar Jahre zwischen derartigen Angeboten, aber das hier war etwas anderes. Die Posten als Nachrichtenchefin und Chefin vom Dienst hatte er ihr schon früher aufschwatzen wollen, und tatsächlich hatte sie sogar mal für kürzere Zeit das Kriminalressort geleitet, aber mit der Redaktionsleitung hatte er bisher noch nie gewinkt.
Na ja. Sie seufzte. So wie er den Job beschrieben hatte, mit fünf Tagen Dienst und fünf Tagen frei, hätte sie ihn sowieso mit jemandem teilen müssen, vermutlich Sjölander. Sie hätte nicht nur für sämtlichen Mist, der bei der Nachrichtenarbeit unausweichlich passierte, ihren Kopf hinhalten müssen, sondern wäre auch gezwungen gewesen, endlose Besprechungen über Budgets und Marketingpläne und langfristige Personalfragen durchzustehen.
Dann lieber Brände in Hallunda, dachte sie und wählte die Durchwahl des Wachhabenden der Notrufzentrale.
»Im Bett geraucht«, sagte er, »ein Frührentner tot. Feuer gelöscht. Begrenzte Rauchschäden. Keine Evakuierung.«
»Und wer war der Tote?«, fragte Annika.
Er blätterte in irgendwelchen Unterlagen.
»Die Wohnung gehörte einem … ich hatte es doch hier irgendwo … einem Jonsson oder so … egal, jedenfalls kein Prominenter.«
Kein Promi = mausetote Story.
Sie legten auf.
Das Busunglück betraf tatsächlich eine Gruppe von Jugendlichen, keine Schulklasse, sondern eine Hockey-Mannschaft auf dem Weg zu einem Hallenturnier in Aalborg. Der Bus war auf einer schnurgeraden Landstraße in Jütland langsam von der Fahrbahn abgekommen und seitlich in den Graben gekippt. Die Kinder hatten durch das Fahrerfenster hinausklettern müssen.
Annika mailte die Angaben an die Bildredaktion und bat darum, Ausschau nach dramatischen Bildern von geschockten Kindern zu halten. Etwas anderes als eine Bildunterschrift war die Meldung nicht wert.
DerGasmord in Spanien war schon etwas schwieriger zu recherchieren.
Patriks Wisch war ein Telegramm vonTT-Ausland. Die Nachrichtenagentur meldete in drei Zeilen, dass eine Familie mit zwei Kindern und einem Hund tot aufgefunden worden war, vermutlich nach einem Gasüberfall.
Sie begann damit, die Website der einzigen spanischen Zeitung aufzurufen, deren Namen sie kannte,El País. Ihr Blick fiel auf die SchlagzeileEspaña es el país europeo con más atropellos mortales de peatones.
Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Das sollte sie wohl hinkriegen, zwei Jahre Spanisch am Gymnasium waren nicht viel, aber ein Zeitungstext war schließlich keine Atomspaltung. Spanien ist das Land in Europa, in dem die meisten Fußgänger totgefahren werden, musste es wohl heißen. Sechshundertachtzig Leute im letzten Jahr.
Sie klickte den Artikel weg und suchte weiter.Familia muerta Costa del Soloder so was Ähnliches sollte da wohl stehen.
Nada, ninguno, vacío.
Allerdings warEl Paísja eine überregionale Zeitung, vermutlich saß die Redaktion in Madrid. Vielleicht gaben die sich gar nicht mit Vorfällen ab, die weit im Süden kurz vor Afrika passierten.
Aber eine ganze Familie tot, so was sollte doch wohl eine Meldung wert sein, zumindest in der Onlineausgabe?
Sie stand auf und holte sich einen Kaffee aus dem Automaten. Am Becher verbrannte sie sich den linken Zeigefinger. Er war schon lächerlich empfindlich, seit man ihn ihr beinahe abgeschnitten hatte …
Sie setzte sich wieder und überlegte. Gasüberfall? Das Wort hatte sie noch nie gehört. Gab es so etwas überhaupt?
Vorsichtig blies sie in ihren Kaffee und trank ängstlich einen Schluck. Man sollte es nicht für möglich halten, aber der schmeckte tatsächlich noch grausamer als gestern.
Sie tippte versuchsweise »gasüberfall« bei Google ins Suchfeld, und tatsächlich bekam sie etliche Ergebnisse.
»Fahrer bei Überfall mit Gas betäubt«, lautete der vierte Treffer.Der Text stammte von Sveriges Radio, veröffentlicht am13. Dezember2004. In der Nacht zum Luciatag waren mehrere Paletten mit Flachbildschirmen von einem Lastwagen gestohlen worden, an der Shell-Tankstelle bei Västra Jära am Riksväg40westlich von Jönköping. Weder der Fahrer noch sein Hund, der neben ihm im Führerhaus lag und schlief, hatten etwas von dem Diebstahl mitbekommen. Als der Fahrer aufwachte, hatte er Kopfschmerzen und litt unter starker Übelkeit. Die Polizei vermutete, dass man ihn mit irgendeinem Gas betäubt hatte. Man hatte ihm eine Blutprobe entnommen, um sie auf Spuren zu untersuchen.
Da kann man mal sehen, dachte Annika und scrollte weiter.
»Diebe betäubten Hund mit Gas – Deutlicher Anstieg der Villeneinbrüche in Stockholm«, las sie. Der Artikel stammte aus derMetround war erst wenige Wochen alt.
Sie loggte sich ins eigene Zeitungsarchiv ein und setzte ihre Suche fort.
»Diebe setzten K.o.-Gas gegen Touristen ein – Vier Personen in Wohnwagen betäubt – Hexangas in großen Mengen kann ernsthafte Gesundheitsschäden hervorrufen« und »Actionregisseur mit Gas ausgeraubt – Es war furchtbar«.
