Kapitalismus - Kultur und Kritik - Die Professoren Professorinnen der Fakultät für Theologie der Kath. Privat-Universität Linz - E-Book

Beschreibung

Auch zehn Jahre nach der großen Finanzkrise wird der Kapitalismus als Wirtschaftsform nach wie vor heftig diskutiert, und tragfähige Lösungen sind noch nicht gefunden. Dass Kapitalismus jedoch nicht bloß eine Wirtschaftsform ist, sondern auch Kultur und Lebensführung in einem weiten Sinn prägt, darauf hat schon der Soziologe Max Weber hingewiesen. Solchen Kulturen des Kapitalismus einschließlich seiner Kritiken geht Heft 1/2018 mit sozialwissenschaftlichen, sozialökonomischen, ethischen, exegetischen und dogmatischen Beiträgen auf inspirierende Weise nach: Kapitalismus – Kultur und Kritik.

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Inhaltsverzeichnis ThPQ 166 (2018), Heft 1

Schwerpunktthema:

Kapitalismus – Kultur und Kritik

Ines Weber

Liebe Leserin, lieber Leser!

Christian Spieß

Wirtschaftskulturen in modernen Gesellschaften

1 Wirtschaft und Ethos

2 Wirtschaft im Spannungsfeld von Struktur und Kultur

3 Wirtschaft als kulturelle Gestaltungsaufgabe

Alois Halbmayr

Geld – ein Gott der Gegenwart?Theologische Anmerkungen zu einer Allmacht der späten Moderne

1 Von der Allgegenwart des Geldes

2 Zur Allmacht des Geldes

3 Eine breite und kontinuierliche Kritik des Geldes

4 Zur theologischen Kritik des Geldes

5 Aufgaben und Alternativstrategien

David Bebnowski

Verzicht durch Selbstverwirklichung.Überlegungen zu jungen Generationen im Neuen Geist des Kapitalismus

1 Die Lebensführung und der Geist des Kapitalismus

2 Symbolischer Konsum und prekäre Beschäftigung als Elemente der Selbstverwirklichung

3 Herstellung von Identität statt Identität

4 Authentizität, Narzissmus, Verzicht

Markus Blümel

Solidarische Ökonomie(n).Eine Einführung und einige Reflexionen

1 Kirchlicher Bereich

2 Im Hier und Jetzt

3 Vielfältige Praktiken

4 Annäherung an eine Definition

5 Herkunft und Verbreitung des Begriffs

6 Selbsthilfe? Emanzipatorisch? Transformatorisch?

7 Beispiel foodcoops

8 Beispiel Solidarische Landwirtschaft

9 Zur Unterscheidung

Klaus Vellguth

Ökologisch wirtschaften weltweit.Das asiatische Netzwerk Pastoral setzt sich für eine kultursensible Ökologie ein

1 Laudato si’ aus indigener Perspektive

2 Das Heilige in der Natur

3 Ökologische und kulturelle Bedrohungen

4 Schöpfungsspiritualität und ökologisches Bewusstsein

5 Impulse für die Arbeit der Pastoralinstitute in Asien

6 Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen

Michael Ernst

Neutestamentliche Texte in ihrem sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Kontext

1 Bemerkungen zur begriffsgeschichtlichen und methodologischen Diskussion über eine „Ökonomie der Antike“

2 Palästina zur Zeit Jesu

3 Ein Beispiel aus dem NT: Mt 25,14 – 30 par Lk 19,12 – 27

Abhandlungen

Michal Kaplánek SDB

Zwischen Diaspora und Tradition.Das Selbstbild der tschechischen katholischen Kirche als Herausforderung für die Pastoral (nicht nur) in Tschechien

1 Kirche in Tschechien – über den Sinn der pastoraltheologischen Reflexion jenseits der Staatsgrenze

2 Plenarsynode der katholischen Kirche in der Tschechischen Republik

3 Das Selbstverständnis der (tschechischen) Kirche

4 Pastorale Strategien angesichts des Priestermangels

5 Weitere Schlüsselthemen der tschechischen Kirche

6 Lehren aus der Vergangenheit und Blick in die Zukunft

Ines Weber

„Zu Wachstum und Reife verhelfen“Zum Bildungspotenzial der Kirchengeschichte

1 Bildung als ganzheitlicher Prozess der Personwerdung

2 Mit Kirchengeschichte bilden

3 Mit der ganzen Person Gesellschaft gestalten

Literatur

Wolfgang Palaver

Das aktuelle theologische Buch

Rezensionen

Eingesandte Schriften

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

„WIR statt Gier – Wer einen anderen Kapitalismus will, muss das Mitgefühl fördern“1, so lautete unlängst eine Schlagzeile im Zeit Online-Magazin. Wirtschaftsjournalist Uwe Jean Heuser votiert im entsprechenden Artikel zusammen mit alternativen Wirtschaftsexperten, Psychologen und Neurowissenschaftlern eindeutig: Nur ein umfassender Bewusstseins- bzw. Wertewandel weg vom Egoismus und einer Kultur der Ausbeutung hin zu mehr Rücksichtnahme auf sich selbst und den Mitmenschen verbunden mit strukturellen Änderungen in Organisationen könne „eine Gegenbewegung hin zu neuer Solidarität“2 erzeugen und Grundlegendes in unserer Weltgesellschaft wandeln. In Zeiten anhaltender Wirtschafts- und Finanzkrisen, weiter wachsender Ungleichheit zwischen Arm und Reich, immer neuen Schreckensmeldungen über bevorstehende Klimakatastrophen und einer gnadenlosen Leistungsgesellschaft mit zur Selbstausbeutung neigenden Individuen steht der Kapitalismus neuerlich zur Disposition. Heuser will denselben nicht abschaffen, sondern ihn über veränderte Haltungen systemimmanent umgestalten. Damit setzt er an einem Punkt an, den schon Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts betont und den auch der Soziologe und Gesellschaftsforscher Wolfgang Streeck erneut herausgestellt hat. Der Kapitalismus „basierte weniger auf dem Wunsch, reich zu werden, als auf Selbstdisziplin, methodischem Vorgehen, verantwortlicher Verwaltung, nüchterner Hingabe an einen Beruf als Berufung und rationaler Lebensführung“. „Gier“, so Streeck mit Weber, habe es schon „immer und überall gegeben“. Sie sei gerade „kein Spezifikum des Kapitalismus“. Im Gegenteil sei sie „sogar geeignet, ihn zu untergraben“3. Ob derartige Konzepte aber auch in Zeiten des Neoliberalismus noch tragen, stellt er in Frage. All das zeigt: Kapitalismus, seine Kultur und seine Kritik, verfügt demnach über vielfältige Dimensionen, die ineinander verschränkt sind, und Stichworte wie Solidarität, gutes Leben, Haltungen und letztlich Ethik sind von entscheidender Bedeutung, wenn es um die Ausdeutung desselben geht.

