Prime Time - Liza Marklund - E-Book

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Liza Marklund

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Beschreibung

Schwedens erfolgreichste Fernsehmoderatorin ist ermordet worden. Ein abgelegenes Schloss außerhalb Stockholms ist der Tatort. Als die Journalistin Annika Bengtzon dort ankommt, trifft sie auf die High Society des schwedischen Fernsehens. Und jeder von ihnen scheint ein Motiv gehabt zu haben.

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Das Buch

Schwedens erfolgreichste Fernsehmoderatorin Michelle Carlsson ist ermordet worden. Journalistin Annika Bengtzon wollte gerade mit ihrer jungen Familie in einen Kurzurlaub starten, als sie diese Nachricht erreicht. Da keiner ihrer Kollege greifbar ist, fährt schließlich sie zum Tatort, ein Schloss in der Nähe Stockholms. Das schwedische Fernsehen hatte dort seine Stars gefeiert. Je länger Annika Bengtzon recherchiert, desto deutlicher wird, dass Carlsson eine der meistgehassten Menschen der Medienbranche war. Jeder der Anwesenden in jener Nacht hatte ein Motiv – doch wer würde einen kaltblütigen Mord begehen?

»Liza Marklund ist zweifellos eine Klasse für sich.« Henning Mankell

Die Autorin

Liza Marklund, geboren 1962 in Piteå, arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender, bevor sie mit der Krimiserie um Annika Bengtzon international eine gefeierte Bestsellerautorin wurde.

Von Liza Marklund sind in unserem Hause bereits erschienen:

In der Reihe „Ein Annika-Bengtzon-Krimi“:

Olympisches Feuer

Studio 6

Paradies

Prime Time

Kalter Süden

Weißer Tod

Jagd

Verletzlich (HC-Ausgabe)

Liza Marklund

Prime Time

Kriminalroman

Aus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Dieser Roman erschien erstmals im Jahr 2003 auf Deutsch.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2016

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Alle Rechte für die Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

© 2002 by Liza Marklund

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe: Prime Time (Piratförlaget, Stockholm, 2002)

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Johann Klorsjö / getty images, © FinePic®, München

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-8437-1289-7

FREITAG, 22. JUNIMittsommerabend

Das überlebe ich nicht, dachte Annika. Ich sterbe.

Sie presste die Hände an die Stirn und zwang sich, zu atmen und ruhig zu werden. Das Gepäck im Flur verschwamm vor ihren Augen zu einer unförmigen Masse, die den Flur und die ganze Welt zu überschwemmen drohte und unmöglich zu überblicken war. Woher sollte sie wissen, was sie vergessen hatte?

Da waren die Kleider der Kinder, die Badetasche, der Brei und die Gläschen, Regenkleider und Gummistiefel, Zelt und Schlafsäcke, der Kinderwagen mit dem Regenschutz, Thomas’ und ihre Sachen in den Rucksäcken, die Decke und die Kuscheltiere …

»Soll Ellen das hier anhaben?«, fragte Thomas, der an der Tür zum Schlafzimmer stand.

Annika musterte das einjährige Mädchen, das auf die Tasche mit den Badesachen zuwackelte.

»Wie meinst du das?«

»Hast du nichts Schöneres, was du ihr anziehen kannst?«

Sie merkte, wie in ihrem Kopf eine Sicherung durchbrannte.

»Was stimmt denn nicht damit?«, brüllte sie.

Thomas strich sich das Haar aus der Stirn und sah sie erstaunt an.

»Ich frag ja nur. Was ist denn los mit dir?«

Ihre Unzulänglichkeit, das Gefühl, ständig unterlegen zu sein, überwältigte sie.

»Ich habe den ganzen Vormittag gepackt«, sagte sie, »aber ein Spitzenkleidchen habe ich nicht mitgenommen. Sollte ich?«

Er schnaubte kurz.

»Ich wollte nur wissen, ob das Kind unbedingt wie ein Grubenarbeiter aussehen muss.«

Sie machte fünf schnelle Schritte auf ihn zu, starrte ihm in die Augen. »Wie ein Grubenarbeiter? Was soll das denn heißen? Fahren wir in die Schären, oder nehmen wir an irgendeiner verdammten Prüfung in Sachen Etikette teil?«

Er war ehrlich erstaunt, denn sie fing so gut wie nie Streit mit ihm an. Die Wucht der Wut, die ihm entgegenbrandete, wirkte lähmend, er machte den Mund auf, um sie anzuschreien, brachte jedoch keinen Laut heraus. Stattdessen fing etwas an zu piepen, einer ihrer zahlreichen elektronischen Apparate, hartnäckig und immer lauter werdend.

»Deins oder meins?«, fragte Annika.

Thomas machte auf dem Absatz kehrt, ging ins Schlafzimmer, um den Pieper, das Handy und den Palm zu kontrollieren. Annika ließ den Blick über das Chaos im Flur schweifen. Sie konnte nicht herausfinden, woher das Signal kam.

»Also, von hier drinnen kommt es nicht«, rief Thomas.

Annika fing an, zwischen den Taschen zu wühlen, irgendwo in diesem Durcheinander ertönte der halb erstickte Laut und gab keine Ruhe. Ellen versuchte, sich an Annikas Tasche aufzurichten, die Tasche rutschte weg und das Mädchen fiel mit dem Gesicht auf den Fußboden.

»Oje, oje, soll Mama mal pusten, nicht so schlimm, meine Süße …«

Das Klingeln war im erschreckten Weinen des Kindes nicht mehr zu hören. Annika nahm ihre Tochter hoch, flüsterte, sog ihren Geruch und die Zartheit ein, spürte die Wärme. Sie setzte sich auf das Schuhregal, der kleine Körper wurde weich, Ellen hatte den Daumen im Mund. Als sie zu weinen aufgehört hatte, piepste es auch nicht mehr. Stattdessen klingelte das Telefon.

Annika erhob sich mit dem Kind auf dem Arm, klemmte sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter und blies gleichzeitig weiter in Ellens Gesicht.

»Hast du es schon gehört?«, fragte Spiken, der Nachrichtenchef. Annika wiegte beruhigend ihr Kind.

»Was?«

»Das aus Sörmland natürlich, Michelle Carlsson.«

Sie hörte auf zu pusten und leckte sich über die Lippen. Das Abendblatt brach mit der Sensibilität eines Panzers in die Diele ein, totalitär und alles bestimmend.

»Sind das nicht deine alten Jagdgefilde?«, meinte der Nachrichtenchef. »Der Fotograf ist schon unterwegs, es ist Bertil Strand, oder?«

Das Letzte sagte er zu jemand anders, vermutlich zum Bildredakteur. Dann wieder in die Leitung:

»Bertil ist auf dem Weg, er wird dich in fünf Minuten abholen.« »Hast du die Windeln eingepackt?«, fragte Thomas und nahm das Mädchen von ihrem Arm.

Annika nickte und zeigte auf den Haufen in der Diele.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Hast du nun einen Flash oder nicht?«

Verdammt, der Pieper mit dem Nachrichtenflash. Sie riss ihre Tasche heraus, wühlte darin herum, fand ihn nicht.

»Äh«, sagte sie, »ich habe ihn gehört, habe aber noch nicht nachsehen können.«

»Michelle Carlsson ist ermordet worden. In einem Ü-Wagen draußen bei Flen. In den Kopf geschossen.«

Die Worte drangen nicht zu ihr vor, das Greifbare entglitt ihr wieder. Thomas stellte das Mädchen auf den Boden. Das Kind lief sofort auf Annika zu, stolpernd, mit ausgestreckten Armen.

»Du machst Witze«, sagte sie.

»Carl Wennergren ist da. Anscheinend war er gestern bei der Aufzeichnung dabei, wir haben also einen Vorsprung. Gutes Timing.«

In Spikens Stimme schwang ehrliche Bewunderung mit, und er hielt damit nicht hinter dem Berg. Annika hörte, wie er an seiner Zigarette zog, im Hintergrund war ein Geräuschteppich aus undefinierbarem Redaktionslärm. Sie sank wieder auf das Schuhregal.

»Berit ist gerade auf Öland und macht etwas über die Sauferei von Jugendlichen. Sie lässt alles stehen und liegen und fährt mit dem Auto rauf. Wird wahrscheinlich am späten Nachmittag eintreffen. Langeby ist auf den Kanarischen Inseln, also bist nur noch du da. Du musst dich auf die Socken machen. Bertil Strand hat alles dabei, was schon über den Ticker gekommen ist. Es ist fast nichts, du wirst also vom Auto aus rundtelefonieren müssen. Hast du gute Kontakte zur Kripo in Sörmland?« Annika schloss die Augen, zwang ihre beiden Welten zusammen und spürte die warme Faust des Kindes auf ihrem Bein.

»Geht so.«

»Dann rede mit Wennergren, mach dir ein Bild von der Lage und ruf mich an … so gegen zwölf, ja?«

»Klar«, sagte sie.

Thomas starrte sie an, die Schultern steif.

»Was war das denn?«

Sie legte den Hörer auf und sah ihm in die Augen.

»Nein«, sagte er. »Sag, dass das nicht wahr ist. Nicht irgendein verdammter Job, nicht heute.«

»Michelle Carlsson ist tot«, sagte Annika. Leere machte sich in ihr breit.

»Die aus dem Fernsehen?«, fragte Thomas. »Annes Kollegin?« Sie nickte. Das Adrenalin erreichte ihr Gehirn, die Haare auf den Oberarmen stellten sich auf. Ellen machte gurgelnde Geräusche an ihren Knien.

