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»Theater muss Druck machen.« Das Kölner Schauspiel hat sie in kurzer Zeit zum Spitzentheater gemacht. Demnächst wird sie Intendantin des Hamburger Schauspielhauses. Karin Beier im Portrait und Selbstportrait.Als Regisseurin, Intendantin und zuweilen auch als politische Kämpferin spielt Karin Beier im deutschsprachigen Theater eine herausragende Rolle. Ihre Inszenierungen erzählen in oft radikaler Form von Gewalt, Unrecht und gesellschaftlichen Skandalen. In ihrem Amt als Theaterintendantin in Köln stand sie an der Spitze einer Bürgerbewegung, die sich erfolgreich gegen den Abriss des Kölner Schauspielhauses zur Wehr setzte. Zugleich ist es ihr gelungen, das einst stark abstiegsgefährdete Kölner Schauspielhaus als eine der wichtigsten Bühnen im deutschsprachigen Raum zu etablieren. Im Sommer 2013 übernimmt sie die Intendanz des Hamburger Schauspielhauses.Karin Beier entstammt einem deutsch-englischen Elternhaus, sie ist in Köln aufgewachsen und hat sich schon als Teenager entschieden, ihre Leidenschaft, Intelligenz und Phantasie dem Theater zu widmen. Beier begreift ihre Künstlerarbeit als Privileg und Narrenfreiheit, gerade deshalb findet sie: »Theater muss Druck machen.« In einer immer noch von Männern dominierten Theaterwelt übertrumpft Beier viele ihrer Kollegen durch kluge Zielstrebigkeit und eine Offenheit, die auf der Probebühne und in politischen Diskussionen für klare Ansagen sorgt. In ihren 25 Berufsjahren hat sie mehr Macht, Respekt und Lob erworben als wohl je eine andere Frau im deutschsprachigen Theater zuvor.»Den Aufstand proben« ist Portrait und Selbstportrait zugleich. Der Theaterkritiker Wolfgang Höbel hat Karin Beiers Arbeit begleitet und in zahlreichen Gesprächen ein genaues Bild von ihren Ideen, Projekten und Arbeitsweisen gezeichnet.
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Seitenzahl: 184
Karin Beier
Ein Theaterbuch
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Karin Beier
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Vorwort
1 »Theater berauscht. Theater nervt. Theater wirkt.« von Karin Beier
2 Verschwörung der Spielwütigen
3 Vom Aufbegehren gegen den Tod
4 Ausbruch aus der Wattewelt
5 Hoch die Theater-Internationale!
6 Wanderjahre im Karriere-Laufrad
7 Zeiten der Krise, Fluchten auf Zeit – und der Ruf nach Köln
8 Wiederaufbau aus Ruinen
9 Auf den Barrikaden
10 Das Theater gehört den Kölner Bürgern! von Karin Beier
11 Einmischung lohnt sich doch
12 Die Zombies der Unterklasse hinter Glas
13 »Gutes Theater erzählt davon, wie kompliziert die Welt ist«
14 Attacke auf den menschlichen Beherrschungswahn
15 Rebellion gegen die Wutrebellen
16 Nie mehr Kratzen und Betteln
17 Bezieht Stellung, mischt euch ein! von Karin Beier
18 Zeittafel: Inszenierungen
Inhaltsverzeichnis
Die Aufbegehrende
Der Weltuntergang fand an einem Oktoberabend im Jahr 2010 statt: Karin Beier ließ die Wasserpegel steigen, den Himmel donnern und die Wände beben. Mit der Wucht einer Naturkatastrophe brach an diesem Abend ein aggressiv engagiertes Theater über die Zuschauer im Kölner Schauspielhaus herein. Man sah eine riesige, finstere Fabrikhalle auf der Bühne, in der Büroschreibtische und Stahlgerüste herumstanden. Man sah 50 Mitspieler im Chor sprechen, tanzen und mitunter auch zu Boden sinken. Und man sah am Ende eine Sintflut die Szenerie überschwemmen.
