Katharinas Diagnose: Sternenkind - Ines Franzke - E-Book

Katharinas Diagnose: Sternenkind E-Book

Ines Franzke

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Beschreibung

Katharina, Leiterin eines städtischen Kindergartens in Süddeutschland, ist 37, als sie unverhofft noch schwanger wird. Das Ergebnis der vorgeburtlichen Untersuchung lautet: Das Kind ist nicht lebensfähig. Auf Rat des Arztes lässt sie die Schwangerschaft in der 17. Woche abbrechen. Nach der Geburt des kleinen Kindes zweifelt sie daran, ob die Diagnose richtig war, denn es wird obduziert, bevor sie und ihr Mann - wie versprochen - Abschied nehmen können. Für Katharina beginnt eine Zeit zwischen Nichtwahrhabenwollen, Gelähmt- und Verzweifeltsein. Als sie sich den Anregungen der Hebamme aus der Geburtsnacht, der Klinikseelsorgerin und einer Selbsthilfegruppe verwaister Eltern öffnet, gewinnt sie an Mut und Kraft, sich der Trauer in ihren unterschiedlichen Facetten zu stellen. Sie hinterfragt den Sinn und Nutzen vorgeburtlicher Diagnosen und beginnt das Thema gründlich zu recherchieren. Wesentliche Ereignisse fügen sich wie Puzzleteile, die Katharina mit neuem Selbstvertrauen nutzt, ihr Leben in neue Bahnen zu bringen. Gemeinsam mit dem Verband Kritischer Hebammen eröffnet sie die Beratungsstelle Pränatale Diagnosen - richtig entscheiden! Bei der Pressekonferenz am Einweihungstag steht der Diagnose stellende Arzt unverhofft vor ihr. Katharina steht auf dem Prüfstand.

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Inhaltsverzeichnis

Du warst klein

Über dieses Buch

Papiertiger

Seiltänzerin

Tentakelarme

Hoffnungsschimmer

Lindenblütenduft

Aderblau

Nudelsuppe

Zeitlupe

Schokoladenkugeln

Windlied

Diamantenschleifen

Mauspfoten

Sternschnuppenabend

Warteschleifen

Intimsphäre

Piratenschiff

Filzkokon

Lachfalten

Kaffeepause

Segeltuch

Wölkchen

Lichterspirale

Ideen

Beinebaumeln

Dominosteine

Ärmelzupfen

Topp!

Da-Sein

Champagner

Türöffner

Marius

Schwarzwälderkirschtorte

Anhang

Du warst klein

Du warst klein

hast gerade hineingepasst in meine Hand

die deine Füße sanft berührt

kaum größer als die Pfoten einer Maus

winzige Finger modellieren deine Hände

Du warst so klein

Konturen formen Augen, Nase und Mund

in deinem Gesicht

deine Ohren wollen

meine Stimme bald hören

Du warst so winzig klein

feinste Adern malen

blaue Verästelungen unter hauchdünner

Haut umspült vom warmen Wasser der

lebenspendenden Höhle

weißt du schon ein

Junge willst du werden mitten

im Wachsen

speit sie dich aus in

rhythmischem Pressen

Teddybären

wohnen auf

deinem

Grab

Über dieses Buch

Katharina, Leiterin eines städtischen Kindergartens in Süddeutschland, ist 37, als sie unverhofft noch schwanger wird. Das Ergebnis der vorgeburtlichen Untersuchung lautet: Das Kind ist nicht lebensfähig. Auf Rat des Arztes lässt sie die Schwangerschaft in der 17. Woche abbrechen. Nach der Geburt des kleinen Kindes zweifelt sie daran, ob die Diagnose richtig war, denn es wird obduziert, bevor sie und ihr Mann - wie versprochen - Abschied nehmen können.

Für Katharina beginnt eine Zeit zwischen Nichtwahrhabenwollen, Gelähmt- und Verzweifeltsein. Als sie sich den Anregungen der Hebamme aus der Geburtsnacht, der Klinikseelsorgerin und einer Selbsthilfegruppe verwaister Eltern öffnet, gewinnt sie an Mut und Kraft, sich der Trauer in ihren unterschiedlichen Facetten zu stellen. Sie hinterfragt den Sinn und Nutzen vorgeburtlicher Diagnosen und beginnt das Thema gründlich zu recherchieren. Wesentliche Ereignisse fügen sich wie Puzzleteile, die Katharina mit neuem Selbstvertrauen nutzt, ihr Leben in neue Bahnen zu bringen. Gemeinsam mit dem Verband Kritischer Hebammen eröffnet sie die Beratungsstelle Pränatale Diagnosen – richtig entscheiden! Bei der Pressekonferenz am Einweihungstag steht der Diagnose stellende Arzt unverhofft vor ihr. Katharina steht auf dem Prüfstand.

Papiertiger

Drei Minuten noch. Um zehn würde sie das Testergebnis erfahren, hatte der Arzt beim Abschied gesagt. Der Lärm der hellen Kinderstimmen im Flur mischte sich mit den Bässen von »Schwipp, schwapp, da kommt der große Hai« und drang selbst durch die geschlossene Tür bis zu ihr ins Büro. Zum Telefonieren brauchte sie Ruhe. Sie ging hinaus in den Tumult. An der Garderobe gegenüber mühten sich die Jüngeren mit den Schnürsenkeln ab. Doch die großen Jungs nahmen lautstark Anlauf und schlitterten auf den Knien über den maisgelben Linoleumfußboden des Gangs, dem Rhythmus aus dem Turnraum entgegen.