»Und wie? Wie ist sie gestorben?«

Annika schob das Kind zur Seite, stand auf, wechselte die Perspektive. Das Gepäck für den Ausflug in die Schären wurde immer kleiner und verschwand. Am Ende waren nur noch der Computer und ihre große Tasche übrig. Das Mädchen setzte sich mit einem Rums auf den Hintern und fing wieder an zu weinen. Thomas nahm sie hoch.

»Sie sind schon unterwegs, um mich abzuholen«, sagte Annika. Thomas starrte sie zwei Sekunden lang an und weigerte sich zu verstehen.

»Das Schiff geht um elf Uhr«, sagte er.

Annika nahm ihm das Mädchen ab, trug es hinein und legte es ins Gitterbett. Sie küsste die Kleine auf den Kopf. Die Erleichterung darüber, dass ihr die Schwiegermutter und die Schären erspart blieben, wich der Sehnsucht.

»Mein kleines Mädchen«, flüsterte sie gegen den Kopf des Kindes, »Mama hat dich so lieb.«

Ellen protestierte. Sie wollte nicht schlafen. Annika brachte es nicht über sich, sie loszulassen.

»Mama kommt später. Jetzt darfst du bei Papa und deinem großen Bruder bleiben. Das wird schön werden, ich weiß, das ist das Beste für dich.«

Das Kind wandte den Kopf ab, weg von der Lüge, zog die Beine an und steckte den Daumen in den Mund. Annika strich ihr unbeholfen über das Haar. Ihr Herz verkrampfte sich. Dann verließ sie rasch das Schlafzimmer, wobei sie an den Türrahmen stieß. Aus dem Wohnzimmer hörte man Scooby Doo, der von einem Geist gejagt wurde, und irgendwo hinter dem Lärm die kleine spröde Singstimme von Kalle.

Andere Leute schaffen das auch, dachte sie. Es geht. Es muss gehen.

»Ist das dein Ernst?«, fragte Thomas, als sie in den Flur kam. »Willst du wirklich wegfahren und arbeiten? Jetzt?«

Die letzten Worte waren etwas zu laut. Sie sah auf den Holzfußboden.

»Es ist sonst keiner da. Ich habe Dienst, du weißt doch, wie wenig Leute wir …«

»Jetzt hör aber mal auf!«, schrie er, nach vorn gebeugt und mit hochrotem Kopf. »Auf Gällnö sitzen eine Menge Leute und warten auf uns, und du willst da einfach nicht hinfahren?«

Es war ein Wechselbad der Gefühle, erst Panik, dann Erleichterung und Sehnsucht. Jetzt war sie nur noch wütend, unerwartet und sinnlos wütend.

»Sie warten auf dich«, sagte Annika, »nicht auf mich. Ich bin denen scheißegal, das weißt du sehr gut.«

Kalle kam mit weit aufgerissenen Augen in den Flur, als er hörte, wie laut die Eltern waren. Er kletterte auf Annikas Schoß und legte seine Hände um ihren Hals.

»Du bist wirklich unmöglich«, sagte Thomas.

»Jetzt mach es nicht noch schlimmer«, erwiderte Annika. Sie beugte sich nach vorn und sprach mit leiser Stimme. »Fahr in die Schären, feiere mit deinen Kumpels und deinem Bruder, lass die Kinder spielen, dann wird schon alles gut.«

Der Junge schob die Nase hinter ihr Ohr.

»Kumpels? Wenn man dich hört, könnte man glauben, dass das eine verdammte Vergnügungsreise ist. Kumpels! Meine Eltern sind da und alte Tanten!«

Annika riss sich von der Wärme los, küsste den Dreijährigen auf die Wangen. Es war wie Samt unter den Lippen. Dann sah sie zu Thomas hoch.

»Es liegt an dir, was daraus wird«, sagte sie. »Wenn ihr am Sonntag nach Hause kommt, werde ich wieder da sein.«

Sie setzte den Jungen ab, stand auf und zog sich die Regenjacke an.

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst«, sagte Thomas. »Du kannst mich doch nicht mit all dem hier sitzen lassen.«

»Da werden so viele Leute sein, dass mich keiner vermissen wird. Und die Kinder schon gar nicht. Viel Spaß.«

Sie zog die Stiefel an, warf ihre Tasche über die Schulter und steckte den Laptop in ihre schwarze Tasche. Ihr Blick war scheu, aber unbeirrt auf Thomas gerichtet.

»Das kommt dir ja gerade recht«, sagte er mit erstickter Stimme.

»Wir haben doch schon darüber geredet«, sagte sie. »Es fällt mir nicht leicht. Du weißt doch, dass ich gehen muss.«

»Du bist wirklich eine lausige Mutter.«

Die Farbe wich aus ihrem Gesicht.

»Glaubst du, ich mache das hier zum Spaß?«, fragte sie atemlos.

»Jetzt bist du aber ungerecht.«

»Verdammt noch mal«, sagte er. Sein Rücken war steif, sein Gesicht rot. »Das verzeihe ich dir nie. Verdammt.«

Annika blinzelte. Die Worte trafen sie, ließen sie aber andererseits auch kalt. Die Arbeit schloss sich wie ein Panzer um sie und machte sie unerreichbar. Sie drehte sich langsam um, nahm den Jungen in den Arm, flüsterte etwas in sein Ohr und war weg.

Bertil Strand hatte während Annikas Elternzeit einen neuen Dienstwagen bekommen, wieder einen Saab. Annika ahnte schon, dass er damit noch pingeliger sein würde als mit dem vorigen, wenn das überhaupt möglich war.

»Das hat ja ganz schön lange gedauert«, sagte er, als sie die Tasche und den Laptop auf den Rücksitz warf.

Sie beobachtete den Gesichtsausdruck des Fotografen, als sie die Autotür viel zu hart zuknallte.

»Beschissenes Wetter«, murmelte sie.

»Es ist schließlich Mittsommer«, sagte Bertil Strand. »Was hast du denn erwartet?«

Er legte den ersten Gang ein und fuhr kurz vor dem 62er Bus von der Haltestelle weg. Annika wurstelte sich aus der Regenjacke und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt. Ihr Mund war trocken.

»Hast du die Agenturmeldung?«

Der Fotograf zeigte auf einen dünnen Stapel Papier zu ihren Füßen.

»Das wird nicht leicht werden, wo alle unsere Reporter über den ganzen Erdball verteilt sind. Verdammtes Glück, dass wenigstens Wennergren schon vor Ort war.«

Sie streckte sich nach den Papieren aus, der Gurt, den sie gerade angelegt hatte, gab nicht ausreichend nach. Ärgerlich schnallte sie sich wieder ab.

»Aha«, gab sie zurück. »Und was meinst du damit? Bin ich hier auf dem Beifahrersitz völlig durchsichtig, oder was?«

Der Fotograf schielte zu ihr hinüber.

»Es ist doch zu dumm, dass wir für so etwas keinen Bereitschaftsdienst haben. Typisch. Schlechte Planung, keine Voraussicht. Schyman sollte sich mal lieber um so etwas kümmern, als andauernd mit Torstensson zu streiten. Schnall dich wieder an.« Annika hatte keine Lust, sich um die Streitigkeiten des Redaktionsleiters mit dem Chefredakteur zu kümmern. Sie schnallte sich wieder an und schloss die Augen. Die Machtlosigkeit und die Sehnsucht nach ihren Kindern brannten ihr in den Eingeweiden.

Jetzt bekam ihre Schwiegermutter noch mehr Wasser auf ihre Mühlen. Der arme Thomas, wie hatte ihrem Sohn so etwas nur passieren können?

Sie zwang sich auszuatmen, riss die Augen auf und las die Ausdrucke der Agenturmeldungen. Es waren fünf Stück, die im Abstand von wenigen Minuten rausgegangen waren.

»Flash 09:41: Fernsehjournalistin Michelle Carlsson tot aufgefunden. 09:42: Michelle Carlsson durch Schuss in den Kopf getötet. 09:43: Michelle Carlsson in einem Ü-Wagen vor dem Schloss von Yxtaholm gefunden. Eine Waffe neben dem Opfer. 09:44: Polizei: Michelle Carlsson wurde wahrscheinlich ermordet. 09:45: Mehrere Personen zum Mord an Michelle Carlsson verhört.«

»Die haben eine Reihe von Sendungen aufgezeichnet, die nächste Woche laufen sollten«, sagte Bertil Strand.

»›Das Sommerschloss‹«, erwiderte Annika. »Meine Freundin Anne Snapphane arbeitet seit März an der Produktion …«

Sie schwieg und starrte den Regentropfen nach, die an den Seitenscheiben herabrannen. Bäche, die zusammenflossen und sich wieder teilten, unausweichlich nach hinten gedrückt wurden, bis sie auf die Chromleiste der Beifahrertür trafen. Sie erinnerte sich an Annes Wut und Verzweiflung, als sie nach sechs Jahren in der Produktionsfirma auf einmal die Recherche übernehmen sollte und zur Aufnahmeleiterin degradiert worden war und nicht mehr Redakteurin oder Produzentin sein durfte. Dies bedeutete, dass Anna Snapphane am Set bleiben, aufräumen, sich um das Material kümmern und es archivieren musste – kurzum, alle ermüdenden und hirnlosen Arbeiten zu erledigen hatte. Wahrscheinlich war sie noch irgendwo im Schloss. Annika drehte sich um und fischte ihren Block und den Stift aus der Tasche auf dem Rücksitz.