Genau das hebt der Linzer Christliche Sozialwissenschaftler Christian Spieß im ersten Beitrag unseres aktuellen Heftes ausdrücklich hervor. Ökonomie, Ethik und Politik sind wechselseitig aufeinander verwiesen, und Unterschiede in Wirtschaftssystemen sind weniger strukturell bedingt als kulturell geprägt. Dadurch werden Wirtschaftsordnungen zur verantwortungsvollen „Gestaltungsaufgabe“, welche mit Werten aufgeladen werden müssen, die es auszuhandeln gilt. Einseitigkeiten aber führen zu Schieflagen, wie der Salzburger Dogmatiker Alois Halbmayr am Beispiel des Geldes eindrücklich vor Augen führt. Selbiges bestimmt fast alle Bereiche unseres Lebens mit dem Vorteil großer Freiheit, aber auch mit der Gefahr zu verkennen, dass nicht alles, was gutes Lebens ausmache, mit Geld erworben werden könne. Demnach müssten alternative Lebensstile kreiert werden. Neue Lebensstile und Haltungen können aber ebenfalls Gefahren in sich bergen und sich im Geist des Kapitalismus gegen den Menschen wenden, so der Berliner Sozialwissenschaftler David Bebnowski. Weil vielfach an die Stelle von Geld als Entlohnung für Arbeit bzw. von dauerhaften Arbeitsverträgen der Wert der Selbstverwirklichung getreten ist, diagnostiziert er neue krankmachende Leistungslogiken, die aus der Sache heraus schon nicht zur Zufriedenheit führen können. Markus Blümel, politischer Erwachsenenbildner und Mitarbeiter der Katholischen Sozialakademie Österreichs, beschreibt in seinem Beitrag, welche vielfältigen und höchst interessanten, zum Teil preisgekrönten Projekte alternativer Wirtschafts- und Lebensformen es in Deutschland und Österreich schon gibt und welche Gestaltungskraft von der ihnen zugrunde liegenden solidarischen Ökonomie ausgehen kann. Ähnliches zeigt der Missionswissenschaftler Klaus Vellguth für Indien. Vor dem Hintergrund einer ganz eigenen Kultur, in welcher die Schöpfung für die traditionellen Stammeskulturen nach wie vor identitätsstiftend und ihre Erhaltung schon deshalb dringend geboten ist, erläutert der Autor pastorale Praxiskonzepte als Rezeption der Enzyklika Laudato si’. Der Beitrag vom Salzburger Exegeten Michael Ernst schließt den Kreis und führt am Beispiel der neutestamentlichen Zusammenhänge eindrücklich vor Augen, wie kulturell abhängig Wirtschaftssysteme sind und welche überraschend andere Ausdeutung sie jeweils erfahren können.

Die beiden freien Beiträge runden unser Heft ab: Der Budweiser Pastoraltheologe und Pädagoge Michal Kaplánek beleuchtet die pastorale Situation Tschechiens einschließlich notwendiger Mentalitätsänderungen. Die Linzer Kirchenhistorikerin Ines Weber eröffnet vor dem Hintergrund ihres eigenen Kirchengeschichtsverständnisses Perspektiven, wie geschichtliches Lehren und Lernen als ganzheitliche Bildung zur Personwerdung beitragen kann. Der Artikel legt zugleich das Profil der neuen Chefredakteurin offen.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

Mit dem ersten Heft 2018 darf ich mich Ihnen als neue Chefredakteurin der Theologisch-praktischen Quartalschrift vorstellen. Nach über zwanzig Jahren tritt erstmals wieder ein Kirchenhistoriker bzw. – mit meiner Person – eine Kirchenhistorikerin in dieses Amt ein. Ich übernehme es von Ansgar Kreutzer, der das ureigene Profil unserer Zeitschrift mit seiner inhaltlichen Offenheit, seiner zugewandten Kommunikation und seinem geschulten Blick für aktuelle gesellschaftliche Fragen über die Jahre hinweg hervorragend weitergeführt und mitgeprägt hat. Daran haben Ilse Kögler und Hildegard Wustmans, die ebenfalls aus der Redaktion ausscheiden, mit ihren wachen Blicken und ihrer Aufgeschlossenheit entscheidenden Anteil gehabt. Allen dreien sei für ihre verdienstvolle Arbeit im Namen der Redaktion großer Dank ausgesprochen. Wir wünschen ihnen für ihre neuen Wege alles erdenklich Gute und Gottes Segen. Christian Spieß, Professor der Christlichen Sozialwissenschaften, und Andreas Telser, Assistenzprofessor am Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik, werden von nun an die Redaktion mit ihrem Profil und ihrem profunden Wissen bereichern.

