Kant und der Schachspieler - Marcel Häußler - E-Book
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Kant und der Schachspieler E-Book

Marcel Häußler

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Beschreibung

Der Mörder kommt näher. Zug um Zug.

Ein Leichenfund auf dem Gelände der alten Farbenfabrik gibt Kommissar Kant und seinem Team von der Münchner Polizei Rätsel auf. Der Tote, der bei Rückbauarbeiten in einem ausrangierten Chemikalientank entdeckt wurde, trägt eine auffällig teure Lederjacke über seinen abgewetzten Klamotten. Und er umklammert mit kalter Hand eine hölzerne Schachfigur. Handelt es sich möglicherweise um den genialen Schachspieler Jakob Holler, der vor zwei Jahren spurlos verschwunden ist? Die Ermittler setzen alles daran, die Fäden zu entwirren. Doch gerade als der Durchbruch zum Greifen nahe scheint, schlägt der Schachmörder erneut zu …

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Das Buch

Ein Leichenfund auf dem Gelände der alten Farbenfabrik gibt Kommissar Kant und seinem Team von der Münchner Polizei Rätsel auf. Der Tote, der bei Rückbauarbeiten in einem ausrangierten Chemikalientank entdeckt wurde, trägt eine auffällig teure Lederjacke über seinen abgewetzten Klamotten. Und er umklammert mit kalter Hand eine hölzerne Schachfigur. Handelt es sich möglicherweise um den genialen Schachspieler Jakob Holler, der vor zwei Jahren spurlos verschwunden ist? Die Ermittler setzen alles daran, die Fäden zu entwirren. Doch gerade als der Durchbruch zum Greifen nahe scheint, schlägt der Schachmörder erneut zu …

Der Autor

Marcel Häußler wurde 1970 in Essen geboren. Um die Jahrtausendwende arbeitete er in Köln als Kameraassistent und Cutter, als ihn die Liebe aus der Großstadt in ein bayerisches Dorf verschlug. Zwei Jahre später zog es ihn aus der Provinz nach München, wo er bis heute wohnt. Er veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten, schrieb an Drehbüchern mit und übersetzte über dreißig Romane aus dem Englischen.

Marcel Häußler

KANT

und der Schachspieler

Kriminalroman

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

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Originalausgabe 11/2022

Copyright © 2022 by Marcel Häußler

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickiesy

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Sahara Prince, amyrxa, Malivan_Iuliia)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-29556-1V001

www.heyne.de

1

Die Woche hat schon gut angefangen, dachte Kant, während er den Abschlussbericht zum Fall Bergmann schrieb.

Am Montag hatte er Streit mit seiner Tochter Frida gehabt. Er hatte mit der ersten Tasse Kaffee am Küchentisch gesessen und einen Artikel darüber gelesen, wie die Kriminalstatistik oft für politische Zwecke verzerrt wurde – ein Thema, das ihn wirklich interessierte –, als sie mit nassen Haaren zur Tür hereingestürmt kam. Schranktüren knallten, Geschirr klapperte, und sie begann auf ihn einzureden, während sie einen Apfel und eine Banane in ihr Müsli schnitt. Es ging um dasselbe Thema wie immer beim Frühstück oder Abendessen: um den Klimawandel. Kant sah auf und nickte. Er war vollkommen ihrer Meinung, es musste etwas unternommen werden. Und nicht nur das, er war auch froh, dass sie etwas gefunden hatte, für das sie sich engagieren konnte. Etwas anderes als ältere Jungen, durchgefeierte Nächte und allgemeinen Nihilismus.

Er sah ihr einen Moment lang zu, wie sie im Unterhemd am Kühlschrank lehnte und mit jugendlicher Gier ihre Körnernahrung in sich hineinschaufelte. Im Großen und Ganzen lief es in letzter Zeit gut, dachte er. Frida ging regelmäßig zur Schule, ihre Noten hatten sich gebessert, und wenn nichts dazwischenkam, würde sie übernächstes Jahr schon Abitur machen.

Kant las weiter, während er ihr mit einem Ohr zuhörte und gelegentlich nickte. Frida zitierte aus den neuesten Studien des Weltklimarats. Die Polkappen schmolzen, der Meeresspiegel stieg, extreme Wetterlagen häuften sich. Je tiefer sie in die Materie einstieg, desto weniger bekam er mit, bis ihre Stimme schließlich zu einer angenehmen Begleitmelodie für diesen strahlenden Sommermorgen wurde. Kant war bei den letzten Zeilen seines Artikels angekommen, als er merkte, dass sie plötzlich verstummte. Hatte er etwas Wichtiges verpasst? Er ließ die Zeitung sinken und sah sie an.

»Und?«, fragte Frida. »Kommst du jetzt am Donnerstag oder nicht?«

Er hätte irgendwas antworten können – mal sehen, vielleicht, muss ich mir noch überlegen –, aber die Falte zwischen ihren Augen warnte ihn, dass sie sich damit nicht abspeisen lassen würde. Sie redete über das entscheidende Thema, und er hörte nicht zu. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen.

»Wohin?«, fragte er möglichst beiläufig.

Die Sonne schien durch das ungeputzte Fenster, und obwohl es erst kurz nach acht war, fühlte es sich schon an, als hielte ihm jemand einen Heizstrahler vors Gesicht. Frida ließ ihren Löffel in die Schüssel fallen. »Vergiss es. Fahr zur Arbeit. Es ist ja nicht deine Zukunft.«

Sie lief aus der Küche, bevor er auch nur den Versuch unternehmen konnte, sie zu beruhigen. Ihre Zimmertür knallte, der Schlüssel wurde umgedreht, und sie ließ sich nicht mehr blicken, bis er das Haus verließ.

Am Dienstag hatte dann Katja im Präsidium angerufen und ihre Verabredung mit ihm abgesagt. Sie habe Bauchschmerzen, sagte sie, aber er hörte ihr an, dass etwas anderes dahintersteckte. Kant gab sich Mühe, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Den ganzen Vormittag lang, während er sich im stickigen Vernehmungszimmer die halbgaren Anschuldigungen der Tochter des Juweliers Bergmann anhörte, hatte er sich auf den Abend mit ihr gefreut. Eine Flasche Wein auf dem Balkon, während eine leichte Brise ihn mit dem Apfelduft ihres Shampoos umhüllte. Die leichte Belustigung in ihrer Stimme, als gäbe es nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen musste. Die Spitzen ihrer Haare, die seine Brust kitzelten, wenn sie sich im bläulichen Schein der Laterne vor dem Fenster auf seinem Bett liebten.

Er hatte Katja vor einem knappen halben Jahr bei Mordermittlungen in Schelfing kennengelernt. Zunächst war sie nur eine Polizistin gewesen, die ihm nach dem Tod seines alten Kollegen Klaus Weber Trost gespendet hatte. Doch seitdem trafen sie sich ein- oder zweimal pro Woche, unverbindlich, ohne irgendwelche Pläne für die Zukunft zu schmieden. Er selbst war zufrieden mit diesem Arrangement, aber wenn er genauer darüber nachdachte, schien sie bei ihren letzten Verabredungen gedrückter Stimmung gewesen zu sein.