Es war ein Inferno aus Wortmusik und Katastrophenkomik, das da mit Texten von Elfriede Jelinek angerichtet wurde – und es war der Triumph eines klug zupackenden, sinnlichen politischen Theaters auf Gegenwartshöhe im 21. Jahrhundert. Karin Beiers grandioses Spektakel trug den ziemlich umständlichen Namen »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz«, es war entstanden aus drei Texten von Elfriede Jelinek, und es erzählte von drei schrecklichen Unglücksfällen, bei denen eine Menge Menschen zu Tode kamen. Von einer Bergbahnkatastrophe im österreichischen Kaprun (155 Tote), von einem in ein Straßenloch gestürzten Linienbus in München (3 Tote), vom Einsturz des Stadtarchivs in Köln (2 Tote).
Rund dreieinhalb Stunden dauerte das Theaterereignis »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz«, und in dieser Zeit schritten die Darsteller von der Desaster-Theorie zur Desaster-Praxis. Erst sprach der Einzelmensch, dann wurde andächtig von einem Chor der Unfallopfer wie im antiken Theater die Anklage des menschlichen Größenwahns deklamiert und die mörderische Schönheit der Natur besungen, schließlich brach die Flut los. Aus einem großen Rohr und einem Bodenloch blubberte Wasser auf die Bühne des Kölner Schauspiels, mehr und mehr wurde die komplette Bühnenlandschaft zur Seenplatte. Zwei Schauspielerinnen hasteten durchs knöcheltief stehende Wasser zu Büroschreibtischen, um Aktenstapel in Sicherheit zu bringen, andere Akteure übten seltsame Ballettfiguren oder warfen sich beherzt den Wassermassen entgegen.
Komisch und traurig und berührend war dieser Theaterabend, zugleich aber auch eine freche, zornige Einmischung ins wirkliche Leben. Jelineks Texte laden ein zu ästhetischen Untergangsbildern und einem allgemeinen Lamento über die Schrecklichkeit der Welt, Karin Beiers Inszenierung aber bezog Stellung und machte klar: Nicht Verzweiflung, sondern Verantwortung war das Thema, das auf der Bühne verhandelt wurde. Mag die Dichterin Jelinek in ihren Texten den Umgang der Menschen mit der Natur als Frevel verhöhnen und das blinde Vertrauen, das viele in die Technik setzen, als Hybris geißeln, die Regisseurin Karin Beier machte die Attacke konkret: Schludrige Beamte, geldgierige Baufachleute, die Bosse der Stadtpolitik wurden als Täter und fahrlässige Verursacher der Katastrophe benannt.
So ließ Karin Beier in ihrer Aufführung zum Beispiel die Stimme des zur Zeit des Unglücks amtierenden Kölner CDU-Oberbürgermeisters Schramma einspielen, der eine mörderische »Naturgewalt« walten sah beim Unglück – und immer wenn im Theater Politikersätze aus den Lautsprechern klangen, hörte man während der Vorstellungen von »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« einzelne Zuschauer pfeifen, lachen und johlen.
Mit den Mitteln der Theaterkunst von den Missständen, Katastrophen und Glücksmomenten der realen Welt erzählen: das ist ein Ziel, das heutzutage viele Theaterregisseure beschwören. Kaum ein anderer unter den deutschsprachigen Theatermachern ist diesem Ziel in den vergangenen Jahren so nahgekommen wie die 1965 geborene Karin Beier. Sie hat in diesen Jahren ein Theater der Leidenschaft und der klugen Berechnung, der musikalischen Energie und des Aufbegehrens geschaffen, das von einer sympathischen Verspieltheit und großer Angriffslust angefeuert wird. Karin Beiers Theater fordert die Zuschauer intellektuell heraus und fängt sie zugleich ein mit einer das Pathos nicht scheuenden Überzeugungskraft.