»Wer wird denn alles verdächtigt?«

»Keine Ahnung«, sagte Bertil Strand und stöhnte.

Sie hatten jetzt den Essingeleden erreicht, Stockholms rettungslos überlastete Stadtautobahn, wo um diese Zeit natürlich alles stand.

»Das wird ewig dauern«, sagte Strand und kuppelte aus.

Annika konnte sich nicht beherrschen.

»Was hast du denn erwartet?«, fragte sie »Es ist schließlich Mittsommer.«

Der Fotograf schaltete die Lüftung im Auto aus. Die Scheiben beschlugen sofort wieder. Die Scheibenwischer bewegten sich in einem regelmäßigen Rhythmus, der linke quietschte jedes Mal, wenn er den höchsten Punkt der Windschutzscheibe erreichte. Annika schloss die Augen und versuchte, die Stimme von Thomas und das Gefühl des Scheiterns zu verdrängen. Sie konzentrierte sich auf den Regen, die Scheibenwischer und das asthmatische Keuchen der Umluftanlage.

Das Sommerschloss, dachte sie. Die große Familiensendung von TV-Plus. Talk und Unterhaltung, Gäste und Künstler. Das Comeback von Michelle Carlsson zur Prime Time, die Revanche des Fernsehstars. Eigentlich war sie gar nicht so schlecht, dachte Annika.

»Wie fandest du Michelle?«, fragte sie.

Bertil Strand drehte den Kopf, als säße der auf einem Kugellager. Er suchte nach einer Lücke im Verkehr.

»Geschwätzig«, sagte er. »Unglaubwürdig. Das Kinderprogramm und die Quizsendungen, die sie gemacht hat, waren okay, aber diese Talkgeschichte, die sie dann probiert hat, war wirklich nichts Besonderes. Die konnte doch nichts.«

Annika war erstaunt über den Protest, der sich in ihr regte.

»Von wegen«, sagte sie. »Michelle hat zehn Jahre bei Radio und Fernsehen gearbeitet. Da muss sie ja wohl irgendwas gelernt haben.«

»In die Kamera zu lächeln«, sagte Bertil Strand. »Das kann ja nicht so schwer sein.«

Annika schüttelte den Kopf, wollte protestieren. Dabei hatte sie selbst oft die gleichen Argumente vorgebracht, wenn sie mit Anne Snapphane über Journalismus diskutiert hatte.

»Meine beste Freundin arbeitet jetzt seit sechs Jahren beim Fernsehen«, erwiderte sie. »Das ist viel komplexer, als man denkt.«

Bertil Strand schob sich unmittelbar vor einem dampfenden Landrover in die Spur. Der Fahrer legte sich auf die Hupe.

»Scheint ein furchtbarer Job zu sein«, meinte der Fotograf. »Massenhaft Technik, die nie funktioniert, und ein Haufen Idioten, die herumrennen und sich wichtig machen.«

»Ungefähr so wie beim Abendblatt«, sagte Annika, sah wieder aus dem Fenster und biss die Zähne zusammen. Der Typ in dem Landrover zeigte ihr den Stinkefinger.

Was mache ich hier eigentlich? Ich sitze mit einem aufgeblasenen Idioten von Fotograf da, unterwegs, um über ein sinnloses Gewaltverbrechen zu berichten, und dafür lasse ich Thomas und die Kinder allein, die doch das Einzige sind, was wirklich etwas bedeutet. Ich muss verrückt sein.

Sie roch an ihren Händen und konnte immer noch den Duft von Kalles Haaren und Ellens Tränen wahrnehmen. Es schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie drehte sich um und nahm das Handy und ein Stück Küchenrolle aus der Tasche und trocknete sich die Hände.

»Da ist eine Lücke«, rief Bertil Strand und gab Gas.

Annika wählte die Nummer.

Die Polizei hatte alle angewiesen, die Handys abzustellen. Anne Snapphane war sicher, die Anweisung befolgt zu haben, weshalb die Vibration in ihrer Jackentasche sie wie ein kleiner Schock traf. Sie setzte sich schnell im Bett auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie merkte, dass sie eingeschlafen sein musste. Das Telefon surrte wie ein gigantisches Insekt in der Innentasche ihrer Regenjacke. Sie strich sich verwirrt die Haare aus dem Gesicht. Auf ihrer Zunge lag ein Geschmack von Schimmel. Dann löste sie sich aus dem Chaos aus Daunendecke, Zierkissen und Überwurf und holte das Handy heraus. Misstrauisch sah sie auf das Display. Es wurde keine Nummer angezeigt. Sie zögerte. Was sollte das? Stellte man sie auf die Probe?

Sie drückte den Knopf und flüsterte vorsichtig:

»Hallo?«

»Wie geht es dir?«, hörte sie die Stimme von Annika Bengtzon sagen. Sie klang weit weg, und es knisterte in der Leitung. »Lebst du noch?«

Anne Snapphane schluchzte auf, legte die Hand auf die Augen und presste die Finger gegen den Schmerz im Kopf.

»Gerade noch«, wisperte sie.

»Wir haben das von Michelle gehört«, sagte ihre Freundin. Sie sprach langsamer als sonst. »Wir sind schon auf dem Weg. Kannst du reden?«

Sie fing an zu weinen, leise und still, die salzigen Tränen rannen ins Mikrofon des Telefons.

»Ich glaube schon.«

Die Antwort war ein Keuchen.

»… nur so ein verdammter Stau … du jetzt da draußen?«

Die Leitung wurde immer wieder unterbrochen, Rauschen und Regen, Annikas Stimme in Fetzen. Anne Snapphane holte tief Luft und spürte, dass sich ihr Puls beruhigte.

»Ich bin in meinem Zimmer im Südflügel eingesperrt. Wir haben alle Hausarrest, wahrscheinlich werden sie uns einen nach dem anderen verhören.«

»Was ist denn passiert?«

Anne wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, hielt mit der anderen Hand das Handy umklammert und presste es gegen das Ohr. Sie wollte diese Rettungsleine auf keinen Fall verlieren. »Michelle«, flüsterte sie. »Michelle ist tot. Sie lag im Ü-Wagen, vom Hinterkopf war nichts mehr übrig.«

»Sind viele Bullen da?«

Annes Herz schlug ruhiger, fast wieder normal. Annikas Stimme verkörperte für sie Wirklichkeit und Alltag. Anne Snapphane richtete sich mit weichen Knien auf und sah aus dem Fenster.

»Von hier aus kann ich nicht viel sehen. Eine geschwungene Brücke über einen Kanal und ein paar Zielscheiben fürs Bogenschießen. Ich habe einige Autos gehört, und vor einer Weile ist ein Hubschrauber gelandet.«

»Hast du sie gesehen?«

Anne Snapphane schloss die Augen und drückte sich fest auf die Nasenwurzel. Vor Aufregung flackerten die Bilder in ihrem Inneren.

»Ich habe sie gesehen. Ich habe sie gesehen …«

»Wer hat es getan?«

Es klopfte. Anne erstarrte und sah wie gelähmt zur Tür. Die Rettungsleine wurde gekappt, sie fiel wieder in die Verwirrung zurück. »Ich muss auflegen«, flüsterte sie und drückte das Gespräch weg. »Anne Snapphane?«

Eine fordernde Stimme. Sie warf das Telefon unter die Decke und räusperte sich. Noch ehe sie etwas sagen konnte, ging die Tür auf. Der Polizist im Türrahmen war jung und offenkundig nervös.

»Okay, Sie können jetzt kommen.«

Sie starrte ihn an.

»Ich bin sehr durstig«, sagte sie.

Der Polizist erkannte nicht, wie unwirklich ihr zumute war, er sah nicht einmal den Menschen, sondern schaute durch sie hindurch.

»Durch den Ausgang und dann nach links. Beeilen Sie sich.«

Der Regen und die vielen geschlossenen Türen machten den Flur dunkel. Die Wände bogen sich nach innen, Anne war noch nicht richtig nüchtern. Da war ihre Hand, die sie durch den Flur und die Einsamkeit führte, von den anderen aus dem Fernsehteam war niemand zu sehen.

Als der Polizist die Eingangstür öffnete, schlugen ihr Kälte und Feuchtigkeit entgegen. Sie holte angestrengt Luft, schwankte in der Türöffnung und sah mit zusammengekniffenen Augen zum Schloss hinüber. Polizisten, Polizeiautos, alles verschwommen im grauen Regen.

»Haben Sie keinen Regenschirm?«, fragte Anne.

Ihr Bewacher antwortete, indem er zur Hausecke wies. Anne Snapphane zog die Schultern hoch, machte einen zögerlichen Schritt auf die Steintreppe hinaus und spürte sofort, wie sich das Wasser einen Weg in ihren Kragen bahnte.

»Wo soll ich hin?«

»Das Haus am Wasser. Los.«

Ein kalter Bach lief ihr das Rückgrat hinunter, die Augen wurden nass. Sie blinzelte die Tränen weg, wankte die drei Treppenstufen auf den Kies hinunter, lief die Buchsbaumhecke entlang zum Kräutergarten, dann an der weiß getünchten Mauer vorbei zum neuen Flügel des Schlosses, um eine kleine Gruppe emaillierter Eisenmöbel herum. Dann blieb sie stehen. Die Mauer, die den kleinen Hof umrahmte, war von Arkaden durchbrochen und mit roten Ziegelsteinen gedeckt.

Von hier kann man leicht abhauen, dachte sie.