Von der Praktikantin keine Spur. Katharina verfluchte ihren pädagogischen Ehrgeiz, jedem Kind das Schuhbinden beizubringen, bis es eingeschult wurde. Sie formte die Hände zum Megafon. »Lorenz, Furkan, helft den Kleinen …« Ihre Stimme klang mehr wie ein Krächzen, und die Jungs rannten einfach weiter. Das war doch die Höhe, wenn man nicht alles selbst machte! Bei der Teamsitzung musste sie unbedingt daran erinnern, dass die Patenschaften der Großen für die Kleinen mehr waren als Papiertiger, sie sollten sich den Jüngeren gegenüber verantwortlich zeigen – eben beim Schuheanziehen. Hoffentlich war die Praktikantin hinten bei Verena, damit die Kollegin die Bodenmatten und den Spieleparcours nicht allein vorbereiten musste.

»Komm, Lena, gemeinsam gehts viel besser.« Sie ging in die Hocke vor der Vierjährigen, die unbeholfen mit den losen Enden der Schnürsenkel hantierte. »Du machst zwei lange Hasenohren. Siehst du? So. Du gibst sie mir und ich lege das linke Ohr aufs rechte. Jetzt kannst du es darunter durchziehen. Ja, prima, beim Festziehen helfe ich dir wieder. Schon bist du fertig.« Katharina nickte dem Mädchen freundlich zu, bevor es hinter den anderen herrannte. Mit flinken Händen half sie weiteren Kindern in die Turnschuhe, während Tim seinen Turnbeutel auf den Boden warf und weinte. Auch das noch. Sie wandte sich ihm zu. »Schau, ich halte den Beutel hier und du ziehst mit beiden Händen da drüben auf.« Sie lächelte ihn an, als er seine Turnschuhe herausholte. Wie vertrauensvoll er sie anschaute. – Hoffentlich war in ihrem Bauch alles gut. So lange hatte sie gedacht, sie bekämen nie ein Kind. – »Prima machst du das.« Bestimmt war es schon zehn, sie wollte den Arzt nicht verpassen. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde ihr schwindelig. Sie ergriff den oberen Lauf der Garderobe, blies den Nebel weg und atmete tief. »Nun aber los«, meinte sie, doch Tim war entwischt, bevor sie ihm noch übers Haar streichen konnte. Die abgestandene Flurluft vermischte sich mit dem Geruch des Gummis neuer Schuhe, im Magen schwappte Übelkeit.

Endlich – die Kollegin schloss die Tür des Turnraums. Katharina seufzte, strich sich über den leicht gewölbten Bauch und lauschte kurz dem geschäftigen Treiben, das jetzt nur noch gedämpft zu hören war. Nachdem sie ihre eigene Tür zugezogen hatte, war es fast still.

Wie hieß dieser Fachbegriff noch gleich? Sie zog den Zettel aus der Hosentasche, auf dem sie das Medizinerlatein notiert hatte: Chorionzottenbiopsie. Plazentapunktion war viel einfacher.

Sie räusperte sich. Als sie die notierte Nummer wählte, pulsierte ihr Herzschlag in den Ohren. »Guten Tag, hier ist …« Wenn ihre Stimme bloß nicht so kläglich klänge. »Katharina Brettschneider. Ich möchte Professor Otterbach sprechen.« Ihr säuselte ein klassisches Streichkonzert ins Ohr. Alles Routine, hatte er gesagt. Aber was, wenn sich jetzt doch eine Behinderung herausstellte? War sie dem gewachsen? Was musste er sie so lange warten lassen.

Kurzer Anruf genügt, hatte er gesagt, nachdem diese eklige Prozedur überstanden gewesen war. Mit einer langen Nadel hatte er ihr durch die Bauchdecke gepikst. Sie fröstelte. In einer Minute ist alles vorbei, hatte er gesagt. Tatsächlich lag sie mehr als fünf Minuten da, bis er ihrer Plazenta die Gewebeprobe entnommen hatte. Von wegen, tut nicht weh! Keinen Millimeter durfte sie sich bewegen, während Otterbach im Ultraschall den Abstand zwischen der Nadel und ihrem Baby im Auge behielt und mit der Zunge unaufhörlich über seine Lippen wanderte. Zum Glück hielt Timo klaglos ihre Hand. Am nächsten Tag hatte sie leichten Muskelkater in den Armen gehabt, so fest musste sie gedrückt haben.

»Hören Sie, Frau Brettschneider? Professor Otterbach ist gerade in einer Untersuchung. Er bittet Sie, in die Sprechstunde zu kommen.«

»Er hat mir gesagt, ich kann den Befund der Chorionzottenbiopsie telefonisch erfahren.« Sie ließ die Hand mit dem Zettel sinken.

»Bitte seien Sie in einer Stunde hier.«

»Ich bin doch mitten in der Arbeit!« Ihre Stimme geriet ins Kippen. »So einfach kann ich hier nicht weg. Professor Otterbach soll mich möglichst schnell zurückrufen.« Sie legte auf und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken. In der Praxis wollte er sie sehen! Ihr Herz klopfte wilder, als sie mitzählen konnte. Hoffentlich rief er gleich zurück. Sie ging zum Fenster und sah den vorbeifahrenden Autos nach. Verena würde mit Unterstützung der Praktikantin eine Weile zurechtkommen, die Kolleginnen der anderen beiden Gruppen konnten nicht aushelfen, sie studierten mit den Kindern das Theaterstück fürs Sommerfest ein. Wenn sie die Straßenbahn nahm, musste sie einmal umsteigen, umging damit den Stau, der um diese Zeit stadteinwärts meist herrschte, und war in eineinhalb Stunden zurück. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Wenn ihr nur nicht so schlecht wäre. Ihrer Kollegin hatte sie heute Morgen versprochen, die Einladung fürs Sommerfest zu schreiben. Während der Computer hochfuhr, ging sie wieder ans Fenster. Das Telefon surrte, und sie fuhr herum. Beim Abheben fiel ihr der Hörer aus der Hand und krachte auf den Tisch.

»Ich muss persönlich mit Ihnen sprechen«, vernahm sie den Gynäkologen, als sie den Hörer am Ohr hatte.