»Ich ruf dich morgen an«, sagte sie am Telefon. »Dann besprechen wir alles Weitere.«

Also saß er am Abend allein auf dem Balkon. Ohne Apfelshampoo. Oder Belustigung. Eine leichte Brise gab es auch nicht, nur die Hitze, die vom Asphalt der Straße aufstieg. Während er sich fragte, was Katja mit »alles Weitere« gemeint hatte, leerte sich die Flasche Wein wie von allein.

Deshalb musste er sich jetzt, am Mittwoch, auch noch mit einem leichten Kater herumschlagen, während er die Ermittlungsergebnisse zum Tod des Juweliers zusammenfasste. Der ältere Mann war vor zwei Wochen mit einer Kopfverletzung auf dem Boden seiner Küche aufgefunden worden. Seine Tochter hatte ihren Bruder beschuldigt, ihn erschlagen zu haben, um an das Erbe zu gelangen, und Nachbarn hatten angeblich einen Streit gehört. Bei der Obduktion und den nachfolgenden Untersuchungen stellte sich allerdings heraus, dass der Mann bei dem Versuch, die Neonröhre über dem Herd zu reparieren, einen Stromschlag erlitten hatte und mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante geschlagen war. Bei Weitem nicht jeder Todesfall, mit dem sie sich beschäftigten, entpuppte sich als Tötungsdelikt. Trotzdem musste der Sachverhalt natürlich in aller Ausführlichkeit dokumentiert werden.

Kant saß also an seinem Schreibtisch und überlegte, ob er lieber bei geschlossenem Fenster ersticken oder vom Straßenlärm wahnsinnig werden wollte, als das Telefon klingelte. Es war Katja.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

»Besser.« Er hörte, wie sie Luft holte. »Aber ich kann so nicht mehr weitermachen.«

Es war keine Überraschung, als sie ihm erklärte, dass sie ihn eine Weile nicht mehr sehen wolle. Sie brauche einfach Zeit zum Nachdenken. Kant wusste, was das bedeutete. Es war nicht seine erste Beziehung, die so endete.

Als sie auflegte, empfand er neben Traurigkeit auch Erleichterung. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war – und bei all den Lügen, die ihn in seinem Beruf zwangsläufig umgaben, schien ihm das von großer Bedeutung –, hatte er sie nie richtig geliebt. Auch wenn Katja es nicht ausgesprochen hatte, spürte er, dass sie einen Mann wollte, der ganz für sie da war. Dieser Mann konnte er nicht sein. Er fragte sich, ob er überhaupt fähig wäre, sich noch einmal so auf eine Frau einzulassen, dass ihm alles andere egal wäre. Vielleicht war er zu alt dafür. Oder zu abgestumpft.

Er war froh, als Rademacher in sein Büro kam und ihn aus seinen trüben Gedanken erlöste.

»Die Kollegen haben einen Leichenfund gemeldet. Wir müssen nach Allach fahren, zu der alten Farbenfabrik, um uns die Sache anzusehen.«

Die Stadt summte wie ein Bienenstock. Es war Mitte Juli, kurz bevor die Ferien begannen, und alle schienen in ihre Autos gesprungen zu sein, um auf die Schnelle noch etwas zu erledigen. An einer Baustelle, wo armdicke Kabel aus der Erde quollen wie Gedärme, wechselte Rademacher die Spur. Jemand hupte wütend. Der Geruch von Benzin wehte Kant in die Nase, als Rademacher das Fenster herunterließ und den Fahrer des Cabrios neben ihnen anbrüllte.

Kant fragte sich, was mit ihm los war. Normalerweise hätte er die Situation mit einem Achselzucken abgetan und weiter von Mareikes Pfannkuchen oder ihrem geplanten Campingplatz am Meer geschwärmt, aber seit Tagen wirkte er mürrisch und unzugänglich. Vielleicht lag es nur an der Hitze, die die Stadt schon seit Wochen im Griff hielt und das allgemeine Aggressionslevel in die Höhe trieb. Mit seinen hundertzehn Kilo machte sie Rademacher noch mehr zu schaffen als den anderen. Er betrachtete den Sommer sowieso als reine Schikane.

Vor der Einfahrt zu den Kolorit-Werken ragte eine Plakatwand auf, die eine strahlend weiße Wohnsiedlung inmitten dunkelgrüner Wiesen zeigte. »Investieren Sie jetzt in Ihre Zukunft« stand neben der Internetadresse des Maklerbüros.

Die Gegenwart sah nicht ganz so rosig aus. Als sie durch das Rolltor neben dem verlassenen Pförtnerhäuschen fuhren, sah Kant zwei langgestreckte Flachbauten vor sich. Die meisten Fensterscheiben waren eingeschlagen, und Graffiti bedeckten die Mauern. Aus dem rissigen Kopfsteinpflaster neben der Straße wuchs das Unkraut einen halben Meter hoch. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen.

»Wo sind die Deppen? «, fragte Rademacher, während er zwischen den alten Fabrikgebäuden entlangsteuerte. »Soll ich jetzt das ganze Gelände abfahren?«

Je weiter sie auf das Grundstück vordrangen, desto deutlicher hörte Kant den Baulärm. Eine Staubwolke trübte die Luft und tauchte die Backsteingebäude in unwirkliches Licht.

»Da vorne«, sagte Kant, und Rademacher bog scharf rechts ab. Der Streifenwagen parkte in einer Gasse zwischen einem großen Tank und einem umzäunten Gelände voller rostiger Metallfässer. Zwei Polizisten standen vor der Treppe, die zum Tank hinaufführte. Hinter ihnen lag eine freie Fläche, auf der eine Planierraupe Bauschutt zusammenschob. Ächzend kippte ein Bagger seine Ladung auf einen Lastwagen.

Staub hatte sich auf die Uniformen der Beamten gelegt. Rademacher fuhr so dicht an sie heran, dass sie einen Schritt zurückwichen. Die Hitze traf Kant mit voller Wucht, als er aus dem klimatisierten Dienstwagen stieg. Er sah den verzerrten Schatten eines Krans über den Boden gleiten. In der Ferne ging ein Bauarbeiter mit tief in die Stirn gezogenem Helm auf einen Container zu.

Kant zog sein Jackett aus und warf es auf den Rücksitz. In Anzughose und Hemd war ihm natürlich immer noch zu warm, aber er weigerte sich, weitere Zugeständnisse zu machen. Rademacher hingegen hatte die Hemdsärmel bis zum Bizeps hochgekrempelt und trug eine Art Gesundheitssandalen, in denen seine klobigen Füße weiß leuchteten.

Kant reichte den Uniformierten die Hand und stellte sich vor. »Und das ist mein Kollege, Oberkommissar Anton Rademacher.«

Rademachers Gesicht war gerötet, als er um die Motorhaube herumkam. »Wie lange seid ihr schon hier?«, brüllte er über den Baulärm hinweg.

Polizeiobermeister Bednarek, ein dürrer Mann mit scharfen Gesichtszügen, wischte sich ein paar Tropfen Schweiß von der Stirn. »Seit 14:35 Uhr. Eine knappe Stunde. In der Scheißhitze. Der Bauleiter hat den Notruf gewählt. Herr Waldmann. Der ist da drüben in seiner Hütte.« Er zeigte auf den Metallcontainer, der mitten auf dem Brachland in der Sonne glitzerte. »Im Schatten.«

»Und die Leiche?«, fragte Kant.