Mir selbst geht es darum, die Arbeit der letzten Jahre stringent fortzusetzen: Zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln, ist mir ebenso wichtig, wie aktuelle gesellschaftliche Fragen und theologische Inhalte sowohl inter- als auch transdisziplinär und ökumenisch miteinander ins Gespräch zu bringen. Insofern freue ich mich sehr auf die neue Aufgabe – auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen und dem Pustet Verlag, aber auch auf den Austausch mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes neues Jahr.

IhreInes Weber

(Chefredakteurin)

1 http://www.zeit.de/2017/44/altruismus-empathie-mitgefuehl-kapitalismus [Abruf: 27.10.2017].

2 Ebd.

3Wolfgang Streeck, Wie wird der Kapitalismus enden? Teil II, in: Blätter für deutsche internationale Politik 4 (2015), 109 –120, hier: 117.

Christian Spieß

Wirtschaftskulturen in modernen Gesellschaften

 Dass die kapitalistische oder marktwirtschaftliche Wirtschaftsweise moderne Gesellschaften präge, gehört zu den Standardannahmen sowohl verschiedener Modernisierungstheorien als auch zum Selbstverständnis wohl der meisten in diesen modernen Gesellschaften lebenden Menschen. Bei näherer Betrachtung zeigen sich aber beträchtliche Unterschiede zwischen den konkreten Verwirklichungsformen der Marktwirtschaft – etwa in Österreich im Vergleich zu den USA, zu Frankreich oder zur Tschechischen Republik. Es gibt verschiedene Wirtschaftskulturen, die darauf verweisen, dass eine Marktwirtschaft mit Privateigentum in durchaus unterschiedlicher Weise realisiert worden ist – und also auch unterschiedlich gestaltet werden kann. (Redaktion)

Die ökonomischen Krisen seit dem Jahr 2008 haben im deutschsprachigen Raum (und in weiten Teilen Kontinentaleuropas) zu einer Veränderung in den gesellschaftlichen, politischen und ethischen Diskursen über die Wirtschaft geführt. Während der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream weitgehend seiner neoklassischen Grundtendenz treu geblieben ist, finden in den öffentlichen Debatten und Berichterstattungen alternative ökonomische Ideen – von lediglich etwas vom Mainstream abweichenden Positionen bis hin zu alternativen ökonomischen Ansätzen etwa einer Gemeinwohlökonomie oder Subsistenzwirtschaft – weit mehr Beachtung als in der Zeit vor der Krise, in der ein wirtschaftsliberaler Optimismus dominierte. Diesem Optimismus lag im Wesentlichen die Annahme zugrunde, dass ökonomische Liberalisierung, Deregulierung, Steuersenkungen und der Abbau von sozialen Verpflichtungen der Unternehmen zu einer stärkeren ökonomischen Prosperität und damit insgesamt zu einem höheren Wohlstandsniveau führen würden. Vor allem die angelsächsischen Politiken des US-Präsidenten Ronald Reagan („Reaganomics“) und der Premierministerin des Vereinigten Königreichs Margaret Thatcher stehen für diesen „neoliberalen“ Politikstil, der freilich auch schon vor den Krisen seit 2008 die Einlösung seines Versprechens einer allgemeinen (!) Wohlstandssteigerung schuldig geblieben ist. Auch sozialdemokratische Regierungen wie New Labour unter Premierminister Tony Blair im Vereinigten Königreich oder die rot-grüne deutsche Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in Deutschland tendierten zu einer ökonomischen Deregulierung und zu einer restriktiveren Sozial- und liberalisierten Arbeitsmarktpolitik.

Besonders markant lässt sich die Hinwendung zu und die spätere Abkehr von einer betont marktliberalen und sozialstaatsskeptischen Politik anhand der von Angela Merkel geführten deutschen CDU beobachten. Mit dem Parteitag 2003 in Leipzig präsentierte sich die Partei unter ihr äußerst offensiv als Partei des wirtschaftsliberalen „Systemwechsels“ zu einer vor allem an der ökonomischen Systemrationalität orientierten Wirtschafts-, Steuer-, Sozial-, Renten- und Gesundheitspolitik.1 Die wenigen CDU-Politiker, die an der bewährten Gestalt der Sozialversicherungssysteme und konsequent an der paritätischen (d. h. von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsamen) Finanzierung der Sozialversicherungen festhalten wollten, wurden von den Anhängern dieses Systemwechsels mit Polemik bedacht.2 Mit diesem Programm profilierte sich die CDU als wirtschaftsliberale Alternative zur – damals in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht freilich ebenfalls betont liberal agierenden – rot-grünen Bundesregierung. Nur wenige Jahre später beschwor Merkel dann den „Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit“, die Bedeutung der Sozialpartnerschaft und forderte darüber hinaus eine Lohnuntergrenze, plädierte für „klare Regeln für die Finanzmärkte“ und eine Finanzmarkttransaktionssteuer, kritisierte den „Kasino-Kapitalismus“ als „Gegenteil der sozialen Marktwirtschaft“ und forderte gar, die „Werte und Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft weltweit zu verankern: Für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“.3 Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, für die sich die CDU nach dem Zweiten Weltkrieg stark gemacht habe, sei als „Dienerin der Menschlichkeit“ eine „Alternative zum Marxismus, aber auch […] ‚zur Versumpfung des Kapitalismus‘ [Walter Eucken; C.S.]“ gewesen. „Deshalb ist soziale Marktwirtschaft immer die Notwendigkeit, Leitplanken zu setzen, Regeln zu setzen, in deren Rahmen die Märkte arbeiten können. Wir dürfen nicht nachlassen, dies immer wieder einzufordern, auch wenn es global nicht ganz einfach durchzusetzen ist.“4 Es ist dies die Tonlage und die politische Ausrichtung, die Merkel zur Gallions- und Symbolfigur einer angeblichen „Sozialdemokratisierung“ der CDU und der bundesdeutschen Politik der letzten Jahre gemacht hat.5 Dies zeigt zweierlei, nämlich zum einen, dass es durchaus wirtschafts- und sozialpolitische Moden gibt, und zum anderen, dass über diese Moden hinweg eine Pfadabhängigkeit existiert, die – so die im Folgenden vertretene These – auf kulturelle Prägungen zurückzuführen ist. Insofern ist die „Sozialdemokratisierung“ der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik seit etwa 2005 nichts anderes als eine (partielle) Korrektur der „Neoliberalsierung“ dieser Politik in den beiden Jahrzehnten zuvor.