Karin Beier ist eine Kämpferin. Rebellische Parolen allerdings sind ihr zuwider. »Es geht um eine Revitalisierung des Theaters, nicht um eine Revolutionierung«, hat sie einmal über ein Stück des italienischen Dichters Luigi Pirandello geschrieben, das sie im Jahr 2000 am Burgtheater in Wien inszenierte. »Die Fragen, denen man sich im Theater stellt, sind existenziell«, heißt es in diesem Text über Pirandello, »doch er formuliert sie spielerisch.« Das benennt sehr schön die Qualität, die Karin Beiers beste Inszenierungen auszeichnen. Mit den Mitteln des Spiels nähert sie sich den Grundfragen der menschlichen Existenz. Sie hat dem deutschen Theater eine Lebendigkeit und eine Vergnügungslust wiedergegeben, die ihm lange fehlten.
»Das Publikum soll überrascht, verstört, illusioniert und desillusioniert werden«, notierte Karin Beier damals über Pirandello, statt einer »Theaterrevolution als brachial-teutonischem Hirnprojekt« müsse man die Ideen dieses Autors eher mit den Waffen der Poesie und des Humors durchsetzen. Den deutschen Titel des Pirandello-Stücks »Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt« hatte Karin Beier in Wien durch einen neuen, anderen ersetzt – und dieser Titel passt ganz gut als Motto für die Arbeit dieser Theatermacherin insgesamt: »Mit Leidenschaft ist nicht zu spaßen«.
Das galt für Karin Beiers Inszenierung von »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« natürlich im Besonderen. Der Abend war ein sorgsam austariertes Kunststück aus ätzendem Humor, greller Todesverzweiflung und einem Rausch aus Erlösungsmusik. Am Ende stand ein kollektiver Theater-Glückstaumel: Auch nach gewöhnlichen Repertoire-Aufführungen der Inszenierung gab es oft minutenlang Applaus und großen Jubel.
Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die Regisseurin Karin Beier eine der wichtigsten, prägenden Theatermacherinnen der Gegenwart. Seit 2007 hat sie als Intendantin das Kölner Schauspiel geleitet, im Sommer 2013 beginnt ihre Amtszeit als Intendantin von Deutschlands größtem Sprechtheater, dem Hamburger Schauspielhaus.
Ihre Kunst als Regisseurin und ihr Geschick als Führungskraft in Köln haben ihr Lob und Preise und Ehrungen eingebracht. Die Inszenierung »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« riss auch viele Kritiker mit: Wegen dieser Aufführung wählte eine Mehrheit deutschsprachiger Theaterkritiker Karin Beier 2011 zum zweiten Mal in Folge zur »Regisseurin des Jahres«. Ihr Haus und die Inszenierung standen am Ende der Saison 2010/11 an der Spitze praktisch aller Umfrage-Hitlisten. Die Jelinek-Arbeit wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen und war auch dort ein Riesenerfolg.
»Theater muss Stellung beziehen«, lautet einer von Beiers Lieblingssätzen, ein anderer: »Theater muss laut sein«.
In Köln ist Beier ein spektakulärer Kraftakt gelungen. Als sie im Dezember 2005 in ihrer Heimatstadt am Rhein ihren Intendantenvertrag unterschrieb, war diese Entscheidung ein krasser Milieuwechsel. Er bedeutete, aus dem Glamourpalast der deutschsprachigen Theaterwelt direkt in deren Straflager umzuziehen. Zur Zeit ihrer Intendantenkür war sie fest engagiert am Wiener Burgtheater, der reichsten Bühne weit und breit. Ihren Vertrag als Hausregisseurin kündigte sie, um in Köln Schauspielchefin zu werden. Das galt als Höllenjob.
Von den wichtigen Politikern der Stadt Köln hieß es in vielen deutschen Feuilletons, sie seien besonders üble Kulturbanausen; vom Kölner Theater, es sei seit vielen Jahren in der Bedeutungslosigkeit versunken; vom Publikum, es sei entweder längst geflüchtet oder es ergötze sich lieber an harmlosen Theater-Liederabenden statt an anspruchsvoller Bühnenkunst.
