Karfreitagstod - Anton Leiss-Huber - E-Book

Karfreitagstod E-Book

Anton Leiss-Huber

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Beschreibung

Oberkommissar Max Kramer hat sich auf ein ruhiges Osterwochenende gefreut. Doch eine Leiche im Glockenturm der Stiftskirche macht seine Pläne zunichte. Zusammen mit seinem Kollegen Fritz Fäustl stößt er bei den Ermittlungen auf einen Rauschgiftskandal im großen Stil, in dessen Mittelpunkt der Tote stand. Ein Geflecht aus Halbwahrheiten tut sich vor ihnen auf. Da tritt Max’ Exfreundin und immer noch Angebetete, die Novizin Maria Evita, auf den Plan …

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Ähnliche


Anton Leiss-Huber

Karfreitagstod

Altötting-Krimi

Zum Buch

Todestag Im frommen Altötting ist Fastenzeit. Die Pfarrhaushälterin Fräulein Schosi hat sich in dieser Saison für den neuen Trend des intermittierenden Fastens entschieden. Dass sich nun just an diesem Karfreitag die Zeiger der Kirchturmuhr einfach nicht Richtung Mittag bewegen wollen, bringt sie deshalb an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Denn erst zur Mittagszeit darf sie wieder etwas zu sich nehmen. Und seit einer gefühlten Viertelstunde verharren die Zeiger bei fünf vor zwölf. Doch dies hat einen schauerlichen Grund: Ein Selbstmörder hat sich im Dachstuhl der Stiftskirche erhängt. Das verwendete Seil hat unter dem Gewicht des Korpus nachgegeben und so ist die Leiche in das Uhrwerk gestürzt. Oberkommissar Max Kramer und Kollegen können die Identität des Toten schnell feststellen. Es handelt sich um den Krankenhausapotheker Johannes Benner. Gegen ihn wird wegen Rauschgifthandel im großen Stil ermittelt. Wollte Benner seiner Verhaftung durch Suizid zuvorkommen?

Anton Leiss-Huber wurde im oberbayerischen Altötting geboren. Er ist studierter Opernsänger und Schauspieler. Einem breiten Publikum wurde er in den letzten Jahren vor allem durch seine Auftritte im deutschen Fernsehen bekannt. Man kennt ihn aus der Musiksendung des BR Fernsehens »Brettl-Spitzen«, der bayerischen Kultserie »Im Schleudergang« oder der Radio-Sendung »Schmankerl« auf BR-Heimat. »Karfreitagstod« ist sein neuer Kriminalroman um den jungen Oberkommissar Max Kramer und seine Jugendliebe die Novizin Maria Evita.

Impressum

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten aus meinem Lebenslauf und mit tatsächlich lebenden Menschen, Geschehnissen und Institutionen um mich herum ist rein zufällig.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © driendl / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7102-5

Widmung

Für Maximilian, Maria und Luis.

Zitate

»Jesus aber schrie mit lauter Stimme. Dann hauchte er den Geist aus. Da riss der Vorhang im Tempel in zwei Teile von oben bis unten.«

Evangelium nach Markus

*

»Selbstmord ist die abscheulichste [Sünde] mein Kind – die einzige, die man nicht mehr bereuen kann, weil Tod und Missetat zusammenfallen.«

Miller in Kabale und Liebe von Friedrich Schiller5. Akt 1. Szene

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Widmung

Zitate

Judas Iskariot

Zwei Jahre und neun Monate zuvor

I. Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod

Zwei Jahre und drei Monate zuvor

II. An jenem Tage des Schreckens

Ein Jahr und elf Monate zuvor

III. Wo Himmel und Erde wanken

Ein Jahr und acht Monate zuvor

IV. Da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten

Ein Jahr und drei Monate zuvor

V. Zittern befällt mich und Angst

Ein Jahr zuvor

VI. Denn die Rechenschaft naht und der drohende Zorn

Zehn Monate zuvor

VII. O jener Tag, Tag des Zorns, des Unheils, des Elends

Acht Monate zuvor

VIII. O Tag, so groß und so bitter

Fünf Monate zuvor

IX. Ins Paradies mögen die Engel dich geleiten

Zwei Monate zuvor

X. Herr, gib ihnen die ewige Ruhe

Eine Woche zuvor

XI. Und das ewige Licht leuchte ihnen

Mein aufrichtiger Dank geht an:

Lesen Sie weiter …

Judas Iskariot

ist derjenige, der Jesus verraten hat. Dieser Name steht synonym für den Verräter an sich. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Apostel Judas Thaddäus.

Die ersten Lichtstrahlen des Tages durchbrachen das Dunkel. Der Himmel wurde eine Spur grauer und war nicht mehr so schwarz. In stockfinsterer Nacht hatte sie ihr Kloster verlassen und war zum Kapellplatz hinübergeeilt. Seit einigen Minuten war sie dort nicht mehr allein. Komisch, dass an diesem Morgen so viele Leute unterwegs waren. Das kam nie vor. Eine Ansammlung junger Menschen stand auf der Wiese vor dem Altöttinger Rathaus um etwas herum, das auf den ersten Blick wie ein Tapeziertisch aussah. Der zweite bestätigte diese Vermutung. Vorsichtig näherte sie sich. Die Gesichter, die sie in der Dämmerung erkannte, waren alle in ihrem Alter.