Der Artikel handelte von einem schwedischen Regisseur, der in seinem Haus an der Costa del Sol überfallen worden war. Als seine Freundin und er morgens aufwachten, standen alle Türen sperrangelweit offen, und das ganze Haus war ausgeräumt.
»So, das Fußvolk ist zurück«, sagte Berit und stellte ihre Handtasche auf den Platz gegenüber von Annika.
»Gutes Neues und so«, sagte Annika.
»Wie geht’s dir?«, fragte Berit und drapierte ihren Mantel auf dem Stuhlrücken.
Annika ließ ihre Hände auf der Tastatur ruhen.
»Danke der Nachfrage. Richtig gut«, erwiderte sie. »Dieses Jahr wird auf jeden Fall besser als das letzte, schlechter kann’s nämlich nicht mehr werden …«
Berit stellte ihren Laptop auf den Schreibtisch und sah sich um.
»Sind nur noch wir beide übrig?«, fragte sie. »Haben sie die anderen alle wegrationalisiert?«
Annikaließ den Blick durchs Großraumbüro schweifen.
Patrik stand drüben beim Sport und sprach exaltiert in sein Handy, ein paar Online-Typen waren in der ehemaligen Unterhaltungsredaktion zu sehen, wo jetzt Material für den Cyberspace produziert wurde, und ein Tagesredakteur der Sonntagsbeilage stand am Desk der Bildredaktion und trat von einem Bein aufs andere. Hausmeister Tore, der Mann, der dem Missmut ein Gesicht gab, stand an der Pinnwand und brachte gerade mit schwerfälligen Bewegungen die Verkaufsplakate des Tages an.
»Der Zeitungskrieg ist wie alle anderen Kriege«, sagte Annika. »Man reduziert die Bodentruppen und setzt auf Technik und schlaue Bomben. Wann hat Schyman mit dir gesprochen?«
Berit Hamrin zeigte auf Annikas Kaffeebecher.
»Freitag. Kann man den trinken?«
»Negativ. Mich hat er heute Morgen angerufen. Wollte er dich im Führungsstab dabeihaben?«
»Nachrichtenchefin«, erwiderte Berit. »Nein danke, hab ich ihm gesagt.«
Annika blickte auf ihren Monitor. Schyman hatte ihr einen höheren Posten angeboten.
»Ich bin gerade dabei, einen spanischen Gasmord zu recherchieren«, sagte sie. »Eine ganze Familie wurde bei einem Einbruch an der Costa del Sol ausgelöscht.«
Berit schaltete ihren Rechner ein und machte sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten.
»Ruf Rickard Marmén an«, sagte sie über die Schulter. »Ich habe seine Nummer nicht da, aber Rickard weiß über alles Bescheid, was an der Costa del Sol von Bedeutung ist.«
Annika griff zum Hörer und wählte die Nummer der Auslandsauskunft.
Besetzt.
Also rief sie wieder Google auf, dachte nach und schrieb dannbuscar numero telefono españa.Wurde das so geschrieben? Suchen Nummer Telefon Spanien?
Der erste Treffer führte zu etwas, dasPaginas Blancashieß, weiße Seiten.
Bingo!
EineSuchmaske erschien auf dem Bildschirm, sie setzte bei Provinz »Málaga« ein und bei Namen »Rickard Marmén« und drückteencontrar.
Hat man so was schon gesehen!
Er wohnte in der Avenida Ricardo Soriano in Marbella und war sowohl mit Festnetz- als auch Mobilnummer verzeichnet.
Berit setzte sich mit einem dampfenden Becher Kaffee an den Schreibtisch.
»Wer ist dieser Rickard?« Annika hatte bereits den Hörer in der Hand.
»Ein alter Bekannter meines Schwagers. Er wohnt schon seit zwanzig Jahren da unten und hat alles probiert und alles in den Sand gesetzt, was man sich nur vorstellen kann. Er hat Sonnenliegen vermietet und Deckhengste gezüchtet und Kneipen geführt, und eine Zeitlang war er Mitinhaber einer Firma, die Blockhütten verkauft hat.«
»An der spanischen Costa del Sol?«, sagte Annika skeptisch.
»Ich sag ja, er ist mit fast allem gescheitert.«
»Wie ist die Landesvorwahl von Spanien?«
»34«, sagte Berit und zog eine Grimasse, als sie den Kaffee probierte.
Annika versuchte es zuerst unter der Festnetznummer. Nach fünf Klingelzeichen meldete sich eine elektronische Stimme, die etwas Unverständliches auf Spanisch sagte, und sie legte wieder auf. Als sie die Mobilnummer wählte, rief zwei Sekunden später eine Männerstimme:»Sí, dígame!«
»Rickard Marmén?«
»Hablando!«
»Äh, mein Name ist Annika Bengtzon, ich rufe vomAbendblattin Stockholm an. Sind Sie der Rickard Marmén, der … Sprechen Sie überhaupt Schwedisch?«
»Aber sicher doch, Verehrteste. Was kann ich für Sie tun?«
Er hatte einen ausgeprägten Göteborger Zungenschlag.
»Ich rufe an, weil ich gehört habe, dass Sie über alles Bescheid wissen, was an der Costa del Sol vor sich geht«, sagte sie mit einem schnellen Blick zu Berit. »Und ich frage mich, ob Sie etwas von einem Einbruch mit Betäubungsgas wissen? Einem Gasüberfall?«
»Voneinem Gasüberfall?Einem?Meine Liebe, was anderes gibt es zurzeit gar nicht mehr. Alle Einbrüche werden mit Betäubungsgas begangen. In den Villen in Nueva Andalucía sind Gasmelder heute normaler als Feuermelder. Wollten Sie sonst noch was wissen?«
Es donnerte und brauste im Hintergrund, es hörte sich an, als stünde er auf einer Autobahn.