»Jetzt geradeaus, kommen Sie.«

Sie wandte ihren Blick von der Mauer ab und bewegte sich auf den Eingang zu.

Der Kommissar saß hinter einem Tisch im großen Konferenzsaal. Hinter ihm sah man den Ü-Wagen vor dem Fenster stehen. Anne Snapphane wich unwillkürlich einen Schritt zurück und trat dabei ihrem Bewacher auf den Fuß. Der mobile Regieraum, kreideweiß und mit dem knallbunten Logo der Fernsehanstalt, wirkte im Regen wie ausgeschnitten.

Ob sie noch da drin liegt?, fuhr es ihr durch den Kopf. Ob sie schon kalt ist?

»Setzen Sie sich.«

Anne sank auf den Stuhl, auf den der Kommissar gezeigt hatte. Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht, blinzelte zu dem Polizisten hinüber und bemerkte das farbenprächtige Hawaiihemd. Sofort machte sich Erleichterung breit.

»Mein Gott, sind Sie das?«

Der Mann schien sie nicht gehört zu haben.

»Wir haben uns mal in Stockholm kennen gelernt«, sagte sie jetzt ganz eifrig. »Zusammen mit Annika Bengtzon …«

»Sie gehören zu denen, die sie gefunden haben?«, fragte er. Anne starrte ihn an. Sie war verwirrt.

»Äh«, sagte sie, »ja, das stimmt.«

Plötzlich war wieder alles unwirklich, der Fußboden schwankte, sie klammerte sich am Schreibtisch fest.

»Könnte ich … etwas Wasser bekommen?«

Ein Polizist kam mit einem Krug und einem Glas. Sie goss sich etwas ein. Ihre Hände zitterten. Dann trank sie gierig das ganze Glas aus, dabei verschüttete sie etwas.

»Kater?«

Anne Snapphane lehnte sich im Stuhl zurück und merkte, dass ihr schlecht wurde.

»Ich glaube, ich kriege einen Asthmaanfall.«

»Ist es üblich, dass man den Abschluss von Dreharbeiten mit einer wilden Party feiert?«

Sie strich sich übers Haar und fühlte, wie nass sie war.

»Warum bin ich hier? Wann darf ich nach Hause?«

Der Kommissar stand auf.

»Wir werden Sie heute einen nach dem anderen verhören. Keiner von Ihnen ist verdächtiger als irgendjemand anders. Aber um herauszufinden, was hier los war, müssen wir Sie natürlich alle befragen. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«

Anne sah ihn mit halb geöffnetem Mund an und versuchte zu begreifen, was er da sagte.

»Den Rest der Zeit werden Sie in Ihren Zimmern verbringen können. Wir holen Sie in der Reihenfolge ab, die uns am sinnvollsten erscheint. Sie dürfen nicht miteinander reden oder sich auf andere Weise austauschen. Ist das klar? Anne Snapphane, hören Sie mich?«

Sie zwang sich zu einem Nicken und dachte an das Handy unter der Decke in ihrem Bett.

Der Mann drückte auf einen Kassettenrekorder und setzte sich vor ihr auf den Tisch. Seine Jeans war an den Knien abgewetzt.

»Protokoll über das Verhör mit Snapphane, Anne, geboren …« Er hielt inne und starrte Anne erwartungsvoll an. Sie schluckte und murmelte ihre Personennummer.

»… verhört durch Q, auf Schloss Yxtaholm, Konferenzsaal im neuen Flügel, Freitag, 22. Juni, 10 Uhr 25. Anne Snapphane wird im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Mord an Michelle Carlsson verhört.«

Er schwieg und sah Anne forschend an.

»Aus welchem Grund sind Sie hier?«

Anne nahm sich noch etwas Wasser.

»Um verhört zu werden«, sagte sie leise.

Kommissar Q seufzte.

»Entschuldigung«, sagte Anne Snapphane und räusperte sich. »Ich mache die Recherche bei Zero Television. Das ist eine Produktionsgesellschaft, die für verschiedene Kanäle Fernsehsendungen macht. Während der Aufzeichnungen diese Woche war ich außerdem die Aufnahmeleiterin.«

Sie schwieg und sah sich im Raum um. Vorn Polizisten, hinten Polizisten und draußen der Ü-Wagen.

»Aufzeichnungen?«, fragte der Polizist. »Hat es denn mehrere gegeben?«

Sie nickte.

»Acht insgesamt«, sagte sie jetzt mit etwas festerer Stimme. »Zwei Sendungen pro Tag, und das vier Tage lang, und die ganze Zeit hat es geregnet!«

Plötzlich lachte sie auf, ein lauter Ausbruch, der unpassend wirkte. Der Polizist zeigte keine Reaktion.

»Wie sind die Aufnahmen gelaufen?«

»Gelaufen?«

Anne senkte den Kopf.

»Wie erwartet, auch wenn wir für das Wetter nicht vorausplanen konnten. Wir mussten alle Übergänge und Szenen in aufstellbaren Pavillons drehen, was natürlich nicht so vorgesehen war. Der Ablaufplan musste ständig geändert werden, einige der Künstler haben im Musikraum im zweiten Stock spielen müssen. Aber ansonsten lief alles wie geplant.«

Sie versuchte zu lächeln.

»Irgendwelche Kontroversen?«

»Wie meinen Sie das?«

Sie trank das Glas aus.

Der Polizist breitete in einer müden Geste die Hände aus.

»Konflikte«, sagte er. »Streit. Drohungen. Handgreiflichkeiten.«

Anne Snapphane schloss wieder die Augen und holte Luft.

»Ein bisschen vielleicht.«

»Können Sie das präzisieren?«

Sie wollte wieder trinken, merkte, dass ihr Glas leer war, und füllte es erneut.

»Bei so einer großen Produktion können Millionen von Sachen schief gehen«, sagte sie, »und das darf eigentlich überhaupt nicht passieren. Wenn alle gestresst sind, dann kommt es vor, dass die Dinge hochgespielt werden.«

»Erzählen Sie mal aus dem Nähkästchen«, bat Kommissar Q. Ihr Herz begann wieder zu rasen, sie zitterte.

»Michelle konnte unglaublich nervig sein«, sagte sie. »Sie hat sich in den letzten Tagen mit allen aus dem Team gestritten.«

»Auch mit Ihnen?«

Anne Snapphane nickte mehrmals hintereinander und schluckte. Der Polizist seufzte.

»Seien Sie doch so nett und beantworten Sie die Frage mit Worten.«

»Ja«, sagte sie, diesmal viel zu laut. »Ja, auch mit mir.«

»Und wann?«

»Gestern Abend.«

Der Polizist betrachtete sie prüfend.

»Was ist passiert?«

»Kleinkram, wirklich. Wir haben uns über Geld gestritten, darüber, was das eine oder andere wert ist. Es fing mit einer Diskussion über Aktien an, ich bin aus Prinzip gegen Spekulationsgeschäfte, aber Michelle behauptete, die Demokratie würde von ihnen abhängen, und dann kamen wir auf die Gehälter zu sprechen. Die Geschäftsführer und andere in öffentlichen Positionen seien ihre Gehälter und Pensionen durchaus wert, behauptete sie, aber eigentlich hat sie wie immer nur von sich selbst geredet …«

Sie schwieg plötzlich, und ihr wurde heiß. Der Polizist sah sie ausdruckslos an.

»Waren Sie wütend auf Michelle?«

Ich lüge, dachte Anne Snapphane. Ich kann nicht sagen, wie es war, dann denken sie, ich hätte es getan.

Der Mann ihr gegenüber beobachtete sie genau, er durchschaute sie.

»Es wird nur kompliziert, wenn Sie lügen«, meinte er.

»Ich hätte sie am liebsten erwürgt«, sagte Anne und sah zu Boden. Die Tränen brannten ihr in den Augen. »Aber wir waren ja betrunken.«

Der Polizist erhob sich, ging einmal um den Tisch herum und setzte sich wieder.

»Betrunken«, wiederholte er. »Wie betrunken denn? Traf das auf alle im Team zu?«

Sie zuckte mit den Schultern. Plötzlich war sie todmüde, hatte das alles satt.

»Bitte in Worten.«

Ein Kurzschluss im Gehirn, Error, Overload.

»Woher soll ich das wissen?«, schrie sie. »Keine Ahnung. Ich bin nicht rumgelaufen und habe die leeren Gläser eingesammelt, obwohl es Leute gab, die meinten, das wäre meine Aufgabe …«

»Wer denn? Meinte Michelle, dass Sie leere Gläser einsammeln sollten?«

»Nein«, sagte sie leiser.

Das Schweigen war bedrückend, ihr war unendlich übel.

»Haben sich gestern Abend noch andere gestritten?«

Anne Snapphane schluckte schwer. Sie rang nach Luft.

»Kann schon sein«, flüsterte sie.

»Wer denn?«

»Fragen Sie die anderen. Ich weiß es nicht. Ich habe nicht zugehört.«

»Aber es wurde hier gestern gestritten? Es ging hoch her?«

»Fragen Sie nach, dann werden Sie schon sehen«, sagte Anne.

»Oben im Stall.«

»Waren Sie da?«

»Nicht lange.«

»Aber Sie waren eine von denen, die sie gefunden haben, oder?«

Er verlangte keine Antwort.

»Wer außer Ihnen ist noch in den Bus gegangen?«

Sie schloss einen Moment die Augen.

»Sebastian«, sagte sie und merkte, dass ihr die Stimme nicht richtig gehorchte.

»Sebastian Follin, der Agent von Michelle Carlsson?«

Anne nickte, dann erinnerte sie sich.

