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Für die meisten Menschen ist Vivien einfach nur verrückt. Für Professor Peter Ullrich ist sie jedoch völlig normal und doch etwas ganz Besonderes: Er glaubt, dass bei ihrer letzten Wiedergeburt etwas schief gelaufen ist. Ihr Gedächtnis wurde nicht vollständig gelöscht. So tauchten nach dem tragischen Unfalltod ihrer Mutter wieder Erinnerungen an eine Zeit auf, an die sie sich eigentlich gar nicht erinnern dürfte. Zumindest nicht hier auf diesem Planeten. ›Gruselig, tiefgründig, spannend.‹ Badische Zeitung
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Seitenzahl: 662
Klaus-Peter Wolf
Karma-Attacke
Roman
Fischer e-books
Ich möchte der Reinkarnationstherapeutin Victoria Stratenwerth danken, von der ich viel über Reinkarnation und Rückführungen gelernt habe, und Annette Liebrenz, die mich bei der abenteuerlichen Reise in die Abgründe menschlicher Seelen begleitet hat.
Für die meisten Menschen war Vivien einfach nur verrückt. Für Professor Peter Ullrich dagegen war sie ein Lichtwesen wie wir alle. Nur dass bei ihrer letzten Wiedergeburt etwas schief gelaufen war. Ihr Gedächtnis war nicht vollständig gelöscht worden. Sie war nicht wie andere Neugeborene aus dem Nichts gekommen, in das wir alle immer wieder kommen und gehen, sondern sie hatte ihr Leben mit Erinnerungen an eine schreckliche Vergangenheit begonnen, die es eigentlich gar nicht gegeben haben konnte. Zumindest nicht auf diesem Planeten.
Professor Ullrich interessierte sich besonders für Kinder, die in einer anderen Welt zu leben schienen. Er sammelte sie wie andere Wissenschaftler Krebsgewebe oder Schlangengifte. Er studierte sie. Und er hoffte, dabei mehr über sich selbst zu erfahren.
Vivien war schon seit drei Jahren bei ihm im Landeskrankenhaus, in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Hier war er ein Gott, und er würde Vivien nie, nie hier herauslassen. Denn ihre Erinnerungen waren klarer, als er es je bei einem Patienten erlebt hatte. Sie war für ihn wie eine gigantische unterirdische Bibliothek, für die nur er einen Leihausweis besaß.
Er zog immer wieder wahllos Bücher heraus, schmökerte darin herum und las sich bis zur Erschöpfung fest. Beim nächsten Besuch entdeckte er einen Raum mit anderen Bücherregalen, wieder mit ein paar tausend Bänden. In jedem weitere neue, aufregende Aspekte des Seins. Doch egal wie viel Zeit er in seiner Bibliothek verbrachte, sein Leben würde nicht ausreichen, um alle Bücher zu lesen, geschweige denn zu speichern und auszuwerten. Er musste systematisch vorgehen. Er sagte es sich jeden Tag. Aber bei jeder neuen Begegnung mit Vivien erlag er ihrer Faszination sofort.
Schon ein paar Mal war er kurz davor gewesen, eine Kollegin hinzuzuziehen. Er hatte die bekannte Reinkarnationstherapeutin Brigitte Zablonski sogar schon zum Gedankenaustausch ins Da Capo eingeladen. Doch im letzten Moment war er eifersüchtig vor der Vorstellung zurückgeschreckt, jemand anderem Zugang zu seiner Quelle zu gewähren. Am meisten fürchtete er, Vivien könnte plötzlich nicht mehr ihm allein gehören, sondern wissenschaftliches Allgemeingut werden. Also widerlegbar.
Er stellte sich vor, wie seine Kollegen sie genüsslich Schicht für Schicht auseinander nahmen, sah vor sich, wie sie alles in den Schmutz zogen, was nicht in ihr engmaschiges Weltbild passte. In seinen Augen waren sie erkenntnistheoretische Dünnbrettbohrer, kaum in der Lage, ihre eigene Existenz hier und jetzt zu begreifen. Wie sollten sie akzeptieren können, dass es ein Wesen wie Vivien gab?
Für den Professor stand fest, dass wir alle Lichtwesen sind wie Vivien, dass wir uns nur normalerweise kaum an das erinnern, was vor unserer Geburt geschah. Konnte jemand das doch, nannte man seine Erinnerungen Träume oder Fantasien - oder, falls sie heftiger wurden, Wahnvorstellungen. Es gab Tabletten dagegen und ausgefeilte Behandlungsmethoden. Statt die Chance zu ergreifen, die in den aufblitzenden Spuren aus unserer Vergangenheit lag, wurden die Menschen, die sich erinnerten, hospitalisiert oder man banalisierte alles.
Professor Ullrich hatte Vivien schon sooft hypnotisiert, dass sie manchmal bereits in den Zustand versank, wenn sie nur seine Stimme hörte.
Er konnte sehr großzügig sein. Zum fünfzehnten Geburtstag hatte er ihr eine wunderschöne chinesische Kladde geschenkt, sodass sie nicht mehr die kleinen Schulhefte voll schmieren musste. Den neuen Kolbenfüller mit Goldfeder benutzte sie fast nie, aber sie schrieb mindestens einen Filzstift pro Woche leer. Professor Ullrich unterstützte ihren Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Er lobte ihr Talent. Er las jeden Satz, den sie schrieb. Besonders ihren Thara-Roman mochte er.
Manchmal aber gruselte sich Vivien vor dem Professor. Sie hatte die Putzfrauen bei einem Gespräch über ihn belauscht. Zum Beispiel durften sie Viviens Papierkorb nicht in den Müll ausleeren, alles musste dem Professor gebracht werden. Die alte, dicke Marga mit den rosigen Wangen, die von sich behauptete, hier im Landeskrankenhaus zum Inventar zu gehören, hatte lauthals über ihn gespottet. Er habe doch selbst einen Haschmich - wie alle Psychologen. Sie könne sich ein Urteil erlauben, sie habe schließlich viele kommen und gehen sehen, aber keiner sei so abgedreht gewesen wie Professor Ullrich. Trotzdem nannte sie ihn, wie die meisten hier, nur respektvoll den Chef.
Einmal hatte Vivien in seinen Akten ein aus dem Schulheft herausgerissenes, zerknülltes Stück kariertes Papier gefunden, das auf ein DIN-A4-Blatt geklebt und unter Klarsichtfolie abgeheftet worden war. Die roten Kringel und Pfeile waren von ihm. In seiner verkrochenen, krakeligen Schrift hatte er ein paar Bemerkungen hinzugefügt. Diese Fetzen mussten tatsächlich aus ihrem Papierkorb stammen. Vivien hatte sich vorgestellt, wie er sie bügelte und zu entziffern versuchte. Sie verstand nicht, was an ihr so interessant sein sollte, aber manchmal genoss sie, dass es so war. Sie hatte so etwas wie Macht über ihn. Je mehr sie schrieb und erzählte, desto glücklicher machte sie ihn. Zog sie sich ins Schweigen zurück, konnte er seine Verzweiflung nur schwer verbergen.
Natürlich hatte sie ein Einzelzimmer in Trakt B, eine bunte Oase in diesem grauen Gebäude. Sie besaß einen Fernseher mit Kabelanschluss und einen Videorecorder. Sie durfte gucken, was sie wollte, allerdings hatte die Schwester die Fernbedienung, und manuell war der Kasten nicht zu bedienen. Jedes Mal wenn Vivien in ein anderes Programm umschalten wollte, musste sie die Schwester rufen, und die Schwester hatte genau zu protokollieren, welche Sendungen Vivien sich ansah. Eine Anweisung vom Chef persönlich.
Wenn Vivien die Schwester ärgern wollte - und Schwester Inge ärgerte sie besonders gern -, dann verlangte sie zehnmal am Abend nach einem Programmwechsel. Schwester Inge war eine blöde Ziege, und Vivien genoss es, ihr Arbeit zu machen. Sie konnte ruhig eine schiefe Schnute ziehen oder patzige Bemerkungen machen - Schwester Inge tat, was Vivien verlangte, und schrieb alles auf, denn es machte keinen Sinn, sich gegen Professor Ullrichs Anweisungen aufzulehnen. Zumindest nicht, wenn man seinen Job behalten wollte. Und Schwester Inge war als allein erziehende Mutter auf diese Stelle angewiesen.
Einmal, ein einziges Mal, hatte Schwester Inge eine spitze Bemerkung gewagt. «Wenn Sie mich fragen, die Göre braucht keine Therapie. Was die nötig hat, sind ein paar Ohrfeigen», hatte sie gesagt.
Professor Ullrich hatte sie eisig angestarrt und schließlich gezischt: «Sie fragt aber keiner!» Seither tat er, als sei die Sache erledigt, doch Schwester Inge wusste, er wartete nur darauf, dass sie einen Fehler machte. Er würde gnadenlos dafür sorgen, dass sie gehen musste, wenn sie ihm auch nur den kleinsten Anlass lieferte.
Sie hoffte, sich wieder bei ihm einschmeicheln zu können, und zwar über Vivien. Irgendwann würde das Mädchen versuchen, sich der Kontrolle des Professors zu entziehen. Auf diesen Moment wartete Schwester Inge. Wenn es ihr gelang, ihm eine Information über Vivien zu geben, die ihm anders nicht zugänglich war, dann könnte sie vielleicht sogar die Stationsleitung bekommen ...
Es hing also alles von Vivien ab.
Schwester Inge hasste diese unmögliche Göre. Sie war genauso alt wie ihre Tochter Julia. Aber Vivien beherrschte sie. Wie viele Ohrfeigen, die eigentlich Vivien galten, hatte Julia in den letzten Jahren einstecken müssen?