»Treppe hoch und durch die Luke.« Kant bemerkte, dass Bednarek Rademacher einen skeptischen Blick zuwarf. »Wir sind nicht reingestiegen. Man konnte auch von oben genug sehen. Ich meine, dass der keine Hilfe mehr braucht.«

»Gut«, sagte Kant. »Danke. Könnt ihr uns eine Lampe leihen?«

Bednarek zog seine Stablampe aus dem Gürtel und reichte sie ihm. Rademacher sah mit gerunzelter Stirn die Stufen hinauf. »Was ist das überhaupt für eine Metallbüchse?«, fragte er.

»Irgendein Chemikalientank. Ist aber leer. Ungefährlich. Sagt Herr Waldmann.« Bednarek grinste. »Die Frage ist natürlich, inwieweit ein Bauingenieur das beurteilen kann.«

Kant hörte Rademacher hinter sich schnaufen, als er die Metallstufen hinaufstieg. Die schmale Treppe führte im Zickzack an der Stirnseite nach oben. Der Tank war etwa drei Meter hoch und acht Meter lang und erinnerte mit seinen Anschlüssen und der Luke auf dem Dach an ein in der Einöde gestrandetes U-Boot.

Oben angekommen spürte Kant, wie der blaue Lack unter seinen Ledersohlen abblätterte. Die Luke, die sich mit einem Drehrad verschließen ließ, war nur angelehnt. Kant schaltete die Taschenlampe ein. Der Tank vibrierte, als Rademacher hinter ihm ebenfalls das Dach betrat.

Kant verharrte einen Moment und ließ den Blick über die alte Farbenfabrik schweifen. Der vordere Teil war noch überwiegend intakt, während weiter hinten die Planierraupen und Bagger schon ganze Arbeit geleistet hatten. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Wie er als Jugendlicher in Duisburg mit seinem Freund Paul auf das Gelände des stillgelegten Hüttenwerks eingedrungen war. Wie sie im Schatten des Hochofens Dosenbier getrunken hatten. Wie unheimlich es gewesen war, wenn sie nachts mit ihren Taschenlampen durch dieselben Hallen geschlichen waren, in denen sein Vater ein Jahrzehnt zuvor noch sein Geld verdient hatte.

»Worauf wartest du?«, fragte Rademacher.

Kant klappte die Luke auf. Sonnenlicht ergoss sich über die Leiter, die in den Tank führte, und bildete eine helle Pfütze am Boden. Neben der untersten Sprosse lag eine Hand. Bräunlich verfärbt und verkrampft. Ein muffiger Geruch schlug Kant entgegen, als er in die Hocke ging. Der Strahl seiner Lampe drang tiefer in den Tank. Und fiel auf die Arme, den Kopf, den Brustkorb, die Beine. Der Tote lag mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken. Sein Gesicht glänzte, als wäre es von einer Fettschicht bedeckt.

Kant spürte das Prickeln, das jeder ungeklärte Todesfall bei ihm auslöste. Mit einem Mal verblassten seine privaten Sorgen. Seine Gedanken hatten ein neues Ziel; sie mussten nicht länger umherschweifen. Merkwürdig, dachte er, wie der Tod eines anderen meinem Leben Sinn verleiht.

Er hörte Rademacher hinter sich tief einatmen. »Ausgerechnet heute«, murmelte er, während er in den Tank blickte. »Du hättest auch noch ein paar Tag länger hier liegen bleiben können.«

»Ruf die Spurensicherung«, sagte Kant. »Ich sehe mir das mal genauer an.«

Sie gingen zurück zum Auto. Während Rademacher telefonierte, holte Kant einen weißen Schutzanzug und Überzieher aus dem Kofferraum und schlüpfte hinein, auch wenn er bezweifelte, dass es in dem Tank noch viele Spuren gab, die man zerstören oder verfälschen konnte.

»Sprich schon mal mit dem Bauleiter«, sagte er. »Sämtliche Arbeiten müssen eingestellt werden, bis wir Genaueres wissen.«

Rademacher nickte mit dem Telefon am Ohr.

Die Kapuze klebte schon an Kants Wangen, als er zum zweiten Mal die Stahltreppe hinaufstieg. Ohne die Kühlwesten, die die Kollegen von der Spurensicherung trugen, hielt man es bei solchen Temperaturen unter der Plastikhülle nicht lang aus. Und in dem Tank, der in der prallen Sonne stand, wurde es erst richtig heiß. Sobald Kant durch die enge Luke geklettert war, hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten, das musste reichen. Er dachte daran, was Polizeiobermeister Bednarek gesagt hatte. Vielleicht war das Opfer ja an irgendwelchen giftigen Dämpfen erstickt.

Er leuchtete von der Leiter aus auf den Boden, der von einer dünnen Staubschicht bedeckt war. Keinerlei Abdrücke. Offenbar hatte seit Langem niemand mehr den Tank betreten. Vorsichtig setzte er die Füße auf den Boden. Der Dreck knirschte unter seinen Sohlen, während er die Leiche umrundete und in alle Ecken leuchtete.

Nichts. Nur Staub und Metall.

Erst jetzt wandte er sich der Leiche selbst zu. Sie trug verdreckte weiße Turnschuhe, deren Schnürsenkel sich größtenteils aufgelöst hatten. Die Beine steckten in zerschlissenen, von trockenen braunen Flecken bedeckten Jeans. Wahrscheinlich ausgetretene Fäulnisflüssigkeiten aus einem frühen Stadium der Verwesung, dachte Kant. Ein Gürtel mit silberner Schnalle schlang sich um die schmale Taille des Toten. Oberhalb und unterhalb des spröden Leders war das Fleisch aufgequollen. Ein Wollpullover und eine Lederjacke bedeckten den Oberkörper. Eindeutig Winterkleidung.

Kant richtete die Taschenlampe auf das Gesicht. Die Haut glänzte wie Bronze und wirkte noch gut erhalten, wenn man bedachte, dass der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach seit mindestens einem halben Jahr tot war. Vermutlich hatten Trockenheit und Sauerstoffmangel die Verwesung verlangsamt. Trotzdem waren die Gesichtszüge so entstellt, dass sich das Alter des Toten schlecht schätzen ließ. Weder ein Jugendlicher noch ein Greis, dachte Kant.

Der Mund stand halb offen, als hätte der Mann noch etwas sagen wollen. Seine eingetrockneten Augen starrten zur Decke. An dem kahlen Schädel waren auf den ersten Blick keine Verletzungen zu erkennen.

Kant betrachtete die über dem Kopf ausgestreckten Arme. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand in dieser Position starb, wenn er in einem Tank eingeschlossen um sein Leben rang. Was die Frage aufwarf, ob das Opfer erst nach seinem Ableben hergebracht worden war.

Die Finger der linken Hand waren ausgestreckt, die der rechten schienen etwas zu umklammern. Einen zylindrischen Gegenstand. Kant ging in die Hocke. Er konnte das Objekt nicht aus den Fingern lösen, ohne eine Beschädigung der Leiche zu riskieren, aber er hatte auch so keine Zweifel, worum es sich handelte: eine Damefigur aus einem Schachspiel.