»Vevi«, hörte sie eine weibliche Stimme aus der Gruppe rufen, und Maria Evita versuchte auszumachen, wer sie im trüben Licht erkannt hatte. Sie trug nicht wie gewohnt ihren Habit, sondern zum ersten Mal außerhalb der Klostermauern ihren blauen Jogginganzug. Es war eine alte Schulfreundin: Ronja Paukenschlager. Diese hob die Hand und winkte Maria Evita zu sich. Nein, das passte ihr jetzt überhaupt nicht. Maria Evita hatte keinen Kopf für eine frühmorgendliche Unterhaltung. Sie beließ es bei einem »Guten Morgen« aus der Ferne und wandte sich zur Stiftskirche, um weiter ungestört durch die kühle Luft zu laufen, bevor sie ins Nonnenkloster zurückkehren musste. Unter ihren Schuhen knirschte der Kies. Dieses Schleifen und Kratzen hatte etwas Vertrautes, das auf einmal durch zwei unbekannte Stimmen durchbrochen wurde. Wo sie herkamen, war nicht auszumachen. Nach ein paar Metern verstand Maria Evita, worum es den Männern ging. Der eine hieß Johannes, den anderen sprach dieser mit Thaddäus an. Beide versuchten, ihre Stimmen im Zaum zu halten, was ihnen jedoch nicht gelang. Maria Evita sah zwei schattenhafte Umrisse in der Entfernung. Sie standen unweit des Denkmals für den Heerführer Tilly zwischen Gnadenkapelle und Stiftskirche. Beide Männer waren so mit sich beschäftigt, dass sie Maria Evita nicht entdeckten.

»Ich verkauf dir nichts mehr. Aus, bumm, basta. Ich bin ein für alle Mal raus aus dem G’schäft«, flüsterte der eine.

»Johannes, bitte«, flehte der andere.

»Thaddäus, du bist ein nerviges Etwas. Hör auf, mich zu verfolgen, und lass mich in Ruhe! Wer hat dir verraten, dass ich hier bin?«

»Noah hat zurückgetextet.«

Maria Evita drückte sich in eine Ecke des Bogenumgangs der Gnadenkapelle. Sie war sicher, dass sie beide Stimmen schon einmal gehört hatte, hatte aber zu keiner ein Gesicht vor Augen.

»Du schuldest mir noch was, Johannes.«

»Garantiert nicht! Wenn, dann schuldest du mir noch die Kohle für das letzte Mal, Thaddi.«

Thaddäus’ Stimme schwoll an. »Johannes, du dumme Sau, ich … ich …«

»Leise, verdammt noch mal! Was ist? Willst mich etwa hinhängen? Dann wanderst du mit in den Bau.«

Maria Evita vernahm schnelle Schritte auf dem Kies, und das Gespräch der beiden Männer war beendet. Sie atmete tief durch, denn das Gehörte bereitete ihr Unbehagen. Langsam trat sie aus ihrem Versteck, setzte einen Fuß vor den anderen und blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. Die beiden Männer waren verschwunden. Maria Evitas Knie zitterten. Was sollte das alles bedeuten?

*

Der Balken gab ein leises Ächzen von sich. Der Dachstuhl wurde plötzlich von einem Lufthauch erfüllt, der sich durch die Ritzen des alten Gemäuers seinen Weg gebahnt hatte. Die Schuhspitzen bewegten sich dabei um wenige Zentimeter hin und her. Der Körper baumelte in der Luft. Kein Zucken, kein Todeskampf, nichts. Die Schlinge schnürte sich tief in das Nackenfleisch.

Der Strick hielt, bis wieder Windstille eingetreten war, dann sackte der Leichnam verbunden mit einem dumpfen Geräusch in die Tiefe.

Zwei Jahre und neun Monate zuvor

Tagebucheintrag

Vielleicht ist es besser, wenn ich das alles einfach beende. Ich kann nicht mehr. An jeder Stelle scheint es zu brennen, und ich komme mit dem Löschen nicht hinterher. Was habe ich nur angefangen? Entweder bin ich auf der Arbeit oder ich stehe auf einer Baustelle. Zum Abschalten bleibt keine Zeit und permanent plagen mich die Sorgen, wie ich das Geld an die Bank zurückzahlen soll, wobei ich eigentlich noch viel mehr benötige, um alles fertigzustellen. Wir brauchen ein Zuhause, und allein kann ich alles nicht mehr stemmen. Ich habe meiner Oma versprochen, mich um ihre Häuser zu kümmern. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, bin ich am Ende. Ich fürchte um meine Gesundheit. Mein Schatz will sich nicht von ihrem Mann trennen, und wir sehen uns kaum noch. Ich brauche ihre Nähe! Schatz, ich brauche dich doch.

I. Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod

Über den Kirchendächern flackerte die Hitze. Die Frühjahrssonne war an jenem Tag so stark, dass Kaplan Seidlinger fürchtete, einen Sonnenbrand zu riskieren, wenn er sich nicht ordentlich einschmierte, sobald er seine Dienstwohnung verließ. Das Wetter tat an diesem Karfreitag nichts, um die von seinem Arbeitgeber verordnete trübe Stimmung zu unterstreichen. Nun saß er auf der Terrasse des Eiscafés Cortello am Altöttinger Kapellplatz, hatte heimlich einen Spritz vor sich und schob alle unbequemen Gedanken an die drohende Hölle beiseite, weil er sich einen Drink an diesem strengen katholischen Fastentag gönnte. Bis er seine Ministranten wieder vor der Stiftskirche in Empfang nehmen musste, hatte Seidlinger noch zehn Minuten. Das reichte, um auszutrinken und vielleicht noch einen zweiten hinterherzukippen. Die freundliche Kellnerin würde ihn bei seinem Arbeitgeber nicht verpetzen. Da war er sich sicher.

Zeitgleich hatte sich der Altöttinger Frauenbund unter Führung seiner Vorsitzenden Baronin Novotny auf der anderen Seite des großen Platzes niedergelassen. Die Damen waren direkt nach ihrer Chorprobe für Ostersonntag in der Stiftskirche zum Kramer’schen Hotel zur Post hinübergeschlendert. Dort hatten sie an der Ecke beim Devotionalienhandel Unterprammer unter den aufgespannten Sonnenschirmen geräuschvoll Platz genommen.

Petronilla Schosi, die Haushälterin des emeritierten Stadtpfarrers Monsignore Hirlinger, trommelte ungeduldig mit ihren Fingern auf der Tischplatte. Ihre Augen wanderten zwischen der Stiftskirchturmuhr, die über dem Dach der Gnadenkapelle hervorschielte, und dem freien Platz vor dem Altöttinger Rathaus hin und her, als würde sie ein Tennismatch verfolgen. Langhaarige Menschen veranstalteten auf der Grünfläche davor ein lautstarkes Get-together. Genervt hob Fräulein Schosi ihren Kopf und blickte zur Turmuhr. Wann würden die Zeiger endlich zwölf anzeigen? Seit einer gefühlten Ewigkeit weigerten sich der Minuten- wie auch der Stundenzeiger, ihre Plätze zu verlassen. So blieb es fünf vor zwölf. Auch das befreiende, hölzerne Mittagsklappern von der Kirchturmspitze her blieb aus, denn die Glocken schwiegen ja nach altem Brauch. Statt des Geläuts kamen heute in allen katholischen Gebieten diese hölzernen Instrumente mit ihrem charakteristischen Knarren zum Einsatz. Charakteristisch knurrte auch ihr Magen. Seit gestern Abend hatte sie Hunger, und ihre Laune verhielt sich wie ihr Insulinspiegel, beides war im Keller. Diesem gemeinsamen 16:8-Fasten, das irgendeine ihrer Frauenbundkolleginnen in der Mitte der Fastenzeit unüberlegt begonnen hatte, waren nach kurzer Zeit alle gefolgt. Eine Scheiß-Idee. Aber gegen diesen Zwang konnte sie sich nicht wehren. Und nachdem sie damit angefangen hatte, würde sie es unter allen Umständen auch bis Ostersonntag durchziehen, koste es, was es wolle. Aus, Äpfel, Amen!

Eine mittelalte Frau im hellblauen Loden-Catsuit, die sich neben Fräulein Schosi gesetzt hatte, hob unerwartet ihr Handgelenk. Eine silberne Armbanduhr und ein Bettelarmband klimperten daran. »Auf meiner Uhr isses aber scho fünf nach zwölf«, sagte sie.

»Annamirl, wir ham g’sagt, dass wir warten, bis die Zeiger an der Stiftskirch auf genau Zwölfe stehen und die Ministranten mit den Karfreitagsratschen klappern,« entrüstete sich Fräulein Schosi. »Herrschaftszeiten, is a bissal Geduld denn zu viel verlangt?«

»Du hast mir doch vorhin erzählt, dass d’ bereits Bauchweh vor Hunger hast. Also i b’stell mir jetzt ein Sellerieschnitzel.«

Das nervöse Trommeln von Fräulein Schosis Fingerkuppen stoppte abrupt und sie schloss ihre Hand zur Faust. »Nix gibt’s! Wir warten gemeinsam.«

Kopfschüttelnd sah Annamirl Leidl-Berggump zu ihr herüber. »Das ist kein Grund, die Contenance zu verlieren. Wir könnten wirklich mal bestellen, oder? Sechzehn Stunden sind bestimmt schon verstrichen. So schnell ist die Küche hier im Hotel dann auch wieder ned, dass das Essen in zehn Sekunden serviert wird.«

»Lass es gut sein, Annamirlchen«, schaltete sich die Vorsitzende Baronin Novotny mit ihrer krächzenden Raucherstimme dazwischen.