»Äh, ja«, sagte Annika, »was ist eigentlich ein Gasüberfall?«
»Die Täter leiten eine Art Narkosegas oder K.o.-Gas durch Fenster oder Klimaanlage ins Haus, und während die Bewohner betäubt sind, nehmen sich die Gangster, was sie wollen. Meistens lassen sie sich richtig Zeit dabei, essen was in der Küche und trinken eine Flasche Wein und so.«
»Und das ist die häufigste Einbruchsart, sagen Sie?«
»Eine richtige Epidemie. Das ging vor fünf, sechs Jahren los, obwohl Betäubungen mit K.o.-Gas auch früher schon mal vorgekommen sind.«
»Warum ist das gerade dort unten so üblich?«, fragte Annika.
»Weil hier das Geld sitzt, meine Liebe. Dicke Geldbündel lagern unter den Matratzen in den Hütten rund um Puerto Banús. Und dann treiben sich hier viele Kriminelle rum, wissen Sie, und jede Menge armer Drogenabhängiger, die alles für einen Schuss tun würden. Letzten Herbst haben sie eine Bande von Rumänen geschnappt, die hatten Hunderte von Villen entlang der Küste geplündert, von Gibraltar bis nach Nerja …«
»Die Nachrichtenagentur hat gemeldet, dass eine ganze Familie bei einem Gasüberfall ums Leben gekommen ist«, unterbrach ihn Annika. »Wissen Sie etwas davon?«
»Wann denn? Letzte Nacht? Wo?«
»Weiß ich nicht«, sagte Annika. »Nur, dass alle gestorben sind, inklusive zwei Kinder und ein Hund.«
Rickard Marmén schwieg. Wenn der Verkehrslärm nicht gewesen wäre, hätte man glauben können, die Verbindung sei unterbrochen worden.
»Weiß er was?« Berit formulierte die Frage stumm mit den Lippen.
Annika schüttelte den Kopf.
»Beieinem Gasüberfall getötet, sagen Sie?«, fragte er endlich, und es hörte sich an, als hätte sich der Verkehrslärm im Hintergrund verändert. »Kann ich Sie zurückrufen?«
Annika gab ihm ihre Durchwahl- und Handynummer.
»Was hältst du davon?«, fragte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
Berit biss in einen Apfel. »Von der Kriminalität an der Costa del Sol oder von der Umstrukturierung?«
»Von der Umstrukturierung.«
Berit setzte ihre Computerbrille auf und beugte sich zum Monitor vor.
»Man muss das Beste daraus machen«, sagte sie. »Wenn die Verantwortung für das, was ich tue, bei einem anderen liegt, habe ich mehr Zeit für das, was ich wirklich tun will.«
»Was denn? Eigene Artikelserien? Unkraut jäten im Garten? Oder hast du vor, den Tauchschein zu machen?«
»Ich schreibe Lieder«, erklärte Berit, während sie gleichzeitig konzentriert etwas auf dem Monitor las.
Annika starrte ihre Kollegin an.
»Lieder? Was für Lieder? Popsongs?«
»Schlager unter anderem. Einmal haben wir einen für den Grand Prix eingereicht.«
Berit ließ den Bildschirm nicht aus den Augen. Annika merkte, wie ihr die Kinnlade runterfiel.
»Du spinnst. Du hast imgreen roomgesessen? Wie war das?«
Berit blickte hoch.
»Das Lied hat es nicht unter die zwölfhundert Besten geschafft. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass eine Lokalband in Kramfors es bei ihren Auftritten im südöstlichen Ångermanland spielt. Hast du Lillian Bergqvists Schreiben an den Obersten Gerichtshof gelesen?«
»Nein, bin noch nicht dazu gekommen. Wie heißt es?«
»›Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens …‹«
»Das Lied.«
Berit nahm die Brille ab.
»Absolutely me«, erwiderte sie. »Es enthält unter anderem die äußerst kreative Textzeileto be or not to be. Ich arbeite seit zweiunddreißig Jahren bei dieser Zeitung, und wenn ich Glück habe, hältsie sich noch zehn Jahre über Wasser. Dann bin ich fünfundsechzig und gehe in Rente. Ich schätze die Möglichkeit, Dinge zu recherchieren und Artikel zu schreiben, wirklich sehr, aber wer mir die Aufträge gibt oder auf welchem Stuhl ich sitze, ist mir dabei ziemlich egal.«
Sie sah Annika forschend an.
»Findest du, dass ich bitter und resigniert klinge?«
Annika atmete auf.
»Überhaupt nicht, wirklich«, sagte sie. »Geht mir genauso. Nicht, dass ich bald in Rente gehe, aber ich bin mittlerweile so viel durch die Gegend gefahren, dass mir die Lust auf Reisekrankheit vergangen ist.To be or not to be.Und wie weiter?«
»No more crying, no self-denying«, antwortete Berit, setzte ihre Brille auf und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Wie schätzt du Filip Anderssons Chancen auf Freispruch ein?«
»Dass die Generalstaatsanwältin persönlich das Wiederaufnahmeverfahren beantragt, ist ein gewichtiges Argument«, sagte Annika.
Sie rief die Website der Staatsanwaltschaft auf und klickte sich zum Schreiben der Generalstaatsanwältin durch.
»Du hast ihn doch vor ein paar Monaten in Kumla besucht«, sagte Berit. »Glaubst du, dass er unschuldig ist?«
Annika überflog das Schreiben. Ihr wurde immer unbehaglich, wenn sie etwas über diese Morde las. Sie hatte mit in dem Streifenwagen gesessen, der als Erster am Tatort eintraf, und war geradezu über die Mordopfer gestolpert.