Das Dröhnen eines Presslufthammers drang dumpf durch die Stahlwände. Kant spürte, dass er Kopfschmerzen bekam. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Es wurde Zeit, diesen Backofen zu verlassen.

Die beiden Uniformierten hatten sich in den kümmerlichen Schatten einer Eberesche zurückgezogen, die sich aus einem alten Schutthaufen bohrte. Rademacher stand bei ihnen und redete mit einem untersetzten Mann in kurzer Hose und T-Shirt. Kant stieg die Stufen hinab und befreite sich aus dem Schutzanzug, bevor er zu ihnen ging.

»Sind Sie Herr Waldmann?«, fragte er.

»Ja«, sagte der Mann. »Und bevor Sie das nächste Mal in irgendwelche Tanks klettern, melden Sie sich bei mir. Ich bin für die Baustelle verantwortlich. Wenn Sie sich den Schädel einschlagen, weil Sie hier ohne Helm rumrennen, habe ich den Ärger am Arsch.«

»Kriminalhauptkommissar Kant.« Er reichte Waldmann die Hand. Der Bauleiter sah ihm herausfordernd in die Augen und drückte zu, als wollte er ihm die Fingerknochen brechen. »Mein Kollege hat Ihnen sicher schon gesagt, dass die Arbeiten hier leider unterbrochen werden müssen.«

Waldmann setzte seinen Helm ab und strich sich die dunklen schweißnassen Locken aus der Stirn. »Wegen einem toten Penner? Wissen Sie, was ein Tag Stillstand kostet?«

»Kennen Sie den Toten?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Das ist ein möglicher Tatort«, sagte Kant. »In fünf Minuten will ich hier nicht mal mehr das leiseste Kratzen einer Schaufel hören, sonst belange ich Sie wegen Strafvereitelung.«

Waldmann sah ihn einen Moment lang an, dann drehte er sich um, legte einen Daumen an die Nase und schnaubte Rotz auf den Boden. »Dieser verdammte Staub hier.« Er nahm sein Funkgerät vom Gürtel und sprach mit schnarrender Stimme zu seinen Leuten. Nach und nach verstummte der Baulärm. Im Geäst der Eberesche über ihnen stieß eine Krähe ein triumphierendes Krächzen aus.

»Na also«, sagte Rademacher. »Jetzt lassen Sie uns mal vernünftig miteinander reden. Es ist doch in unser aller Interesse, dass wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen.«

»Kommen Sie in mein Büro.« Waldmann marschierte mit seinen kurzen Beinen entschlossen los, und Kant und Rademacher folgten ihm zu seinem würfelförmigen Container.

Die Jalousien waren heruntergelassen, und eine Neonröhre tauchte den Raum in grünliches Licht. Waldmann setzte sich an den Plastiktisch und legte seinen Helm zwischen die Kaffeetassen und den halb vollen Aschenbecher. An der Pinnwand hinter ihm flatterten Geländekarten und Schichtpläne im Luftstrom des Ventilators. Da der Bauleiter offenbar keinen gesteigerten Wert auf Höflichkeitsformen legte, setzte sich Kant auf den erstbesten Stuhl. Rademacher blieb an der Tür stehen.

»So was kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen«, sagte Waldmann. »Wir sind sowieso schon hinter dem Zeitplan.« Er schnippte sich eine Marlboro aus der Schachtel und zündete sie an.

Kant begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er hatte das Rauchen vor zwei Wochen aufgegeben, weil Katja sich daran störte, aber die Prozedur half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Am Abend warf er die Zigaretten immer in seine Schreibtischschublade. Die Anzahl korrespondierte mit der geistigen Anstrengung. In den letzten Tagen waren nicht besonders viele hinzugekommen. »Haben Sie den Toten gefunden?«

»Nein«, antwortete Waldmann. »Unser Schweißer. Der sollte den Tank zerlegen. Das sind ja wertvolle Rohstoffe.«

Rademacher zückte seinen Notizblock. »Name?«

»Drago.«

»Und weiter?«

»Müsste ich in den Unterlagen nachsehen.« Rademacher wippte ungeduldig mit dem Fuß.

»Würden Sie ihn bitte herholen?«, fragte Kant.

»Der Mann ist Pole. Spricht kaum Deutsch.« Waldmann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blies einen dünnen Strahl Rauch zur Decke.

»Wir müssen ihn trotzdem befragen. Notfalls mit Dolmetscher«, sagte Kant.

»Er stand ziemlich unter Schock.«

»Ach so«, sagte Rademacher. »Ein sensibles Gemüt. Holen Sie ihn her. Wir fragen auch nicht nach seinem Sozialversicherungsstatus. Vorläufig.«

Waldmann stand auf und lehnte sich aus der Tür. Er stieß einen schrillen Pfiff aus. »Der Drago soll in mein Büro kommen«, rief er jemandem zu, den Kant nicht sehen konnte. »Aber schnell.«

»Was wird hier eigentlich gebaut?«, fragte Kant, als Waldmann sich wieder auf seinen Stuhl fallengelassen hatte.

»Im Moment gar nichts. Erst mal wird abgerissen. Alles, was belastet ist, muss weg. Ein halber Meter Erde bei einer Fläche von fast einem Quadratkilometer. Können Sie ja mal ausrechnen, wie viel Lkw-Ladungen das sind. Fast alles Sondermüll. Damals haben die ihren ganzen Dreck einfach versickern lassen.«

»Was sind das für Schadstoffe?«, fragte Rademacher.

»Überwiegend Arsen und Schwermetalle. Ein netter Cocktail.« Waldmann drückte seine Zigarette aus. »Ich muss jetzt den Mahler anrufen und Bescheid sagen, dass Sie die Arbeiten blockieren.«

»Ist das der Eigentümer des Geländes?«, fragte Kant.

»Ja. Konstantin Mahler. Von Beruf Maler. Und Kunstsammler. Und Gourmet. Und Erbe.« Waldmann griff nach seinem Handy.

»Lassen Sie mal«, sagte Kant. »Wir informieren ihn schon. Geben Sie uns einfach die Adresse.«

Waldmann zuckte mit den Achseln und kramte eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie. »Wie Sie meinen.« Er nahm seinen Helm vom Tisch. »Wollen Sie sonst noch was wissen?«

»Allerdings. Was war in dem Tank?«

»So ungefähr das Harmloseste, was es in der ganzen Fabrik gab. Leinöl.«

Kant hielt sich die fertige Zigarette unter die Nase. Der Geruch des Tabaks ließ seinen Puls ein wenig schneller schlagen. Früher oder später würde er wieder anfangen, wenn niemand da war, der ihn daran hinderte.

»Wieso glauben Sie, dass es sich bei dem Toten um einen Obdachlosen handelt?«

Die Frage schien Waldmann zu überraschen. »Was denn sonst? Die haben sich hier ja richtig eingenistet. In jeder zweiten Ecke liegt eine alte Matratze. Überall leere Flaschen. Müll. Scheißhaufen. Es ist zum Kotzen.«

»Gab es da schon mal Konflikte?«, fragte Rademacher.

»Mir persönlich ist noch keiner über den Weg gelaufen. Zum Glück. Die sind alle abgehauen, als wir vor zwei Monaten angefangen haben. Vermutlich, weil man bei dem Lärm nicht ausschlafen kann.« Waldmann lachte.