»Ja«, sagte sie. »Oder besser gesagt ihr Manager. Sebastian Follin ist Michelles Manager.«

Sie hielt verwirrt inne.

»Wie sagt man denn? War er das, oder ist er …«

»Sonst noch jemand?«

»Karin. Karin Bellhorn, die Produzentin. Sie war auch dabei.« »Sonst noch wer?«

»Mariana und Bambi. Die zwei mochten sich wirklich nicht.«

»Warum waren Sie denn die ganze Nacht lang auf?«

Plötzlich lachte sie.

»Es war eben noch was zu trinken da.«

»Wer sind Mariana und Bambi?«

»Mariana von Berlitz ist die Redakteurin vom ›Sommerschloss‹. Sie arbeitet in derselben Firma wie ich. Bambi Rosenberg ist eine Schauspielerin. Sie spielt in diversen Soaps und war in der vorletzten Sendung zu Gast. Michelle und sie sind Freundinnen.«

»Okay«, sagte der Polizist. »Der Manager, die Produzentin, die Redakteurin, die Freundin und Sie. Waren das alle?«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Und Gunnar natürlich«, sagte sie, »denn er hatte ja den Schlüssel. Antonsson heißt er. Er arbeitet im Ü-Wagen, Sie hätten ihn sehen sollen.«

Das Kichern blubberte hoch, über ihre Lippen und ihr Gehirn, rann wie grünes Gift aus ihrem Mund.

»Er regte sich mehr über die Unordnung auf als …«

Sie machte eine Bewegung mit der Hand, verstummte.

»Was meinen Sie?«

»Es war für Gunnar schwerer, damit fertig zu werden, dass Michelle seine Geräte eingesaut hatte, als dass sie tot war.«

»Eingesaut?«

Das Bild blitzte auf, durch Betrunkenheit und Schock gefiltert, der schmale Körper in seiner grotesken Stellung, riesige Augen, die nie mehr sehen würden.

»Kann nicht mehr«, sagte Anne Snapphane und fiel in Ohnmacht.

Der Kai vor dem Grand Hotel war schwarz von Leuten. Die Schiffe, die in die Schären hinausfahren würden, schaukelten wie Wale hinter dem Regenvorhang auf und ab, und Wind und Wasser rissen an den Birkenreisern, die zum Mittsommerfest Bug und Heck schmückten.

Das kann doch einfach nicht wahr sein, dachte Thomas. Wir werden nie einen Platz bekommen.

»Gällnö? Ganz hinten. Schönes Mittsommerfest!«

Er bemühte sich, sein Gegenüber anzulächeln, packte den Griff des Kinderwagens fester, durchpflügte eine tiefe Pfütze und rammte den Wagen dann einer jungen Frau in die Waden.

»Normalerweise sagt man Entschuldigung«, zischte sie.

Thomas sah weg, der Plastikhenkel der Windelpackung scheuerte an seinem Handgelenk, und das Gestell des Rucksacks schlug ihm bei jedem Schritt an die Hüfte.

»Ich will ein Eis«, sagte Kalle und zeigte auf die Bude hinter dem Kai.

»Auf dem Schiff kriegst du ein Eis«, sagte Thomas. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Eine Windbö klatschte ihm von der Seite ins Gesicht, und Ellen quengelte im Wagen. Er sah mit zusammengekniffenen Augen an den Anlegestellen entlang, und sein Mut sank.

Da hinten lag die Norrskär und rollte in den Wellen. Das alte Dampfschiff sah neben den kraftvollen Schären-Monstern wie eine gebeugte alte Dame aus. Bei dem Wetter und mit diesem Schiff würden sie bis zur Insel seiner Eltern mehr als drei Stunden brauchen.

Er kam als einer der Letzten noch mit an Bord, stapelte Kinderwagen, Tüten, Taschen und Rucksack unter der Brücke vor der Tür im Bug auf.

»Jetzt machen wir eine Kaffeepause«, sagte er und merkte selbst, wie dämlich er klang.

Bereits kurz nach dem Ablegen schaukelte es tüchtig, und Kalle war bald seekrank. Er kotzte in der Cafeteria über den Tisch und ließ sein Eis in die Soße fallen.

»Mein Eis«, heulte das Kind und versuchte, den glitschigen Stiel zu erwischen, derweil es sich mit dem Ärmel den Mund abwischte.

»Warte!«, rief Thomas, während Ellen alles daransetzte, von seinem Schoß herunterzukommen.

»Das müssen Sie aber selbst aufwischen«, sagte die Bedienung ärgerlich und gab ihm eine Rolle Küchenpapier.

»Ja, ja«, sagte er und spürte, wie sich die Blicke der Mitreisenden auf ihn richteten. »Ja, ja, Ellen, Kalle, gleich ist alles wieder gut, ja, ja …«

Er floh aufs Deck hinaus, das Mädchen unter dem einen Arm, den Kinderwagen unter dem anderen, während er Kalle wie einen widerspenstigen Trauerkloß vor sich herschob.

In einer windgeschützten, überdachten Ecke setzte er die Kinder ab. Er zog seine Regenjacke aus, wickelte den Jungen darin ein und hob ihn auf die Bank. Kalle hörte sofort auf zu weinen und schlief binnen einer Minute ein. Dann klappte Thomas die Rückenlehne des Kinderwagens hinunter, steckte die Decke um seine Tochter gut fest und fing an, den Wagen schnell hin und her zu schieben. Auch sie schlief ein.

Thomas arretierte den Wagen, kontrollierte noch einmal, dass die Kinder vor dem Regen geschützt waren, und stellte sich dann an die Reling und ließ sich von Wind und Wasser umarmen. Plötzlich überkam ihn unerklärliche Sehnsucht und das Gefühl, etwas verloren zu haben. Hier gab es etwas, das er gehabt und ihm dann abhanden gekommen war.

Das Brackwasser, dachte er. Das Gefühl und der Geruch.

Damit war er aufgewachsen. Das Wasser war ein Teil seiner Welt, war immer da gewesen. Seine Klarheit und Transparenz verband er mit weit mehr als Kindheit und Sommer. In Vaxholm, wo er bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr gewohnt hatte, war das Meer immer gegenwärtig gewesen. Doch in den letzten Jahren war dieser Teil seines Lebens verblasst. Er hatte eine seiner Wurzeln vergessen.

Das ist sie nicht wert, dachte er.

Und dann mit überwältigender Kraft: Ich bereue es.

Er rang nach Luft. Bisher hatte er diesem Gefühl noch nie so viel Raum gegeben. Sein Magen verkrampfte sich, und das Gefühl, jemanden betrogen zu haben, drohte ihn in den Abgrund zu ziehen. Er hatte seine Ehefrau Eleonor nach einem Seitensprung mit Annika Bengtzon verlassen. Er hatte sein Haus, sein Heim und seine vertraute Umgebung zurückgelassen, um in Annikas baufälliger Altbauwohnung ohne warmes Wasser auf Kungsholmen in Stockholms Innenstadt zu wohnen. Er hatte seinen Treueschwur vor Gott und Eleonor verraten, seine Eltern, seine Freunde und Nachbarn im Stich gelassen. Eleonor und er hatten ganz selbstverständlich eine wichtige Rolle in Vaxholm gespielt, in der Stadt und im gesellschaftlichen Leben – sie als Bankdirektorin und er als Stadtkämmerer.

»Für einen verdammten Fick«, sagte er in den Wind.

Doch dann richteten sich die Schuldgefühle plötzlich gegen ihn selbst und trafen ihn mit der gleichen Wucht.

Kalle, dachte er, tut mir Leid, ich habe es nicht so gemeint.

Er kehrte dem Meer den Rücken zu und nahm das Bild der Kinder in sich auf, die unter dem Windschutz schliefen. Fantastisch, und es waren seine. Seine!

Eleonor hatte keine Kinder gewollt. Er selbst hatte kaum über die Sache nachgedacht, ehe Annika an jenem Abend kurz vor Weihnachten verheult und schwanger zu ihnen nach Hause gekommen war. Wie lange war das jetzt her? Dreieinhalb Jahre? Nicht länger?

Es kam ihm länger vor. Seither war er nur noch ein Mal in dem Haus gewesen, zusammen mit den Leuten von der Umzugsfirma. Das Geld, das er bekommen hatte, als Eleonor das Haus übernahm, hatte er in Aktien am Neuen Markt investiert, die ihm sein Anlageberater empfohlen hatte.

»Kauf doch nicht so einen Mist«, hatte Annika gesagt. »Was sollen wir denn verdammt noch mal mit Breitbandhandys, wenn sie nicht mal funktionierende Computer hinkriegen?«

Dann hatte sie ihren Laptop auf die Erde geworfen und ihm einen Tritt versetzt.

»Gut durchdacht«, hatte er geantwortet. »Deine Analyse der Börse ist wirklich Vertrauen erweckend.«

Natürlich hatte sie Recht behalten. Einen Monat später gingen die Kurse in den Keller und die seiner Aktien am meisten.

Er trat aus dem Wind, war nass und kalt.

Und sie waren noch nicht einmal an Gåshaga vorbei.

»Warum funktioniert der Fahrstuhl nicht?«, keuchte Anders Schyman, als er im vierten Stock des Zeitungshochhauses ankam. Tore Brand sah ihn säuerlich an.

»Die Feuchtigkeit«, erwiderte er. »Die Wartungsleute kommen am Montag.«

Der Redaktionsleiter holte tief Luft und beschloss, die Sache nicht weiter zu erwähnen, bis ein anderer Hausmeister Dienst hatte.