Annamirl Leidl-Berggump schüttelte den Kopf. »Vermutlich ist des krass ungesund, wenn man so sehr in den Unterzucker rutscht.«

Fräulein Schosis Geduldsfaden war kurz davor zu reißen. »Schmarrn! Des is doch der Sinn der Sache, hat mei Arzt g’sagt. Entweder ganz oder gar ned.«

Annamirl seufzte. »Ich bin froh, wenn das Fasten am Sonntag endlich ein Ende hat. Immer dieser Hunger am Vormittag. Abends ist es mir ja wurscht, dass ich nach acht nix mehr essen darf, aber das Frühstück auslassen, an des werd ich mich nie gewöhnen.«

Baronin Novotny sah sich nach einem Aschenbecher um, denn auf den Tischen war außer einer weißen Decke nichts zu finden. »Also Mädels, mir hat das Intervallfasten von Anfang an echt Spaß gemacht.«

»Als Spaß würde ich das nicht bezeichnen. Direkt Magenkrämpfe hab ich in der Früh. Da möchte ich dann am liebsten in meinen Küchentisch reinbeißen.« Die Anwesenden konnten in Annamirls Gesicht lesen, dass in dem von ihr gebrauchten Vergleich ein Körnchen Wahrheit steckte.

»Mit oder ohne Tischtuch?«, fragte Baronin Novotny trocken.

»Bitte?«

»Das war ein Witz, Annamirlchen.«

»Ach so. Haha.« Annamirl Leidl-Berggump lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Vielleicht sollten wir im Pfarrbüro anrufen.«

»Um telefonisch eine Fastensuppe zu bestellen? Oder warum?«

Ein paar ältere Damen kicherten über Baronin Novotnys ironische Bemerkung, nur Fräulein Schosi war kein freundlicher Laut zu entlocken. Mit gekräuselten Lippen blickte sie erneut nach oben. »Die Kirchturmuhr is doch stehen geblieben. Die sollen des schleunigst reparieren. So ein Anruf ist gar keine schlechte Idee, Annamirl. Da muss ich dir jetzt ausnahmsweise recht geben.«

»Bis dahin bin ich verhungert. Also ich bestelle mir jetzt dieses Sellerieschnitzel von der Karfreitagskarte, und dann melden wir unsere Entdeckung im Pfarrbüro. Punktum!« Annamirl Leidl-Berggump schnippte in die Luft, um mit dieser Geste den Kellner zu rufen. Ein junger Mann tänzelte im nächsten Augenblick um die Frauengruppe herum und verteilte Speisekarten.

»Buona giornata mie belle signore! Was darf ich Ihnen servieren? Vielleicht schon ein kaltes Glas Weißwein?«, begann Fabio, der Kellner des Hotels zur Post.

»Wir warten noch. Aber für die Asche könnten Sie was bringen.« Baronin Novotny hob demonstrativ ihre Packung Zigaretten und schüttelte diese vor Fabios Augen.

Der Kellner zog aus dem Nichts einen Aschenbecher hinter seinem Rücken hervor. »Signora, für Sie habe ich selbstverständlich imme’ alles dabei. Ich kenne doch Ihre geheimsten Wünsche.«

»Sie sind mir so einer, Fabio.« Baronin Novotny hob mahnend ihren Zeigefinger. »Meine geheimsten Wünsche, soso …« Dann lachte sie tief und dreckig, bis ihr charakteristisches Husten sie überkam und sie nach einem Stofftaschentuch in ihrer Manteltasche kramte.

»Ich möchte jetzt ein Sellerieschnitzel«, wandte sich Annamirl Leidl-Berggump an Fabio, der seinen Block zückte und die Bestellung murmelnd wiederholte.

»Und die anderen Damen?« Er blickte in die Runde.

»Wie gesagt, wir warten noch«, hüstelte Baronin Novotny in ihr Taschentuch. Fabio zuckte mit den Schultern und verschwand.

Auf der kleinen Grünfläche vor dem Rathaus lachten die langhaarigen Menschen. Dies zog wieder Fräulein Schosis Aufmerksamkeit auf sich, die für einen kurzen Moment ihre Hungerschmerzen zu vergessen schien. Sie kniff ein Auge zu und musterte den für ihren Geschmack zu ausgelassenen Haufen. Zwei große »A« standen auf deren T-Shirts. »Wer sind eigentlich diese ungepflegten, lauten Zotteln da?«

Annamirl Leidl-Berggump fühlte sich angesprochen. »Die sind von der Alternativen Auswahl. Sieht man doch.«

»Ach des sind die! Und so was will in den Gemeinderat?« Fräulein Schosi schnalzte mit der Zunge. »Wie hast’n das so schnell erkannt, Annamirl?«

»Die Söhne vom Dr. Dube sind dabei und die Paukenschlager Ronja. Das ist die im roten Kleid.« Sie deutete auf eine junge Frau mit langen dunklen Haaren. »Die engagieren sich alle in der Alternativen Auswahl. Diese T-Shirts tragen sie immer bei irgendwelchen Wahlkampfveranstaltungen.«