Kant wartete, bis er fertig war. »Ist das Gelände nicht gesichert?«

»Mit einem zwei Meter hohen Zaun«, sagte Waldmann. »Aber die graben sich unten durch oder schneiden Löcher rein.«

Motorengeräusche drangen durch die dünne Metallwand. Rademacher ging zum Fenster und schob die Jalousie zur Seite. »Na endlich«, sagte er. »Die Spurensicherung.« Er lief nach draußen, um die Kollegen in Empfang zu nehmen.

»Sind wir jetzt fertig?«, fragte Waldmann.

»Vorläufig.«

Vor der Tür prallte Kant beinahe mit einem schlaksigen Mann in dunklem Overall zusammen.

»Darf ich vorstellen«, sagte Waldmann. »Kommissar Kant, Drago. Drago, Kommissar Kant. Bis später dann.« Er ging mit schnellen Schritten davon.

»Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte Kant.

Drago sah ihn mit seinen wässrig blauen Augen an und nickte. Er wirkte ein wenig blass, aber von einem Schock konnte wohl kaum die Rede sein.

»Dann erzählen Sie doch mal.«

»Treppe hoch, Klappe auf, toter Mann«, sagte Drago.

»Aha. Und was haben Sie dann gemacht?«

»Chef geholt.«

»Waren Sie oder jemand anders in dem Tank?«

Drago schüttelte den Kopf. »Niemand. Chef sagt, woanders schweißen.« Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Arbeit muss immer weitergehen.«

»Heute nicht mehr«, sagte Kant. »Nur eine Frage noch, dann lasse ich Sie in Ruhe. War die Klappe zu? Musste man das Rad drehen, um sie aufzumachen?« Er demonstrierte es mit einer Geste.

»Ja, ja«, sagte Drago. »Zu. Rost wie von hundert Jahre.«

»Sicher?«

»Ja.«

»Gut. Die Kollegen nehmen noch Ihre Personalien auf, dann können Sie gehen.«

Kant schickte ihn zu den beiden Uniformierten.

Die Kollegen von der Spurensicherung begannen, ihr Equipment aus den beiden Kleinbussen zu laden und die Umgebung abzusperren. Zwei Männer stiegen in den Tank, während die anderen ein großes weißes Zelt aufbauten. Kant blieb etwas abseits stehen und sah ihnen zu. Nach der Aussage des Schweißers wies einiges darauf hin, dass ein Fremdverschulden vorlag. Jemand hatte entweder das Opfer in dem Tank eingeschlossen und dort sterben lassen oder die Leiche dort abgelegt. In beiden Fällen musste der Täter mit dem Fabrikgelände vertraut gewesen sein.

Rademacher, der mit dem Leiter der Spurensicherung geredet hatte, schleppte sich durch den grellen Sonnenschein und blieb vor Kant stehen. »Ich glaub, wir werden hier nicht mehr gebraucht«, sagte er.

Kant nickte. »Lass uns mal dem Herrn Mahler einen Besuch abstatten. Mich würde interessieren, wann zum letzten Mal jemand in den Tank gesehen hat.«

Rademacher schaute auf die Uhr. »Hm. Schon halb vier. Das Problem ist, ich habe Mareike versprochen, dass ich um vier zu Hause bin, um mich um die Kinder zu kümmern. Sie hat einen Arzttermin.«

Kant sah ihn forschend an. Er fragte sich, warum er erst jetzt damit herausrückte. War das der Grund für seine schlechte Laune? »Ist es was Ernstes?«

Rademacher winkte ab. »Vorsorgeuntersuchung oder so. Nicht der Rede wert.«

»Okay. Ich setze dich auf dem Weg ab.«

»Wirklich? Ich kann sie auch anrufen und …«

»Nein«, sagte Kant. »Das schaff ich auch alleine.«

2

Von der alten Fabrik bis zu Konstantin Mahlers Wohnung in Nymphenburg fuhr man nur fünfundzwanzig Minuten, aber nach der Hitze, dem Lärm und dem Staub auf der Baustelle hatte Kant das Gefühl, in einer anderen Welt gelandet zu sein, als er unter den Linden am Ufer des Kanals parkte. Auf der Böschung hatten junge Leute, die wie Studenten aussahen, ihre Decken ausgebreitet und lasen oder unterhielten sich. Jogger und Spaziergänger bevölkerten den schmalen Uferweg. Eine alte Frau fütterte die Schwäne mit Brot.

Kant hatte Rademacher an der U-Bahn-Station abgesetzt und war zu der Adresse gefahren, die Waldmann ihm gegeben hatte, ohne sich telefonisch anzukündigen. Er wollte sehen, wie Mahler spontan auf die Nachricht von dem Leichenfund reagierte, falls er ihn überhaupt zu Hause antraf. Und falls Waldmann ihn nicht doch schon informiert hatte.

Er überquerte die Straße und klingelte an der Tür des dreistöckigen Neubaus, der mit seiner schlichten weißen Fassade und den großzügigen Fensterfronten zwischen den Gründerzeitvillen deplatziert wirkte. Kant stellte sich vor, dass die alteingesessenen Nachbarn nicht gerade begeistert von dem Haus waren. Es wirkte wie ein Statement: So lebt der moderne Mensch.

Vor dem kugelförmigen Auge der Kamera wartete Kant, bis der Türsummer ertönte. Mahler ließ ihn ein, ohne die Gegensprechanlage zu benutzen. Kant fuhr mit dem gläsernen Aufzug in den obersten Stock. Die Tür zu Mahlers Wohnung stand offen. Er klopfte auf das Metall des Türrahmens.

»Komm rein!«, rief jemand. Mahler schien ein vertrauensseliger Mensch zu sein, wenn er jeden Fremden in seine Wohnung ließ. Oder er erwartete jemanden.

Kant durchquerte einen langen Flur mit nackten Wänden und Marmorboden. In dem großen Wohnzimmer auf der linken Seite standen ein weißes Ledersofa, ein Fernseher, zwei Boxen und ein Sideboard mit einer Obstschale darauf. Nichts lag herum, niemand war zu sehen. Auf der rechten Seite befand sich die Küche. Die dunklen Steinoberflächen glänzten, als wären sie noch nie benutzt worden. Hinter dem Esstisch führte eine Schiebetür auf die Dachterrasse. Dort entdeckte Kant einen Mann in weißem Hemd und weißer Hose, der mit einem langstieligen Glas in der Hand neben einer Staffelei stand. Sein Blick richtete sich in die Ferne.

Kant trat auf die Terrasse und blieb überwältigt vom Ausblick stehen. Das Schloss Nymphenburg schien zum Greifen nahe. Im Licht der Abendsonne spiegelte sich die Fassade auf dem glatten Wasser des Teichs davor. Zarte rosafarbene Wolken dekorierten den Himmel wie Luftschlangen.

Mahler drehte sich zu ihm um. Leise klimperten die Eiswürfel in seinem Glas. Der Wind fuhr durch sein halblanges Haar. Mahler lächelte milde.

»Kennen wir uns?«

»Noch nicht.« Kant stellte sich vor. Falls Mahler beunruhigt war, sah man es ihm nicht an. Er setzte sein Glas neben der Staffelei auf dem Boden ab und reichte Kant seine weiche, schlaffe Hand.