»Wir setzen nicht auf Harmonie, sondern auf Risiko«, verkündete Beier, als es losging mit ihrer Kölner Intendanz. »Jeder soll sich bewusst sein, dass es auch anstrengende Kunst geben wird, die sich als Kassengift erweisen könnte.« In dieser Anfangszeit ihrer Intendanz vermutete sie, es werde mindestens zwei Jahre dauern, bis ihre Arbeit Früchte trage. Doch das Kölner Schauspiel schaffte es schneller, unter Beiers Führung wieder in die Liga der wichtigen Bühnen aufzusteigen.
Mit ihrer Arbeit auf der Bühne und im Intendantenbüro hat Karin Beier in der Stadt Köln künstlerisch für einen manchmal euphorischen Aufbruchsgeist gesorgt. Vielleicht noch mehr bewegt aber hat sie mit dem politischen Aufruhr, den sie entfesselte.
In ihrem Theaterjob hat sie praktisch vom Start weg mit eigenen Inszenierungen wie denen von Friedrich Hebbels »Nibelungen« oder Franz Grillparzers »Das Goldene Vlies« Kritiker und Zuschauer für sich eingenommen, und sie hat hochinteressante Theater-Erneuerer wie das dänische Künstlerduo Signa und die britische Regisseurin Katie Mitchell in ihr Haus geholt. Darüber hinaus aber schaffte es Karin Beier, zu einer Symbolfigur des demokratischen Bürgerprotests zu werden: In einem oft erbittert geführten Kampf trat sie an gegen das gigantische Bauprojekt, das den Abriss und Neubau des Schauspielhauses vorsah – und gemeinsam mit ihren Mitstreitern, zu denen eine umtriebige Bürgerinitiative gehörte, gelang es ihr tatsächlich, die Neubaupläne zu kippen.
Das ursprünglich von Kölner Künstlern und Politikern fast ausnahmslos bejubelte Neubauprojekt war aus Geldmangel von den Kölner Stadtchefs auf eine Sparversion geschrumpft worden, die im ersten Entwurf für Oper und Schauspiel gleichermaßen großzügig ausgelegte neue Behausung sollte in der abgespeckten Version durchgepaukt werden. Karin Beier wandte sich dagegen, weil das Sprechtheater in der vom Kölner Stadtrat beschlossenen Neubau-Sparversion nichts gewonnen hätte – und weil eine Sanierung des bestehenden Schauspielhauses ihr sinnvoller erschien und offensichtlich billiger war. Nach einer monatelangen turbulenten öffentlichen Debatte kassierte der Stadtrat im April 2010 seinen Bau-Entschluss und beschloss die Sanierung von Oper und Schauspiel.
Sie habe in Köln Dinge über Demokratie gelernt, die sie selbst überrascht hätten, sagt Karin Beier. »Ich habe vorher nicht gedacht, dass ein kleines Theater eine so große Kraft entwickeln kann.«
Davon will dieses Buch berichten: Von der Arbeit einer Regisseurin, die in den vergangenen Jahren hineingewachsen ist in die Rolle einer politischen Kämpferin. Von einer Künstlerin, die exemplarisch steht für eine Generation von Theaterleuten, die klug und selbstbewusst und leidenschaftlich für ein analytisch genaues, sinnliches Theater eintreten.
Viele der hochverdienten, großen Theatermacher, die in den 1980er-Jahren den Ton angaben im deutschsprachigen Theater, Peter Stein zum Beispiel oder Claus Peymann oder Andrea Breth, geben sich heute in ihren öffentlichen Auftritten und in ihren Theaterarbeiten so, als seien unsere Schauspielhäuser vor allem stets abwehrbereite Bastionen: Verteidigungsanlagen, aus denen scharf geschossen werden müsse gegen die Zumutungen der modernen Gesellschaft und gegen den Sparwillen der Politiker, die diese Bastionen nur zu gerne schleifen möchten.