»Machen die etwa Parteiwerbung da drüben?«

»Naaaa …« Beschwichtigend hob Annamirl Leidl-Berggump ihre Hand. »Schaut so aus, als täten sie bloß Ostereier suchen.«

»Am Karfreitag? Ja haben diese Zotteln den Verstand verloren? Eier gibt’s erst am Ostersonntag. Man veranstaltet ja auch keinen Christkindlmarkt an Pfingsten. Warum schert sich eigentlich keiner mehr um die alten Regeln und Gebote? Diese Stadt degeneriert immer mehr!«

Baronin Novotny rollte mit den Augen und zog an ihrer Zigarette. »Wenn du es sagst.«

»Oder sehe ich das falsch?«

»Nein, nein, Petronillchen, ganz und gar nicht.« Energisch drückte die Baronin ihre Kippe im Aschenbecher aus, um sofort zur nächsten zu greifen.

Die Frau im roten Kleid, die Annamirl Leidl-Berggump vorher als Paukenschlager Ronja identifiziert hatte, löste sich von ihren Mitstreitern und machte sich auf den Weg in Richtung Frauenbund. An ihrem linken Arm baumelte ein Korb und in ihrer rechten befanden sich zwei gefärbte, hart gekochte Eier.

»Darf ich Ihnen ein kleines Osterpräsent überreichen?« Ronja lächelte jeder einzelnen Dame freundlich zu. Manche drehten sich weg oder taten so, als ob sie Ronja nicht gehört hätten. Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie mehrere Ostereier auf die Tische. Bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dass unterschiedliche Sprüche auf den bunten Eiern aufgemalt waren.

Fräulein Schosi griff nach einem und hielt es vor sich. »Zwei Tag vor Ostern scho Eier verteil’n, is’ wirklich eine Sünde.«

Ronja ließ sich in ihrem Tun nicht unterbrechen. »Sie müssen ’s ja noch nicht essen. Die halten ein paar Tage.«

»Fabio, einen Salzstreuer bitte«, rief Annamirl Leidl-Berggump, die sich umgehend daranmachte, die Schale zu entfernen. Den strafenden Blick der anderen ignorierte sie.

Plötzlich stutzte Fräulein Schosi, denn sie hatte den ersten Spruch entziffert. »›Meine Mama war glücklich!‹ Was soll das denn bedeuten?«

»Dass wir nur Eier von glücklichen Hühnern verwenden. Das ist uns ein Anliegen und Bedürfnis. Unsere Alternative Auswahl setzt sich für biologische Landwirtschaft und das Tierwohl ein.«

»Und das? ›Es ist fünf vor zwölf!‹Haben Sie vielleicht was mit der Uhr auf der Stiftskirche zu tun?«

»Nein wieso?« Ronja war irritiert.

»Da, schauen S’ rauf. Es will einfach ned Mittag werden. Herrschaftszeiten!«

»Es ist fünf vor zwölf fürs Klima«, erklärte Ronja. »Das wollen wir damit ausdrücken. Einen schönen Feiertag und frohe Ostern.« Sie machte kehrt und ging vor das Rathaus zurück.

»Mir sind diese Zotteln echt suspekt«, sagte Fräulein Schosi, als Ronja Paukenschlager es nicht mehr hören konnte. »Die meisten von denen wohnen ja auch zusammen in so einer Kommune.« Nun wurde sie leiser. »Die treiben es da … auch … ähhh ihr wisst scho, was ich meine.«

»Das ist jetzt nicht ganz wahr«, sagte Annamirl Leidl-Berggump bestimmt und schälte ein zweites Ei, während Fabio ihr endlich einen kleinen Salzstreuer auf den Tisch stellte. »Prego, Signora.« Annamirl verputzte das erste Ei mit zwei Bissen. Sie schluckte und sprach mit halb vollem Mund weiter. »Die Kinder vom Dr. Dube haben mit ihren Studentenfreunden die zwei renovierungsbedürftigen Bauernhäuser von der alten Benner bezogen und selbst Hand angelegt. Jeder, der dort lebt, hat seine eigene Wohnung mit eigener Eingangstüre. Von Kommune und freier Liebe, wie du andeutest, kann also nicht die Rede sein.«

»Ah, geh! Da erzählt man sich aber ganz andere Sachen.«

»Petronilla, mein Mann und ich sind mit den Dubes seit Jahrzehnten befreundet. Wäre es so, wie du meinst, dann wüsste ich das.«

Pikiert verzichte Fräulein Schosi darauf, etwas zu entgegnen. Plötzlich hörten sie aus der Entfernung ein kindliches Geplärr, das wohl »Hilfe« bedeuten sollte. Die Damen ließen ihre Köpfe kreisen, und manche standen erschreckt auf. Zwei Ministranten mit Karfreitagsratschen in Händen liefen durch den Bogenumgang der Gnadenkapelle. Der Größere der beiden trug ein rotes Messgewand und einen dazugehörigen Leinenüberwurf, während der andere in einem schwarzen Sportanzug steckte, der ihn klar als Mitglied des TSV Kastl auswies. Beide hasteten auf das Hotel zu und rammten dabei einen Mann mit geschultertem Kreuz, der eifrig seine Bahnen um die Kapelle zog. »Könnt ihr nicht aufpassen?«, blaffte er sie an. Beide ignorierten ihn, stolperten fast übereinander und blieben ein paar Meter vor Fräulein Schosi stehen. Ihre Gesichter waren kreidebleich.