»Störe ich Sie beim Malen?« Kant sah auf die Leinwand. Ein Aquarell des Schlosses. Nur dass sich statt der feinen Schönwetterwolken dunkle Gewitterwolken am Himmel drängten und eine bedrohliche Stimmung schufen.

»Nein«, sagte Mahler. »Ganz und gar nicht. Jede Ablenkung ist willkommen.«

»Sie sind der Eigentümer der Kolorit-Werke?«

»Ja. Ich habe das Gelände von meinem Vater geerbt. Vor drei Jahren.« Er steuerte auf eine Gruppe von Korbsesseln zu, die um einen niedrigen Glastisch standen. »Setzen wir uns doch. Ist es nicht seltsam? Ich meine, abzureißen, was der eigene Vater aufgebaut hat?«

Kant fiel auf, dass Mahler beim Lächeln die Oberlippe unnatürlich weit hochzog. Wahrscheinlich, damit man sah, wie weiß seine Zähne waren. Aber die Falten um seine Augen verrieten, dass er die Vierzig schon deutlich überschritten hatte.

»Immerhin arbeite ich auch mit Farben«, fügte Mahler hinzu, als müsste er sich rechtfertigen.

»Auf dem Gelände ist eine Leiche gefunden worden«, sagte Kant.

»Das ist ja schrecklich.« Mahler senkte den Blick auf seine frisch manikürten Fingernägel. Dann strich er sich eine Fluse von der Hose. Weder auf seinen Händen noch auf seiner Kleidung waren Farbflecken zu sehen. »Wissen Sie schon, was passiert ist?«

Kant ignorierte seine Frage. »Wann waren Sie zum letzten Mal in der Fabrik?«

»Vor fast drei Jahren«, antwortete Mahler, ohne lange nachzudenken. »Im August 2015. Das war kurz nach dem Tod meines Vaters. Wissen Sie, ich kümmere mich nicht persönlich darum. Das Ganze ist für mich eher eine Belastung.«

»Kennen Sie den Tank, in dem das Leinöl war?«

»Leinöl? Keine Ahnung. Da gibt es jede Menge Tanks.«

»Blau, mit einer Metalltreppe davor?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Mahler. »Wurde da die Leiche gefunden?«

Kant nickte. »Was haben Sie damals auf dem Gelände gemacht?«

»Einen Rundgang. Mit ein paar Technikern und Ingenieuren. Ich wollte die Fabrik verkaufen. So schnell wie möglich. Das hat dann leider nicht geklappt. Wegen der Bodenbelastung. Aber die Techniker haben damals alle Anlagen inspiziert, auch die Chemikalientanks. Da kann die Leiche also noch nicht drin gelegen haben, falls Sie darauf hinauswollten.«

Mahler schlug die Beine übereinander und legte einen Arm auf die Sofalehne. Kant fragte sich, ob er wirklich so entspannt war, wie er vorgab. »Ihr Bauleiter ist davon überzeugt, dass der Tote ein Obdachloser ist.«

»Ach so«, sagte Mahler. »Sie haben ihn noch nicht identifiziert?«

»Nein.« Kant versuchte, Mahlers Blick aufzufangen, aber der wanderte ruhelos durch die Gegend. »Haben Sie eine Idee, wer es sein könnte?«

Mahler strich sich sein mahagonifarbenes Haar aus dem Gesicht. Kant überlegte, ob es gefärbt war. Sein verstorbener Kollege Weber hatte einmal gesagt, er traue keinem Mann, der sich die Haare färbe.

»Nein«, sagte Mahler. »Vielleicht hat Herr Waldmann recht. Es gab ja eine Zeit lang viele Obdachlose auf dem Gelände.«

»Und Sie haben nichts dagegen unternommen?«

»Ich habe den Zaun reparieren lassen«, sagte Mahler. »Aber nur, weil die Anwohner sich beschwert haben. Sie kennen das ja wahrscheinlich. Einen halben Kilometer weiter gibt es einen Kindergarten. Und einen Spielplatz. Da rufen die besorgten Bürger bei der Stadt an, und dann kommt irgendein Sesselfurzer zu mir und sagt, ich soll dafür sorgen, dass da kein Brennpunkt entsteht.«

»Wurden die Abrissarbeiten denn nicht durch die Obdachlosen behindert?«

Mahler schüttelte langsam den Kopf. »Das war vorher. Als die Arbeiten anfingen, sind die von alleine gegangen. Ich persönlich hatte nichts dagegen, dass die auf dem Gelände übernachten. Das sind doch arme Schweine.«

Kant fiel auf, dass sich sein Tonfall nicht geändert hatte. Er sprach immer noch in dem unbeteiligten, leicht ironischen Singsang, mit dem er wahrscheinlich auch eine Vernissage kommentieren würde. Als ginge ihn das alles in Wirklichkeit nichts an.

»Was soll eigentlich auf dem Gelände gebaut werden? Eine Wohnsiedlung?«

»Ja, aber keine normale. In die alten Hallen, die man noch nutzen kann, kommen Ateliers und Veranstaltungsräume. Die klassische Trennung zwischen Arbeit, Wohnen und Kultur wird aufgehoben. Das wird eine ganz neue Form des Zusammenlebens. Stellen Sie sich vor, Kinder, die schon in so einem kreativen Umfeld aufwachsen!«

Mahler sah sich suchend um. Er entdeckte sein Glas neben der Staffelei. Barfuß schlenderte er über die Holzdielen, holte es zum Tisch und benetzte sich im Stehen die Lippen. Von so viel Engagement schien er einen trockenen Mund bekommen zu haben.

»Wissen Sie«, fuhr er fort, »ich glaube, dass in jedem von uns ein Künstler steckt. Bei den meisten liegt das Talent nur verschüttet unter einem riesigen Haufen gesellschaftlichem Mist.«

Das gedämpfte Hupen eines Autos drang von der Straße herauf. Kant wandte sich um. Von hier oben sah die Stadt aus wie das Bild auf einer Postkarte. Hinter den Türmen der Frauenkirche zeichneten sich im Dunst die fernen Berggipfel ab. Nichts zu spüren von all der Hektik und Aggressivität. Wenn man lang genug auf dieser Terrasse saß, kam man vermutlich auf eine Menge merkwürdiger Ideen.

»Warum haben Sie fast drei Jahre gewartet, bis Sie mit den Abrissarbeiten begonnen haben?«

Mahler sah auf ihn herab, als wäre eine so profane Frage eine Beleidigung für seine Vision. »Was tut das zur Sache?«

»Wahrscheinlich nichts. Ich versuche mir nur ein Bild zu machen.«

»Es hat einfach eine Weile gedauert, bis ich eine Bank gefunden habe, die das Ganze finanziert. Die steigenden Preise für Bauland sind mir da natürlich entgegengekommen.« Mahler trank den letzten Schluck aus seinem Glas und verzog das Gesicht. »Pisswarm«, sagte er. »Entschuldigung. Ich habe Ihnen noch gar nichts angeboten.«

Kant winkte ab. Seine Kehle war ausgedörrt, aber er hatte keine Lust, sich von Mahler bewirten zu lassen. Plötzlich widerte ihn die ganze Strandklubatmosphäre an. Er hatte gerade eine halb mumifizierte Leiche gefunden, und Mahler beklagte sich, weil seine Eiswürfel geschmolzen waren.