Als sie letzten Herbst im Fall des ermordeten prominenten Polizeikommissars David Lindholm recherchiert hatte, war sie immer wieder auf FilipAnderssons Namen gestoßen. Andersson war ein ziemlich erfolgreicher Finanzmann, der öfter auf den Partyfotos der Schickeria rund um den Stureplan auftauchte als auf den Wirtschaftsseiten vonDagens Industri, bevor er in ganz Schweden als »Axtmörder von Södermalm« bekannt wurde. Er war ein guter Freund von David Lindholm gewesen.
»Es war ja Anderssons durchgeknallte Schwester, die die Leute umgebracht hat«, sagte Annika.
Sie klickte die Website der Staatsanwaltschaft weg.
»Wiegut kennst du Rickard Marmén?«
»Was heißt kennen«, erwiderte Berit. »Mein Schwager Harald, mit dem Thord immer zum Angeln fährt, hat seit Ende der Siebziger eine Wohnung in Fuengirola. Als die Kinder klein waren, haben wir dort jeden Sommer ein paar Wochen Ferien gemacht. Rickard ist einer von denen, die einem früher oder später über den Weg laufen, wenn man sich dort unten aufhält. Ich bin mir gar nicht so sicher, dass Filip Andersson unschuldig ist.«
»Er ist ein ziemlich unsympathischer Typ«, sagte Annika und tippte die Worte »schweden spanische sonnenküste« ins Google-Suchfeld. Sie landete aufwww.costadelsol.nu. Die Seite wurde geladen, und Annika beugte sich vor, um zu lesen.
An der Costa del Sol gab es einen schwedischen Radiosender, der rund um die Uhr Werbespots auf Schwedisch ausstrahlte, erfuhr sie. Es gab ein schwedisches Monatsmagazin und eine schwedische Zeitung, schwedische Immobilienmakler und schwedische Golfplätze, schwedische Restaurants und schwedische Lebensmittelgeschäfte, schwedische Zahnärzte, Tierärzte, Banken, Baufirmen und Fernsehtechniker. Sie fand ein paar Leserbriefe, die klagten, dass früher alles besser war, und einen Kalender, der unter anderem vermeldete, dass die schwedische Kirche den Tag der Zimtschnecke feierte. Wie sich herausstellte, war sogar Marbellas Bürgermeister ein Schwede, oder besser gesagt, er war mit einer Schwedin verheiratet. Sie hieß Angela Muñoz, wurde aber anscheinend Titti genannt.
»Großer Gott«, rief sie verblüfft. »Marbella ist offenbar so schwedisch wie ein verregneter Mittsommerabend.«
»Allerdings mit bedeutend größerer Sonnenwahrscheinlichkeit«, sagte Berit.
»Wie viele Schweden wohnen da?«, fragte Annika.
»Um die vierzigtausend.«
Annika zog die Augenbrauen hoch.
»Das sind ja mehr als in Katrineholm«, sagte sie.
»Und das sind nur die mit festem Wohnsitz dort unten«, sagte Berit. »Es gibt noch weitaus mehr, die nur zeitweise dort leben.«
»Und dort hat man nun eine ganze Familie ermordet«, sagte Annika. »Mitten in der Schwedenidylle.«
»GuterAufmacher«, meinte Berit und nahm den Hörer ab, um die Generalstaatsanwältin anzurufen.
Annika klickte weiter zur Überschrift »Neueste Nachrichten aus Spanien«.
Die spanische Polizei hatte in La Campana eine große Menge Rauschgift sichergestellt. Siebenhundert Kilo Kokain waren in einem Obst-Lagerhaus beschlagnahmt worden. Drei Führer der umstrittenen baskischen ParteiANVstanden unter Verdacht, an einem Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Für das kommende Jahr wurde Trockenheit befürchtet, ein Wal war vor San Pedro gestrandet, und der Vater von Antonio Banderas sollte in Marbella beerdigt werden.
Sie verließ Google und loggte sich ins Archiv desAbendblattsein.
Unmengen von schwedischen Promis hatten anscheinend ein Haus oder eine Wohnung dort unten, Schauspieler und Künstler und Sportidole und Finanzhaie.
Sie griff zum Telefonhörer und rief erneut die Auslandsauskunft an. Diesmal hatte sie Glück. Sie bat um die Telefonnummern des Restaurants La Garrapata, des Kaufhauses Svenska Magasinet, der ZeitungSydkustenund der Immobilienvermittlung Wasa, alle in der Provinz Málaga.
Anschließend rief sie überall an.
Keiner der Schweden, die sich am spanischen Ende der rauschenden Leitung meldeten, wusste etwas von Todesfällen im Zusammenhang mit einem Gasüberfall, aber alle konnten haarsträubende Geschichten von anderen Einbrüchen erzählen, von Vergangenheit und Zukunft der Gegend, von Wetter und Leuten und Verkehr.
Annika erfuhr, dass über eine Million Menschen in der Provinz lebten, davon eine halbe Million in Málaga und ein paar Hunderttausend in Marbella. Die Durchschnittstemperatur betrug siebzehn Grad im Winter und siebenundzwanzig im Sommer, die Zahl der Sonnentage lag bei dreihundertzwanzig. Marbella war1600vor Christus von den Römern gegründet worden und hieß zuerst Salduba. Im Jahr711hatten die Mauren die Stadt erobert und sie in Marbi-la umgetauft. Die alten Stadtteile standen bis heute auf römischen Ruinen.
»Wirsind noch in Tierfellen herumgehüpft, als die da unten schon fließend Wasser und Klimaanlagen hatten«, sagte Annika verwundert, als sie aufgelegt hatte.
»Kommst du mit, was essen?«, fragte Berit.
Sie loggten sich aus, damit niemand Mails unter ihren Usernamen versenden konnte, während sie beim Mittagessen waren.
Annika suchte in ihrer Handtasche gerade nach einer Essensmarke, als ihr Apparat klingelte. Die Nummer auf dem Display war elf Ziffern lang und begann mit34.