Karin Beier und die besten Regisseure ihrer Generation setzen dieser Defensivkunst eine Haltung entgegen, die das Theater als bürgerlichen Marktplatz und attraktiven Aktionsraum versteht. Als einen Ort der zornigen Auseinandersetzung und der poetischen Gewalt, der es locker aufnehmen kann mit der Konkurrenz der elektronischen Medien und mit der Zudringlichkeit der Mächtigen. Sie begreifen das Theater als einen privilegierten, aber keineswegs hehren Schutzraum. Dessen Berechtigung muss nicht täglich durch plakative Kampfansagen neu bewiesen werden. Karin Beier vertraut wie viele aus ihrer Generation darauf, dass ihre Begeisterung, in der praktischen Arbeit Kunst und Engagement zu verbinden, den Wert der Institution Theater ganz von selbst erklärt und neu definiert.
Von dieser Begeisterung erzählt dieses Buch.
Inhaltsverzeichnis
Vortrag, gehalten am 30. November 2010 in der Universität Köln
Theater ist überflüssig. Theater ist überflüssig und teuer. Die deutsche Theaterlandschaft ist teuer und überflüssig und aus der Zeit gefallen. Da kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Warum aber treibt dann ein drohender Theaterabriss innerhalb kürzester Zeit 50.000 Bürger zur Unterschrift gegen einen Ratsbeschluss (der Stadt Wuppertal), warum lässt die Kürzung von Theaterzuschüssen einen stolzen Stadtstaat (Hamburg) plötzlich erbärmlich dastehen, warum besuchen Jahr für Jahr 300.000 Zuschauer die Kölner Bühnen? Was hält uns und unser Publikum fest an diesem Medium?
Geht es hier um betreutes Arbeiten für eine Horde lebensuntüchtiger Drückeberger? Geht es darum, dem Zuschauer ein vergrößertes Wohnzimmer mit Kostümen und Schmuck zu tapezieren? Geht es darum, sich vor den relevanten Dingen der Welt zu verkriechen, indem man sich den Eindruck der Teilhabe am Leben künstlich verschafft, an einem Ort des Als-ob? Oder geht es auf der Bühne darum, wie es Artaud einst formulierte, als Verbrennender vom Scheiterhaufen herab den Zuschauenden letzte Zeichen zu geben? Geht es um die verzweifelte heroische Geste oder um den ewigen Kindergarten?
Theater ist live. Das einzigartige Spezifikum des Theaters liegt auf der Hand. Der lebendige Moment, nicht medial vermittelt, nicht konserviert und nicht unendlich wiederholbar. Dazu ein paar Gedanken, die vielleicht Offensichtliches formulieren, aber dabei helfen sollen, sich einem Phänomen zu nähern.
Theater entsteht im Augenblick und ist im nächsten Moment auch wieder verschwunden. Oft denken wir, das sei schade, doch in Wirklichkeit ist es ein befreiender Sachverhalt. Denn seinetwegen muss man sich während der Arbeit nie die Frage stellen, was wohl die Nachwelt darüber denkt, oder ob das, was man tut, zukunftsträchtig ist oder nicht. Ähnliches gilt für die Vergangenheit. Theater benutzt zwar Stoffe der Vergangenheit, muss sich ihrer Geschichtlichkeit aber nicht verpflichtet fühlen. Das ist ein Privileg. Theater kann, sozusagen über dem Zeitkontinuum schwebend, unabhängig vom Prüfstand der Geschichte und unbelastet vom zukünftigen Urteil, sich in wüsten Behauptungen Abend für Abend immer neu erfinden. Diese Unabhängigkeit von Zukunft und Vergangenheit macht den Theatermacher und hoffentlich auch den Zuschauer unendlich frei. Frei für anarchistische Behauptungen und wilde Assoziationen, die vielleicht nur einen kleinen Augenblick Bestand haben, aber gerade deswegen ein neues Licht auf die Dinge werfen können.