»Sie haben gesagt, die Untersuchung ist reine Routine.«

»Frau Brettschneider, Ihr Befund ist positiv. Bitte seien Sie vernünftig, Sie müssen sich Zeit nehmen, denn Einzelheiten können wir nur in meiner Praxis besprechen.«

Sie seufzte laut. »Bin ich erleichtert, ich dachte schon. Damit erübrigt es sich ja wohl, dass ich in die Sprechstunde komme.«

»Verstehen Sie doch, Diagnose positiv heißt, dass die Nachricht für Sie schlecht ist.«

Was redete der da? Sie schüttelte den Kopf. »Unser Kind ist nicht gesund?«

»Bitte kommen Sie in die Sprechstunde.«

Ihr Stöhnen glich einem Schluchzer. »Erst muss ich eine Vertretung organisieren. Frühestens in einer Stunde komme ich hier weg.«

»Je früher Sie kommen, umso besser. Bis zwölf Uhr haben wir Sprechstunde.«

Sie legte auf und sank auf den Schreibtischstuhl. Als Otterbach bei der Ultraschalluntersuchung in der dreizehnten Schwangerschaftswoche die Nackentransparenz ihres Babys gemessen hatte, war der Wert mit 2,5 Millimetern an der oberen Toleranz gelegen. Zwar schien das Risiko für eine genetische Erkrankung mit 1 : 2000 beim Bluttest gering, dennoch hatten beide Werte sie beunruhigt, und sie war aufgewühlt, dass Otterbach ihr Kleines im Bauch mit dem Ultraschallkopf unerbittlich verfolgt hatte wie bei einer Treibjagd. In dieser Stimmung willigte sie schnell in die Plazentapunktion ein.

Behindert sollte es sein? Ihr Kind? Wo sie sich so gefreut hatten. Jahrelang war sie nicht schwanger geworden. Depressionen waren die Folge, bis Katharina erkannte, dass die einzige Rettung darin bestand, ihren Kinderwunsch zu begraben. Und dann, wie ein Wunder, hatte es geklappt. Sie stützte den Kopf auf beide Hände. Vielleicht malte sie schwarz? Sicher war es nicht so schlimm. Immerhin wollte Otterbach mit ihr reden. Er musste eine Chance sehen.

Daheim sah sie öfter ein kleines Mädchen aus dem Nachbarhaus auf dem Dreirad. Die sah doch süß aus und besuchte selbst mit Downsyndrom einen normalen Kindergarten. – Sie hatte es befürchtet, als ihr heute Morgen beim Aufstehen so übel war, dass die gute Hoffnung am seidenen Faden hing.

Timo! Sie musste mit ihm reden. Sie wählte die Nummer ihres Mannes. Seine Sekretärin meinte, er werde erst am späten Nachmittag noch mal ins Büro kommen. Beim Versuch, ihn unterwegs zu erreichen, antwortete seine Mailbox. »Timo, ich bin’s. Es ist furchtbar wichtig, dass du mich schnell anrufst. Hörst du? Ganz dringend – unser Kind!«

Sie sackte in sich zusammen und schluchzte. Alles war gegen sie. Tränen liefen ihr über die Wangen. Wie schafften es andere Eltern mit einem behinderten Kind? Liebten sie es wirklich? Gab es jemals noch unbeschwerte Stunden, wenn ihm jeder sofort ansah, dass es nicht war wie andere? Mitleidige Blicke hasste sie. Konnte sie nach der Elternzeit überhaupt noch arbeiten mit einem behinderten Kind? Oder musste ausgerechnet sie, die ihren Beruf so liebte, für immer daheimbleiben, um ihren Sohn oder ihre Tochter zu pflegen? Würde das Kind überhaupt jemals richtig lebensfroh sein? Sie fasste sich ans Herz. Im Zeitraffer sah sie ihr künftiges gemeinsames Leben Jahr für Jahr als einzige Abfolge von Arztbesuchen, Ergotherapie, Logopädie und Reha-Aufenthalten. Dicke Tränen flossen ihr den Hals hinab.

Reiß dich zusammen, du brauchst niemandem Rede und Antwort stehen, du kennst das Spiel. Sie rappelte sich auf. Während ihr Blick über das Gesicht huschte, das ihr aus dem Taschenspiegel entgegensah, fuhr die Hand bereits mit dem puderbestäubten Pinsel über die rotgeränderten Augen, die Wangen und die glänzende Nase. Schon besser! So konnte sie weitermachen. Keiner wusste, dass ihre Zeit stillstand. Einfach normal weitermachen. Leise atmete sie auf. Alles war geübt, sie hatte sich im Griff.

Mit hochgezogenen Schultern betrat sie den Turnraum. Wie geschickt einige Mädchen und Jungen die Hula-Hoop-Reifen um ihre Körper kreisen ließen. Bei anderen knallten die roten Holzringe ohne eine einzige Umdrehung zu Boden. Die Jüngsten auf den blauen Matten wetteiferten um den schönsten Purzelbaum und riefen: »Loretta, guck mal, was ich kann.« Ihr Herz stach. Niemals würde ihr Kind so sein.

»Du siehst bedrückt aus. Was ist los?«

Sie hatte Verena gar nicht wahrgenommen. »Ich überlege gerade wie … muss weg«, murmelte sie. »Meine Frauenärztin, sie will gleich mit mir reden.« Sie verschränkte beide Arme vor der Brust. »Der Befund von meiner letzten Vorsorgeuntersuchung ist auffällig. Gerade hat sie angerufen.« Als sie aufblickte huschten ihre Augen an Verena vorbei, taxierten die Wand. »Bitte, übernimm du. Ich bin so schnell wie möglich zurück.«

Verena fragte nicht weiter, darauf konnte sie sich verlassen. Sie kannten sich gut genug.

Eine halbe Stunde später saß sie dem Spezialisten für vorgeburtliche Diagnosen an seinem Schreibtisch gegenüber.