»Annika Bengtzon? Rickard Marmén hier. Ich habe mich mal in Sachen Gasüberfall umgehört. Die Meldung stimmt.«
Er musste sich von der Schnellstraße entfernt haben, denn diesmal war es ganz still im Hintergrund.
»Aha«, sagte Annika und kramte verbissen weiter. »Haben Sie Informationen über die Familie?«
»Die gestorben ist?«
»Ja.« Sie fand einen halbzerfetzten Coupon in der Schlüsseltasche.
»Wussten Sie, dass es die Familie von Sebastian Söderström war?«
Sie hätte beinahe »Wer?« gesagt, schnappte aber nur nach Luft.
»Meinen Sie den Eishockeyspieler?«, fragte sie und ließ die Essensmarke auf den Schreibtisch fallen.
»Tja, ist wohl zehn Jahre her, dass er aus derNHLausgeschieden ist. Er wohnt ja schon eine Weile hier unten und betreibt einen Tennisclub. Soweit ich weiß, hat es seine ganze Familie erwischt, einschließlich Schwiegermutter.«
»Sebastian Söderström ist tot?«, fragte Annika laut und wedelte mit dem Arm, um Berit aufzuhalten, die schon auf dem Weg nach draußen war. »Heißt das, es war eine schwedische Familie, die umgebracht wurde?«
»Er hatte eine Frau und zwei noch ziemlich kleine Kinder.«
»Was ist mit Sebastian Söderström?«, fragte Patrik, der plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr auftauchte.
Annika drehte ihm den Rücken zu und steckte den Zeigefinger in ihr freies Ohr.
»Wie sicher ist diese Information?«, fragte sie.
»Bombensicher«,antwortete er.
»Wer kann das bestätigen?«
»Keine Ahnung, Verehrteste. Aber jetzt wissen Sie’s.«
Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Was war denn?«, wollte Patrik wissen.
Berit kam an ihren Platz zurück und stellte die Handtasche wieder auf den Newsdesk.
»Such doch mal nach Sebastian Söderström auf www.paginasblancas.es«, sagte Annika. Berit loggte sich ein, rief die Seite auf und las laut vor: Las Estrellas de Marbella, Nueva Andalucía.
Die Nummer war neunstellig und begann mit952.
»Was geht hier vor?«, fragte Patrik und wedelte drängelnd mit den Händen.
»Warte, muss was nachprüfen«, sagte Annika und wählte die Nummer der Villa in Las Estrellas de Marbella. Nach fünf Klingelsignalen meldete sich eine elektronische Frauenstimme:»Ha llamado a nuevo cinco dos …«. Sie legte auf und wählte die Durchwahl des Pressedienstes des Außenministeriums.
»Mach dir nicht zu große Hoffnungen«, sagte Berit, die gesehen hatte, welche Nummer sie wählte. »Die sind normalerweise die Letzten, die was wissen.«
Nach dem Tsunami hatte sich das Personal des Außenministeriums zusammengerissen und war eine Zeitlang beinahe entgegenkommend gewesen, aber mittlerweile hatte man zur selben arroganten Einstellung wie vor der Flutkatastrophe zurückgefunden.
»Hier ist Annika Bengtzon vomAbendblatt«, sagte sie, als die Presseabteilung desAMsich endlich meldete. »Ich hätte gern die Bestätigung, dass es sich bei der Familie, die heute Nacht bei einem Einbruch mit K.o.-Gas in Las Estrellas de Marbella in Südspanien getötet wurde, um schwedische Staatsbürger handelt.«
»Eine derartige Meldung liegt uns nicht vor«, entgegnete die Dame schnippisch.
»Würden Sie so freundlich sein, das zu überprüfen?«, sagte Annika honigsüß und legte auf.
»Mein Spanisch ist zu schlecht für die spanische Polizei«, sagte Berit.
»Meinsauch«, sagte Annika.
»Interpol«, schlug Berit vor.
»Europol«, entgegnete Annika. »Die arbeiten mehr operativ.«
»WAS IST LOS?!«, brüllte Patrik.
Annika zuckte zusammen und sah ihren Koll… äh … Nachrichtenchef erstaunt an.
»Ich habe eine Quelle, die behauptet, dass es sich bei der toten Familie an der Costa del Sol um Sebastian Söderström, seine Frau, seine Kinder und seine Schwiegermutter handelt.«
Patrik drehte sich auf dem Absatz um, hielt die Hände an den Mund und brüllte: »Sport!«
Annika machte drei große Schritte und riss ihn an der Schulter zurück.
»Halt, stopp«, sagte sie, nachdem er herumgewirbelt war und ihr jetzt wieder Auge in Auge gegenüberstand. »Ich muss das erst bestätigen lassen. Du kannst die Jungs vom Sport nicht mit seinem Nachruf beauftragen, bevor wir wissen, ob das überhaupt stimmt.«
»Die müssen sofort überall anrufen«, widersprach Patrik.
»Und was sollen sie sagen? Dass wir glauben, dass er tot ist? Und selbst wenn das stimmt, wissen wir immer noch nicht, ob seine Angehörigen schon informiert worden sind.«
»Die sind doch alle tot, hast du gesagt.«
Annika stöhnte.
»Vielleicht hat er ja Geschwister und Eltern?«
Sie trat noch einen Schritt näher an ihn heran. So reichte sie ihm gerade bis an den Adamsapfel.
»Ich gebe dir einen guten Rat, Nachrichtenchef. Zügle deinen Übereifer. Du wirst in den Graben rauschen, dass es nur so kracht, wenn du in dem Tempo weitermachst.«
Patrik wurde eine Idee blasser.
»Bloß, weil du nicht befördert worden bist«, sagte er und ging hinüber zum Sport.
»Lass uns das selbst nachprüfen«, sagte Berit und griff zum Telefon.