Ich bin recht spät das erste Mal ins Theater gegangen. Da war ich schon 15, und es hat mein Leben verändert. Es ging auf der Bühne um eine jener Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn – und während die beiden Bühnenfiguren miteinander diskutierten, stritten, kämpften, wurde mein Verlangen immer größer, aufzuspringen und dazwischenzurufen: »Ja, ja, genau so ist es! Nein, nein, das stimmt doch gar nicht!« Der Impuls hat mich geradezu zerrissen, aufgewühlt, aus der Reserve gelockt. Das war eine Aufforderung: Du kannst eingreifen, du musst eingreifen! Mach es! Ruf was! Die Vereinbarung, dass das Publikum still zuschaut, während die da oben spielen, weckt im Theater die unbedingte Lust, sich einzumischen. So werden Affekte, Leidenschaften, Gedankenprozesse, Erregungen evoziert und provoziert, wie, so scheint mir, an keinem anderen Ort.
Nach diesem ersten Theaterabend folgte eine lange Bahnfahrt mit der KVB. Ich saß da mit meinen Freundinnen, wir waren aufgewühlt und redeten die armen anderen Fahrgäste schwindelig. Keiner kann das Theater verlassen und einfach schweigen: Man muss darüber reden. Und sei es nur, um seinem Ärger Luft zu machen. Kein anderes Medium zwingt einen so sehr zum Reden wie das Theater. An der Endhaltestelle der Linie 1 hatten wir damals 15-Jährigen die Erfahrung gemacht, dass ästhetische und intellektuelle Auseinandersetzungen extrem lustvolle Vorgänge sind. Dass sie unglaublichen Spaß machen und einen unfassbar reich beschenken. Ich behaupte, dass dieser Genuss mein Leben extrem beeinflusst hat, ich meine die Diskussion, die damit verbundene Bildung und die Hinterfragung von Werten. Theater spiegelt nicht die Gesellschaft, es hinterfragt und kommentiert sie. Vor allen Dingen aber fordert das Theater den Zuschauer zu einem Kommentar heraus.
Der Live-Moment des Theaters birgt glücklicherweise ein hohes Maß an Unkontrollierbarem, aufseiten der Spieler und aufseiten der Zuschauer. Und da fängt der Spaß erst richtig an. Das Faszinierende an meinem Beruf sind ja nicht allein die hehren Gründe, die Bildung, die Reflexion, die Lust an der Auseinandersetzung. Das ist alles sehr wichtig, aber darüber hinaus gibt es die dunklen Ecken, Gassen und Zimmer. Wirklich spannend wird es, wenn das Theater an unsere niederen Instinkte rührt, wirklich spannend ist die Verbindung des Geistigen mit der Ursuppe, mit dem Chtonischen, mit dem Schlamm, mit dem Matsch.
Tatsächlich ist es doch so, dass wir alle über ein großes Maß an Gewaltbereitschaft, an Destruktivität, an Bösartigkeit, an Rohem, an Krudem, an Schmutzig-Hässlichem und wirklich Gemeinem verfügen. Da schlummert eine große Kraft in uns und oft genug eine große Lust– oder nicht? Wo normalerweise Wahnsinn und Gefängnis die Folge wären, kann ich im geschützten Raum des Theaters darauf hoffen, die Kontrolle zu verlieren, mit anderen zusammen, ich kann die Schauspieler für mich schwitzen lassen und darauf setzen, dass etwas anders läuft an diesem Abend als sonst. Das kathartische Potenzial solcher Momente ist offensichtlich.
Theater wirkt auf Geist, Geschlecht und Gedärm. Schönheit und Grauen sind dabei kein Gegensatzpaar. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Nichts ist berauschender als das Erschrecken. Das Dunkle, Unkontrollierbare, Rauschhafte mischt sich mit der Lust am Geistigen, Sprachlichen, Anstrengenden – diese Mischung ist es, die mich seit zwei Jahrzehnten an das Theater fesselt. Sie macht den Theatermacher frei. Und den Zuschauer hoffentlich auch.