»Die Bauarbeiten müssen auf unbestimmte Zeit eingestellt werden«, sagte er schärfer, als er beabsichtig hatte.

Mahler schien seinen Stimmungsumschwung nicht zu bemerken. »Selbstverständlich. Ich rede mit Waldmann. Das kostet mich zwar eine Menge Geld, aber Ihre Ermittlungen sind natürlich wichtiger. Was ist schon Geld? Nur ein Mittel zur Freiheit.«

Nach dieser kleinen Weisheit konnte er sich ein selbstzufriedenes Lächeln nicht verkneifen. »Ich brauche sowieso nicht viel mehr als einen Pinsel und eine Leinwand«, fügte er hinzu. Gerade als er sich wieder in seinen Sessel sinken lassen wollte, läutete es an der Tür.

»Bin sofort wieder da.«

Mahler verschwand in der Wohnung. Kant stand auf. In den Glasscheiben der Terrasseneinfassung brachen sich die letzten Sonnenstrahlen, als er sich über das Geländer beugte, um auf die Straße zu sehen. Ein großer weißer Hut schwebte vor der Haustür, mehr konnte er aus dieser Perspektive nicht erkennen. Er hörte das leise Summen des Türöffners, dann verschwand der Hut im Hausflur.

Kant drehte sich um. Mahler stand schon wieder neben der Staffelei, den Blick in die Ferne gerichtet, in der Hand sein leeres Cocktailglas. Wahrscheinlich war das sein Empfangsritual. Kant hatte keine Lust, es noch einmal mitzuerleben. »Ich muss Sie bitten, mir eine Liste mit den Namen der Techniker zu schicken, die an der Inspektion beteiligt waren«, sagte er. »Und sämtlicher Personen, die Zugang zum Gelände haben oder hatten.«

»Natürlich«, erwiderte Mahler.

Kant hielt ihm seine Karte hin. Nach einem Moment nahm Mahler sie und schob sie achtlos in die Hemdtasche. Aus dem Hausflur näherten sich klackernde Schritte.

»Nur eines noch.« Kant wartete, bis Mahler ihn endlich ansah. »Spielen Sie Schach?«

Zum ersten Mal bemerkte Kant eine echte Reaktion bei ihm. Verwirrung. »Schach?«

»Das Spiel mit den hübschen kleinen Figuren auf vierundsechzig Feldern.«

Mahlers Lächeln wirkte angestrengt. »Das letzte Mal zu meiner Schulzeit. Danach war mir nie mehr so langweilig.«

»Kennen Sie jemanden, der sich damit beschäftigt? Vielleicht unter denjenigen, die Zugang zum Fabrikgelände hatten?« Er startete den Versuchsballon, weil es die einzige konkrete Spur war, die er hatte.

Der Hut kam durch die Terrassentür. Darunter befand sich eine kleine Frau. Ihr rotes Haar war zu einem Pagenschnitt frisiert und nass, als käme sie gerade vom Baden. Sie trug ein Männerunterhemd und eine kurze Hose, die an ihren dünnen Beinen schlackerte. Als sie Kant bemerkte, blieb sie vor der Glastür stehen und sah ihn aus ihren grünen Augen forschend an.

»Mal überlegen«, sagte Mahler. »Anita, spielst du vielleicht Schach?«

Anita kicherte unsicher. Sie sah von Kant zu Mahler und wieder zurück. »Störe ich irgendwie?«

»Herr Kant ist Polizist«, sagte Mahler. »Und das ist Anita Kowsky, meine Lebensgefährtin.« Er nahm mit der freien Hand einen feinen Pinsel von dem Tischchen neben der Staffelei und rührte eine Farbe an. »Stell dir vor, Anita, auf dem Fabrikgelände wurde eine Leiche gefunden.«

Kant beobachtete, wie Anita sich am Türrahmen abstützte und die Hand sofort zurückzog, als hätte sie sich an dem Metall verbrannt. »Ein Unfall?«, fragte sie.

»Wir wissen noch nichts Genaues«, sagte Kant. »Waren Sie schon mal auf dem Gelände?«

»In der Fabrik? Nein. Was soll ich da?« Sie ging zu Mahler und sah ihm über die Schulter. »Immer noch dasselbe Bild?«

Mahler drehte sich zu ihr um. »Wärst du so nett und würdest für uns drei noch was zu trinken holen?« Er streckte ihr sein Glas entgegen.

Kant winkte ab. »Lassen Sie nur«, sagte er. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«

3

Frida lag tot auf dem Marienplatz.

Kant hatte beobachtet, wie sie mit dreißig oder vierzig anderen zu Boden sank. Ein Massensterben. Er hatte in seinem Leben schon zu viele Leichen gesehen, um sich von der Darstellung auch nur im Entferntesten täuschen zu lassen, trotzdem konnte er den Anblick kaum ertragen. Frida war das Leben, nicht der Tod. Aber genau darum ging es ja.

Ein bärtiger junger Mann in einer Warnweste beugte sich über sie und deutete Wiederbelebungsversuche an. An einem ausgemusterten Feuerwehrwagen, der zwischen der Gruppe und dem Rathaus parkte, hing eine schlaffe Fahne mit der Aufschrift »Kohlekraftwerke abschalten«. Ein paar Hundert Zuschauer hatten in der Morgensonne einen Kreis um die Aktivisten gebildet. Jugendliche, die an ihren Milchshakes nuckelten, eine Gruppe Rentner, die sich auf ihre E-Bikes stützte, Familien mit prall gefüllten Einkaufstüten, asiatische Touristen. Die ganze Aktion wirkte improvisiert, fand Kant, nicht wie das Werk einer schlagkräftigen Organisation.

Kant sah auf die Uhr. Er musste ins Präsidium. In einer halben Stunde begann die Besprechung, die er selbst anberaumt hatte, da würde es nicht besonders gut aussehen, wenn er zu spät käme. Aber vorher musste er kurz mit seiner Tochter reden. Wie lange wollte sie noch auf den heißen Steinen liegen bleiben?

Der Bärtige mit der Weste holte ein Megafon aus dem Feuerwehrwagen. Er stellte sich mitten in die Gruppe der Toten und begann, eine Rede zu halten. Seine blecherne Stimme konkurrierte mit dem Schlagbohrer der Bauarbeiter, die gerade ein Gerüst an der Fassade des Kaufhauses gegenüber anbrachten. Kant hatte Mühe, ihn zu verstehen, aber er kannte seine Forderungen, denn Frida hatte sie ihm schon hundertmal erklärt. Im Grunde war es ganz einfach: Die Regierung solle endlich die Wahrheit über die Klimakrise sagen, es müsse sofort gehandelt werden, Bürgerversammlungen sollten einberufen werden, um die nötigen Maßnahmen zu beschließen.

Die Rentner neben ihm verloren schnell das Interesse und besprachen lautstark ihre Pläne für den Nachmittag, die im Wesentlichen aus einem Biergartenbesuch bestanden. Die Jugendlichen warfen ihre leeren Pappbecher auf den Boden und zogen weiter. Einer der Touristen packte seine teure Kamera aus und schoss ein paar Fotos.