Im Folgenden wird mit Peter Koslowskis Prinzipien der Ethischen Ökonomie zunächst eine wirtschaftsethische Konzeption vorgestellt, die der kulturellen Prägung des Teilsystems Wirtschaft breiten Raum einräumt und auf die Verschränkung von ökonomischer Rationalität und gesellschaftlichem Ethos verweist. Im zweiten Schritt wird diese Konzeption durch einige weiterführende system- und modernisierungstheoretische Überlegungen ergänzt, um schließlich in einem kurzen Fazit mit dem Plädoyer zu enden, die Wirtschaftsordnung nicht als Resultat eines naturwüchsigen Sachzwangs zu begreifen, sondern als Gestaltungsaufgabe.

1 Wirtschaft und Ethos

Peter Koslowski (1952 – 2012) konstruierte in seinen Prinzipien der Ethischen Ökonomie6 eine Art Komplementarität von ökonomischer und ethischer Rationalität. „Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft muß von den stärksten und den besten Antrieben des Menschen Gebrauch machen. Die Ökonomie […] geht von dem stärksten menschlichen Antrieb, dem Selbstinteresse aus. Die philosophische Ethik zielt traditionellerweise auf das, was man die besten Antriebe des Menschen genannt hat: das Streben nach dem Guten, die Erfüllung der Pflicht, die Verwirklichung von Tugend.“7 Beide Disziplinen sind demnach auf die jeweils andere Disziplin verwiesen. Einerseits kann die Theorie der Wirtschaft […] ihrer Analyse nicht nur das enge Selbstinteresse des Menschen zugrunde legen.“ Andererseits darf eine „die Wirklichkeit erreichende Ethik […] vor den ökonomischen Bedingungen menschlichen Handelns die Augen nicht verschließen.“8

Koslowski unterscheidet drei Perspektiven der Ethischen Ökonomie bzw. der Wirtschaftsethik (‚Ethische Ökonomie‘ und ‚Wirtschaftsethik‘ werden bei Koslowski praktisch synonym verwendet): (1.) Ethische Ökonomie fragt als politische Ökonomie nach den ethischen Voraussetzungen des Wirtschaftens. Diese Voraussetzungen reichen von den politischen Rahmenbedingungen der Eigentumsrechte und des Vertragsrechts bis zu einem gewissen Vertrauen in die Redlichkeit der Wirtschaftsakteure. (2.) Ethische Ökonomie fragt als ökonomische Theorie des Ethischen nach ökonomischen Theoriebestandteilen, die für die Ethik erhellend sein können. Diese Bestandteile reichen von Effizienz- und Maximierungsüberlegungen bis zur Bedeutung des Eigeninteresses in der Motivationsstruktur von Menschen bzw. von Wirtschaftssubjekten. (3.) Ethische Ökonomie fragt als materiale Güterlehre nach Genese, Geltung und Wahrnehmung von Wertqualitäten. Damit ist gemeint, dass etwas aufgrund ethischer und/oder ökonomischer Tatbestände und Einschätzungen zu einem Gut wird, also einen bestimmten Wert hat bzw. zugesprochen bekommt. Die Disziplinen durchdringen sich an dieser Stelle, insofern ethische Wertzuweisungen ökonomische Relevanz und ökonomische Wertzuweisungen ethische Relevanz haben (können). Der Wert, den man beispielsweise dem Arbeitnehmer beimisst, hat Auswirkungen auf die Rahmenordnung, insoweit sie die Arbeitsverhältnisse betrifft. Es ist etwas anderes, ob der Arbeitsmarkt nur als Sphäre des Angebots von und der Nachfrage nach Arbeitskraft verstanden wird, oder als Sphäre intersubjektiver Kommunikation von Menschen mit bestimmten Bedürfnissen, die aber eben auch Arbeitskraft anbieten und nachfragen. Letztlich geht es dabei um die kulturellen Aspekte der Wirtschaft, um die Frage, wie Wirtschaft in die Selbstwahrnehmung und Selbstinterpretation einer Gesellschaft eingebunden wird, also um Ethische Ökonomie „als Theorie der Wirtschaftskultur, als kulturelle Ökonomik und Kulturphilosophie der Wirtschaft“9.

Damit nimmt Koslowski aristotelische Motive in seine Konzeption auf: Tugenden und Güter spielen eine hervorgehobene Rolle. Das Ethos, verstanden als in einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft geteilter Grundbestand moralischer Hintergrundannahmen, hat große Bedeutung. Insbesondere aber kehrt der Ansatz zurück zu einer gewissen Einheit oder zumindest Verbundenheit von Ethik, Ökonomie und Politik. Statt einer isolierten Wahrnehmung und Interpretation dieser drei Aspekte zu folgen, weist Koslowski darauf hin, dass „das individuelle und soziale Handeln politische, ökonomische und ethische Voraussetzungen haben und daß die Analyse und das Verstehen des Handelns eine ökonomische Theorie der Ethik, eine ethische Theorie der Wirtschaft, eine ökonomische Theorie der Politik und eine politische Theorie der Wirtschaft erfordern“10. Es geht, vereinfacht gesagt, darum, dass Wirtschaft notwendigerweise immer auch eine ethische und eine politische Dimension hat – und jeweils umgekehrt.