Seien wir politisch unkorrekt! Das Theater erlaubt mir, wissenschaftlich sträflich unpräzise, moralisch anrüchig und halbseiden zu sein. Wo sonst kann ich rauschhaft, triebhaft, intelligent, böse, politisch unkorrekt, politisch korrekt, sinnlich, unverschämt, lächerlich und – jetzt kommt das Allerbeste – frei von Instanzen sein. Theater hat und schenkt diese Freiheit, die es beispielsweise Christoph Schlingensief gestattete, eines seiner Projekte »Ausländer raus« zu taufen; und dies war bei aller Obszönität ein Ausdruck großer künstlerischer Integrität. Oder auch Ausdruck maßloser Boshaftigkeit – eines Impulses, der auch mich bereit machen könnte, mich als Oberhexe an die Spitze einer Bewegung zu stellen.
Theater darf alles aus dem Kontext reißen, darf gleichzeitig »Hosianna!« und »Kreuziget ihn!« rufen. Und wenn alle Stricke reißen, hat Theater sogar die Freiheit, sich ganz einfach des gesunden Menschenverstands zu bedienen. Eine Freiheit, die es sonst in unserer Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft, so ohne Weiteres nicht gibt. Mit jedem Muster, jedem Modell, jedem System darf das Theater krude umgehen.
Natürlich müssen wir dem Theater auch gestatten, unperfekt, fragwürdig, unkorrekt zu bleiben. Das gilt auch für meine eigene Arbeit, zum Beispiel für die Aufführung »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen«. Der Zuschauer sieht sich darin mit gesellschaftlichen Außenseitern konfrontiert, die in einem schalldichten Glascontainer ihren Alltagsgeschäften nachgehen.
Wie einfach wäre es gewesen, süffisant zu konstatieren, es wirke politisch doch vollkommen unglaubwürdig, wenn Stadttheaterschauspieler Underdogs mimen, wenn die bürgerliche Kunstform Theater den Eindruck erweckt, sie wolle intimen Einblick gewähren in die Abgründe des Sozialen. Wie einfach wäre es gewesen, die theatralen Details auf ihre naturalistische Plausibilität zu befragen – bei diesem Unterfangen wäre allein die Bühnenbildkonzeption schon auf Anhieb durchgefallen. Oder haben Sie schon mal irgendwo auf der Welt gesehen, dass so viele Leute in einem schalldichten Glascontainer leben? Da hätte man auch schnell auf die Vermutung verfallen können, dass sich die Regisseurin diesen schalldichten Raum für ihre Schauspieler nur deshalb hat bauen lassen, weil sie die Widerworte der Kollegen einfach nicht mehr ertragen konnte. Eine Vermutung, die ich natürlich weit von mir weise.
Jenseits aller Bedenkenträgerei müssen wir dem Theater eine Freiheit zugestehen, die erst die Räume öffnet für Reflexionen über unsere privilegierte Stellung, also zum Beispiel über unseren vielleicht voyeuristischen Abstand zu den Ausgestellten, Ausgegrenzten, Abstoßenden und Abgestoßenen.
Wenn Theater schlecht ist, trifft das den Zuschauer wirklich schlimm. Natürlich leidet auch der Restaurantbesucher, wenn das Essen versalzen ist, oder der Romanleser, wenn der Ausdruck verquast ist. Aber ein schlechter Theaterabend setzt uns mehr zu, er wirkt wie Pest und Cholera zugleich.
Theater nervt. Theater ist laut. Das muss so sein – aber weil es so ist, kann man sich nirgendwo so schrecklich langweilen wie im Theater.
Was passiert eigentlich, wenn ein Theaterabend gelingt? Das persönliche Erlebnis, der Drang aufzustehen, dazwischenzurufen, sich einzumischen und zugleich die Selbstdisziplin, gerade das nicht zu tun – all das ermöglicht uns die Begegnung mit der dunklen Seite der menschlichen Existenz, der Lust an Anarchie, an Debattenstreit und Walpurgisnacht. Wo das gelingt, da tanzen Apoll und Dionysos zur Feier des Theaterabends auf der Bühne und im Theatersaal einen ekstatischen Tanz der Götter, einen Pas des deux dieux.