»Sehen Sie, Frau Brettschneider, mein Anfangsverdacht täuscht mich selten. Schon als ich den Wert der Nackenfaltentransparenz sah, war mir klar, dass es sich lohnen würde, genauer nachzuhaken. Es tut mir sehr leid, dass Ihre Diagnose positiv ist.« Er klickte mit der Maus, um eine Datei am Bildschirm zu öffnen.

Sie krallte die Fingernägel in ihre Oberschenkel. »Ich kann es einfach nicht glauben. Ein Kind mit Downsyndrom, das ist so ungerecht. Wissen Sie, wie viele Jahre wir gewartet haben?« Sie schnaufte durch. »Können Sie jetzt schon sehen, wie schlimm die Behinderung wird?«

»Unsere Früherkennung an sich ist ja ein Segen, denn ihr verdanken wir es, dass wir unsere technischen Möglichkeiten ganz und gar zugunsten des werdenden Lebens einsetzen können. Leider bringt sie es aber auch mit sich, dass Eltern manchmal unvermittelt vor schwierigen Situationen stehen. Dennoch, es ist einfach besser, Sie erfahren davon möglichst frühzeitig, damit Sie richtig entscheiden können. Nur«, sagte er bedächtig, »muss ich Sie abermals enttäuschen. Sie bekommen kein Kind mit Trisomie 21. Ihre Diagnose ist Trisomie 18.«

Sie starrte ihn an. »Ihr Kind ist nicht lebensfähig, Frau Brettschneider. Sie müssen die Schwangerschaft abbrechen.«

Auf seinem Arztkittel tanzten weiße Flocken. Sie starrte mitten hinein, schon wirbelten sie wie dichtes Schneegestöber und verdunkelten den Raum.

»Meinen Sie …« Aus dem Weitweg vernahm sie kaum hörbar ihre eigene Stimme. Sie räusperte. »Wollen Sie sagen …?« Als sie die Augen hob, ließ das Gewirbel nach. Sie befahl dem Blick, höher zu steigen, bis er am Regal hinter dem Arztkittel Halt fand.

»Ihr Kind hat das sogenannte Edwards-Syndrom. Diese Kinder leiden unter einer schweren Entwicklungsstörung, die entsteht, wenn eine der Keimzellen ein zusätzliches Chromosom enthält – nämlich das 18. Möglicherweise wurde das Chromosomenpaar 18 bei der Bildung der Eizellen oder der Samenzellen nicht getrennt, wie das bei der Befruchtung normalerweise geschehen muss. Sie wissen ja, mit zunehmendem Alter der Mutter nimmt die Wahrscheinlichkeit, ein behindertes Kind zu bekommen, deutlich zu.«

Ihre Halsschlagader pulsierte, sie räusperte sich erneut: »So alt bin ich noch gar nicht!« Sie rückte vor bis auf die Stuhlkante und vermied dabei, den Weißkittel anzusehen. »Was fehlt ihm denn genau?«

»Es sind schwere Fehlbildungen an den Organen zu erwarten. Und da es jederzeit möglich ist, dass solch ein gravierend geschädigter Fötus aufhört zu leben, setzen Sie Ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, wenn Sie die Schwangerschaft fortsetzen. Ich habe gleich für heute Nachmittag in der Klinik auf dem Berg ein Bett für Sie reserviert.«

Dichte Schneeflocken prasselten ihr ins Gesicht, schluckten die Geräusche des Raums und rissen sie in den fauchenden Sturm, dass sie die Luft anhielt. »Bei uns sind Sie in guten Händen. Das Personal ist geschult und geht mit Frauen in Ihrer Situation einfühlsam um. Sie werden auf keinen Fall mit der Wöchnerinnenstation in Berührung kommen. Wir wissen, das ist unzumutbar.«

Luft! Sie brauchte Luft. Sie riss den Mund auf und wirbelte inmitten der dichten Flocken um die eigene Achse, bis ihr Blick Halt am Regal fand. Ihre gute Hoffnung sollte sie hergeben! Ihr Blick bohrte sich ins Regal hinein. Sie brauchte Halt. Lügenworte! Sie reckte das Kinn vor. Ja, so musste es sein. Alles Lüge! »Woher wissen Sie das so genau? Ich meine, das Ergebnis. Ich habe schon öfter gehört, dass das Kind später trotzdem gesund war.«

»Glauben Sie mir, wir arbeiten in der Medizin nicht mit Geisterbeschwörung, sondern mit modernsten Verfahren. Der erweiterte Ultraschall, bei dem wir die Nackentransparenz gemessen haben, hat uns bereits einen Entwicklungsrückstand gezeigt: Der Kopf Ihres Kinds ist zu klein, es ist insgesamt zu klein, und wir erwarten eine schwere Missbildung des Herzens, außerdem auch an den inneren Organen.

Erneut zerrte das Schneegestöber sie in sein Zentrum. Das Gesicht hinter den Händen verborgen, sank sie in sich zusammen.

»Ich weiß, das ist sehr schwer für Sie.« Er stand auf, ging um den Schreibtisch und legte die Hand auf ihre Schulter. »Doch leider gibt es keine Überlebenschance für Ihr Kind. Seien Sie vernünftig, und bringen Sie das Ganze möglichst schnell hinter sich. Dann können Sie schon bald an eine neue Schwangerschaft denken. Kommen Sie um zwei heute Nachmittag in die Klinik.«

Sie biss die Zähne zusammen und wand sich aus dem Schneesturm, schüttelte die Flocken ab. »Ich muss arbeiten.« Sie krächzte, doch kräftiges Räuspern befreite die Stimmbänder. »Auf meinem Schreibtisch türmt sich die Arbeit. Was werden die Kolleginnen sagen, wenn ich fehle?«

»Je eher Sie das Ganze angehen, desto früher sehen Sie wieder nach vorn. Und was Ihren Kindergarten betrifft, das wird sich doch regeln lassen!«