Nach einer Reihe von Anrufen hatten sie die Bestätigung der spanischen Polizei, dass fünf Personen, wohnhaft außerhalb von Marbella,in der Nacht bei einem sogenannten Gasüberfall ums Leben gekommen waren. Zur Identität oder Nationalität der Opfer könne man frühestens gegen Mittag des nächsten Tages etwas sagen, hieß es.
Sie legten eine Pause ein und eilten nach unten in die Kantine.
»Sport ist nicht meine starke Seite«, sagte Berit, als sie sich jeweils mit einem Teller Gulasch an einem der Fenstertische niederließen. »Wer ist der Mann?«
Annika knabberte an einer Scheibe Knäckebrot und sah hinaus in das Grau vor dem Fenster.
»Er war jahrelang Profi in derNHL«, sagte sie. »Zuerst bei den Anaheim Ducks und dann bei Colorado Avalanche. Anfang der Neunziger hat er ein paar Saisons in der schwedischen Nationalmannschaft gespielt, ich glaube, er hat1991in Finnland und ’92in der TschechoslowakeiWM-Gold geholt …«
Berit legte die Gabel auf den Tellerrand.
»Woher weißt du das alles?«
Annika trank von ihrem Mineralwasser und schluckte mühsam.
»Er war Svens Idol«, erwiderte sie kurz, und da fragte Berit nicht weiter.
»Ist schon seltsam mit diesen ehemaligen Sportstars«, sagte sie und folgte Annikas Blick nach draußen. »Sie sind wie schwarze Löcher, die ziehen das Elend nur so an.«
Große Regentropfen klatschten an die Fensterscheibe.
»Stell dir vor, du hast deine große Zeit mit vierundzwanzig«, sagte Annika nachdenklich. »Dann bist du für den Rest deines Lebens nur nochehemalig.«
Sie ließen den Kaffee ausfallen und gingen wieder nach oben in die Redaktion.
Patrik wartete schon ungeduldig auf Annikas Platz.
»Ich habe was für dich«, sagte er. »Ab heute Nachmittag soll Kicki Pop das Programm moderieren, das vor dem Wochenrückblick auf P1gesendet wird. Ich möchte, dass du Erik Ponti vomEchoanrufst und ihn fragst, was er davon hält.«
Annika starrte ihren, tja, Nachrichtenchef an und wartete auf das erlösende Gelächter.
Eskam nicht.
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«, fragte sie. »Ich bin am Gasmord in Marbella dran, das ist ein Riesending. Da unten sind massenhaft Schweden, die …«
»Darum kann Berit sich kümmern. Ich will, dass du jetzt das hier machst.«
Sie traute ihren Ohren nicht.
»Du gibst mir allen Ernstes den Auftrag, Erik Ponti anzurufen, damit er schlecht über eine Kollegin redet? Die außerdem jung und blond ist?«
»Er ist doch bekannt dafür, dass er solche Tussis direkt über den Fußknöcheln absägt.«
Annika setzte sich auf ihren Stuhl, den Rücken kerzengerade.
»Ponti ist zwar aufgeblasen und selbstgefällig«, sagte sie, »aber doch nicht blöd. Er hat ein einziges Mal eine blonde Kollegin kritisiert, und das sogar zu Recht. Trotzdem hat er dafür jede Menge Schläge einstecken müssen. Und du glaubst wirklich, dass er das noch mal tut?«
Patrik beugte sich über sie.
»Du rufst da jetzt an«, befahl er.
Annika senkte den Kopf, griff zum Hörer und rief beimEchoan.
Erik Ponti wollte keinen Kommentar abgeben, weder zu Kicki Pop persönlich noch zu ihrem Programm.
»Was für eine Überraschung«, sagte Annika, zog ihre Jacke an und ging Richtung Hausmeisterei.
»Wo willst du hin?«, rief Patrik ihr hinterher.
»Ich habe um zwei eine Verabredung«, sagte sie über die Schulter.
»Mit wem?«
Sie drehte sich um und sah ihn an.
»Es gibt etwas, das nennt sich Quellenschutz«, sagte sie. »Schon mal davon gehört?«
»Nicht gegenüber deinen Vorgesetzten«, sagte er, und Annika sah, dass seine Ohrläppchen dunkelrot angelaufen waren.
»Nicht gegenüber dem verantwortlichen Herausgeber«, korrigierte sie ihn.
Dannging sie zur Hausmeisterei und ließ sich vom guten Tore ein Auto geben.
Der Regen wurde stärker, und sie musste die ganze Fahrt über die Scheibenwischer eingeschaltet lassen. Es war erst halb zwei, aber die Dunkelheit kam schon näher, schlich sich über frierende Fußgänger und schmutzige Straßenlaternen und Lastzüge mit flimmernden Scheinwerfern heran.
Sie fuhr Richtung Westen, nach Enköping, vorbei an Rissne, Rinkeby und Tensta. Vorbei an Hochhäusern, Reihenhäusern, leeren Schulen und einem verlassenen Fußballplatz. Auf der Schnellstraße neben dem S-Bahnhof bei Barkarby musste Annika plötzlich bremsen. Sie reckte den Hals und spähte über die Autoschlange nach vorn, ob vielleicht ein Unfall passiert war, irgendetwas, was sie an die Zeitung durchgeben konnte. Vielleicht war ein Fußgänger angefahren worden. Oder jemand hatte sich vor den Zug geworfen. Das passierte ziemlich oft.
Aber anscheinend war nichts Größeres vorgefallen, denn der Verkehr begann wieder zu rollen, dicht und zäh. Die Bebauung lichtete sich, Nadelwald und Industriegebiete nahmen zu. Die Straßenverhältnisse waren schlecht, und das Auto vor ihr spritzte ihr graubraunen Matsch auf die Windschutzscheibe, so dass sie die Scheibenwischer auf höchste Stufe stellen musste. Sie schaltete das Radio an, landete aber mitten in einem Werbeblock und machte es wieder aus.