Den Gedanken, sich über Professor Ullrich zu beschweren, hatte Schwester Inge längst aufgegeben. Sie hatte Frau Dr.Sabrina Schumann, die Verwaltungsdirektorin, nur einmal in seiner Gegenwart erlebt und sofort begriffen, dass diese Frau dem Professor auf eine irre Art verfallen war. Jedenfalls konnte sie von ihr keine Hilfe erwarten.
Auf Professor Peter Ullrichs Schreibtisch lagen grob geknetete Figuren aus Ton. Sie hatten die Form von Föten. Besucher gingen automatisch davon aus, dass es sich um Geschenke eines Patienten handelte. Missglückte Versuche einer gequälten Seele aus der Beschäftigungs- oder Spieltherapie.
Der Professor ließ die Leute in dem Glauben. Aber er hatte die Figuren selbst geformt. Jedes Mal, wenn er sie ansah, erschrak er, und doch fand er sie vertraut. Vorsichtig berührte er eine gekrümmte, aufgeplatzte Gestalt. Sie kam ihm bestürzend lebendig vor. Etwas Böses ging von diesen Figuren aus. Er selbst hatte sie geschaffen, doch es kam ihm so vor, als hassten sie ihn. Wenn sie sich aus ihrer Erstarrung lösen könnten, würden sie mich angreifen, dachte er und zog den Finger unwillkürlich zurück. Er bewahrte längst nicht alle Figuren im Büro auf. Die schlimmsten Fratzen lagen zu Hause in der Tiefkühltruhe, neben den kopflosen Hechten und aufgeschnittenen Forellen.
Gern sah er seinen Fingern beim Kneten zu. Sie waren dann wie selbstständige, von ihm unabhängige kleine Wesen. Er registrierte lediglich ihr Tun, als sei das Ganze ein wissenschaftlicher Versuch. Eine interessante Testreihe: Was machen die Hände von Professor Ullrich, wenn er sie einfach sich selbst überlässt?
Seine Fingerkuppen kamen ihm empfindlicher vor als seine Lippen. Sein Tastsinn war so ausgeprägt, als habe er ewig lange in völliger Dunkelheit und Stille verbracht. Ganz auf Berührung angewiesen, um die Welt zu erfahren. Wie andere Zigaretten oder Lutschbonbons bei sich tragen, hatte er immer Knetgummi in der rechten Westentasche. Wenn er nichts knetete, hatte er etwas anderes zwischen den Fingern. Kronkorken. Büroklammern. Bleistifte. Papierkügelchen. Mit irgendetwas musste er immer spielen. Es war kein nervöses Herumfingern. Mehr ein meditativer Akt. Als könnte er Ruhe und Kraft aus den Dingen saugen. Als würde er sich mehr durch seine Fingerkuppen ernähren als durch Mund und Speiseröhre.
Seine Fingernägel waren stets gepflegt. Er reinigte sie mehrmals am Tag mit einer speziellen, nicht zu harten Nagelbürste unter klarem Wasser und feilte sie in eine ovale, fast spitz zulaufende Form. Bei dem Gedanken, eine Nagelschere zu verwenden, schauderte er. Er konnte auch anderen Menschen nicht dabei zusehen. Es war für ihn, als würden Gliedmaße abgeschnitten.
In seinem Arbeitszimmer hingen Vergrößerungen seiner Fingerabdrücke in Schwarz, Blau und Rot an der Wand. Als hätte Andy Warhol sich nicht mit dem Gesicht von Marilyn befasst, sondern mit den Daumenabdrücken von Professor Ullrich. Sie waren fußballgroß. Es hatte etwas von Kunst und zugleich etwas von einer Fahndungsakte an sich. Er drehte seinen Ledersessel und betrachtete die zerklüfteten Landschaften. Wie ausgetrocknete Flussbetten, verschlungen und labyrinthisch. So ähnlich stellte er sich Thara vor. Den Ort, von dem Vivien kam und über den sie mehr wusste als irgendein anderes Lebewesen im Jetzt.
Langsam griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Monitor ein. Da war sie: Vivien. Endlich schrieb sie wieder. Ihr Körper krümmte sich über das Papier, als müsse sie die Sätze aus sich herauspressen. Auf dem Bildschirm glich sie auf fatale Weise in Größe und Form den tönernen Figuren. Sie sah genauso gequält aus, nur hielt ihre Haut sie noch zusammen. Das Innere platzte nicht einfach aus ihr heraus.
Sie atmete schwer. Wenn sie über Thara redete oder schrieb, wurde sie oft asthmatisch. Dann durchzogen rote Äderchen das Weiße in ihren Augen. Ihr Blutdruck stieg auf 180 zu 220, der Puls raste. Professor Ullrich hatte ihn oft gemessen. Besonders nachts, um sie wecken zu können, wenn sie wieder in Thara war. Doch meist war sie dann verwirrt und ängstlich, und ihre Berichte gaben nicht viel her. Inzwischen verzichtete er ganz auf solche Messungen. Was sagten sie schon aus? Körperreaktionen, mehr nicht.
Er switchte auf Bildausschnitt. Am liebsten würde er direkt mitlesen, was sie schrieb, aber ihre vorgebeugte Schulter verbarg den Text. Ihre Haare glänzten kupferfarben, reflektierten das zu helle Neonlicht. Vivien veränderte ihre Haarfarbe alle paar Tage, so als suche sie noch nach der richtigen. Mit Tönungen oder Henna konnte er ihr immer eine Freude machen. Er hatte sie schon mit grünen, blauen und blonden Haaren gesehen, aber Rot war ihre absolute Lieblingsfarbe. Sie probierte eine Schattierung nach der anderen aus.
Die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch knisterte und piepste. Frau Dr.Sabrina Schumann wollte ihn sprechen, dringend. Er grollte. Alles war immer dringend. Wahrscheinlich wollte nur irgendein Krankenhausfuzzi die Belegdaten diskutieren. Wie sehr er diese Typen mit ihrem Halbwissen und ihrer Macht hasste! Statt sich seinen Patienten zu widmen, musste er mit diesen Trotteln Smalltalk halten, damit die Mittel nicht gekürzt wurden. Wie viele Stunden seines Lebens hatte er damit verbracht? Würden die auch nur erahnen, welch bedeutende Forschungen sie mit ihrem Geschwätz unterbrachen, sie würden sich vor Angst und Scham die Pulsadern öffnen.
Das alles sagte er natürlich nicht. Er hatte sich im Griff, war freundlich wie immer. Doch Sabrina Schumann erkannte seinen Unmut. Sie hatte gelernt, bei ihm auf die Zwischentöne zu lauschen.
«Bitte», sagte sie, «hier ist Vivien Schneiders Vater. Er will sie ...»
Professor Ullrich reagierte, als habe die Sintflut die Wände seines Büros eingedrückt. Er sprang zum Fenster, riss es auf und wählte den kürzesten Weg zum Verwaltungsgebäude. Quer durch den Garten.
Schwester Inge beobachtete ihn. Sie stieß Marga Vollmers, die dicke Putzfrau, an. Sie nickten einander zu. Der hatte sie nicht alle, das war sonnenklar. Inge regte sich noch auf über ihn, für Marga stand längst fest, dass er sein Büro bald gegen ein Zimmer in der Geschlossenen eintauschen würde, wenn er so weitermachte.
Peter Ullrich war ein kleiner, drahtiger Mann. Hinter seinem Schreibtisch wirkte er feingliedrig und vergeistigt. Gar nicht wie Mitte fünfzig, eher wie jemand, der ohne ersichtlichen Grund aufgehört hat zu altern. Er konnte zwischen fünfunddreißig und sechzig sein. Wie er jetzt mit vorgerecktem Kopf über die Wiese jagte, hatte er nichts Akademisches mehr an sich. Er trug das Hemd offen über der Hose. Nur die letzten Knöpfe waren geschlossen. Er trug Hemden wie andere Menschen Kittel. So lief er im Sommer wie im Winter herum. Er fror nie. Krawatten waren ihm ein Gräuel. Er fühlte sich schon, als sollte er erdrosselt werden, wenn er auf Wunsch der Klinikleitung bei einer Fachkonferenz nur den obersten Knopf am Hemd schließen musste.
Vor der Tür zum Verwaltungsgebäude stoppte er abrupt und walkte sein Gesicht. Die Bartstoppeln erinnerten ihn daran, dass er letzte Nacht nicht zu Hause verbracht, sondern über Viviens Aufzeichnungen gesessen hatte. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er machte sich gerade und versuchte zu lächeln. Dann erst trat er ein.
Die Verwaltungsdirektorin begrüßte er mit einem kurzen Nicken. Sie federte von ihrem Stuhl hoch, überprüfte mit einem raschen Blick in den Spiegel den Sitz ihrer neuen Frisur und strich den knapp sitzenden Rock ihres hellgrauen Kostüms glatt. Eigentlich hatte sie Größe 42. Doch sie versuchte, sich in 38 hineinzuhungern. Der Rock hatte 40 und saß spack. Seit Professor Ullrich ihr einmal ein Kompliment über ihre Beine gemacht hatte, war sie nie wieder im Hosenanzug in die Klinik gegangen. Sie trug nur noch Röcke oder Kleider und trainierte ihre Beine auf dem Fahrrad.
Der Professor bemerkte nicht einmal, dass die grauen Strähnchen frisch getönt waren. Er taxierte Viviens Vater.
Richard Schneider hatte einen vorstehenden, kantigen Unterkiefer. Professor Ullrich dachte sofort an den Gebrauch von Steroiden. Allerdings passte der Rest des Körpers nicht dazu. Er wirkte durchaus muskulös, aber keineswegs aufgebläht.