Spiken saß einsam und allein am Desk, die Füße auf dem Tisch und den Telefonhörer quasi am Ohr festgeklebt. Er schrak zusammen, als Schyman ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Bis später«, sagte er und knallte den Hörer auf die Gabel.

»Wo ist Torstensson?«, fragte Schyman.

»Bei seinen Verwandten in Dalarna, Geige spielen. Haben Sie ihn schon mal in seiner Volkstracht gesehen?«

Spiken grinste. Die Männer, die die Zeitung machten, hatten nicht den geringsten Respekt vor ihrem verantwortlichen Herausgeber. Schyman wusste, dass dies keine Rolle spielte. Solange die Männer mit Torstensson machen konnten, was sie wollten, würde der Chefredakteur seinen Posten behalten.

Schyman setzte sich dem Nachrichtenchef gegenüber und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er wusste, dass die Leute seine Fähigkeiten respektierten, doch auch das spielte keine Rolle, solange er nicht die exekutive Macht besaß.

Unwillkürlich erinnerte er sich daran, wie Annika Bengtzon diese Männer immer nannte: Flanelllappen – nach den täuschend ähnlichen dunkelblauen Flanellanzügen, die sie alle trugen. Er musste grinsen.

Dann räusperte er sich.

»Was machen wir denn mit dem armen Fräulein Carlsson?«

»Annika Bengtzon sollte mich um zwölf Uhr anrufen, aber das hat sie nicht getan.«

Spiken zuckte resigniert mit den Achseln.

»Mit wem ist sie unterwegs?«

»Mit Bertil. Sie sind kurz nach zehn los.«

»Dann werden sie kaum aus der Stadt heraus sein. Die Staus sind grotesk.«

»Das ist allerdings wahr!«, rief Spiken, denn er wohnte in Solna und fuhr jeden Morgen mit dem Dienstwagen die vier Kilometer zur Arbeit. »Dagegen sollte man mal eine Kampagne starten.«

Schyman unterdrückte ein Seufzen.

»Sie wissen ja, dass wir von Michelle Carlsson zwei Klagen wegen übler Nachrede am Hals haben, oder?«, fragte er.

»Ja, und?«, meinte Spiken. »Sollen wir jetzt hier sitzen und die Handbremse anziehen, nur weil die Tante zu Lebzeiten eine Leidenschaft für Gerichtsverfahren hatte?«

Schyman sah den Nachrichtenchef zehn Sekunden lang schweigend an.

»Wer macht was?«, fragte er dann.

Spiken blätterte hektisch in seinen Unterlagen, der Schweiß stand ihm auf der Oberlippe.

»Annika Bengtzon und Bertil sind auf dem Weg nach Flen. Berit Hamrin fährt von Öland aus rauf. Sie sollte da unten eine Reportage über Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen machen, mit einem angeheuerten Fototypen. Den hatte ich heute Morgen fast eine Stunde lang in der Leitung, er ist tierisch sauer, dass aus dem Job nichts geworden ist.«

»Er kriegt natürlich ein Ausfallhonorar«, sagte Anders Schyman und schnappte sich aus dem Chaos auf dem Desk eine Zeitung. »Klar, aber er war eben nicht hinter der Kohle her, sondern wollte vor allem mit Bild und Namen im Abendblatt stehen. Am Ende hat er gesagt, er macht die Fotos trotzdem und schickt sie mit Namen und Altersangaben der Jugendlichen rauf.«

»Die Bilder will ich aber vorher sehen«, sagte der Redaktionschef. »Wir haben schon genug falsche Besoffene gehabt.«

Spiken errötete leicht. Im Vorjahr hatte er zwei Praktikanten nach Öland geschickt, die das großartigste Material der Welt zusammengestellt hatten. Das Problem war nur, dass der Reporter und der Fotograf genauso gesoffen hatten wie alle anderen. Außerdem hatten sie vergessen, ihren neuen Freunden zu sagen, dass sie beim Kotzen, Heulen und Scheißen fotografiert und dann im Abendblatt abgedruckt werden würden. Das Ergebnis waren fünf Anhörungen vor dem Presseausschuss und über 150000 Kronen an Vergleichszahlungen, damit die Sache nicht vor Gericht ging. Natürlich hätte das Abendblatt den Prozess gewinnen können, doch die ganze Geschichte war so peinlich, dass es besser gewesen war, sich freizukaufen und zu versuchen, wenigstens etwas von dem bisschen Renommee zu bewahren, das die Zeitung immer noch genoss.

»Deshalb ist dieses Mal Berit hingefahren«, gab Spiken kurz zurück und klickte seinen Schirm an. »Und das mit den Bildern habe ich nur gesagt, um ihn loszuwerden.«

»Dann sorgen Sie nur dafür, dass er nicht fünf Minuten vor der Deadline das Modem mit fünfhundert schlechten Fotos blockiert«, meinte Schyman und erhob sich. »Verbinden Sie mich mit Bengtzon, wenn sie anruft.«

»Wenn sie denn anruft«, sagte Spiken, aber Anders Schyman war schon weg.

Die Autokarawane kroch die 55 entlang, der Regen pladderte, die Scheibenwischer quietschten. Die langsame Monotonie führte zwangsläufig zu Anspannung und bedrücktem Schweigen im Auto. Annika versuchte es sich bequem zu machen, aber der Gurt scheuerte, und die Nackenstütze saß zu hoch. Sie wusste, dass nicht der Sitz das Problem war, sondern ihre Unsicherheit. Es war erst ein paar Wochen her, dass sie nach ihrer Elternzeit wieder angefangen hatte zu arbeiten. Sie zweifelte an sich und hatte das Gefühl, ihre Arbeit in der Kriminalredaktion würde in Frage gestellt. Während ihrer Schwangerschaften hatte die Redaktionsleitung sie in andere Abteilungen versetzt, unter anderem zur Frauenseite und zum Tratsch bei »Dies und Das«. Sie hatte sich degradiert und abgeschoben gefühlt, hatte aber nicht protestiert. Natürlich war ihr sonnenklar, wie man in der Redaktionsleitung über junge, gerade erst fest angestellte Frauen dachte, die plötzlich schwanger wurden. Sie wusste, dass sie als faules Stück galt, als Betrügerin, die das System mit der gesetzlichen Elternzeit ausnutzte, um die Zeitung in Schwierigkeiten zu bringen. Es war doch ein Witz, eine hochschwangere Frau in der Kriminalredaktion zu haben. Zum einen nahm man an, dass ihr, sowie sich das Spermium in die Eizelle gedrängelt hatte, alle Gehirnzellen abgestorben waren, und zum anderen musste sie ja für ihren Betrug bestraft werden. Sie erinnerte sich noch an ihre verbitterten Tränen und die linkischen, verständnislosen Versuche von Thomas, sie zu trösten.

»Es geht dir bestimmt bald besser, du wirst schon sehen«, hatte er gesagt und ihr ein Glas Milch geholt.

Sie hatte ihm nie erzählt, dass sie nicht weinte, weil ihr schlecht war.

Ihr Nacken tat weh. Sie fuhr mit der Hand über den ersten Halswirbel, massierte ihn und versuchte, den Kiefer zu entspannen. Den größten Teil der Fahrt hatte ihr Handy keine Verbindung gehabt. Ihre mickrige Telefongesellschaft bot hier draußen in der Pampa kein Netz.

Immerhin hatte sie herausbekommen, dass sowohl die Kripo von Eskilstuna als auch die Landespolizei eingeschaltet worden waren, was sie mit Zuversicht und Unbehagen zugleich erfüllte. Zur Mordkommission in der Hauptstadt hatte sie einen guten Kontakt, vor allem zu Q, dem Ermittler, der oft auch außerhalb der Hauptstadt tätig war. Ihre Beziehung zur Polizei von Eskilstuna war wesentlich komplizierter. Die dortige Polizei hatte vor sechs Jahren den Tod des Bandyspielers Sven Matsson in Hälleforsnäs untersucht, und sie war sicher, dass sie nichts vergessen hatten.

Sie starrte aus dem Autofenster. Dort wischten die Nadelbäume vorbei, die sörmländische Natur, durch die sie damals gerannt war, gejagt, auf der Flucht.

Es war ein kühler, klarer Herbsttag gewesen. Am Abend zuvor hatte sie Sven verlassen und ein für alle Mal ihre sadistische Beziehung beendet. Er hatte ihr daraufhin geschworen, sie umzubringen, hatte sie mit einem Jagdmesser durch den Wald verfolgt und ihrer Katze den Bauch aufgeschlitzt.

Sie schloss die Augen und ließ sich vom schlechten Asphalt und den neuen Stoßdämpfern des Saab schaukeln. Sie konzentrierte sich darauf, sich zu entspannen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Svens Kopf, zertrümmert von dem Eisenrohr, das sie in der Hand hielt. Sie sah, wie er sich langsam über die Kante des Hochofens schob und in der Tiefe verschwand. Ihr Atem wurde schneller, es kribbelte in den Beinen. Sie verdrängte das Bild.

Sie war wegen Totschlags verurteilt worden, und das Gericht von Eskilstuna hatte die Strafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Ihre Tat wurde als Notwehr eingestuft, und sie wurde vom Verdacht des Mordes freigesprochen. Sie selbst war nicht sicher, ob das Urteil korrekt war. Sie hatte töten wollen. Sie hatte dagestanden, die sterbende Katze im Arm, aus deren Bauch die Gedärme quollen, und hatte das Gefühl gehabt, richtig gehandelt zu haben.