Sie schnäuzte, während ihre Gedanken davonstoben zur Alltagsroutine. Aushang fürs Sommerfest: Wer brachte welchen Salat mit? Wer fragte beim Karateverein wegen der Bänke und Tische, ebenso wegen des Grills? Teambesprechung zum neuen Orientierungsplan. Gleich nach den Sommerferien sollte das Projekt beginnen. Wenn sie die nächsten beiden Tage ausfiel, kam zum Glück schon das Wochenende, da konnte sie Montag wieder arbeiten. Sie gewann wieder sicheren Boden unter den Füßen, die Arbeit war ihr Terrain. Sie richtete den Rücken auf. »Vor morgen kann ich nicht weg.«

»Gut, dann um zehn in der Gynäkologie in der Klinik auf dem Berg.« Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch. »Das Formale erledige ich für Sie, ich rufe gleich die Sekretärin an. Ich versichere Ihnen, das ist das Beste, was Sie in dieser Situation tun können.«

Den Kopf an die Scheibe gelehnt starrte sie aus dem Fenster der Stadtbahn. Nicht lebensfähig. Alle bekamen Kinder ohne Komplikationen – nur sie nicht. Nachdem sie und Timo beschlossen hatten, nicht mehr zu verhüten, stellte sich einfach kein Kind ein. Dreimal hatten sie ihr ein künstlich befruchtetes Ei eingesetzt, selbst das nistete sich nicht ein. Im Kindergarten machte sie schon länger einen weiten Bogen um die erfahrenen Mütter mit ihrem wohlmeinenden Rat. Deshalb hatte sie niemandem erzählt, dass sie doch noch schwanger geworden war, nicht einmal Verena. Wo sie doch zuvor allen weisgemacht hatte, ihr Kinderwunsch sei abgeschlossen. Und jetzt, nach der unverhofften Chance, sollte ein einziges Chromosom zu viel ihre Wünsche erneut begraben? Wie hieß der Begriff, den Otterbach genannt hatte? Timo, sie musste ihn anrufen. Sie kramte das Handy aus ihrer Tasche. Bitte, bitte, geh ran.

Zurück im Kindergarten nahm sie mehrere tiefe Atemzüge, bevor sie die Tür zum Gruppenraum öffnete. An Loretta vorbei, die einigen Kindern beim Puzzeln half, steuerte sie auf Verena zu. Die Kollegin beobachtete Kinder im freien Spiel und machte sich Notizen.

»Meine Ärztin hat gedrängt, dass ich mich möglichst schnell operieren lasse. Zwei Tage muss ich für den Eingriff im Krankenhaus bleiben.«

Verena sah sie erschrocken an. »Hoffentlich nichts Bösartiges.«

»Nein, es ist nur …«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, »… unangenehm«. Sie stemmte die Hände in die Hüften. Bitte nimm dir nachher, wenn die Kinder alle abgeholt sind, einige Minuten Zeit für die Übergabe. Ich schreibe dir auf, was diese Woche dringend zu tun ist.«

Im Büro nahm Katharina die angepinnten Unterlagen für das neue Schulvorbereitungsprogramm vom Schwarzen Brett. Während sie ihre handgeschriebenen Seiten überflog, ließ sie sich auf den Stuhl sinken. – Dichte weiße Flocken bedeckten ihre Schrift. Hörte das heute gar nicht mehr auf? Reiß dich zusammen! Sie bohrte den Blick ins Schneetreiben, bis sie die einzelnen Buchstaben wieder erfasste. Rücken aufrichten! Sie musste das Protokoll eintippen, die Kolleginnen brauchten es, um die nächste Besprechung vorzubereiten. Sie seufzte und tippte auf der Tastatur. Dass sie auch immer alles selbst machen musste! Künftig würde sie leserlicher schreiben und die Praktikantin für die Reinschrift engagieren.

Wenig später entnahm sie dem Drucker den fertigen Text, überflog die Zeilen, strich dabei mit der freien Hand über ihren Bauch. Sie griff eine Klarsichthülle aus dem Regal, schob das Protokoll hinein und legte es auf den Stapel für ihre Stellvertreterin. In dem Moment ging hinter ihr die Tür schwungvoll auf. Sie zuckte zusammen, fasste sich aber gleich wieder und wandte sich der Kollegin zu. »Der Aushang fürs Sommerfest übernächste Woche ist bei mir zu Hause auf dem PC, dummerweise habe ich heute Morgen vergessen, ihn mitzubringen.« Verenas Blick wich sie aus. »Heute Abend maile ich dir die Liste. Bitte häng sie morgen gleich auf und sag den Eltern, sie sollen sich eintragen.«

*****

Der Parkettboden ihrer Wohnung im zweiten Obergeschoss ächzte, als die Tasche darauf plumpste und sie die Sneakers abstreifte, um sich hinzulegen, damit das Hamsterrad im Kopf zum Stillstand kam. Barfuß schlurfte sie zum Wohnzimmer, wo sie sich auf der Couch in die bunte Wolldecke wickelte.

Ein bleierner Schleier trennte sie von der Kraft, die den Farben ihrer Kuscheldecke innewohnte und deren Lebensfreude ihr oft mitten ins Herz sprühte. Sie fröstelte. Heute behielt die Übelkeit Oberhand, trotz der Kügelchen, die sie am Morgen eingenommen hatte. An der Wohnungstür hörte sie einen Schlüssel ins Schloss gleiten, das gleich darauf aufschnappte. »Timo, hier bin ich, im Wohnzimmer.« Unter seinen Ledersohlen knallte das Parkett.

»Es gibt Komplikationen?« Er sah sie besorgt an. »Hoffentlich musst du nicht die nächsten Monate liegen.« Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Aber selbst wenn, das schaffst du. Wir sind schon mit anderem fertig geworden.«

»Timo …«

Seine Finger streichelten ihren Handrücken. »Ich weiß, du hast den ganzen Tag auf mich gewartet, schneller konnte ich leider nicht Schluss machen.«

»Bitte hör mir zu, ich war bei Otterbach und …«

»Du warst bei ihm?«

»Unser Kind … Timo! Otterbach … er sagt, es ist nicht lebensfähig.« Sie schluchzte, als er ihre Hand losließ. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er zitterte und holte eine Packung Taschentücher aus der Kommode unterm Fenster, zog einige heraus und reichte ihr eines.