Schneider hatte blassblaue, leicht getrübte Augen, und den misstrauischen Blick kannte Professor Ullrich von Vivien. Der ganze Mann strahlte etwas Gehetztes aus. Sein Anzug war leicht zerknittert. Er trug sein Handy am Gürtel wie eine schussbereite Waffe. Sein Händedruck war lasch. Kraftlos hielt er die Hand hin wie ein totes, feuchtes Stück Fleisch. Professor Ullrich packte extra energisch zu; Schneider sollte gleich merken, mit wem er es zu tun hatte. Der Mann war aufgewühlt und unsicher. Eine explosive Mischung aus Tatendrang und schlechtem Gewissen. Als Professor Ullrich seine Hand zurückzog, glaubte er das Nikotin zu spüren, das zwischen Schneiders Zeige- und Mittelfinger die Haut gelb gefärbt hatte. Er holte sein Stofftaschentuch hervor und wischte sich die Finger ab.
Frau Dr.Sabrina Schumann straffte sich - Brust raus, Bauch rein -, warf die Haare zurück und versuchte zu vermitteln, bevor der Streit begann. «Herr Schneider möchte seine Tochter sehen und, wenn es geht, übers Wochenende mit nach Hause nehmen.» Sie versuchte ein verbindliches Lächeln. Keiner der Männer reagierte darauf, so künstlich wirkte es. Sie fuhr fort, als könne sie mit ihrem Redefluss die drohende Katastrophe aufhalten: «Herr Schneider ist in unsere Nähe gezogen, damit er den Kontakt zu Vivien in Zukunft besser halten kann. Wie wir alle wissen, war er in der letzten Zeit beruflich und familiär in einer angespannten Lage und konnte sich leider nicht so intensiv um seine Tochter kümmern, wie es aus therapeutischer Sicht vielleicht nötig gewesen wäre.»
Richard Schneider kaute schuldbewusst auf der Unterlippe und starrte seine Schuhspitzen an. Das Leder war brüchig und hatte ein paar feine Risse, die ihm jetzt erst auffielen. Die Schuhe waren nicht schmutzig, sie sahen alt aus. Billig. Abgetragen. Die von Professor Ullrich waren weich, bequem, edel.
Professor Ullrich drehte das Taschentuch zu einem Strick zusammen. Die Schlinge zog sich um seinen Daumen fest. Dr.Sabrina Schumann konnte den Blick nicht von dem geknebelten Daumen wenden. Sie hörte im Geiste schon das Knirschen gebrochener Knöchelchen und versuchte, das Geräusch zu übertönen. Ihr hysterisch heiserer Redefluss wurde durch Professor Ullrichs schneidende Stimme unterbrochen: «Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage!»
Frau Dr.Schumann stöhnte und sah den Professor flehend an. Richard Schneider schaute auf, tat, als hätte er nicht verstanden. «Wie?»
Professor Ullrich ließ das Taschentuch los. Es kräuselte sich gegen die Drehung wie eine Schlange, die sich in dem Daumen festgebissen hatte. Bevor es auf den Boden fallen konnte, knüllte er es zusammen und steckte es ein. Dabei sah er Viviens Vater unverwandt in die Augen. Es war wie ein Duell. Wer zuerst wegguckte, hatte verloren.
«Wie lange haben Sie sich nicht um Vivien gekümmert? Ein Jahr? Zwei Jahre? Drei?» Professor Ullrich wusste es genau. Er hatte jeden Tag gezählt; es waren 992.
Schneider antwortete: «Ja. Ja, Sie haben Recht. Es waren fast drei Jahre. Aber es hat sich viel geändert. Ich habe mich gefangen. Ich ...»
«Herr Schneider hat eine Therapie gemacht...», warf Frau Dr.Schumann ein. Unter ihrem Mieder begann die Haut zu jucken. Sie hätte sich gern gekratzt oder, besser noch, heiß geduscht.
Professor Ullrich nickte Schneider höhnisch zu. «Wie schön für Sie. Herzlichen Glückwunsch.»
« ... hat wieder geheiratet und ...»
«Und jetzt fehlt ihm zum Familienglück nur noch ein Kind, was?»
«Ich bin ihr Vater», stellte Richard Schneider fest, als hätte das irgendjemand bezweifelt. Er hielt dem Blick nicht länger stand.
Mit einer so schnellen Kapitulation hatte Professor Ullrich gar nicht gerechnet. Er setzte sofort nach: «Ich muss Ihnen zugute halten, dass Sie keine Ahnung haben. Vivien ist in einer psychisch äußerst labilen Situation. Das schöne Familienwochenende könnte anders verlaufen, als Sie es planen. Vielleicht isst sie mit Ihnen zu Abend. Scherzt, lacht - und dann verändert sich plötzlich ihr Blick.» Professor Ullrich machte es vor und Schneider wich unwillkürlich zurück. «Sie denken, dass sie sich ängstigt oder über etwas ärgert - aber sie hält Sie für einen Hillruc. Sie schreit Sie an, Sie sollen sie nicht anfassen. Dann nimmt sie das Brotmesser vom Tisch und sticht auf Sie ein, bis Sie sich nicht mehr bewegen.»
In der geschlossenen Abteilung brüllte ein Verzweifelter. Der weit entfernte Schrei drang durch die Scheiben in den stillen Verwaltungstrakt. Es klang unwirklich.
Mit belegter Stimme fragte Richard Schneider: «Was ist ein Hillruc?»
Professor Ullrich wandte sich ab und machte eine wegwerfende Geste. Seine Miene sagte: Das kapieren Sie sowieso nicht, doch er erklärte: «Eine Art Teufel.»
Schneider fingerte die letzte Zigarette aus seiner Packung und faltete die leere Schachtel zusammen wie ein gebügeltes Hemd. In diesem Raum war das Rauchen nicht gestattet. Zwei Schilder wiesen darauf hin, aber Frau Dr.Sabrina Schumann sah jetzt darüber hinweg.
«Was Vivien braucht», erklärte Professor Ullrich mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, «ist die Stabilität einer kontinuierlichen Beziehung. Das ist für sie so etwas wie eine Rettungsboje auf hoher See. Wenn sie aus dem Dunkel auftaucht, muss jemand da sein. Immer. Diese Sicherheit haben wir ihr in den letzten Jahren gegeben. Heute hü, morgen hott und übermorgen Mal-gucken-wieich-so-drauf-bin - das ist schon für normale Kinder schlecht, für Vivien aber ist es unerträglich! Sie hat Sie vergessen. Zumindest versucht sie es. Ihr plötzliches Auftauchen könnte sie in eine Krise stürzen. Das können Sie doch nicht wollen.»
Auf dem Weg hierher hatte Schneider noch genau gewusst, was er sagen wollte. Er hatte sich die Worte zurechtgelegt, sie mit Ulla besprochen. Er hatte sich vorgestellt, wie er den Professor unter Druck setzte, und sich eingebildet, denen in der Klinik würde der Angstschweiß ausbrechen.
Doch nun würgte es ihn. Er bekam keinen vernünftigen Satz heraus. Der Professor strahlte etwas aus, das ihn in Wut stürzte. In ohnmächtige Wut. Er fühlte sich chancenlos, in maßloser Ungerechtigkeit gefangen. Vor der Therapie hatte er in solchen Situationen angefangen, um sich zu schlagen. Den Impuls wehzutun spürte er immer noch, aber er konnte ihn beherrschen. Er musste nicht die Augen schließen, um sich vorzustellen, auf dem Brustkorb von Professor Ullrich zu knien und ihn zu erwürgen. Das Bild gefiel ihm. Damit fühlte er sich besser, die Worte fielen ihm wieder ein. Er musste den Professor nicht schlagen
«Glauben Sie, ich weiß nicht, was hier läuft?», fragte er. Ein Kribbeln lief durch seinen Körper, als ihn der Blick des Professors traf.
Frau Dr.Sabrina Schumann wich zurück.
Schneider hielt die Zigarette wippend zwischen den Lippen. Mit beiden Händen tastete er seine Taschen nach Feuer ab, fand aber nichts. Er gab auf, nahm die Zigarette aus dem Mund und zeigte mit dem Filter auf Professor Ullrich. «Ich will meine Tochter. Sie können mir das nicht verbieten.» Seine Stimme überschlug sich, wodurch seine Drohungen etwas Hysterisches bekamen. «Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Ich kann den Laden hier hochgehen lassen! Dieser ganze Mist mit der Seelenwanderung und den früheren Leben, dieses ganze Sektenzeug, das ...»
Scharf wie mit einer Klinge durchschnitt die Stimme des Professors den Redefluss: «Mit Sekten habe ich nichts zu tun.»
«Nein? Dann gehören Sie eben selbst in eine Zwangsjacke! Wenn Vivien aussagt, was Sie hier mit ihr gemacht haben, sind Sie die längste Zeit Chefarzt gewesen. Oder wie immer Sie sich schimpfen!»
Er wirbelte herum und zeigte auf Frau Dr.Schumann. Sie war unter ihrem Make-up leichenblass geworden. Ihre Unterlippe zitterte.
«Und Sie», keifte Schneider, «Sie sind Ihren Job auch los! So! Jetzt will ich meine Tochter sehen.»
Professor Ullrich warf Frau Dr.Sabrina Schumann einen Blick zu. Sie nickte resigniert und ließ die Schultern sinken. Damit wich die Spannung aus ihrem Körper. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, an einem Abgrund zu stehen und das Gleichgewicht zu verlieren.
Vivien schraubte den Füller zusammen und las die Sätze noch einmal.