Koslowski entwirft seine Wirtschaftsethik im Rahmen einer metaphysischen Gesamtkonzeption, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen vorgestellt werden soll. Wichtig ist aber seine Unterscheidung von formaler und materialer Ethik. Unter formaler Ethik ist dabei eine auf legitimitätsstiftende Prozeduren abstellende Konzeption zu verstehen. Durch bestimmte kriterielle Verfahren (Universalisierung, Vertragskonstruktion, kategorischer Imperativ und Rechtsprinzip) werden legitime Handlungen und Institutionen – zumindest dem Anspruch nach – nicht inhaltlich, sondern rein formal bestimmt. Als legitim kann gelten, was sich in einem Verfahren der Legitimitätsprüfung als legitim erweist. Materiale Ethiken dagegen bestimmen Legitimität inhaltlich, lassen also Aussagen darüber zu, welche Handlungen und Institutionen unter inhaltlichen Gesichtspunkten ethisch richtig oder falsch sind. Dazu benötigen materiale Ethiken – und das ist die Pointe dieser Überlegung – eine Vorstellung des guten Lebens, also eine inhaltliche Vorstellung davon, was eigentlich gut ist für das menschliche Leben – man könnte auch sagen: eine Vorstellung von Lebensqualität. Koslowskis Auffassung ist, dass Wirtschaftsethik (und heutige Ethik überhaupt) sowohl formale als auch materiale Aspekte umfassen sollte – und dass mit der materialen Ethik, mit den Vorstellungen des guten Lebens, die kulturelle Prägung ins Spiel kommt.11

Damit intendiert Koslowski eine Versöhnung von Liberalismus und Güterethik, wobei der Liberalismus den klassischen Typus der formalen Ethik repräsentiert, die Güterethik dagegen die materiale Ethik. Er folgt damit zwei Einsichten: einerseits der Einsicht, dass ein Rückfall hinter den formal-ethischen Standard der modernen liberalen politischen Philosophie (die das politische Denken der Neuzeit prägt) heute wegen des Anspruchs der Autonomie und der Freiheit (normativ gesehen) nicht mehr möglich ist; andererseits folgt er der Einsicht, dass es inhaltliche Leerstellen in formalen Ethiken hinsichtlich der Frage der Lebensqualität gibt. Um diese Frage beantworten zu können, kommt man nach Koslowskis Auffassung um eine ethische Güterlehre nicht herum. Und natürlich definieren und reproduzieren wir in gesellschaftlichen Prozessen Vorstellungen von Lebensqualität und konstituieren damit ein Ethos. Dieses Ethos wiederum hat Einfluss auf die Art und Weise, wie wir ökonomisch handeln und wie wir die Strukturen des Wirtschaftens gestalten. Folglich sind immer schon Vorstellungen des guten Lebens in die konkreten Formen des Wirtschaftens eingelassen; und genau dies kann als kulturelle Prägung des Wirtschaftens interpretiert werden. So erklären sich Unterschiede zwischen grundsätzlich gleichen Wirtschaftssystemen: Der „angelsächsische Kapitalismus“ ist eine andere Form der modernen Ökonomie als die „Soziale Marktwirtschaft“, aber die Unterschiede liegen nicht in den strukturellen Grundzügen (beide sind Markt- und Wettbewerbswirtschaften mit Privateigentum an Produktionsmitteln), sondern in der kulturell unterschiedlichen Prägung, Ausgestaltung und Handhabung der Wirtschaftsweise, man könnte sagen: im Wirtschaftsstil. Dieser wichtige Gedanke soll im Folgenden noch etwas weitergeführt werden.

2 Wirtschaft im Spannungsfeld von Struktur und Kultur

Zu den zentralen Themen der Wirtschaftsethik gehört die Auseinandersetzung um die Frage, wie Ökonomik einerseits und Ethik andererseits aufeinander zu beziehen sind. Sehr einflussreich im wirtschaftsethischen Diskurs der letzten Jahrzehnte war die Auffassung, dass die ökonomische Systemrationalität die Möglichkeiten, wie und in welchem Ausmaß überhaupt Einfluss auf ökonomische Prozesse genommen werden kann, weitgehend determiniert.12 Demnach funktionieren ökonomische Prozesse nach bestimmten, wirtschaftswissenschaftlich zu ergründenden Regeln; die Handlungsspielräume, diese Prozesse zu gestalten, sind sehr eingeschränkt. Wenn sich unternehmerisches bzw. überhaupt ökonomisches Handeln, aber eben auch politisches Handeln diesen Regeln anpasst, wird es wirtschaftlich positive Ergebnisse ermöglichen. Umgekehrt ist sachfremdes – also nicht an der ökonomischen, sondern an einer anderen Rationalität orientiertes – Handeln wirtschaftlich kontraproduktiv. Fordert man beispielsweise einen elaborierten Kündigungsschutz und begründet dies mit dem „Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit“ oder mit der Würde des Arbeitnehmers, bringt man genau solche ethisch womöglich gut begründeten, aber nicht zur ökonomischen Systemrationalität gehörenden Überlegungen ins Spiel. Eine solche Maßnahme, welche die ökonomische Dynamik dämpft, weil sie die Einstellung von Arbeitskräften verhindert, kann dann aber auch als ethisch nicht wünschenswert deklariert werden, weil es doch auch aus ethischer Sicht wünschenswert sein müsste, dass möglichst viele Arbeitskräfte in Erwerbsarbeitsverhältnissen sind, und sei es nur für kurze Zeit. Die ökonomische Rationalität schlägt gewissermaßen auf die ethische Rationalität durch.13 Der Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“, der von allen möglichen mehr oder weniger marktliberalen politischen Akteuren verwendet wird, bringt dieses Denken zum Ausdruck. Die alte sozialkatholische Idee eines „gerechten Lohns“ steht dazu prinzipiell ebenso im Widerspruch wie die Forderung eines Mindestlohns. Beides wird nämlich nicht nur (!) aus ökonomischer Rationalität generiert (und ist nicht das Ergebnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt), sondern auch aus ethischen bzw. politischen Überlegungen (und ist gegebenenfalls das Ergebnis sozialpartnerschaftlicher Übereinkunft oder politischer Entscheidungsprozesse) – einmal abgesehen davon, dass es natürlich keineswegs ausgemacht ist, dass der Mindestlohn oder ein von den Sozialpartnern ausgehandelter Lohn tatsächlich Arbeitsplätze „kostet“.