»Da … da …«, stotterte der Kleinere von beiden und schluckte schwer.

Fräulein Schosi ging auf die Jungs zu. Nach dem Verhalten beider war ihnen gerade der Heilige Geist persönlich erschienen. Baronin Novotny blieb sitzen und blies eine Wolke blauen Dunsts gen Himmel.

»Warum habt’s ihr denn mit euren Ratschen immer noch nicht vom Turm runtergescheppert? Es is doch scho Mittag.« Jedem Umstehenden war klar, dass der Ton in Fräulein Schosis Stimme nichts Gutes zu bedeuten hatte. Sie war kurz davor zu explodieren.

»Da …«, startete der Kleine einen neuen Versuch, einen vollständigen Satz zu formen, doch auch diesmal ließ er seinem ersten Wort nichts weiter folgen.

Plötzlich krümmte sich sein Kollege, der etwas abseitsstand, begann zu würgen, und ein Schwall Erbrochenes ergoss sich sintflutartig vor Fräulein Schosis Füße.

Baronin Novotny nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Na, Prost Mahlzeit.«

»Des auch noch … Meine schöne Salamipizza …«, wimmerte der Ministrant, als er sich aufrichtete.

Fräulein Schosi stierte ihn verständnislos an. »Hast du heute etwa scho Fleisch gegessen?«

»Sieht ma doch an den roten Bröckal.« Annamirl Leidl-Berggump presste sich ihre Hand vor den Mund. »Mein Gott, bei dem Anblick wird mir auch gleich übel. Gott sei Dank hab ich noch nichts im Magen.«

Ihre Fäuste in die Seiten gestemmt stampfte Fräulein Schosi mit dem Fuß auf. »Also das is doch die Höhe! Du Hundsgrippe, du greisliger! Du, als Ministrant, kannst doch nicht einfach gegen das Fastengebot am Karfreitag verstoßen! Buße, Opfer und eifriges Gebet solltest du verrichten. Heute ist ein strenger Fasten- und Abstinenztag. Von dir will ich jetzt wissen, wie du heißt. Das melde ich dem Kaplan Seidlinger, der wird dich dann im hohen Bogen aus der Ministrantengruppe rausschmeißen. Warum isst ma in der Früh eigentlich scho a Pizza? Tut es kein Marmeladenbrot mehr? Das ist wirklich ungesund. Absolut klar, dass dir von diesem ausländischen Zeugs schlecht wird. Ich sag’s dir, das ist die gerechte Strafe von oben, weil du das Fastengebot gebrochen hast.«

Baronin Novotny kaute an ihrem Glimmstängel. »So ein Quatsch, Petronillchen! Gott straft doch nicht.«

»In diesem Fall schon«, keifte Fräulein Schosi.

»Weil der Bursche eine Pizza gegessen hat? Ernsthaft? Die ewige Verdammnis wegen ein bisschen Salami? Du bist doch nicht ganz bei Trost, Petronillchen.«

»Da …«, sagte der Kleine in der schwarzen Sportjacke wieder.

»Möchtest du uns irgendetwas mitteilen?«, wandte sich Baronin Novotny an den schwer atmenden Ministranten.

Dieser nickte und setze von Neuem an. »Da …«

»Ja?« Baronin Novotny zwinkerte ihm aufmunternd zu.

»Da … da … da … liegt einer im Uhrwerk.«

»Kein Wunder, dass sich die Zeiger nicht mehr bewegen.« Trotzig verschränkte Fräulein Schosi ihre Arme vor dem Bauch. »Ich hab doch gleich g’sagt, dass was kaputt ist.«

»Und der is tot«, fügte der andere Ministrant mit dem flauen Magen hinzu.

»Was?« Baronin Novotny schnellte in die Höhe.

»Ja, a Toter zwischen den Zahnrädern«, fassten die Jungen noch einmal ihre Entdeckung zusammen.

*

Niki saß am Küchentisch, neben sich ein Glas frischen Minztee, und betrachtete den Kohlrabi in ihren Händen. Vor ein paar Minuten hatte diese kleine Knolle noch in der Erde des Frühbeetes im Innenhof gesteckt. Frischer und gesünder ging es kaum. Jedes Mal, wenn sie auf die Ernte aus ihrem Garten blickte, erfüllte Niki Stolz. In den letzten Jahren hatten sie und ihre Freunde wirklich geschuftet und es geschafft, sich fast komplett selbst zu versorgen. Sogar zwei Bienenvölker hatten an der Wand des alten Stadels eine Heimat gefunden. Weitere Tiere gab es auf ihrem Hof nicht. Wozu auch?

Ein wunderbarer Duft erfüllte die Küche. Die Kartoffeln schmorten im Backofen vor sich hin, auf dem Herd kochte die Karottensuppe.