Gegen Abend ging die dritte Sonne im Sprühwald unter. Feuchte Kälte kroch in die Schlucht. Mit ihr kamen die Congas.
Sie saß zusammengekauert auf dem Stuhl, die Beine ganz am Körper. Fröstelnd rieb sie sich die Oberarme und starrte aufs Papier. Die Sätze rochen nach den dicken Schlangen. Aus den Mäulern der Congas stieg ein fauliger, modriger Gestank. Vivien riss die Seite aus dem Buch und zerknüllte sie. Die Riesenschlangen kamen immer nur nachts. Sie fürchteten das Feuer und das Licht. Die kleine Schreibtischlampe aber konnte sie nicht schrecken.
Vivien stieg auf den Stuhl und sprang von dort aufs Bett. Sie versuchte, den Lichtschalter zu erreichen, ohne auf den Boden zu treten. Die Congas waren Meister der Tarnung. Sie versteckten sich im Teppichboden so gut wie im Schilf.
Das Wasser fiel im Sprühwald aus den Spitzen der Bäume. Mit einem schlürfenden Geräusch saugten die hölzernen Riesen durch ihre Wurzeln die Feuchtigkeit aus dem Boden und pressten sie durch ihre Adern hoch in die fleischigen Blätter. Dort wurden sie in dicken Tropfen ausgeschwitzt. Vivien versuchte, ihnen auszuweichen, denn manche dieser Tropfen brachten das Fieber. Wo sie auf die Haut trafen, wurde alles wund. Vivien lauschte. Die Congas mussten hier sein. Sosehr sie den Arm auch reckte, sie erreichte den Lichtschalter nicht. Sie musste es wagen, den Boden einmal kurz zu berühren. Die Neonröhren an der Decke waren die Rettung. Die Congas hatten Angst davor.
Da glitschte etwas an der Wand herunter. Vivien kreischte. Die Congas waren mit dem Nebel aufgestiegen. Sie hatten den Boden verlassen und zogen ihre schleimigen Spuren jetzt in den Baumkronen. Wenn die Congas in den Wipfeln die Vogeleier raubten, dauerte die Dunkelheit ewig. Die drei Sonnen mussten gestorben sein. Nur ihre Wiedergeburt konnte die Congas vertreiben. Die Monde am Himmel strahlten nicht hell genug.
Vivien hechtete vom Bett. Sie schlug mit der Faust gegen den Lichtschalter und rettete sich mit einem einzigen Sprung unter das Bett. Die sichere, enge Höhle. Hinter sich den Berg. Vor sich den hellen Eingang. Hier hatte sie Schokolade gebunkert, um einen langen Winter zu überstehen. Hoffnungsvoll starrte sie mit weit aufgerissenen Augen in das Licht. Die Sonnen würden die Congas austrocknen. Sie mussten zurück in die Sümpfe.
Männer traten vor Viviens Höhle. Sie schauten zu ihr herein.
«Congas!», kreischte Vivien. «Congas!»
Sie erkannte Professor Ullrich. Sie sah, dass sein Mund sich bewegte. Aber da waren noch ein Mann und eine Frau. Sie standen inmitten der Schlangenbrut.
«Congas!», schrie Vivien wieder. «Congas! Ganz viele! Passt auf!»
Richard Schneider wollte seine Tochter unter dem Bett hervorziehen, ihr zeigen, dass dort nichts war. Vivien schnappte nach seiner Hand. Sie erwischte seinen Hemdsärmel und warf den Kopf nach links und rechts, wie Raubtiere es tun, um einem Beutetier das Genick zu brechen.
Professor Ullrich riss Schneider zurück und fuhr ihn an: «Sind Sie wahnsinnig? Was machen Sie da? Sie dürfen sie nicht aus ihrem Schutzraum ziehen!»
«Schutzraum? Sie hat vor irgendwas Angst. Zeigen Sie ihr doch, dass nichts da ist!»
Professor Ullrich vermochte seine Wut nur schwer unter Kontrolle zu halten. Er schleifte Schneider, der sich nicht wehrte, aber auch keinen Schritt freiwillig ging, in den Flur.
Dr.Sabrina Schumann blieb bei Vivien, wagte aber kaum, sich zu bewegen. Keineswegs wollte sie den Zorn des Professors auf sich ziehen. Der zischte draußen: «Hören Sie zu: Sie sehen in diesem Zimmer nichts. Für Vivien aber lauert dort eine tödliche Gefahr! Wenn Sie sie unter ihrem Bett hervorziehen, liefern Sie sie den Congas aus.»
«Was soll das sein: Congas?»
Wenn Professor Ullrich ehrlich war, wusste er das selbst nicht genau. Aber er würde es herausfinden.
«Und? Wollen Sie meine Tochter in ihrer Panik unter dem Bett liegen lassen, oder was?»
«Ich respektiere zunächst einmal Viviens Sinneseindrücke. Genauso wie die aller anderen Menschen. Vielleicht findet sie eines Tages heraus, dass diese Congas ihrer Fantasie entsprungen sind. Aber das nützt uns im Augenblick nichts. Jetzt sind sie da. Wenn wir das leugnen, helfen wir ihr nicht.»
Viviens langer, verzweifelter Schrei ließ Richard Schneider zusammenfahren.
«Bitte, Herr Schneider, lassen Sie mich jetzt mit Vivien allein», verlangte Ullrich. «Oder wollen Sie sie immer noch mitnehmen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er den verstörten Vater im Flur stehen und ging zu Vivien.
Sie lag strampelnd unter ihrem Bett. «Nein! Nein! Nein!»
Sabrina Schumann war froh, erlöst zu werden. Gern kümmerte sie sich um Schneider, wenn sie nur diesen Raum endlich verlassen konnte.
Richard Schneider stand an die Wand gelehnt wie eine Schaufensterpuppe, die jemand dort abgestellt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Rauchmelder an, ohne ihn wirklich zu sehen. Seine Finger betasteten den zerfetzten Hemdsärmel, als müsse er sich vergewissern, dass er das eben wirklich erlebt hatte.
Sabrina Schumann berührte ihn vorsichtig am Arm. «Herr Schneider? Wir sollten jetzt gehen. Kommen Sie mit mir.»
Er brauchte noch ein paar Augenblicke. Er musste erst einmal tief durchatmen. Der Gedanke an eine Zigarette löste den Krampf in seiner Brust. Er hatte das Gefühl, rauchen zu müssen, um überhaupt wieder Luft zu bekommen. Langsam folgte er Dr.Schumann nach draußen, wobei er an der sperrangelweit geöffneten Tür von Viviens Zimmer noch einmal stehen blieb.
Was er sah, war verblüffend: Professor Ullrich kroch zu Vivien unter das Bett. Sie rollte sich zusammen und suchte zitternd bei ihm Schutz. Er schlang die Arme um sie. Wie zwei Personen, die zu einer verschmelzen, dachte Schneider. Wie einen Stich spürte er Eifersucht, andererseits wusste er genau, dass er das nicht gekonnt hätte, nicht so. Vermutlich war Vivien hier in der Klinik wirklich besser aufgehoben. Gleichzeitig sträubte sich alles in ihm gegen die Vorstellung, sie bei diesem Mann zu lassen. Er wollte sie endlich mitnehmen, zu sich in das neue Zuhause.
Viviens Stimme klang jetzt nicht mehr so panisch. Sie stammelte immer noch etwas von Congas. Schneider verstand die Satzzusammenhänge nicht, aber er hörte Ullrich beschwichtigend sagen: «Hier sind wir ganz sicher. Hier trauen sie sich nicht hin.»
«Wirklich nicht?»
«Ganz bestimmt nicht.»
«Das ist gut. Sie fürchten das Licht.»
«Hast du die Congas schon oft gesehen?»
«Ja.»
«Willst du mir davon erzählen?»
«Ja.»
«Gut, Uta. Ich höre dir zu. Ich will alles erfahren, was du über die Congas weißt.»
Sabrina Schumann kam vom Ende des Flurs zurück. Sie zupfte Schneider am Ärmel und raunte ungeduldig: «Nun kommen Sie schon! Allein können Sie hier nicht raus. Dies ist die geschlossene Abteilung.»
Er ging mit, immer noch völlig verstört. «Er... er hat meine Tochter Uta genannt.»
Frau Dr.Schumann nickte. «Ja. Wenn sie so ist wie gerade, dann ist sie Uta. Eine Tschika aus einem kleinen Dorf auf Thara.»
Sie schloss die schwere Flurtür auf. Richard Schneider kam ihr vor wie ein Ertrinkender. Sie stützte ihn wie einen gebrechlichen alten Mann, während seine Linke nervös und erfolglos nach Zigaretten fingerte.
«Der glaubt das alles, stimmt's?»
Die Verwaltungsdirektorin holte tief Luft. Sie wollte aus diesem Mieder raus, aus dem Rock, aus der ganzen heiklen Situation. Wieder jagte eine dieser Hitzewellen durch ihren Körper, da nützten sämtliche Hormonpräparate nichts.
«Der denkt, meine Tochter ist ein Alien!»
Sie versuchte Schneider zu beruhigen. «Er denkt das nicht. Vivien denkt es von sich. Sie können froh sein, dass ein so gefragter Mann Ihre Tochter behandelt.»
Richard Schneider schluckte trocken. Er sah sie skeptisch an.
«Glauben Sie denn auch an Seelenwanderung?»
Sabrina Schumann schaute sich um, ob ihnen auch niemand zuhörte. Dann räusperte sie sich. Die Hitzewallung ließ nach. Trotzdem hätte sie am liebsten in Eiswürfeln gebadet.