Diese Sicht einer normativ (kulturell) entkernten und zugleich normativ (ökonomistisch) neu aufgeladenen „Markttechnologie“ (Große Kracht) basiert auf zwei Annahmen: auf einer systemtheoretischen und einer modernisierungstheoretischen These. Die systemtheoretische These geht von einer strikten Interpretation der funktionalen Differenzierung aus und betont die Eigengesetzlichkeit der sozialen Systeme.14 Menschen, die zur Umwelt der sozialen Systeme gehören, gestalten also nicht etwa das System der Ökonomie, sondern beobachten – wie oben beschrieben – dessen selbstreferenzielle Funktionsweise. Die Spezialisierung der Wirtschaftswissenschaften auf die Spieltheorie kann als Ausdruck dieser Beobachterrolle verstanden werden. In immer raffinierteren spieltheoretischen Zugängen werden die enorm komplexen Funktionsabläufe des ökonomischen Systems analysiert und verstanden. Eine wirtschaftsethische Reflexion auf der Grundlage normativer Orientierungen, die außerhalb des Systems liegen, erübrigt sich dagegen, weil sie im Grunde bestenfalls sinnlos ist, schlimmstenfalls – im Falle der Umsetzung störender Eingriffe in das System – schädliche Folgen hat. Ethische Diskurse verunsichern und münden in aggressiven, kontraproduktiven Streit. Sie stören die Funktionalität ausdifferenzierter Teilsysteme und deren autopoietische Steuerung durch ihre jeweiligen systemspezifischen Codes.15

Die modernisierungstheoretische These geht davon aus, dass sich die funktionale Differenzierung als Merkmal der „westlichen Moderne“ mit einer gewissen Zwangsläufigkeit vollzieht. Demnach ist die fortschreitende Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme das konstitutive Kennzeichen moderner Gesellschaften. Dieses strukturelle Merkmal, so die These, verdrängt im Zuge des Modernisierungsprozesses mehr und mehr die kulturellen Merkmale, die traditionalen Prägungen und Durchdringungen der Teilsysteme. Je moderner eine Gesellschaft, desto weniger sind ihre Funktionen, ihre Systeme, ihre Institutionen von traditionalen Restbeständen kontaminiert. Kombiniert man die systemtheoretische mit der modernisierungstheoretischen Annahme, werden diese traditionalen Restbestände und kulturellen Prägungen zum Hemmnis sowohl für die Funktionalität der Teilsysteme als auch für die Modernisierung einer Gesellschaft insgesamt.

Ist diese Position haltbar, sind die Annahmen stichhaltig? Die Ethische Ökonomie von Koslowski hat, bei aller Anerkennung der Bedeutung der ökonomischen Systemrationalität, deutlich vor Augen geführt, dass es eine „reine“ Ökonomie nicht gibt, sondern immer nur kulturell überformte und von weltanschaulichen Hintergrundannahmen geprägte Erscheinungsformen eines ökonomischen Systems. So begegnen uns auch Marktwirtschaften mit Privateigentum als jeweils von kulturellen Interpretationsmustern durchzogene Realisierungsvarianten des marktwirtschaftlichen Paradigmas – eben in Form von Wirtschaftskulturen, und zwar in einer beachtlichen Diversität. „Jeder Markt ist demnach in eine Kultur eingebettet und von einer bestimmten Form vorgängiger Politik abhängig und auf sie angewiesen.“16 Der Markt ist „keine natürliche Gegebenheit, er ist vielmehr ein hoch komplexes kulturelles Gebilde, das auf kulturellen, religiösen, rechtlichen und politischen Voraussetzungen aufruht […]“17. In seiner Politischen Wirtschaftsethik verweist Bernhard Emunds, ähnlich wie Koslowski, auf die Bedeutung von Konzeptionen des guten Lebens, von weltanschaulich geprägten Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaftsordnung, von einem Ethos des Wirtschaftens für die konkrete Erscheinungsform des Wirtschaftssystems und für den Wirtschaftsstil.18 Diese Aspekte der „Sittlichkeit“ beziehen sich keineswegs nur auf die Haltungen und Handlungen der einzelnen Wirtschaftsakteure, sondern können selbstverständlich auch rechtliche Relevanz entwickeln, wenn sie etwa in bestimmten Gesetzen ihren Ausdruck finden. So haben Gewerkschaften in verschiedenen volkswirtschaftlichen Kontexten eine unterschiedliche Bedeutung und einen unterschiedlichen Rang; auch die Art, wie Tarifkonflikte geregelt werden, unterscheidet sich beträchtlich in den unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Modellen.