Die letzten Worte des Redners gingen im spärlichen Applaus unter. Kant war froh, als die Toten wiederauferstanden. Er winkte Frida aus der Menge zu, aber sie bemerkte ihn nicht. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf den Bärtigen gerichtet, der ihr die Hand gereicht hatte, um ihr beim Aufstehen zu helfen, und ihr jetzt etwas ins Ohr flüsterte. Kant sah Frida nicken. Ihr Gesicht war gerötet, entweder von der Sonne oder vor Aufregung. Einen Moment lang brach Unruhe aus, weil niemand zu wissen schien, wie es jetzt weiterging. Dann nahm Frida dem Bärtigen das Megafon ab, strich sich das geblümte Kleid glatt, das sie neulich im Secondhandladen gekauft hatte, und richtete den Blick in die Menge.

Das Megafon knackte. Kant sah, wie ihre Lippen sich bewegten. »Extinction«, rief sie mit fester Stimme. »Rebellion«, antwortete der Chor ihrer Mitstreiter. Zweimal. Dreimal. Kant bekam eine Gänsehaut. War das wirklich seine Tochter, die er vor einem Wimpernschlag noch im Kinderwagen durch den Zoo geschoben hatte? Die geweint hatte, wenn in der Eisdiele ihre Lieblingssorte – Zitrone – ausverkauft war? Die vor einem knappen Jahr erst zu ihm gezogen war, weil sie es bei ihrer Mutter nicht mehr aushielt?

Kant winkte erneut. Frida sah ihn nicht. Er wollte sich gerade durch die Menge nach vorn schieben, als einer der Rentner neben ihm, ein sehniger Mann mit braun gebrannten Unterarmen, seine in Funktionskleidung verpackte Begleiterin anstupste. »Aber jedes Jahr ein neues Handy«, sagte er grinsend. »Und zum Shoppen nach London fliegen.«

»Wieso sind die eigentlich nicht in der Schule?«, fragte die Frau. »Ist schon wieder Freitag?« Sie hatte bemerkt, dass Kant stehen geblieben war, und sah ihn Beifall heischend an. Er schüttelte nur den Kopf.

Die Menge um ihn herum dünnte sich weiter aus. Die Attraktion war vorbei, und die Leute hatten Besseres zu tun, als zuzusehen, wie die XR-Aktivisten ihre Fahnen einrollten. Kant musste ins Präsidium. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich mit Fremden herumzustreiten, er wollte nur ein paar Worte mit seiner Tochter wechseln oder wenigstens ihr Lächeln sehen, wenn sie ihn bemerkte, aber der Mann neben ihm kam gerade erst in Schwung. Obwohl er seine Frau ansah, richtete er sich an alle, die nicht schnell genug verschwanden.

»Wenn es nach denen ginge, würden wir bald wieder in der Steinzeit leben«, sagte er. »Und weißt du auch, woran das liegt?«

Seine Begleiterin bemerkte Kants Blick. »Nicht so laut, Hans.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Aber es war zu spät, er ließ sich nicht mehr aufhalten.

»Weil das verwöhnte kleine Schlampen sind.« Der Mann wendete sein E-Bike, schwang sich den Rucksack über die Schulter und wollte aufsteigen. Kant stellte sich ihm mit drei langen Schritten in den Weg.

»Was haben Sie eben gesagt?«, fragte er.

Der Mann hielt in der Bewegung inne. Er schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn und bedachte ihn mit einem abfälligen Blick. »Mit Ihnen habe ich nicht geredet. Gehen Sie mir aus dem Weg.«

Kant rührte sich nicht von der Stelle. »Kennen Sie die Teilnehmer persönlich?«

»Natürlich nicht.« Er schob das Fahrrad so weit vor, bis der Vorderreifen fast Kants Hose berührte.

»Dann halten Sie doch einfach den Mund, Sie Arschloch.«

Kant wandte sich ab. Während er auf das Grüppchen der Demonstranten zusteuerte, hörte er den Mann hinter sich zetern, aber das kümmerte ihn nicht mehr. Er fühlte sich gut, fast so, als hätte er selbst gegen die Verwüstung des Planeten demonstriert. Leider hatte Frida nichts davon mitbekommen. Sie stieg gerade, gefolgt von dem bärtigen Redner, in das Feuerwehrauto. Die Tür wurde zugeschlagen, und der altersschwache Dieselmotor sprang mit einem Röcheln an. Kant hatte seine Chance verpasst.

Im Besprechungsraum hatte es subtile Veränderungen gegeben, seit Kant ihn zum letzten Mal betreten hatte. Die grauen Tische standen nicht mehr schief in der Gegend herum, sondern waren zu einem ordentlichen Rechteck zusammengeschoben. Jemand hatte einen Ventilator aufgestellt und Staub gewischt. Auf dem Aktenschrank neben der Tür thronte eine Vase mit einem Nelkenstrauß. Selbst die Neonröhre, deren unregelmäßiges Flackern seit Monaten alle nervte, war ausgetauscht worden.

Kant musste nicht lange überlegen, wer dahintersteckte. Die Neue natürlich. Hanna. Seit sie vor zwei Monaten zu ihnen gestoßen war, hatte sich die gesamte Atmosphäre verändert. Kein Wunder, dachte Kant, wenn man sie mit seinem alten Kollegen und Freund Klaus Weber verglich. Natürlich war sie kein Ersatz für den gestandenen Ermittler, dessen Tod auf ewig eine Lücke hinterlassen würde. Aber das war auch nicht ihre Aufgabe. Sie sollte das Team vor allem bei Recherchearbeiten unterstützen, und darin war sie gut. Wenn Kant ihre Finger über die Tastatur hüpfen sah, wurde ihm fast schwindelig.

Hanna saß aufrecht auf ihrem Stuhl, das flache silberne Notebook im rechten Winkel zur Tischkante ausgerichtet, und betrachtete ihn mit dem wachsamen Blick, der für sie so typisch war. Aufmerksam, aber ohne ihre Gefühle zu verraten. Es fiel ihm schwer, die Farbe ihrer Augen zu bestimmen. Sie changierte zwischen Blau und Grün und Grau wie ein aufgewühltes Meer.

Die anderen waren auch schon da. Rademacher pellte ein Ei und schob es sich lustlos in den Mund. Er wirkte müde und in sich gekehrt. Petra Lammers stand am Flipchart und malte mit schwarzem Filzstift Kreise auf das Blatt, in dessen Mitte sie »unidentifiziertes Todesopfer« geschrieben hatte. Ben Dörfner wippte mit seinem Stuhl und beobachtete sie. Er konnte nicht gut still sitzen. Die muskulösen Arme, die aus seinem lachsfarbenen T-Shirt herausragten, waren so braun, als käme er gerade aus dem Karibikurlaub.

Kant setzte sich auf den freien Stuhl am Kopfende. Überrascht stellte er fest, dass dort schon ein Glas Wasser für ihn bereitstand. Er sah zu Hanna und nickte ihr zu, aber sie reagierte nicht.

»Guten Morgen«, sagte Kant. Allgemeines Gemurmel. Niemand hatte Lust, sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten. Umso besser. »Petra, willst du anfangen?«

Sie drehte sich zu ihnen um. Kant fiel auf, dass sie trotz der Hitze einen schwarzen Kapuzenpullover trug.