«Mein lieber Herr Schneider, niemand wird hier wegen seines Glaubens oder seiner Hautfarbe benachteiligt. Zwei Drittel aller Weltreligionen beinhalten den Glauben an Reinkarnation. Der Buddhismus, der Hinduismus, der...»
Für Richard Schneider hörte sich das an, als wolle sie ihn mit wohlgewählten Worten abspeisen. Doch für Sonntagsreden hatte er jetzt keine Zeit. Er kehrte der Verwaltungsdirektorin den Rücken und verließ die Klinik wie ein Flüchtender.
Sabrina Schumann sah ihm nach. Sie ahnte, dass die Schwierigkeiten mit diesem Mann soeben erst begonnen hatten.
Aufgewühlt hastete Richard Schneider durch die Straßen. Er konnte jetzt nicht Auto fahren, er musste sich im Laufschritt fortbewegen. Es hatte ihm ganz und gar nicht gut getan, Vivien in diesem Zustand zu sehen. Das Bild, wie sie nach seiner Hand schnappte, blitzte immer wieder durch seine Gedanken. Dieser Moment hatte ihn zurückkatapultiert in die schlimme Zeit, in der Henrike ausgeweidet aufgefunden worden war. Damals hatte er für ein paar Wochen völlig den Halt verloren und nicht mehr gewusst, was Wirklichkeit war. Sein Leben war von Kripobeamten, Psychologen, Rechtsanwälten und dem Alkohol beherrscht worden.
Er hatte so sehr gehofft, dass das alles nun endlich vorbei sein würde. Alles, was ihm noch fehlte, war Vivien. Ihre Abwesenheit erinnerte ihn jeden Tag an die schmerzhafte Geschichte seiner Familie, die an einem einzigen Tag im wahrsten Sinne des Wortes auseinander gerissen worden war.
Er fühlte sich so sehr in diese Zeit zurückversetzt, dass er ein Münztelefon suchte, obwohl das Handy an seinem Gürtel baumelte. Damals, als er als mutmaßlicher Mörder seiner Frau im Büro verhaftet worden war, als man ihm im Polizeipräsidium die grässlichen Fotos vorlegte und ihn nach intimen Einzelheiten seines Ehelebens befragte, hatte er noch kein Handy besessen.
Endlich fand er neben einem Kiosk eine Telefonzelle. Er hielt sein Portemonnaie schon in der Hand und kramte nach Münzen, als er sah, dass dies ein Kartentelefon war. Wütend schlug er mit der offenen Hand gegen den Apparat, dann steckte er das Portemonnaie wieder ein. Jetzt fiel ihm sein Handy ein. Er kam sich lächerlich vor, sah sich verlegen um, doch niemand beobachtete ihn. Er griff zum Telefonbuch und suchte zunächst unter S. Dann fiel ihm ein, dass sie nicht Sablonksi, sondern Zablonski hieß.
Ihr letztes Treffen war gründlich schief gegangen. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt bereit sein würde, ihn noch einmal zu treffen. Noch an diesem Morgen hätte er allein über die Vorstellung kopfschüttelnd gelacht, doch jetzt, nachdem er seine Tochter so gesehen hatte, wusste er nicht, an wen sonst er sich wenden sollte. Er brauchte Gewissheit.
Sie war tatsächlich zu Hause. Seine Stimme bebte, als er seinen Namen nannte, und er spürte, wie sie zusammenzuckte.
«Bitte legen Sie nicht auf, Frau Zablonski. Bitte nicht.»
Sie räusperte sich. «Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, werde ich unverzüglich die Polizei rufen, Herr Schneider.»
Er stand mit seinem Handy in der Telefonzelle, trat von einem Fuß auf den anderen und bettelte mit fast kindlicher Stimme: «Bitte, Frau Zablonski. Ich hab mich geändert. Ich habe eine Therapie gemacht. Ich ...» Das eisige Schweigen am anderen Ende der Leitung ließ ihn zunächst verstummen. Dann presste er die Frage heraus: «Was wollen Sie hören? Dass es mir Leid tut?»
«Ich will gar nichts hören. Ich will, dass Sie mich in Ruhe lassen.»
«Frau Zablonski, ich muss Sie treffen. Bitte. Ich war in der Klinik. Ich habe meine Tochter gesehen. Sie war plötzlich so ... ich kann Ihnen das nicht am Telefon erzählen. Darf ich zu Ihnen kommen?»
Ihre Antwort war ein klares, hartes Nein.
Er hatte dieser Energie nichts entgegenzusetzen. Etwas in ihm brach zusammen. Er schluckte. Am liebsten hätte er das Handy durch die Glasscheibe der Telefonzelle gefeuert. Noch vor einem Jahr wäre er dieser Versuchung erlegen, doch er hatte einiges dazugelernt.
Er brauchte dringend eine Zigarette. Manchmal, wenn er die Ereignisse so tief in sich hineinließ, dass er glaubte, sein Körper könne zerspringen, war der Rauch einer Zigarette in seiner Lunge wie Leim, der ihn zusammenhielt.
Ihr Stimmungsumschwung verblüffte ihn. Vielleicht spürte sie seine Not. Jedenfalls machte sie ihm ein Angebot.
«Also gut», sagte sie plötzlich und klang gar nicht gnädig oder mildtätig. «Wenn Sie unbedingt wollen, können wir uns treffen. Aber nicht bei mir.»
«Wo immer Sie wollen.»
«In Dellbrück gibt es ein portugiesisches Restaurant. An der Gierather Straße. Kennen Sie das?»
«Nein, aber ich werde es finden. Warum da? Warum nicht bei Ihnen? Ich würde lieber zu Ihnen kommen.»
«Dort oder überhaupt nicht. Heute Abend um acht.»
Sie legte auf. Er lauschte noch eine Weile in sein Handy und fragte sich, ob sie wirklich kommen würde. Wählte sie vielleicht jetzt schon die Nummer der Polizei? Würden ihn beim Portugiesen zwei Beamte erwarten und ihn freundlich darauf hinweisen, dass er jeden weiteren Kontakt zu Frau Zablonski zu vermeiden hätte? Oder würde sie einen bezahlten Schläger mitbringen, um ihm alles heimzuzahlen?
Er hatte keine genaue Erinnerung an das, was damals wirklich passiert war. Er musste mindestens eine halbe Flasche Wodka intus gehabt haben. So viel hatte er zu der Zeit für einen Filmriss gebraucht. In der Anzeige war dann von Hausfriedensbruch und Körperverletzung die Rede gewesen. Im Rahmen der Mordermittlungen war das Ganze als geringfügig oder jedenfalls nachrangig eingestuft worden. Schließlich hatte Frau Zablonski die Anzeige sogar zurückgezogen.
Er wollte diese alten Geschichten nicht wieder aufwärmen. Aber er musste die Frau sprechen. Er wäre jede Wette eingegangen, dass er mindestens so viel Angst vor dem Gespräch hatte wie sie.
Richard Schneider wollte sich umziehen. Er konnte Brigitte Zablonski unmöglich so begegnen. Seine Sachen kamen ihm schäbig vor, fast schämte er sich dafür
Der Weg zurück ins neue Haus war viel zu weit, aber auf der Hohen Straße gab es mehrere Herrenbekleidungsgeschäfte. Socken, Unterwäsche, Hemd, Anzug und eine passende Krawatte. Er zahlte mit der Kreditkarte. Es war, als würde er seine alte Schlangenhaut abstreifen, um, transformiert zu etwas Neuem, besser gerüstet in das Gespräch zu gehen. Er war sich nicht sicher, ob er verhindern wollte, dass etwas an seiner Kleidung sie an den Mann erinnerte, der er noch vor kurzem gewesen war, oder ob er nur vermeiden wollte, selbst mit ihm in Kontakt zu kommen.
Er stellte sich vor, wie Ulla ihn anstarren würde, wenn er so zurückkam. Während er mit den neuen Kleidungsstücken in die Umkleidekabine ging, um sie gleich anzuziehen, überlegte er, ob es Sinn machte, Ulla anzurufen. Sie erwartete ihn, und er hatte das Gefühl, es könnte sehr spät werden.
Die alten Sachen stopfte er in die Tragetasche, die eigentlich für die neuen vorgesehen war, und ließ sie in der Umkleidekabine stehen. Er wollte Frau Zablonski nicht mit einer Plastiktüte in der Hand gegenübertreten.
Er sah sich in der Spiegelsäule und hätte sich fast nicht erkannt. Das blaue Hemd, die rote Krawatte, der schwarze Blazer mit dem kleinen Kragen - er trat einen Schritt zurück, um sich noch einmal von Kopf bis Fuß zu mustern. Er gefiel sich. Aber diese alten Lederschuhe waren eine Katastrophe.
Er fuhr die Rolltreppe herunter, erstand ein paar schwarze Slipper und genoss das Knatschen bei jedem Schritt. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie er Frau Zablonski damals gegenübergetreten war. Solche Dinge waren mit dem Tod seiner Frau völlig unwichtig für ihn geworden. Vielleicht hatte er den selbst gestrickten Pullover getragen, den er während der U-Haft täglich angehabt hatte. Jedenfalls musste er ihr verlottert vorgekommen sein. Schlampig. Vielleicht hatte er sogar gestunken. Von dem, der er damals gewesen war, musste er sich jetzt so deutlich wie möglich abgrenzen.
Auch Brigitte Zablonski dachte nach dem Telefongespräch als Erstes daran, sich umzuziehen. Anders als Richard Schneider duschte sie zunächst ausgiebig. Die langen blonden Haare passten kaum unter die Duschkappe. Eine Strähne hatte sich hinten herausgeschlängelt und hing nun feucht zwischen ihren Schulterblättern herab.