»Was heißt nicht lebensfähig? Hat er das so gesagt?«

»Es hat ein Chromosom zu viel, deshalb hat es einen schweren Herzfehler.«

»Unser Kind hat eine genetische Erkrankung, meinst du das?«

»Den medizinischen Begriff konnte ich mir nicht merken. Morgen Vormittag soll ich in die Klinik auf dem Berg kommen. Es gibt keine Hoffnung, hat er gesagt.«

»Nicht lebensfähig?« Timo sprang auf und lief auf dem Muster des Teppichs hin und her. »Das glaub ich nicht, ohne dass wir eine Zweitmeinung eingeholt haben. Heutzutage kann die Medizin vieles operieren. Erst neulich habe ich einen Artikel darüber gelesen, den haben wir bestimmt noch im Haus. Hast du es deiner Frauenärztin gesagt?«

Daran hätte sie wirklich selbst denken können! Sie schüttelte den Kopf.

»Wir brauchen einen Termin, noch heute.« Timo blieb vor ihr stehen. »Wir müssen mit einem zweiten Arzt sprechen. Das ist ja wohl das Mindeste.« Er nahm das Telefon. »Wie ist ihre Nummer?«

*****

Katharina suchte Blickkontakt zu Dr. Hess, doch die Ärztin heftete ihre Augen auf den Bildschirm, nachdem sie ihnen bedeutet hatte, Platz zu nehmen. »Denkbar schlechte Nachrichten, der Befund von Professor Otterbach.« Nicht einmal ihre vielen Sommersprossen konnten über den Ernst ihrer Miene hinwegtäuschen.

»Etwas mehr Aufmunterung könnten wir gut vertragen«, meinte Timo. »Wir haben gehofft, Sie sagen uns: Kopf hoch, alles halb so schlimm, wie es sich anhört.«

Die Frauenärztin zog die Stirn in Falten, ließ den Bildschirm noch immer nicht aus den Augen. Hatte sie das Untersuchungsergebnis nicht längst gelesen?

Katharina presste ihre Hände auf den Bauch und verscheuchte die weißen Flocken. Geschmolzen war der kleine Funke Hoffnung. Timo neben ihr holte tief Luft. Sie tat es ihm gleich.

»Bis jetzt kennen wir nicht einmal die vollständige Diagnose. Professor Otterbach hat meine Frau mit Begriffen überschüttet, die kein Laie behalten kann.«

Endlich riss die Ärztin den Blick vom Bildschirm los.

»Nicht lebensfähig war das Einzige, was ich wirklich verstanden habe.« Sie starrte die Ärztin an, die ihre Arme vor der Brust verschränkte.

»Trisomie 18, auch Edwards-Syndrom genannt.«

»Davon habe ich noch nie gehört.« Timo hielt sich an den Armlehnen fest.

»In ihrer äußeren Erscheinung zeigen diese Kinder kaum Auffälligkeiten. Das heißt, meist leiden sie unter mehreren inneren Fehlbildungen, bei denen vor allem das Herz betroffen ist.« Sie nahm das Modell des Fötus’ auf ihrem Schreibtisch in die Hand und klappte die Bauchdecke auf, unter der die Organe sichtbar wurden. »Sehen Sie hier«, deutete die Medizinerin mit dem Zeigefinger, »in der Herzscheidewand kann es Defekte geben oder«, ihr Finger fuhr zum Magen-Darm-Trakt bis hinunter zum Harnleiter, »in den Verdauungs- und Ausscheidungsorganen, von denen auch häufig die Nieren betroffen sind. Selbst Schädigungen am Gehirn sind keine Seltenheit.«

»Das alles hat unser Kind?«

Dr. Hess sah abwechselnd von einem zum anderen.

»Nein.«

»Es gibt also Hoffnung?« Katharina rückte vor auf die Stuhlkante.

»So leid es mir tut, ganz egal, ob Ihr Kind nur eine Fehlbildung hat oder mehrere: Leben kann es damit niemals.«

Katharina rutschte zurück in den Stuhl und sank in sich zusammen. Nicht aufgeben. »Timo, zeig ihr den Zeitungsausschnitt. Du hast ihn doch mitgenommen?« Sie rappelte sich wieder hoch.

Aus der Innentasche seines Jacketts zog er ein zusammengefaltetes Papier, das er öffnete und glatt strich. »Hier steht schwarz auf weiß, man kann kranke Kinder bereits im Mutterleib operieren.«

»So gern ich es täte, in Ihrem Fall kann ich keine Hoffnung machen, auch wenn diese Möglichkeit zugegebenermaßen besteht. Bei Herzrhythmusstörungen beispielsweise, bei Virusinfektionen oder Problemen mit der Schilddrüse, nicht aber bei veränderten Chromosomen. Davon ist die Medizin noch weit entfernt.« Die Ärztin betupfte ihre Stirn mit einem Kleenex.

»Lesen Sie doch erst mal …« Timo tippte auf die rot umrandete Passage.

»Ich weiß, dass Eltern sich gern selbst an den dünnsten Strohhalm klammern, aber ich betone noch mal: Krankhafte Veränderungen an Chromosomen kann unsere Medizin nicht behandeln. Anderslautende Berichte sind schlicht unseriös.«

Katharina starrte die Frauenärztin an.

»Tun Sie, was Professor Otterbach Ihnen rät. Lassen Sie die Schwangerschaft abbrechen.«

»Und wenn wir das nicht tun?«

»Sie wollen schwanger bleiben?« Die Ärztin stieß sich mit beiden Händen vom Schreibtisch ab.