Die Landschaft um sie herum löste sich immer mehr auf. Die Industriegebiete verschwanden, nur die Nadelbäume blieben übrig. Ihre Zweige streckten sich nach dem Auto, demselben schmutzigen Volvo, mit dem sie nach Garphyttan hinaufgefahren war, an jenem Tag im Dezember, an dem sie Alexander fand.
Bei Brunna bog sie nach rechts ab, Richtung Roligheten. Auf einmal hörte der Regen auf, und alles war still. Annika hatte einen ausnehmend schlechten Orientierungssinn, deshalb studierte sie die Karten genau und schrieb sich die Strecken vorher exakt auf. Bei Lerberga nach links, dann nach achthundert Metern wieder links, vorbei an Fornsta. Durch ein militärisches Übungsgelände und dann nach rechts.
Siewollte zum Lejongården, einem Familienheim am Lejondalssjön, wo sich Julia Lindholm mit ihrem wiedergefundenen Sohn aufhielt.
Annika hatte versprochen, die beiden zu besuchen, sich aber bislang davor gedrückt. Sie wusste nicht, was sie erwartete, denn sie hatten sich erst zweimal gesehen, beide Male unter extremen Umständen.
Beim ersten Mal waren sie zusammen direkt in den Mordfall an der Sankt Paulsgatan auf Söder hineingestolpert. An jenem Abend hatte Annika die Polizistin Julia und ihre Kollegin Nina Hoffman bei ihrer Streife im Wagen1617durch Södermalm begleitet. Der Funkspruch klang nicht besonders alarmierend, ein häuslicher Streit, hieß es, und unter der Bedingung, dass sie sich im Hintergrund hielt, durfte Annika mit hinaufgehen. Nina hatte sie sofort weggeschickt, als sie die Verletzten entdeckten.
Bei ihrer zweiten Begegnung hatte Julia im Gefängnis gesessen, verdächtig des Mordes an ihrem Ehemann, dem prominenten Polizisten David Lindholm, und an ihrem Sohn Alexander. Sie war zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dass sie die ganze Zeit beteuert hatte, sie sei unschuldig und eine andere, ihr unbekannte Frau habe ihren Mann erschossen und Alexander mitgenommen, hatte niemanden gekümmert.
Ihrem Sohn Alexander war Annika erst einmal begegnet, in der Nacht, als sie ihn in Yvonne Nordins Waldhütte außerhalb von Garphyttan aufspürte. Der Junge war sieben Monate lang in der Gewalt der Mörderin gewesen, als Annika ihn wiederfand.
Die Autoscheinwerfer trafen auf eine grobfaserige Holzfassade in leicht glänzendem Ochsenblutrot – also nicht das echte schwedische Falunrot, sondern Ölfarbe. Annika bog auf den Hof, zog die Handbremse an, schaltete die Scheinwerfer aus und blieb bei laufendem Motor im Dunkeln sitzen.
Haus Lejongården war ein flaches dunkles, einstöckiges Gebäude, das am Ufer des Lejondalssjön stand. Es sah aus wie ein Kindergarten oder vielleicht eher wie ein kleineres Altenheim. Im Schein der Eingangsbeleuchtung war ein kleiner Spielplatz zu erkennen. Der See lag still und grau im Hintergrund.
»Ichmöchte mich wirklich bei Ihnen bedanken«, hatte Julia am Telefon gesagt, und ihre Worte hatten Annika verlegen gemacht.
Sie fuhr sich übers Haar, stellte den Motor ab und stieg auf den Kiesplatz hinaus.
Am Eingang blieb sie stehen und blickte über den See. Ein paar kahle Birken wiegten sich zögernd am Ufer, die Zweige ebenso grau wie das Wasser. Einige hundert Meter vom Ufer entfernt ragte eine baumbestandene Insel aus dem See. In weiter Ferne war das Dröhnen der Autobahn zu hören.
Die Tür ging auf, und eine Frau in Strickjacke und Schaffellhausschuhen sah heraus.
»Annika Bengtzon? Hallo, ich bin Henrietta.«
Sie gaben sich die Hand. Henrietta? Müsste sie wissen, wer diese Frau war?
»Julia und Alexander erwarten Sie.«
Sie betrat das Wohnheim. Es roch ein wenig nach Schimmel und Siebzigerjahren. Helle Linoleumbeläge, rosa Glasfasertapeten, Fußleisten aus Plastik. Direkt geradeaus, hinter einer halboffenen Tür, brannte Licht, dort schien sich eine Art Versammlungsraum zu befinden. Ein paar braune Plastikstühle standen an einem furnierten Tisch. Annika hörte jemanden lachen.
»Ich möchte Sie bitten, sich ganz natürlich zu verhalten«, sagte Henrietta, und Annika merkte sofort, wie sich alles in ihr versteifte.
»Hier entlang …«
Henrietta bog links ab, in einen engen Korridor mit einer Reihe Türen an der rechten Wand und Fenstern zum Parkplatz an der linken.
»Da fällt mir sofort der einzige Interrail-Urlaub meines Lebens ein«, sagte Annika und hoffte, dass sie normal klang.
Henrietta tat, als hätte sie nichts gehört. Sie blieb vor einer der Türen in der Mitte des Korridors stehen und klopfte leicht.
Nirgendwo gab es Türschlösser oder Zimmernummern, bemerkte Annika. Auf der Homepage des Familienheims hatte sie gelesen, dass die Einrichtung um »ein anheimelndes Gefühl von Fürsorglichkeit und Geborgenheit« bemüht war.
DieTür ging auf. Ein Dreieck aus gelbem Licht fiel auf den Flurboden.