Brigitte Zablonski kannte das Gefühl, in etwas hineingezogen zu werden. Zu oft hatte sie sich in die Problematiken ihrer Klienten verstricken lassen. Als Rückführungstherapeutin hatte sie mit der Zeit erst lernen müssen, warum die, die bei ihr Hilfe suchten, selten bekamen, was sie sich am meisten wünschten. Sie durfte nicht der Versuchung erliegen, es ihnen zu geben. Am Anfang hatte sie jeden retten wollen, inzwischen wusste sie, dass ihre Möglichkeiten begrenzt waren. Sie musste sich selbst schützen, um sich nicht aufzulösen in den Problemen anderer. Manche Klienten begleitete sie durch die Hölle. Aber sie konnte nicht stellvertretend für sie hindurchgehen.
Sie reckte die Arme hoch. Vor ihrem inneren Auge erschien ein Wasserfall, unter dem sie nackt stand und sich erfrischte. Die Badekappe rutschte von den Haaren. Sie drehte sofort das Wasser ab, aber es war zu spät.
In ein großes Badetuch gehüllt, begann sie die Haare trockenzuföhnen, verlor aber schnell die Lust daran. Sie entschied sich, die Haare hochzubinden und unter einem ihrer zahllosen Seidentücher zu verbergen, dem indischen, das sie in Poona gekauft hatte, damals als sie noch geglaubt hatte, Bhagwan wisse den Weg. Das Tuch gefiel ihr immer noch. Die feinen Goldfäden darin gaben ihr ein majestätisches Gefühl.
Dann stand sie vor ihrem sechstürigen Kleiderschrank. Sie mochte es, ihn ganz zu öffnen und sich die Verwandlungsmöglichkeiten anzuschauen. Ihr war jetzt nicht nach leichten, fließenden Stoffen. Schwarz oder Nachtblau sollte es sein. Kein Kleid, sondern eine Hose. Sie wollte im Schritt geschützt sein. Schließlich wählte sie zwischen zwei Hosenanzügen. Sie prüfte die Stoffe mit der Hand und entschied sich dann für den robusteren. Dann überprüfte sie ihr Handtäschchen, vergewisserte sich, ob das CS-Gas auch griffbereit war.
Schließlich schob sie eine kunstvolle afrikanische Haarnadel aus Horn durch den Knoten des indischen Tuches. Geformt wie ein Frauenkörper, war sie eigentlich ein Fruchtbarkeitssymbol, doch sie ließ sich prächtig als Nahkampfwaffe verwenden. Mit diesem Haarschmuck kam man durch jede Flughafenkontrolle, doch mit einem gezielten Stich konnte er eine tödliche Waffe sein. Sie stellte sich vor, wie sie die Nadel in Schneiders Hals trieb, und wunderte sich, weil ihr das Ganze so natürlich vorkam. Dabei hatte sie noch nie einem Menschen etwas zuleide getan. Zumindest nicht in diesem Leben.
Sie war schon eine halbe Stunde vor dem Treffen beim Portugiesen und wählte den abgedunkelten Platz beim Zigarettenautomaten. Die Ecke war durch eine Holzvertäfelung und eine große Vase mit künstlichen, großblättrigen Blumen vom übrigen Raum abgeteilt. Durch zwei geschickt angeordnete große Spiegel konnte der Wirt von der Theke aus den Tisch beobachten, damit er sah, wann die Gläser wieder gefüllt werden mussten.
Brigitte Zablonski mochte den Wirt. Er war ein fröhlicher, unkomplizierter Mensch. Manchmal brauchte sie das. Nach schwierigen Rückführungen einfach an der Theke sitzen, ein Kölsch trinken und ein bisschen Smalltalk machen. Nichts Spirituelles, keine Esoterik, keine aufgewühlten Seelen. Einfach nur ein bisschen quatschen. Dafür war er ein wunderbares Gegenüber. Er verstand es, Witze zu erzählen, über die sogar sie lachen konnte, und sie war wahrlich keine besonders humorvolle Frau. Sie hatte zu viel menschliches Leid gesehen, um noch unbeschwert lachen zu können.
Ein wenig beneidete sie den Wirt um genau diese Fähigkeit. Sie mit ihrem Psychologiestudium, ihren Diplomen, ihren Zusatzausbildungen in Gestalttherapie, Psychodrama und Reinkarnation bewunderte diesen Mann und versuchte von ihm zu lernen. Obendrein war er stattlich genug, um einen störenden Gast an die Luft zu setzen, und bei dem geringsten Zeichen von ihr würde er Schneider zurechtstutzen und rausschmeißen. In seiner Nähe empfand sie so etwas wie Sicherheit. Eigentlich bedurfte es dazu keiner Worte, doch sie erklärte sich ihm.
Er wischte sich die bierfeuchten Hände an der Schürze vor seinem Kugelbauch ab und hörte aufmerksam zu. Sie erzählte ihm, dass sie einen Klienten erwarte, den sie nicht in ihrer Wohnung empfangen wolle. Dieser Klient sei einmal handgreiflich geworden, sie wolle ihm aber noch eine Chance geben.
Der Wirt verzog sein Gesicht zu einem breiten, stolzen Lächeln, und er versicherte, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Dazu klatschte er die Hände gegeneinander, um zu demonstrieren, was er mit Schneider tun würde, sollte sie ihn um Hilfe bitten.
Dann empfahl er ihr die Paella mit frischen Meeresfrüchten. Sie aß das hier einmal pro Woche, doch an diesem Abend fürchtete sie, ihr Magen würde nicht mitspielen. Sie musste das Gespräch erst hinter sich bringen. Also bestellte sie zunächst einen Fernet-Branca und ein Kölsch, setzte sich in die Ecke, damit sie über die Spiegel die Tür beobachten konnte, und wartete.
Der Wirt zündete die weiße Kerze an, die in der Mitte des Tisches stand. Ein knoblauchscharfer Duft wehte aus der Küche herüber. Für einen Moment verspürte Brigitte Zablonski Appetit, doch sie entschied sich, bei den Getränken zu bleiben. Sie hatte gerade den zweiten Fernet bestellt und überprüfte im Schminkspiegelchen der Puderdose ihr Make-up, als Richard Schneider mit suchendem Blick das Restaurant betrat.
Der Wirt wusste sofort, dass es sich um den Mann handeln musste, mit dem Frau Zablonski verabredet war. Er kam hinter dem Tresen hervor und spielte mit überfreundlichen Gesten den Butler. «Sie werden bereits erwartet.» Dabei ging er so distanzlos nahe an Schneider heran, dass der gleich zur Seite auswich. Der Wirt geleitete Schneider zu dem Tisch in der Ecke und stellte beruhigt fest, dass er gut fünfundzwanzig Kilo schwerer war als sein möglicher Gegner.
Endlich saß Schneider Frau Zablonski gegenüber. Er bestellte sich ein Mineralwasser und veränderte während der ersten Sekunden dreimal seine Sitzposition. Plötzlich wusste er nicht mehr, wo er die Beine lassen sollte. Seine Hände waren ihm im Weg, und seine Augen gewöhnten sich nur schwer an die Dunkelheit.
Er hatte Brigitte Zablonski anders in Erinnerung. Hastig griff er in die linke Jackentasche, wo er die filterlosen Zigaretten aufbewahrte, dann in die rechte, in der ein Päckchen mit Filtern und die Mentholzigaretten steckten, und häufte alle drei Packungen vor sich auf den Tisch. Er nahm jede Schachtel einmal zur Hand, so als wolle er eine Zigarette herausziehen, entschied sich für die filterlosen und zündete sich eine an der Kerze an.
«Es stört Sie doch hoffentlich nicht?»
Brigitte Zablonski hatte ihr Praktikum in einer Drogenklinik gemacht; Suchtverlagerung war nichts Neues für sie. «Dies ist ein öffentlicher Raum. Rauchen Sie nur.»
Der Wirt brachte das Wasser und den Fernet. Er schob seinen Bauch viel zu nahe an Schneider heran in dem Versuch, ihn einzuschüchtern und zugleich gar nicht zu beachten.
Schneider spürte genau, was hier lief. Er nippte an seinem Mineralwasser. Nachdem er dreimal tief inhaliert und anschließend den Rauch durch die Nase ausgeblasen hatte, fühlte er sich besser. Er wartete noch, bis der Wirt wieder hinter seiner Theke verschwunden war, dann hob er mit krächzender Stimme an: «Ich möchte mich wirklich in aller Form bei Ihnen entschuldigen, Frau Zablonski. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Ich habe mich schrecklich aufgeführt, und Sie haben sogar die Anzeige gegen mich zurückgezogen ...»
Brigitte Zablonski kippte ihren zweiten Fernet und stellte das langstielige Glas hart auf den Bierdeckel. «Sie sind nicht gekommen, um sich zu entschuldigen.»
«Doch, ich ...»
Er nahm einen tiefen Zug, doch bevor er ein weiteres Wort herausbekam, stellte sie klar: «Sie sind in Not, mein Lieber. In allergrößter Not. Deshalb, und nur deshalb, bin ich gekommen.»
Er nickte, senkte den Blick und blies Rauch auf die Tischplatte. Von dort stieg der blaue Dunst auf und hüllte Brigitte Zablonski ein, sodass sie, verbunden mit dem Kerzenlicht, im Spiegel für den Wirt jetzt aussah, als ob sie einen Heiligenschein hätte.
«Ja», sagte er schließlich, «Sie haben Recht.»
Brigitte Zablonski fuhr mit beiden Händen durch den Rauch und versuchte einen Scherz. «Das grenzt ja schon wieder an Körperverletzung.»