Es kann also nicht sinnvoll sein, die kulturelle Dimension aus der Betrachtung des ökonomischen Systems zu verdrängen, um in der quasi-positivistischen Perspektive einer „reinen Wirtschaftslehre“ kulturelle Prägungen – wie Sozialversicherungen, Arbeitsschutz, Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie – als ökonomisch defizient zu deklarieren. Ebenso wenig kann es umgekehrt sinnvoll sein, die Bedeutung der Systemrationalität zu verdrängen. Der Wert einer Theorie sozialer Systeme liegt etwa darin, „dass sie an die gemeinsamen Handlungsmuster, Sinnwelten und Institutionen erinnert, die menschliches Handeln anleiten, und vor einem überzogenen Freiheitspathos, das sich auf menschliches Handeln bezieht, warnt. Ein Großteil des eigenen Handelns steht in Wechselwirkung mit dem Handeln anderer und kommt durch Regelungen und Rückkopplungen zustande.“19 Es geht also um eine Verschränkung von ökonomischer Systemrationalität und kultureller Prägung. So wenig wir die Dynamik der Wirtschaft ohne Kenntnis der ökonomischen Systemrationalität verstehen können, so wenig können wir sie ohne Kenntnis ihrer kulturellen Prägung verstehen.

Dies betrifft dann auch die oben skizzierte modernisierungstheoretische These. Zwar dürfte die funktionale Differenzierung unabweisbar ein Strukturmerkmal der (westlichen) Moderne sein. Dass diese Entwicklung aber alle Kulturressourcen verdrängt, dass kulturelle Deutungsmuster im strukturellen Modernisierungsprozess vollständig aufgerieben werden und „verschwinden“, lässt sich nicht beobachten; diese Annahme ist selbst Teil eines normativen Modernisierungskonzepts, das die (moderne) Struktur der (traditionalen) Kultur gegenüberstellt. Der Begriff der Modernisierung hat sich in den vergangenen 50 Jahren aber stark verändert.20 Shmuel Eisenstadt setzte sich mit seinen frühen Überlegungen vor allem von der Annahme einer Konvergenz der Industriegesellschaften ab. Dem stellte er die These gegenüber, dass sich die Pluralität vormoderner Gesellschaften auch in modernen Gesellschaften zeige. War Eisenstadt zunächst noch davon ausgegangen, dass es sich dabei um Varianten des westlichen Modells handelte, die letztlich zur Angleichung an ein gemeinsames Konzept der Moderne tendierten,21 entwickelte er später das Modell der multiple modernities22, in dem er den Widerspruch zwischen Struktur und Kultur überwand, um die Moderne nunmehr selbst als Kultur zu interpretieren. „Dieser Blick auf die Moderne impliziert, dass diese als eine sich neu herausbildende Form von Kultur zu sehen ist, analog etwa zur Entstehung und Verbreitung der Weltreligionen.“23 Auch in der Moderne bilden sich kulturelle Interpretationsmuster für das Weltverständnis und bestimmte Strukturen. „Diese Kultur der Moderne bzw. dieses spezifische kulturelle Programm mit seinen Konsequenzen auf der Ebene der Institutionen kristallisierte sich in Westeuropa heraus und verbreitete sich anschließend in anderen Teilen Europas, auf den zwei amerikanischen Kontinenten und später in der ganzen Welt. Damit war der Anstoß für sich kontinuierlich verändernde kulturelle und institutionelle Muster gegeben, die ihrerseits wiederum nicht zu einer gemeinsamen homogenen Moderne führten, sondern vielmehr […] zu der besagten Vielfalt der Moderne.“24 Dabei muss zwischen der strukturellen und institutionellen Dimension (und dabei vor allem der oben beschriebenen Tendenz zur strukturellen Differenzierung) einerseits und der kulturellen Dimension andererseits unterschieden werden. Zwar ist die Herausbildung der kulturellen Programme der Moderne und der Versuche, diese in Strukturen zu verankern, historisch eng mit den jeweiligen strukturell-institutionellen Dimensionen moderner Gesellschaften verbunden. Ausdruck dafür ist nicht zuletzt die oben erläuterte systemtheoretische Zuspitzung. Aber es kann kein notwendiger Zusammenhang festgestellt werden zwischen „irgendeiner bestimmten Form von Institutionen der Moderne und den verschiedenen Elementen des modernen kulturellen Programms […], seien es im wirtschaftlichen Bereich nun kapitalistische oder ‚gelenkte‘ sozialistische Ökonomien oder im politischen Bereich pluralistische, autoritäre oder totalitäre Regime.“25

3 Wirtschaft als kulturelle Gestaltungsaufgabe

Es geht, das sollte deutlich geworden sein, im Hinblick auf die Ökonomie nicht nur darum, „herauszubekommen, was da vor sich geht“26, sondern um verantwortungsvolles gestaltendes Handeln. „Wir sitzen in den teilsystemischen Kommunikationen nicht wie Schnecken in Schneckenhäusern“, welche die autopoietischen Prozesse des ökonomischen Systems nur zur Kenntnis nehmen können. „Vielmehr wird das Soziale als durch Praxis gestaltbar“ begriffen und eine Wirtschaftsordnung, die wir als gerecht bezeichnen können, ist „Thema eines sittlichen Gestaltungsauftrags“27. Dieser Gestaltungsauftrag richtet sich an Gewerkschaften und Unternehmensverbände, an Wirtschafts- und Arbeiterkammer ebenso wie an christliche Akteure in unterschiedlichen Zusammenhängen, etwa in der Pastoral der Erwerbsarbeit oder in Verbänden wie der KAB. Es gibt wichtige Gestaltungselemente der österreichischen und deutschen Wirtschaftskultur, die es zu erhalten gilt: Die Sozialpartnerschaft und ihre Bedeutung für die Wirtschaftsordnung, das Sozialversicherungssystem und seine Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einen ausgeprägten Schutz der ArbeitnehmerInnen und eine angemessene Förderung des Unternehmertums. Die Aufgabe weltanschaulicher Akteure nicht zuletzt aus dem kirchlichen Umfeld ist es, Sinnressourcen und normative Orientierungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu entwickeln und zu reproduzieren, damit das ökonomische System als Wirtschaftskultur gestaltet werden kann. Dabei muss die ökonomische Systemrationalität beachtet werden; eine Logik des Sachzwangs, der aus dieser Systemrationalität resultiert, braucht sich aber niemand einreden zu lassen.