»Müssen wir hier nicht abbiegen?«

Sie sah auf.

»Ja. Nach links.«

Sie fuhren die lange Allee hinunter, die zur Auffahrt nach Yxtaholm führte. Als sie an der Abzweigung zum Gestüt vorbei waren, zeigte sich, dass die Straße von einem großen Schlagbaum versperrt wurde.

Bertil Strand stöhnte.

»Verdammt, das ist doch typisch.«

Annika sah nach rechts, wo man die weiße Fassade der Schlosses hinter den Laubbäumen durchschimmern sah. Etwas weiter die Auffahrt hinauf konnte sie Leute erkennen, gerade fuhr ein Bus auf den Parkplatz neben dem Stall.

»Die ganze verdammte Medienwelt von Schweden ist schon da«, brummte der Fotograf.

»Hör auf zu meckern«, sagte Annika.

Sie machte die Autotür auf und stieg aus dem Wagen, als Bertil gerade Gas geben wollte, um wegzufahren.

»Wie weiträumig ist hier abgesperrt?«, rief sie dem Polizisten am Schlagbaum zu.

»Die ganze Landzunge.«

»Und warum durften die anderen rein?«

Sie knallte die Autotür mit aller Kraft zu und tat, als würde sie die aufgeregten Proteste von Bertil Strand nicht hören.

»Wir werden die ganze Gegend absperren und hinterher alle rausschicken«, antwortete der Polizist mit fester Stimme, doch sein Blick glitt über das Wasser, und der Adamsapfel hüpfte. Er stammte von hier, wahrscheinlich aus der nächsten Polizeistation in Katrineholm.

Annika beschloss, zum Angriff überzugehen. Sie wühlte ihren Presseausweis aus der Tasche, ging mit festen Schritten auf den Beamten zu, hielt ihm den Ausweis unter die Nase und sah ihm direkt in die Augen.

»Versuchen Sie, mich an meiner Arbeit zu hindern?«

Der Polizist schluckte wieder.

»Ich habe meine Anweisungen«, sagte er und sah konzentriert auf den Långsjö hinaus.

»Die besagen, die Presse daran zu hindern, über eine Nachrichtensache zu berichten? Das glaube ich nicht.«

Er sah Annika an.

»Sind Sie nicht die aus Hälleforsnäs?«, fragte er.

Annika geriet ins Schwanken, machte dann auf dem Absatz kehrt, ging zum Auto zurück und ließ sich schwer auf den Beifahrersitz fallen.

»Hier kommen wir nicht weiter«, sagte sie und knallte die Tür zu.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass …«

Bertil Strand ließ die Kupplung kommen, ganz vorsichtig, damit der Schotter den Lack nicht beschädigte.

»Warte«, sagte Annika, schloss die Augen und strich sich über die Stirn. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Es musste noch einen anderen Weg geben.

Der Fotograf gab Gas und legte den zweiten Gang ein, wobei er auf dem nassen Schotter ein klein wenig schleuderte. Das Gefühl, gescheitert zu sein, quälte sie, lag ihr wie ein Stein auf der Brust.

»Halt an«, bat sie. »Wir müssen nachdenken.«

Bertil Strand parkte vor einem ausgeblichenen Straßenschild.

»Es muss doch möglich sein, irgendwo anders reinzukommen«, sagte sie.

Der Fotograf sah über den See.

»Kommt man auch von der anderen Seite ran?«

»Das Schloss liegt auf einer Insel mitten zwischen zwei Seen«, sagte Annika. »Dieser hier heißt Långsjö. Der Yxtasjö auf der anderen Seite reicht ziemlich weit nach links. Ich glaube nicht, dass es da noch eine Straße gibt. Höchstens einen Waldweg, aber die sind meistens auch mit einem Schlagbaum abgesperrt.«

Sie schaute über das Wasser und sah den Hof von Finntorp durch die Bäume. Dort war sie als Jugendliche zu Reitferien gewesen, war auf Soraya gesprungen und hatte bunte Rosetten gewonnen. Die Bilder tanzten in ihrem Kopf vorbei, der Duft von frisch gemähtem Heu, die Wärme des Pferdes unter ihr, der Staub der Schotterstraße, das vollkommene Zusammenspiel und die Liebe zu der Stute.

Plötzlich wusste sie, was zu tun war.

»Fahr links rauf«, sagte sie, »und dann wieder links.«

Der Fotograf tat, was sie sagte, ohne weiter zu fragen. Entweder verließ er sich auf sie, oder er war sauer. Sie versuchte, sich nicht darum zu scheren.

»Und jetzt?«, fragte er, als sie nach Finntorp kamen.

»Rechts«, meinte Annika. »Nach Ansgarsgården.«

Sie rollten sanft den Hügel hinauf, an den Pferdeweiden vorbei und den Schildern, auf denen stand, dass man hier nicht mit dem Auto fahren durfte. Die roten Holzhäuser tauchten wie große Klötze aus dem Regenschleier auf.

»Was ist das hier?«

»Ein Hof für christliche Kurse und Freizeitlager. Ich glaube, die Anlage gehört dem Schwedischen Missionsverband. Fahr den Hügel hinunter, hinter den Häusern gibt es einen Parkplatz.«

Der Parkplatz war leer, abgesehen von einem Wohnwagen, der am hinteren Ende stand. Sie stellten das Auto am Rand einer großen Rasenfläche ab.

»Warum sind wir hier?«, fragte Bertil Strand.

»Hinter dem Hügel da vorne ist eine Badestelle«, sagte Annika, »und wenn ich mich recht entsinne, liegt am Steg ein Rettungsboot. Ich denke, das können wir uns mal ausleihen.«

Der Regen schien nicht nachzulassen. Sie zogen sich die Regensachen an, und Bertil Strand packte die Kameras in Plastik und seinen wasserdichten Rucksack.

»Deck den Computer zu«, sagte er. »Ich will nicht, dass mir jemand den Wagen aufbricht.«

Annika presste die Lippen zusammen und warf eine Decke über die Laptoptasche auf dem Rücksitz. Aufbrechen? Auf einem leeren Parkplatz an einem christlichen Freizeithof?

Das Boot war da, halb voll Wasser. Die Ruder hatte jemand ins Schilf geworfen, ein Schöpfeimer war nicht zu sehen. Gemeinsam zogen sie es aus dem Wasser und drehten es um. Das Wasser floss in einem kleinen Bach durch den Sand.

»Kannst du rudern?«, fragte Bertil Strand ungewohnt zaghaft.

»Ich hoffe, sie haben nicht auch noch die Ufer abgesperrt«, meinte Annika nur.

Es war weiter, als sie gedacht hatte. Das kleine Ruderboot hüpfte wie eine Nussschale auf den Wellen, zeitweise dachte sie, sie würden gar nicht vorwärts kommen. Der Boden füllte sich schon wieder mit Wasser, das schien also nicht nur von oben zu kommen.

Schönes Rettungsboot, dachte sie, als sie halb über den See waren.

Als sie um die Landzunge kamen, blies ihnen der Wind direkt entgegen. Annika bekam allmählich Krämpfe in den Armen.

»Glaubst du wirklich, dass wir es heute noch schaffen?«, fragte Bertil Strand, der nass war wie ein ersoffener Hund.

Das ließ sie noch fester und schneller rudern. Und als sie gerade schon aufgeben wollte, erblickte sie die Sauna und das Strandhaus.

»Jetzt sind wir gleich da«, sagte sie und sah mit zusammengekniffenen Augen durch die Regenschauer zu der Insel hinüber, auf der das Schloss lag.

Am Ufer war irgendetwas los. Sie konnte vor den Flügeln des Schlosses kleine schwarze Figuren ausmachen und vor einer weißen Mauer an der Mündung des Kanals einen bunten Klotz. »Das wird wohl der Bus mit dem Regieraum sein, was?«, meinte der Fotograf und nahm eine Kamera aus einer Plastiktüte. »Könntest du das Boot bitte etwas ruhiger halten? Ist vielleicht ganz gut, wenn ich schon mal ein paar Schnappschüsse mache, für den Fall, dass sie uns wieder rausschmeißen.«

Sie kümmerte sich nicht um ihn, sondern ruderte weiter. Fast war sie für das Unwetter dankbar. Mit etwas Glück würden sie um die Insel herumrudern können, ohne bemerkt zu werden, und dann unterhalb des Fahnenmastes an Land und in die nähere Umgebung des Schlosses kommen.

Es funktionierte. Annika zitterte am ganzen Körper, als sie das Boot durch das Schilf und auf den Rasen zerrte. Ihr war eiskalt, und sie war erschöpft.

»Kennst du dich hier aus?«, fragte Bertil Strand.

Sie schnaufte einen Augenblick und versuchte, ein Husten zu unterdrücken.

»Meine Großmutter hat mich jedes Jahr zu ihrem Geburtstag hierher mitgenommen. Wir sind dann im Schlosspark spazieren gegangen und haben oben im Speisesaal ein dreigängiges Menü gegessen.«

»Das sind ja reizende Gewohnheiten«, meinte Bertil Strand und schwang sich den Rucksack auf den Rücken.

»Meine Großmutter war Haushälterin auf Harpsund – das ist von hier nur ungefähr zehn Kilometer durch den Wald. Und sie kannte den damaligen Wirt von Yxtaholm. Das Essen war ein Geschenk.« Annika zeigte nach rechts in den Nebel.