Sofort drückte Schneider die filterlose Zigarette in den Aschenbecher. Brigitte Zablonski wusste, dass er es nicht lange ohne aushalten würde. Mit der Nervosität wuchs immer die Gier, immer, das war eine alte Erfahrung. Sie überlegte, ob sie etwas in der Richtung sagen sollte, entschied sich dann aber dafür, ihm einfach zuzuhören.
«Ich war in der Klinik. Professor Ullrich will mir meine Tochter nicht zurückgeben. Sie redet wirres Zeug. Sie ist völlig durchgedreht. Sie lag unter dem Bett und hatte Angst, von irgendwelchen Schlangen angegriffen zu werden. Congas oder so. Sie hielt mich für einen Hillruc und ... ach!» Er spielte mit den Zigarettenschachteln auf dem Tisch, mischte sie wie Spielkarten.
«Und deshalb kommen Sie zu mir? Wäre da nicht ein Rechtsanwalt richtiger? Hat man Ihnen das Sorgerecht damals entzogen? Ich dachte, Sie wären freigesprochen worden!»
Die Mentholzigaretten glitten ihm aus der Hand und fielen auf den Boden. Er bückte sich, hob die Schachtel mit einer fahrigen Bewegung auf, stapelte die drei Pakete erneut aufeinander und schob sie weit von sich weg.
«Ich ... Ja, ich bin freigesprochen worden. Ich habe meine Frau nicht umgebracht. Aber das alles hat Spuren hinterlassen. Der Mord, der Prozess ... Ich hab gesoffen und mich wie ein Arschloch benommen.»
Sie nickte. «Ich weiß. Ich habe Ihre Umgangsformen ja genießen dürfen.»
«In dieser Zeit, Frau Zablonski, habe nicht ich mich um Vivien gekümmert, sondern Professor Ullrich. Im Grunde war ich von Anfang an dagegen, dass er Vivien behandelt. Ich hätte viel früher einschreiten müssen, aber ich hatte selbst zu viele Probleme. Vivien hatte Schlimmes durchgemacht. Sie hat sich an den Professor gebunden und...»
Er zog die Zigaretten wieder zu sich hin, holte aber noch keine aus der Packung.
«Rauchen Sie ruhig», sagte sie großzügig. «Man kann nicht gegen alles gleichzeitig kämpfen, die Geister der Vergangenheit, den Alkohol, das Nikotin ...»
Sofort nahm er sich eine Mentholzigarette. «Danke. Ich frage mich, ob ich überhaupt ein Recht darauf habe, sie da rauszuholen. Ich meine, ich kann diesen Kerl wirklich nicht ausstehen. Manchmal möchte ich ihn am liebsten an die Wand klatschen. Aber dann denke ich, er ist für einige Zeit an meine Stelle getreten. Was hätte Vivien ohne ihn gemacht? Jetzt aber will ich sie zurückhaben. Schließlich bin ich ihr Vater.»
Brigitte Zablonski spürte, dass von Schneider keine Gefahr für sie ausging. Es war ihr noch immer nicht ganz klar, warum er sie als Beistand ausgewählt hatte, aber sie begann zu begreifen.
«Sie wollen von mir wissen, was für ein Mann Professor Ullrich ist, stimmt's?»
«Ja.»
«Das wollten Sie schon damals.»
Er befeuchtete sich mit dem Mineralwasser die Lippen, dann goss er es plötzlich mit einem einzigen, gierigen Zug in sich hinein.
«Ja. Ich hatte Sie zusammen im Fernsehen gesehen.»
«In dieser entsetzlichen Talkshow. Erinnern Sie mich bloß nicht daran. So etwas mache ich nie wieder.»
«Sie haben über Wiedergeburt gesprochen, Reinkarnation und ...»
«Ja, ich weiß. Ich hätte das nicht tun sollen. Ich habe mich damals zum Gespött der Leute gemacht.»
Schneider schüttelte den Kopf. «Sie nicht. Er sah aus wie ein Idiot. Und ich wusste, dass meine Tochter bei diesem Mann in Behandlung ist.»
Brigitte Zablonski setzte sich anders hin, wobei der Stoff ihres Hosenanzugs raschelte. Als sie die Arme auf den Tisch stützte, knisterte es. Sie legte die Hände ineinander, fast wie zum Gebet, drückte die Wirbelsäule einmal durch und sagte in sachlichem Tonfall: «Die Ansichten von Herrn Ullrich über Seelenwanderung muss man nicht teilen. In der Fernsehsendung haben wir beide eine schlechte Figur gemacht, aber was seine fachliche Qualifikation betrifft, kann ich Sie beruhigen. Ihre Tochter ist bei ihm in allerbesten Händen. Bei allen Vorbehalten muss man doch eins über ihn sagen: Kaum jemand weiß mehr über die menschliche Seele als er.»
Schneider hörte den Respekt in ihrer Stimme. Das alles hatte sie nicht einfach zu seiner Beruhigung gesagt; sie glaubte, was sie da sagte.
Richard Schneider nahm gierig zwei Züge von der Mentholzigarette und sprach, während der Qualm aus seinem Mund quoll. «Er sagt, wenn ich sie mit zu mir nach Hause nehme, könnte es sein, dass sie mit einem Messer auf mich losgeht und mir den Hals durchschneidet. Glauben Sie das?»
«Ich kenne Ihre Tochter nicht. Ich kann keine Diagnose abgeben. Ich ...»
«Wenn ich Vivien da raushole, würden Sie sie sich anschauen?»
Jetzt leerte Brigitte Zablonski ihr Kölschglas, winkte dem Wirt und zeigte Lang-Kurz. Er begriff, dass er nicht einschreiten musste, sondern nur einen dritten Fernet und ein zweites Kölsch bringen sollte.
«Ich habe sie in diesem Zustand gesehen. Sie hat nach mir geschnappt wie ein Tier!» Er machte die Bewegung nach. «Vielleicht normalisiert sich das alles, wenn sie erst mal in einer anderen Umgebung ist? Es dreht doch jeder durch, der in einer Klapsmühle eingesperrt wird, Medikamente kriegt und zweimal die Woche hypnotisiert wird! Aber wenn ich sie bei mir zu Hause habe und sie rastet aus, was dann?
«Sie wollen also meine fachliche Hilfe?»
«Ja.»
«Es gibt genügend Psychologen, die über die Krankenkasse abrechnen können. Ich kann das nicht. Das wissen Sie doch. Ich bin Reinkarnationstherapeutin.»
«Deswegen bin ja bei Ihnen. Ich will wissen, ob was dran ist an der Sache.»
«Sie schließen also nicht mehr aus, dass es frühere Leben gibt?»
«Frau Zablonski. Ich will meine Tochter zurück. Ob sie heroinsüchtig ist oder nur ein Scheißkarma hat, ist mir egal. Sie soll bekommen, was sie braucht, damit es ihr wieder besser geht und sie bei mir leben kann.»
«Wenn es Ihnen gelingt, sie zu sich nach Hause zu holen, werde ich sie mir anschauen.»
Er lehnte sich zurück. Er war nicht wirklich zufrieden und auch nicht entspannt, doch er spürte, dass er ein kleines Stück weitergekommen war.
Kopfschüttelnd fragte er: «Sie nehmen mir das von damals wirklich nicht übel?»
«Sie sind jetzt ein anderer. So etwas kann ich akzeptieren.»
Er lächelte erstaunt.
«Und der neue Mann», fuhr sie fort, «gefällt mir wesentlich besser als der andere. Nur diese rote Krawatte - die steht Ihnen überhaupt nicht.»
Hier unten am Fluss war Peter Ullrich kein Professor. Sobald er in den Thermo-Overall geschlüpft war und die Lackschuhe gegen Gummistiefel ausgetauscht hatte, war er nur der Jäger. Das lange finnische Fischmesser baumelte an seinem Gürtel. Damit hatte er schon so manchen Raubfisch aufgeschlitzt. Er saß ganz ruhig auf den Wurzeln einer Erle. Neben ihm lag der Käscher bereit und der Totschläger. Er hatte die Rute zwischen zwei Steinen festgeklemmt. Die Spitze stand steil hoch und zeigte auf den Mond. Oben ein Glöckchen als Bissanzeiger und ein grün phosphoreszierendes Knicklicht. Er fischte an diesem Abend nur mit einer Angel.
Er war hier, um einem Gefühl nachzuspüren. Wie sooft hatte Vivien ihn darauf gebracht - oder, genauer, Uta. Er war von den gleichen Erlebnissen geprägt worden wie sie, nur hatte sie die deutlicheren Erinnerungen.
Er hatte sich in viele frühere Leben zurückführen lassen. Nie waren ihm Congas begegnet. Doch jetzt, da er von ihnen wusste, verstand er seine Angst. Es war über vierzig Jahre her. Er war noch klein. Sein Vater hatte ihn, wie sooft, mit zum Fischen an den Fluss genommen. Sie saßen zusammengekauert unter einer Zeltplane. Immer wieder löschte der Dauerregen das Feuer, doch sie gaben nicht auf. Zwei Helden gegen die Naturgewalten, Vater und Sohn.