Niki legte den Kohlrabi beiseite. Sie griff nach dem Tee, pustete in den Dampf, der nach wie vor auf der Flüssigkeit tanzte, und stellte ihn zurück auf den Küchentisch. Immer noch zu heiß. Die grünen Blätter hatten ihre leicht gelbliche Farbe an das Wasser abgegeben, fast wie in einem bepflanzten Aquarium. Sie mochte Minztee zu jeder Jahreszeit, nicht nur, wenn es draußen kalt war. Niki drehte sich zur Haustür. Von dort hörte sie ein leises Schleifen und sah auf die Uhr. Es ging also los. Keine Panik jetzt!

Die Aktion der anderen auf dem Altöttinger Kapellplatz war parallel noch in vollem Gange. Sie stand auf und ging zum Backofen hinüber, nahm eine kleine Gabel aus der Schublade und testete, ob die Kartoffeln schon gar waren. Fehlanzeige. Zwar konnte sie mit der Spitze ohne große Kraftanstrengung hineinstechen, aber für den sofortigen Verzehr waren die Spalten zu hart. Sie musste noch etwas Geduld haben.

Niki drehte sich um, denn durch den Gang, der zur Haustüre führte, drang weiter dieses Geräusch herein. Es erinnerte sie an eine Akkubohrmaschine. Dieses Bohren zerrte an ihren Nerven. Konnten die denn nicht schneller machen?

Endlich wurde die Tür eingetreten und mit einem Krachen splitterte der Türstock in den Gang. Nikis Atem setzte aus. Jetzt war es so weit.

»Polizei! Polizei!«, brüllten die schwarz gekleideten Eindringlinge und stürmten die Küche. »Hände hoch!«

Entsetzt blickte Niki in den Lauf einer Waffe. Sie merkte, dass ein Hund an ihren Schuhen schnüffelte. Diese Szene schien nicht real. Passierte das gerade wirklich? So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Ihre Knie gaben nach und ihre Beine sanken zu Boden, alles andere folgte. Sie konnte nichts dagegen tun.

*

Oberkommissar Max Kramer hatte schlecht, aber trotzdem lange geschlafen. Die Müdigkeit steckte ihm in den Gliedern und er war heilfroh, dass die Morgenbesprechung für ihn heute ausfiel. Am gestrigen Abend hatte er mit seinem Kollegen Fäustl und dessen neuer fränkischen Flamme Evi auf seinen kommenden, wohlverdienten Urlaub angestoßen. Die letzten Wochen hatten ihn stark gezeichnet. Altötting und Umgebung war nicht zur Ruhe gekommen. Gleich zwei Morde hatte die Kleinstadt in diesem Jahr zu verkraften gehabt. In der deutschlandweiten Kriminalstatistik lag sie damit sicher auf Platz eins.

Max warf seine Espressomaschine an. Das ersehnte Koffein würde ihm helfen, auf Touren zu kommen. Er zapfte sich einen dreifachen Espresso, griff nach der fast vollen Tasse und balancierte sie zur Spüle hinüber, um sie mit einem Schluck kalten Wassers aus dem Hahn zu kühlen. Dann wagte er einen vorsichtigen Probeschluck und leerte die Tasse mit dem zweiten. Nun setzte er sich an den Küchentisch und überflog an seinem Laptop die Schlagzeilen des Mühldorfer sowie des Alt-Neuöttinger Anzeigers. Der Hasenzüchterverein hatte seine Vorstandschaft im Amt bestätigt und der Spögler-Mord sowie dessen Hintergründe wurden noch einmal explizit beleuchtet.

Plötzlich schreckte er auf. Über ihm hörte Max etwas den Boden entlangrollen. Zum gefühlt zehntausendsten Mal stellte er fest, dass seine Wohnung hellhöriger war, als er beim Einzug vor gut einem Jahr vermutet hatte. In der letzten Zeit fielen ihm die Geräusche, die zu ihm herunterdrangen, immer deutlicher auf. Ab und zu knarrten die Dielen, und er vernahm den Hackengang seines Nachbarn. Dann weckte ihn das Rauschen der Klospülung mitten in der Nacht. Er war froh, dass das frisch verheiratete Paar sich keine lautstarken Auseinandersetzungen lieferte. Max atmete tief durch. Dabei mogelte sich das Gesicht seiner Ex in seine Gedanken. Vevi, jetzt Novizin Maria Evita, war in den letzten Monaten wieder zu einem Teil seines Lebens geworden, leider nicht zu dem, den er sich wünschte. Sie saß im Altöttinger Nonnenkloster und bildete sich ernsthaft ein, dass zwischen diesen heiligen Mauern ihre Zukunft lag. Das war völlig absurd!

Unerwartet heftig riss ihn der Bayerische Defiliermarsch aus seinen Überlegungen und der Name »Fritz Fäustl« erschien auf seinem Handydisplay.

»Das letzte Bier, das du mir hingestellt hast, muss echt schlecht gewesen sein. Ansonsten: Mir geht’s gut. Danke der Nachfrage«, meldete sich Max.