»Die Terrasse«, sagte sie, »da hat man wahrscheinlich die Sendung aufgenommen.«

Sie wies nach links.

»Der Nordflügel, Suiten und Doppelzimmer. Geradeaus, das große Haus, Speisesäle und Salons. Komm.«

Der Hauptflügel des Schlosses türmte sich vor ihnen auf wie ein glitzernder Palast, weiß und regennass. Sie näherten sich dem Haus vom nördlichen Giebel. Das Dach wirkte noch schwärzer als der regenschwere Himmel. Die Rosen im Beet in der Mitte des Schlosshügels waren dabei zu erblühen. An der Auffahrt parkten drei Polizeiautos.

»Was ist das hier eigentlich?«, fragte Bertil Strand und packte eine Kamera aus.

»Ein alter Herrensitz«, meinte Annika, »schon im Mittelalter aktenkundig. Heute ein Hotel mit Konferenzräumen, im Besitz des Schwedischen Arbeitgeberverbandes. Erbaut 1753.«

Der Fotograf warf ihr einen raschen Blick zu.

»Nicht 1754?«

»Steht da«, sagte Annika und zeigte auf die Jahreszahl über der Tür. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Doppeltür noch nie geschlossen gesehen hatte. Immer hatte sie einladend offen gestanden. Jetzt wirkten die braunen Türen massiv, schwer und fest verschlossen.

Sie zeigte über den Schlosshügel am Südflügel vorbei.

»Die ersten Gebäude waren aus Holz und lagen dort hinten. Das Schloss und alle Nebengebäude haben ein Gerüst aus Ziegelsteinen, die in einem Ofen hinter den Bäumen da drüben gebrannt worden sind. Erst den Tatort?«

Bertil Strand nickte.

Sie gingen um das Schlossgebäude herum, tasteten sich vorsichtig von Baum zu Baum durch den Park. Dann an der Terrasse mit einem geharkten Kiesweg und gepflegten Rasenflächen, Hecken und Blumenbeeten vorbei. Annika sah an der Fassade hoch, gut verputzt und kerzengerade stand sie da, die Fenster in langen Reihen. Die Wasseroberfläche des Yxtasjö spiegelte sich in den Hunderten kleiner Fenster wider, die mit bleigrauen Bögen eingefasst waren.

»Man sieht hier fast die Leute in Krinolinen vor sich«, meinte der Fotograf und ließ den Motor der Kamera rattern.

Sie gingen zum See hinunter, um das kleine Labyrinth aus Hecken und Mäuerchen herum, am Steg vorbei und dann zum linken Ende des neuen Flügels hinauf.

»Der Ü-Wagen«, sagte Annika.

Bertil Strand wechselte die Kamera und legte sich der Länge nach ins Gras. Er stützte das Teleobjektiv mit der linken Hand, während er den Motor mit der rechten betätigte.

Annika stand hinter ihm und sah mit zusammengekniffenen Augen zum Tatort hinüber. Der Bus sah nicht wie irgendein Bus aus, sondern mehr wie ein gigantischer Fernlaster. Die eine Längsseite des Anhängers war ausgeklappt, so dass der Raum darin doppelt breit war. Sie gingen genau auf den Eingang zu, eine schmale Tür links von der Fahrerkabine, zu der ein paar Treppenstufen hinaufführten. Sie sah einen Polizisten in Uniform, der mit dem Rücken zu ihnen stand und mit jemandem im Regieraum redete.

»Müssen wir noch näher ran?«, fragte sie leise.

Sie kam mit dem Fotografen zwar nicht besonders gut zurecht, doch sie vertraute seiner Fachkenntnis.

»Eigentlich nicht. Ich habe von der anderen Seite, aus dem Boot heraus, ein paar Bilder machen können. Wir sollten mal versuchen, nach rechts runterzugehen, so dass man die Flügel im Hintergrund sehen kann. Wenn sie uns dann verjagen wollen, hältst du sie auf.«

Bertil Strand stand auf, warf sich den Rucksack über die linke Schulter und ging am Ufer entlang. Annika folgte ihm und ließ den Blick über die weißen Gebäude schweifen. Das Schloss ganz oben auf dem Hügel, die Flügel, die Mauer, die dicht belaubten Bäume, alle verschieden, das warme goldfarbene Licht, das aus den Fenstern in das draußen herrschende Grau schien.

»Färbung eines Garten Edens«, hatte Axel Oxenstierna in sein Tagebuch geschrieben, nachdem er hier gewesen war. Ich weiß, warum, dachte sie.

»Alles klar«, sagte der Fotograf und wandte sich dem See zu.

Sie gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und Bertil Strand schoss die ganze Zeit Fotos.

Als sie über den Schlosshügel kamen, liefen sie einem Polizisten in die Arme, den Annika aus Eskilstuna kannte.

»Was machen Sie hier?«, fragte er bestimmt.

Annika holte ihren Presseausweis heraus und hielt ihn dem Polizisten unter die Nase.

»Wir suchen unseren Kollegen Carl Wennergren. Er war gestern bei den Dreharbeiten dabei und müsste hier irgendwo sein.«

»Er wird verhört«, meinte der Polizist und baute sich dicht vor Annika auf. »Wären Sie bitte so freundlich, das Grundstück zu verlassen und zu den anderen Journalisten zu gehen?«

»Steht er denn unter Verdacht?«

»Dazu kann ich im Moment nichts sagen.«

Der Polizist gab ihr einen Schubs.

»Nun aber mal langsam«, sagte Annika scharf. »Man verhört einen Journalisten nicht einfach so. Wenn Sie den Reporter einer der größten Zeitungen Schwedens festhalten, sind Sie verpflichtet, dies seinem Arbeitgeber zu melden.«

Das war gelogen, aber der Beamte war sich seiner Sache nicht sicher.

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß gar nichts.«

»Wie viele Leute verhören Sie denn hier?«

»Alle, die letzte Nacht hier waren.«

»Und wie viele waren das?«

»Bestimmt ein Dutzend. Da ist übrigens noch eine Kollegin von Ihnen dabei. Diese ältere Frau, die Glossen schreibt, ist auch hier.«

Annika fiel die Kinnlade herunter.

»Barbara Hanson? Was macht die denn hier?«

Der Polizist beugte sich vor und senkte die Stimme.

»Jedenfalls ist hier keiner von ihnen festgenommen worden«, sagte er. »Das wüsste ich.«

»Und wird das Personal vom Schloss auch verhört?«

»Im Moment noch nicht. Von denen war ja heute Nacht keiner hier.«

»Und sonst?«, fragte Annika schnell.

Ein Mann in Regenmantel und Gummistiefeln kam auf sie zu, und der Beamte wurde sichtlich nervös.

»Jetzt müssen Sie aber gehen«, sagte er, packte sie und drehte sie vom Schloss weg.

Sie gingen langsam zur Brücke zu den anderen Journalisten. Annika holte ihr Handy heraus und rief Spiken an.

Der Nachrichtenchef schien am Desk zu Mittag zu essen, denn er schmatzte und trank und versuchte mit vollem Mund zu reden.

»Was sagt Wennergren?«

»Keine Ahnung. Er darf nur mit der Polizei reden.«

»Was soll denn das heißen? Haben sie Wennergren in die Mangel genommen? Der ist doch Journalist!«

Es klang, als würde etwas Nasses auf dem Hörer landen. Annika verzog das Gesicht.

»Ich habe nicht gesagt, dass sie ihn festgenommen haben. Er wird nur im Zuge der Ermittlungen befragt. Außerdem ist er in guter Gesellschaft. Barbara ist auch hier.«

»Hanson? Verdammt noch mal. Schyman hat ihr doch gesagt, sie soll aufhören, Scheiße über Michelle Carlsson zu schreiben.« Annika war etwas verwirrt, sie wusste nicht, worauf Spiken sich bezog. Um ehrlich zu sein, hatte sie während ihrer Elternzeit die Zeitung nur sporadisch gelesen, vor allem was die üblen Tratschkolumnen von Barbara Hanson anging. Sie wechselte das Thema.

»Insgesamt werden zwölf Leute verhört.«

»Wer denn alles?«

Offenbar hatte der Nachrichtenchef seine Mahlzeit beendet, denn er rülpste und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich nehme an, vor allem Leute vom Fernsehteam, aber das werde ich noch rauskriegen.«

»Wir brauchen Namen und Fotos von allen«, sagte Spiken und kritzelte mögliche Formulierungen für die Schlagzeilen hin. »Sie haben das Massaker im Schloss überlebt. Einer von ihnen ist der Mörder. Und da waren’s nur noch zwölf. Verdammt, das ist gut.«

»Welch ein Poet«, meinte Annika und legte auf.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Bertil Strand.

»Zum Parkplatz«, meinte Annika.

Sie mussten am Ende der Brücke unter einer Absperrung hindurchkriechen und gesellten sich dann zum Rest des Medienaufgebots.

»Wie seid ihr denn reingekommen?«, fragte der Kollege von der Konkurrenz, ein großer Mann mit blondem Haar und durchnässter Lederjacke.

»Wir haben uns schon seit gestern in der Höhle des Löwen versteckt«, erwiderte Annika und ging zum Stall.

Sie fing an sich zu entspannen, langsam fühlte sich auch der Körper wieder normal an. Die Arme waren nicht mehr so verkrampft, und die Unruhe im Magen hatte sich gelegt. Das Wasser, das ihr in den Kragen gelaufen war, hatte sich mittlerweile aufgewärmt. Sie ging ein wenig umher, um ihre Glieder zu lockern.