»Ja, nein, nur mal angenommen.«

»Eine unnötige Qual ist das in meinen Augen, Sie würden ständig nach Zeichen suchen, ob Ihr Kind noch lebt. Sehr wahrscheinlich stirbt es während der Schwangerschaft, spätestens aber unter den Anstrengungen der Geburt. Selbst wenn es beides überstehen sollte, der Stoffwechsel außerhalb des Mutterleibs strengt den geschädigten kleinen Körper so sehr an, dass er nur für kurze Zeit damit zurechtkommen kann.«

Sie schob ihre eiskalte Hand in Timos feuchte.

»Glauben Sie mir, ich bin mir bewusst, dass es sich alles andere als sensibel anhört, doch in Ihrem Fall halte ich den harten Schnitt für das Beste.«

Katharina biss auf die Unterlippe. Kürzlich erst hatte sie sich beim Schreiner in dieses Kinderbett aus Kirschholz verliebt, in seine sanft gerundeten, glatt geschliffenen Formen, die sich in ihre Handfläche schmiegten. In der Sonne verschmolzen die Maserungen in einen goldenen Farbreigen. Sie zog Timos schweißnasse Hand an ihre Wange. »Sag doch auch mal was.«

»Unser Kind sollen wir – abtreiben? Sie wissen doch, wie lange wir …« Er fasste sich ans Herz. Ihr Blick ruhte kurz auf Timo. So war er keine Hilfe. Kopfschüttelnd wandte sie sich der Ärztin zu.

»Sie sind«, Dr. Hess vergewisserte sich auf dem Bildschirm, »in der siebzehnten Schwangerschaftswoche. Da wird eine Geburt eingeleitet.«

»Geburt?« In ihren Ohren mischte sich der eigene Aufschrei mit dem von Timo.

»Keine Sorge – Ihr Kind ist noch sehr klein, Sie werden höchstens schwache Wehen haben, denn Ihr Muttermund muss sich nur wenige Zentimeter öffnen.«

Katharina schluckte trocken.

»Wenn es da ist, und das lege ich Ihnen sehr ans Herz, sehen Sie sich Ihr Kind an. Der Abschied fällt leichter, wenn Sie es mit eigenen Augen gesehen haben. Herr Brettschneider, begleiten Sie Ihre Frau! Stehen Sie ihr zur Seite, das wird Sie beide stärken, auch wenn es im Moment schwer ist.« Dr. Hess stand auf.

*****

Die Ampel hinter dem Hauptbahnhof sprang auf Rot, und Timo bremste.

»Glaubst du den Ärzten?«

Seine Finger trommelten aufs Lenkrad. »Erst lässt du solch eine Untersuchung machen, und wenn dir das Ergebnis nicht gefällt, zweifelst du die Diagnose an. Das sind Experten. Von Schulmedizin haben wir zu wenig Ahnung, deshalb bin ich froh, dass sie uns eine Lösung bietet. Immerhin hat Otterbach einen Ruf als Fachmann für vorgeburtliche Diagnosen.« Sein Gesicht war rot geworden. »Deswegen haben wir ihn schließlich konsultiert, wir gehen doch nicht zu irgendwelchen Pfuschern.«

Sie biss sich auf die Lippen. Am liebsten wäre sie ausgestiegen. Auf Belehrungen konnte sie verzichten. Überhaupt, sollte er morgen doch ins Büro gehen, sie wollte ihn sowieso nicht dabeihaben. In wichtigen Angelegenheiten ließ er sie immer im Stich. Sie starrte auf die Straße. Die Stimmung war fast wie damals, als sie sich nur noch anschwiegen, aus Angst, der andere würde jedes Gespräch über die ausbleibende Schwangerschaft als Vorwurf verstehen. Nun war sie schwanger, doch neue Hindernisse drängten sich zwischen sie. Von Risikoschwangerschaft hatte die Ärztin gesprochen, als sie in der dreizehnten Woche zur Untersuchung gekommen war, dabei war sie gerade mal siebenunddreißig. Offensichtlich hatte die Ärztin recht gehabt. Hätte sie nur neulich den Strampelanzug nicht gekauft, mit den aufgestickten Elfenkindern. So oft hat ihre Mutter gewarnt: Wenn der Vogel morgens singt, hat ihn abends die Katze gefressen, bis sie sich schließlich nicht mehr traute, gleich nach dem Aufstehen fröhlich singend durch die Wohnung zu hüpfen. Was war nur in sie gefahren, schon im fünften Monat erste Babyausstattung zu kaufen?

Die Ampel wurde grün, Timo gab Gas. Fast im selben Moment stoppte ein dumpfer Aufprall den Wagen.

»Musst du so rasant anfahren!« Sie rieb sich das Genick.

»Bist du in Ordnung?« Sein Blick war besorgt. Noch während er den Warnblinker einschaltete, sprang sie aus dem Cabrio. Auch der Fahrer des vorderen Fahrzeugs stieg aus, um seine Stoßstange zu besehen. Sie war bis zum Kofferraum eingebeult.

»Grün ist zum Fahren da!« Ihre Stimme schrillte in ihren Ohren. Der Fahrer wich einige Schritte zurück, als sie erhobenen Zeigefingers auf ihn zustürmte. »Ich hab genau gesehen, dass Sie losfuhren, Ihr Bremslicht hat nicht mehr geleuchtet. Was fällt Ihnen ein, plötzlich wieder anzuhalten!«

»Hören Sie mal, nur weil Sie ’nen Sportflitzer fahren, ist es noch lange nicht meine Schuld, wenn Sie auffahren.« Der blonde Mann baute sich vor ihr auf und strich seine Locken hinter die Ohren.

Timo stellte sich zwischen die beiden. »Ist ja gut, sie hat es nicht so gemeint. Natürlich liegt die Schuld bei mir. Außer dem Schreck ist Ihnen hoffentlich nichts passiert?«

Der junge Mazda-Fahrer schüttelte den Kopf.