Sie unternahmen nicht viel zusammen, aber einmal pro Monat saßen sie nachts am Fluss und angelten. Selbst im Winter. Peter durfte bei jedem Biss den Anschlag setzen. Er durfte käschern, und - darauf war er besonders stolz - er durfte die Fische töten. Während Papa den zappelnden Körper festhielt, verpasste Peter dem Tier einen gezielten Schlag mit dem Knüppel zwischen die Augen. Dann schlitzte er es auf. Ja, er nahm die Fische selbst aus. Er legte die Hände aneinander wie andere Menschen zum Gebet und tauchte so mit ihnen ein in das Innenleben der Tiere, um es herauszureißen. Gern hielt er das noch pochende kleine Herz in der Hand. «Guck mal, Papa», rief er, «der Fisch ist schon tot, aber sein Herz schlägt noch!» Einmal - er erinnerte sich genau daran - leuchtete sein Vater auf das Herz einer Regenbogenforelle. Es war nicht größer als das Kaugummi in seinem Mund. Als der Lichtstrahl es traf, hopste es auf seiner Hand hin und her. Er verwendete die kleinen Herzen als Köder. Wenn sie noch zuckten, waren sie besonders fängig.
Für andere Kinder in seinem Alter war das «iiihh» und «bah». Sie ekelten sich und aßen stattdessen lieber sauber panierte Fischstäbchen oder Würstchen, denen man das Leben nicht mehr ansah. Er dagegen hätte die gefangenen Fische am liebsten sofort verspeist. Wie die Bären beim Lachsfang. Das ließ sein Vater natürlich nicht zu. Manchmal allerdings nahmen sie den Räucherofen mit an den Fluss. Dann aßen sie die Fänge heiß aus dem dampfenden Ofen.
Peter liebte diese Nächte mit seinem Vater mehr als alles andere auf der Welt, doch ihre gemeinsamen Abenteuer wurden abrupt beendet, durch den ersten Aal, den sie fingen. Es war ein Spitzkopf. Nicht sehr groß und mit grün schimmernder Haut. Peter durfte ihn aus dem Wasser ziehen. Als das schlangenähnliche Tier sich vor ihm auf dem Boden wand und sein Vater ihm «Petri Heil!» zurief, wurde Peter plötzlich von einer lähmenden Angst gepackt, die von innen kam und durch nichts Äußeres zu erklären war. Die Angst war so monströs, dass er fürchtete, ohnmächtig zu werden.
Sein Vater forderte ihn auf, den Aal zu töten. Er hielt ihm das Messer hin und gab Anweisungen, wie das «Urviech» am besten zu killen sei. Doch Peter konnte es nicht anfassen. Ihm war, als müsste er bei der kleinsten Berührung durch den Aal sterben.
Das Tier zerrte an der Schnur und versuchte, den Haken herauszuwürgen. Aber es hatte den aufgespießten Wurm zu tief geschluckt. Peter sah mit Entsetzen, wie sein Vater seine Hand nahm und in Richtung Aal zog.
Noch jetzt kniff Peter Ullrich bei dem Gedanken die Augen fest zusammen. Er spürte immer noch, wie die schleimige Aalhaut durch seine Finger glitt. Von der Hand her war sein Arm steif geworden, dann der ganze Körper. Der Aal schlängelte sich um Peters Handgelenk. Peter heulte, schrie, fluchte, bettelte, flehte. Er wollte den Aal einfach wegwerfen, er traf aber seinen Vater ins Gesicht. Er konnte sich nicht einmal entschuldigen, er rannte nur weg.
Irgendwann brach er mit Seitenstichen zusammen. Eine Weile lag er mit dem Gesicht im Gras, vollkommen durchnässt. Er schämte sich. Und dann kam die Angst, die Aale könnten in der Dunkelheit herankriechen und sich in seine Hosenbeine schlängeln.
Er flüchtete auf einen Baum. Hier fühlte er sich sicher. Schon damals kam ihm seine Angst vor den Aalen auf eine merkwürdige Weise lächerlich vor, aber sie war unüberwindlich. Die anderen verstanden sie nicht, am wenigsten sein Vater. Inzwischen wusste er, sie kam aus einem Wissen, das jahrtausendealt war und nicht von dieser Welt. Der Aal damals hatte ihn an die Congas erinnert, die auf Thara Angst und Schrecken verbreiteten, wenn die dritte Sonne im Sprühwald unterging.
Sein Vater hatte ihn nie wieder zum Angeln mitgenommen. Für ihn war er von da an eine verweichlichte Memme gewesen. Heute fühlte er sich rehabilitiert. Sogar vor seinem längst toten Vater. Denn er hatte nie wirklich Angst vor Aalen gehabt, sondern immer nur vor den grässlichen Congas. Er fühlte sich geheilt und befreit. Es fehlte nur noch ein kleiner Schritt, um endgültig mit dieser alten Geschichte abzuschließen.
Die Rutenspitze zitterte. Das Knicklicht vibrierte gegen den Nachthimmel, das Glöckchen klingelte. Er war sich ganz sicher: Der Aal hatte den Köder geschluckt.
Er kurbelte ihn heran wie einen alten Autoreifen, packte hart zu. Das Tier war größer als der Aal damals. Ein Raubaal, gut einen Meter lang und drei Pfund schwer. Er nagelte ihn mit dem Finnenmesser an die Erle, trieb die Klinge kurz hinter dem Kopf durch den Leib des Tieres, verfehlte die Wirbelsäule aber knapp. Der Aal versuchte, sich zu befreien. Er wand sich um die scharfe Klinge. Stumm stand Peter Ullrich da und schaute dem Todeskampf zu. Er wusste, er hatte gewonnen. Endgültig. Die Congas waren auf Thara. Im Hier und Jetzt konnten sie ihn nicht bedrohen.
Seit drei Stunden wartete sie auf ihn. Die knusprige Ente war längst kalt.
Sabrina Schumann hielt es nicht länger aus. Sie hatte zu Mittag nur eine dünne Suppe geschlürft und sich auf das Abendessen mit Peter gefreut. Sie riss ein Ende vom Baguette ab und goss sich von dem sündhaft teuren Rotwein ein. Was als Candlelight-Dinner geplant war, wurde zum Frustessen. Das silberne Besteck ließ sie liegen, den Wein stürzte sie schneller hinunter als ein Bier an einem lauen Sommerabend. Sie wollte ihn nicht genießen, jetzt nicht mehr.
Mit den Fingernägeln pulte sie ein Loch in die braune Entenhaut, dann bohrte sie den Zeigefinger hinein, bis sie Knochen fühlte. Sie zupfte rosiges Brustfleisch ab und stopfte es sich in den Mund, schloss die Lippen um die Finger und ließ sie nur langsam wieder aus dem Mund gleiten. Fett tropfte auf die Tischdecke. Wen sollte das noch stören? Gab es etwas Traurigeres als einen liebevoll gedeckten Tisch, an dem keiner aß?
Sie schenkte sich nach. Es gefiel ihr, die fettigen Fingerabdrücke auf dem Glas zu sehen. Wenn ihre Hoffnungen trotz aller vorausschauenden Planung enttäuscht wurden, brach in ihr die Sehnsucht durch, eine Schlampe zu sein. Eine, die sich einen Dreck darum scherte, was andere dachten. Eine, die ganz nach ihren eigenen Bedürfnissen lebte. Sie wäre so gern weniger Kopf gewesen und mehr Körper. Seit unzähligen Jahren spielte sie die ordentliche, brave, verlässliche Frau. Politisch korrekt. Moralisch einwandfrei. Finanziell gesichert. Beruflich tadellos. Und was hatte sie davon?
Sie riss einen Entenschenkel ab und grub die Zähne hinein. Sie hätte diesen arroganten Mistkerl an die Wand klatschen können. Was bildete der sich eigentlich ein? Seit Jahren deckte sie seinen Reinkarnationsblödsinn. Sie wusste nicht genau, was er da machte, aber sie schickte die gefälschten Berichte an die Krankenkassen. Mindestens einmal pro Monat fragte sie sich, warum sie das eigentlich tat, und schwor sich, einen Schlussstrich zu ziehen. Diese irre Geschichte konnte äußerst bedrohlich werden und sie nicht nur ihren Arbeitsplatz kosten. Das alles war auch Betrug. Urkundenfälschung. Sie rechneten Leistungen ab, die sie nicht erbrachten, und erbrachten Leistungen, die sie nicht abrechneten. Professor Ullrich behandelte die Patienten ja nicht nur einfach nach einer anderen, nicht anerkannten Methode, er verhinderte auch, dass sie nach anerkannten Methoden behandelt wurden.
Oft fühlte sie sich schuldig. Aber wenn Peter Ullrich vor ihr stand, konnte sie nicht anders. Statt ihn zu maßregeln, schützte sie ihn. Schlimmer noch: Sie log und betrog für ihn. Sie gaukelte ihm vor, von seiner Reinkarnationstherapie begeistert zu sein. Dabei hielt sie das alles für ziemlichen Blödsinn. Nahe am Exorzismus. Wissenschaftlich nicht haltbar. Jedenfalls wurde das, was er da machte, von keiner Krankenkasse anerkannt.
Hin und wieder fand sie das alles auch großartig, fühlte sich als Teil einer Verschwörung gegen Dummheit und Ignoranz. Er hatte Erfolge. Hoffnungslose Phobiker mit Angstneurosen, die es ihnen seit Jahren unmöglich machten, ohne Tabletten auch nur das Zimmer zu verlassen, hatte er durch Rückführungen in weniger als zehn Stunden geheilt.
Aber das war es nicht, weshalb sie ihn weitermachen ließ. Es gab nur einen Grund: Sie liebte diesen Mann. Er stellte mit ihr Dinge an, die sie nie zuvor so erlebt hatte. Es waren seine Hände. Mit seinen sanften Berührungen massierte er sie in einen Trancezustand. Sie bekam das erschütternde Gefühl, in ihren Körper zurückzukehren, so als lebe sie sonst außerhalb seiner. Erst durch seine Hände spürte sie sich wirklich und konnte innerlich loslassen, was sie die ganze Zeit festhielt.