Der Autor:Christian Spieß, geboren 1970, ist seit 2015 Professor für Christliche Sozialwissenschaften und Vorstand des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften Johannes Schasching SJ an der Katholischen Privat-Universität Linz. Studium der Theologie und Philosophie sowie der Religionspädagogik in Mainz. Promotion über die „Sozialethik des Eigentums“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Assistenzzeit am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster. 2009 – 2015 Mitglied des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik (ICEP) und Professor für Theologisch-ethische Grundlagen des sozialprofessionellen Handelns an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB). Veröffentlichungen: „Freiheit – Natur – Religion. Studien zur Sozialethik“, Paderborn 2010 (Hg.); „Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche“ (zus. mit Karl Gabriel und Katja Winkler), Paderborn 2016; „Zwischen Gewalt und Menschenrechten. Religion im Spannungsfeld der Moderne“, Paderborn 2016.

Weiterführende Literatur:

– Peter Koslowski, Ethik des Kapitalismus, mit einem Kommentar von James M. Buchanan, Tübingen 61998.

– Ders., Die Ordnung der Wirtschaft. Studien zur Praktischen Philosophie und Politischen Ökonomie, Tübingen 1994.

– Peter Ulrich, Die gesellschaftliche Einbettung der Marktwirtschaft als Kernproblem des 21. Jahrhunderts. Eine wirtschaftsethische Fortschrittsperspektive, St. Gallen 2009.

– Michael Schramm, Ökonomische Moralkulturen. Die Ethik differenter Interessen und der plurale Kapitalismus (Ethik und Ökonomie 5), Marburg 2008.

1 Vgl. Protokoll 17. Bundesparteitag der CDU Deutschlands 1.–2. Dezember 2003, Leipzig. Dieses Protokoll liest sich aus heutiger Sicht – einschließlich der Rede Merkels (ebd., 20 – 45) – wie ein Lehrstück über die naive Euphorie über einen politischen „Systemwechsel“ zu einer möglichst marktkonformen Wirtschafts- und Sozialpolitik.

2 Vgl. die wiederholt von Zwischenrufen unterbrochene Rede des Sozialpolitikers Norbert Blüm; ebd., 116 –120.

3 Protokoll 24. Parteitag der CDU Deutschlands 14.–15. November 2011, Leipzig, Berlin: CDU-Bundesgeschäftsstelle 2011, 19 – 36; 29.

4 Ebd., 33 f.

5 Auf dem CDU-Parteitag 2011 war es dann kurioserweise ausgerechnet dem von den Grünen zur CDU übergelaufenen Oswald Metzger überlassen, diese Abkehr vom wirtschaftsliberalen Kurs des Jahres 2003 zu kritisieren und an die neoliberale Euphorie acht Jahre zuvor zu erinnern (ebd., 58 – 61).

6Peter Koslowski, Prinzipien der Ethischen Ökonomie. Grundlegung der Wirtschaftsethik und der auf die Ökonomie bezogenen Ethik, Tübingen 1988 (weitere Aufl. und Übers. erschienen); vgl. auch ders., Wirtschaft als Kultur. Wirtschaftskultur und Wirtschaftsethik in der Postmoderne, Wien 1989; ders., Ethik des Kapitalismus (mit einem Kommentar von James Buchanan), Tübingen 61998 (zuerst 1982); ders., Ethik der Banken und der Börse, Tübingen 1997.

7Peter Koslowski, Prinzipien der Ethischen Ökonomie (s. Anm. 6), 1.

8 Ebd.

9 Ebd., 4.

10 Ebd., 5.

11 Ebd., 46 –137.

12 So ist etwa auch das von Wilhelm Korff im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegebene „Handbuch der Wirtschaftsethik“ (Gütersloh 1999/Berlin 2009) nicht durchgängig, aber in weiten Teilen und insgesamt deutlich von dieser Tendenz geprägt – und nicht etwa von einer kontinentaleuropäischen Wirtschaftskultur.

13 Paradigmatisch – und sehr einflussreich – ist der „moralökonomische“ Ansatz von Karl Homann; vgl. Karl Homann / Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992; vgl. dazu die Kritik von Hermann-Josef Große Kracht, Kritik an der radikalliberalen Markttechnologie. John Rawls, James M. Buchanan und das Theorieprogramm der „Neuen Interaktionsökonomik“ bei Karl Homann, in: Orientierung 65 (2001), 179 –182 und 190 –195.

14 Vgl. paradigmatisch Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.1984.

15 Eben deshalb ist es für Niklas Luhmann bekanntlich die eigentliche Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen; vgl. Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt a. M. 1990, 41.

16Ingeborg Gabriel, Wohlstand für alle durch Marktwirtschaft? – Eine Antwort auf Martin Rohnheimer, in: Gesellschaft & Politik 53 (2017) H. 1, 39 – 43, hier: 40.

17 Ebd.

18Bernhard Emunds, Politische Wirtschaftsethik globaler Finanzmärkte, Wiesbaden 2014, insbes. 3 – 44.

19Friedhelm Hengsbach