Hinter ihnen hupten einige Autos in der Schlange des Berufsverkehrs. Timo winkte sie auf die zweite Spur, bevor er Katharina von dem Mann wegzog und sein Smartphone aus der Hemdtasche nahm. »Wir fotografieren den Schaden, dann brauchen wir keine Polizei zu holen. Gleich morgen melde ich den Unfall meiner Versicherung.«

»Timo, ich will nach Hause.« Ihre Stimme versagte fast, und sie presste die Hände auf den Bauch. »Ich will keine Wehen bekommen.« Schluchzend ließ sie sich von ihrem Mann auf den Beifahrersitz dirigieren, dann sah sie durch die weißen Flocken hindurch, wie er mit dem Handy fotografierte und dem Mann danach seine Visitenkarte reichte. Der Mazda-Fahrer war schon davongebraust, als Timo neben ihr auf den Fahrersitz rutschte. Er trocknete ihr die Tränen, Stirn an Stirn lehnten sie für einen Moment aneinander, bis er den Warnblinker abschaltete und sich mit zweimaligem Blick in den Rückspiegel vergewisserte, dass er losfahren konnte.

*****

Als sie daheim im Flur die Schuhe auszogen, meinte Timo: »Verzeih, dass ich vorhin so barsch war. Heute war ein Termin nach dem anderen, am Vormittag ein langes Gespräch mit einem neuen Mandanten, dann erfuhr ich die Diagnose, kaum waren wir bei deiner Ärztin, sprach sie von Geburt, und wir sollten das Kind ansehen. Ich weiß kaum noch, wo mir der Kopf steht.«

Sie nickte und suchte seinen Blick. »Ich hab Angst vor morgen.«

Er nahm sie in den Arm. »Ich bring dich hin, und als Erstes reden wir noch mal mit Otterbach. Das ist er uns schuldig.«

Timo stand ihr zur Seite. »Danke, du bist ein Schatz.«

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, mailte sie die Essensliste für den Aushang des Sommerfests an ihre Kolleginnen vom Uhuhaus und fuhr den PC herunter. Da fiel ihr ein, dass sie komplett vergessen hatte, das Schreiben an die Sprachhelferin aufzusetzen, die dienstags und donnerstags mit den Kindern üben sollte. Und wenn sie es auf nächste Woche verschob? Doch was, wenn ein anderer Kindergarten zuvorkam und die Sprachhelferin der Einrichtung zusagte, weil sie nicht wusste, woran sie im Uhuhaus war? Das wollte Katharina nicht riskieren, Ersatz würde sie so schnell keinen finden, der den Kindern aus Migrationsfamilien bis zur Einschulung Deutsch beibrachte. Seufzend schaltete sie den Computer wieder ein.

Kurz nach Mitternacht kuschelte sie sich unter die Decke zu Timo. Er atmete ruhig, und sie zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Was war sie erleichtert, dass sie niemandem außer ihren Eltern von ihrer guten Hoffnung erzählt hatten. Wie scheußlich sie sich jedes Mal fühlte, wenn die anderen fragten: Wollt ihr keine Kinder? Wann ist es denn so weit? Dauernd lag ihr eine Rechtfertigung auf der Zunge, um dem angeblich wohlmeinenden Rat auszuweichen. Fast jeder steuerte einen bei. – Wenigstens das blieb ihr jetzt erspart.

Als das beständig leise Atmen ihres Mannes in leichtes Schnarchen überging, rotierten ihre Gedanken noch immer. Sollte sie etwas zum Schlafen nehmen? Wenn sie ihr Kind sowieso verlor, schadeten ihm Medikamente jetzt auch nicht mehr. Den Streifen mit den Schlaftabletten fand sie im Badregal ganz hinten, sie drückte eine aus der Folie. Trisomie 18 – was sich hinter solch einem kurzen Wort verbarg: Das Leben einer kleinen Familie bereits ausgelöscht, bevor es richtig begonnen hatte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Unterleib und nahm ihr den Atem. Hätte sie bloß nicht daran gedacht. Bitte, flehte sie, bleib noch! Sie umfasste den Bauch zart, wiegte sich wie einen Säugling. Wie kurz sie war, die Zeit mit ihrem Kind. Sie spülte die Tabletten im Klo runter.

Seiltänzerin

Die Uhr zeigte 8.59, als sie den Zebrastreifen passierten, der die Besucher vom Parkhaus zum Eingang der Klinik auf dem Berg führte. Sie hatte sich unterwegs übergeben, deshalb waren sie spät dran. Aufregung brachte ihren Magen schon immer in Aufruhr, und seit sie schwanger war, ertrug sie den Geruch von Abgasen kaum noch. Sie schob ihre verschwitzte Hand in Timos rechte, der ihre rote Reisetasche auf der anderen Seite trug. Die Schiebetür der Glasfront glitt geräuschlos zur Seite und gab ihnen den Weg in den Eingangsbereich frei, wo sie zu den Informationstafeln liefen. Sie mussten ins zweite Obergeschoss. Katharina ließ sich von Timo zum Aufzug ziehen. Beim Einsteigen kam ihnen ein junges Paar mit einem Neugeborenen auf dem Arm entgegen. Ihr wurde eiskalt. Die Besucher und Patienten, die mit ihnen nach oben fuhren, ignorierte sie. Es lag Jahre zurück, dass sie hier ihren Vater nach seiner Herzoperation besucht hatte. Was war sie froh gewesen, die erdrückende Atmosphäre des Krankenhauses wieder zu verlassen. Warum war sie heute nicht daheimgeblieben?

Die Zwei leuchtete auf, als der Aufzug hielt. Gynäkologie. Sie liefen direkt auf die geschwungene Servicetheke zu. Timo räusperte sich: »Professor Otterbach schickt uns.«

Die Empfangsdame sah zu ihnen auf. »Frau Brettschneider?«

Sie nickte.

»Er erwartet Sie schon. Kommen Sie mit.«