Henrietta trat einen Schritt zurück.
»Den Kuchen hat Alexander gebacken«, sagte sie und ließ Annika vorbei. »Ruf mich, wenn ich ihn eine Weile zum Spielen mit rausnehmen soll.«
Den letzten Satz sagte sie ins Zimmer hinein.
Annika blieb auf der Schwelle stehen.
Der Raum war viel größer, als sie gedacht hatte. Er war rechteckig und hatte eine Fensterwand mit Ausgang auf eine Terrasse. Ein Doppelbett und ein kleines Kinderbett standen Seite an Seite gleich neben der Tür, weiter hinten im Zimmer befanden sich ein Sofa und ein Fernseher und ein Küchentisch mit vier Stühlen.
Am Tisch saß Julia Lindholm, sie trug einen Pullover mit zu langen Ärmeln und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Sohn wandte der Tür den Rücken zu, und seine Arme bewegten sich, als ob er hektisch zeichnete.
Julia sprang auf, lief auf sie zu und umarmte sie fest.
»Wie schön, dass Sie kommen konnten«, sagte sie und drückte Annika an sich.
Annika, die zur Begrüßung die Hand ausgestreckt hatte, kam sich etwas überrumpelt vor und erwiderte die Umarmung zögernd. Hinter ihnen wurde die Tür geschlossen.
»Ja, hm, das war doch klar«, sagte sie, »dass ich Sie beide besuche.«
»Bisher sind noch nicht viele gekommen«, sagte Julia, als sie Annika endlich losließ und zum Sofa ging. »Über Weihnachten waren meine Eltern hier, und Nina hat uns ein paarmal besucht, aber Davids verwirrte Mutter wollte ich hier nicht haben, da habe ich nein gesagt. Haben Sie sie mal kennengelernt?«
»Davids Mutter? Nein.«
Annika ließ Tasche und Jacke neben dem Sofa auf den Boden fallen. Sie sah zu dem Jungen hinüber und ahnte sein weiches Profil hinter den Locken. Er malte mit dicken Wachsmalkreiden, entschlossen und ohne aufzublicken. Vorsichtig trat sie näher, ging neben ihm in die Hocke und versuchte, seinen Blick einzufangen.
»Hallo,Alexander«, begrüßte sie ihn. »Ich bin Annika. Was malst du denn Schönes?«
Der Junge biss die Zähne fester zusammen und ließ den Stift noch schneller übers Papier fahren. Die Striche waren dick und schwarz.
»Davids Mutter ist so verwirrt«, sagte Julia, »und das würde noch schlimmer werden, wenn wir uns an so einem seltsamen Ort träfen. Mit Omas Besuch warten wir, bis wir wieder zu Hause sind, nicht wahr, Schatz?«
Der Junge reagierte nicht. Das ganze Blatt war kreuz und quer mit pechschwarzen Strichen bedeckt. Annika setzte sich neben Julia Lindholm.
»Er spricht im Moment nicht viel«, sagte Julia leise. »Sie sagen, das ist nicht so schlimm, es braucht seine Zeit.«
»Spricht er gar nicht?«, fragte Annika.
Julias Lächeln verschwand. Sie schüttelte den Kopf.
Mit mir hat er gesprochen in jener Nacht, dachte Annika. Er hat mehrere Sätze gesagt.
Hast du noch mehr Speckautos? Ich hab Angst. Die Tante ist böse. Ich mag die grünen lieber.
Julia stellte sich ans Fenster. Annika sah im Spiegelbild der Scheibe, dass sie an einem Daumennagel knabberte. Dann sprang sie plötzlich zu einem Wandtelefon neben der Terrassentür:
»Henrietta, kannst du Alexander nehmen? Jetzt gleich. Vielen Dank.«
Die Stille, nachdem Julia aufgelegt hatte, war wie aufgeladen. Annikas Mund wurde trocken, in ihren Fingern begann es zu prickeln. Sie massierte sich die Hände auf dem Schoß und blickte auf den Smaragdring ihrer Großmutter. Eine ewig lange Minute verstrich, bevor die Pflegerin, oder was sie nun war, ins Zimmer kam, Alexander an die Hand nahm und vorschlug:
»Wollen wir uns einen Film ansehen, wir zwei?Findet Nemo?«
Sie wandte sich an Annika.
»Der handelt von einem kleinen Fischjungen, der seinem Vater ausgebüxt ist, aber am Schluss findet er wieder nach Hause.«
»Ja«, sagte Annika. »Ich weiß.«
DieStille hielt an, auch als sie allein waren.
»Ich arbeite ja beimAbendblatt«, brach Annika das Schweigen. »Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie möchten, dass ich in der Zeitung etwas über Sie schreibe. Über Sie und Alexander. Wie es Ihnen hier geht.«
Julia biss auf ihrem Daumennagel herum.
»Noch nicht«, sagte sie. »Später vielleicht. Ja, später. Ich will darüber sprechen, aber das Durcheinander in meinem Kopf ist im Moment noch zu groß.«
Annika wartete stumm. Sie hatte auch nicht erwartet, dass Julia schon heute Nachmittag über die Zeit nach ihrer Freilassung sprechen würde, aber sie hoffte, dass sie es irgendwann tun würde. Für die Medien endeten die Kriminalfälle damit, dass das Verbrechen aufgeklärt und der Täter verurteilt war. Über die Folgen der schrecklichen Ereignisse, den langen und mühsamen Weg des Opfers zurück in ein einigermaßen normales Leben, darüber wurde nie geschrieben.
»Ich bin so wütend«, sagte Julia leise und beinahe erstaunt. »Ich bin so wahnsinnig wütend auf die ganze Welt.«
Langsam ging sie zum Tisch und sank auf Alexanders Stuhl. Sie war so schmal, dass sie beinahe in dem riesigen Pullover verschwand.