In diesem Tanz wird der Abgrund sichtbar, der so dicht unter der dünnen Eisdecke lauert, auf der unsere bürgerliche Wohlanständigkeit daherschlittert. Er löst Erschrecken aus vor dem eigenen Spiegelbild, ein Erschrecken, das die Kraft für den Versuch eines Ganz-Anderen spenden kann, für die Suche nach den Grundlagen des Universums.
Nach den Grundlagen des Universums suchen? Nach dem Ganz-Anderen? Da ist er wieder, der Hang zur heroischen Geste, oder auch nur: zum vorlauten Ton. Theater ist unausgegoren. Nichts ist bis ins Letzte ausformuliert, durchdacht, gestaltet. Immer bleiben schlimme Verzerrungen, Unschärfen, Nebelwände. Kann man also mit unscharfem Blick nach den Grundlagen des Universums suchen, nach dem Ganz-Anderen – und kann das mehr sein als ein lächerliches Scheitern? Vielleicht nicht. Aber vielleicht ist der Mut, die Freiheit zur Lächerlichkeit ja auch wieder so ein heroischer, kindlicher Anlauf. Vielleicht steckt dahinter ja die Hoffnung, dass gerade die Unschärfen dem individuellen Blick erlauben, immer neue Entdeckungen zu machen.
Der Clou an der Sache aber ist, der kulturgeschichtliche Salto mortale sozusagen: Das Theater kann keine Gründe geltend machen und es muss auch keine Gründe geltend machen, Theater rechnet sich nicht und es muss sich nicht rechnen – in einer Welt, in der sich alles rechnen soll. Theater erlaubt sich das lächerliche Scheitern, wo nichts scheitern darf. Sein Überflüssigsein ist sein Überfluss, seine Aufgabe. Daraus erwächst sein Potenzial der Freiheit, sein unersetzbares Privileg, das eine große zivilisatorische Errungenschaft ist. Die heroische Geste ist nur möglich, weil sie in einem ewigen Kindergarten stattfindet.
Inhaltsverzeichnis
Anfänge: Wie Karin Beier als Schülerin und Studentin das Theater entdeckte
Wer nach lebendigem Theater sucht, der darf sich vor dem Schweiß und dem Lärm und dem Gestank der Straße nicht fürchten, hat der berühmte britische Regisseur Peter Brook geschrieben. Ob in Kaschemmen, in Lagerhallen oder in verlassenen Kirchen, gerade dort »ereignen sich die vitalsten theatralischen Ereignisse« – weit jenseits »der legitimen Orte, die eigens dafür geschaffen sind«, befand Brook in seinem Buch »Der leere Raum« aus dem Jahr 1968: einem Buch, das mehrere Generationen von Theatermachern stark beeinflusst hat im Kampf um eine möglichst direkte, herzergreifende, lässige Bühnenkunst.
Brooks Überzeugung, dass nicht in den edel ausstaffierten Schauspielhäusern die glücklichsten Zuschauererfahrungen zu machen seien, sondern in Wirtshaus-Hinterzimmern, in Gotteshäusern und Scheunen, wurde in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren von vielen jungen Theatermachern geteilt. Auch in Deutschland, zumal in den Großstädten Berlin, München, Hamburg und Köln, gründeten sich in dieser Zeit Dutzende von Bühnenunternehmen und Gruppierungen, die sich freie Theater oder Off-Theater nannten. Die Darsteller und Regisseure arbeiteten dort jenseits der etablierten städtischen und staatlichen Bühnen; manche suchten sich für ihre Aufführungen tatsächlich ungewöhnliche Orte; viele der vorgeblich freien Theaterkünstler aber bemühten sich im Lauf der eigenen Professionalisierung bald selbst um regelmäßige öffentliche Unterstützung, eiferten bei der Suche nach materieller Sicherheit also den einst verachteten Subventionsbühnen nach.