»Mal schau’n wie lang noch«, tönte Fäustls Stimme aus dem Lautsprecher.

»Mir schwant nichts Gutes.«

»Dein Gefühl trügt dich nicht. Ich muss dich aus deinem Urlaub zurückholen. Wir hab’n einen männlichen Selbstmörder im Uhrenturm der Altöttinger Stiftskirche.«

»Kannst des ned allein machen? Klingt nicht besonders kompliziert.«

»Nada. Du bist der Ranghöhere, und Kunfter besteht auf deine Anwesenheit.«

»Was der Chef sich schon wieder alles einbildet.«

»Wir haben hier echt Personalmangel, weil die Damen und Herren vom K4 alle Ressourcen verbrauchen. Die sind an was Größerem dran, wie sie heute in der Morgenbesprechung verkündet haben.«

»Ach, die Kollegen vom Dreck haben’s mal wieder ganz wichtig.«

»Scheint so. Die sprengen heute irgendwas in der Giftlerszene.«

»Dann hilft’s wohl nix. Ich muss noch g’schwind ins Bad. Bis gleich.«

*

Dichter Kleinstadtverkehr. In Altötting ging es an allen kirchlichen Feiertagen hoch her. Max parkte an der Hinterseite des elterlichen Hotels zur Post auf einem Parkplatz, der den Pilgern und Touristen unbekannt war. Er stieg aus und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Stiftskirche am Kapellplatz. Schwarz gewandte Menschen umrundeten mit kleinen Holzkreuzen auf ihren Schultern die Gnadenkapelle. Er ließ sie rechts liegen und blickte zum Portal der Stiftskirche hinüber, vor der eine Gruppe Frauen, zwei kleine Jungen, ein Einsatzwagen der örtlichen Polizei und ein Notarztwagen standen.

»Auf geht’s!«

Manche Gesichter waren ihm bekannt. Auf dem Kiesboden kauerte ein Arzt in Weiß und hatte seinen Rücken an die Beifahrertüre gelehnt. Dass sein Kittel dabei dreckig wurde, schien ihn nicht zu kümmern. Drengelmann! Max biss sich auf die Unterlippe. Seit ihrem ersten Zusammentreffen konnte er diesen Trottel nicht leiden. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Max attestierte ihm vollkommene Selbstüberschätzung. Doch in diesem Moment war von seinem sonst so arroganten Auftreten nichts übrig geblieben. Drengelmann wirkte seltsam abwesend. Sein Blick unscharf auf irgendetwas in der Ferne gerichtet. Ein bulliger Sanitäter kam mit einer Wasserflasche aus Plastik angelaufen, öffnete diese und reichte sie Drengelmann, der ihn dabei weder ansah, noch ein Wort von sich gab.

Max schritt auf den Arzt zu. »Ist Ihnen der Leibhaftige erschienen?«, fragte er und ging auf die Knie, um mit seinem Gegenüber auf Augenhöhe zu sein.

»Halten Sie doch einfach Ihr verdammtes Maul, Kommissar Kramer!«

Max’ Augen weiteten sich. So unverschämt hatte sich Drengelmann, trotz ihrer Zwistigkeiten, noch nie verhalten. Für einen Moment war Max sprachlos. Plötzlich fühlte er die Hand des Sanitäters auf seiner Schulter.

»Herr Kommissar, lassen Sie uns bitte mal ein paar Schritte beiseitegehen.«

Verdutzt folgte Max der Aufforderung des großen, kräftigen Mannes.

»Jan Nalepa, Rettungsassistent«, stellte sich der Mann mit ernstem Gesichtsausdruck vor und reichte ihm die Hand.

»Was hat den Guten denn so aus der Bahn geworfen?« Max wies mit seinem Kopf in die Richtung, in der Drengelmann nach wie vor regungslos auf dem Boden zusammengesunken war.

»Die ganze Sache ist für uns alle extrem schwer«, sagte Nalepa.

»Hat das mit dem Selbstmörder zu tun?«

»Ja.« Tränen schimmerten in Nalepas Augen.

»Sie kannten ihn?«

Der Rettungsassistent nickte. »Der Mann, der sich im Turm erhängt hat, heißt Johannes Benner.«

»Was ist Ihre Verbindung und die von Dr. Drengelmann zu ihm?«

»Er ist unser Krankenhausapotheker. Der Doktor war mit ihm etwas enger, soweit ich weiß.«

Ach, du meine Sch… Mit dieser Information war die Reaktion des Notarztes durchaus verständlich, und Max schämte sich für seinen vorherigen Begrüßungssatz. »Wissen Sie zufällig, wer ihn als Erstes entdeckt hat?«

Nalepa deutete auf die beiden Jungen, die sich ebenfalls auf der Erde niedergelassen hatten und von einem Pulk von Frauen umringt wurden. »Die Ministranten da drüben.«

Max erkannte sofort, dass beide keine vierzehn waren und dies eine echte Fingerspitzenangelegenheit darstellte. »Herr Nalepa, haben Sie schon das Kriseninterventionsteam angerufen?«

Der Sanitäter schüttelte den Kopf.