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Nahe Familienmitglieder sterben, der Welt geht es auch nicht so gut, das letzte Glas Alkohol wird getrunken und die letzte Zigarette geraucht. Und doch färbt Martin Suter sich noch immer nicht die Haare. Wer auch in schwierigen Situationen und Kippmomenten des Lebens noch lacht, meint es wirklich ernst mit dem Humor.
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Seitenzahl: 335
Martin Suter | Benjamin von Stuckrad-Barre
Diogenes
Für Ana und John
SUTER:
Wart schnell, ich muss gerade den Tulpen noch etwas Wasser geben.
STUCKRAD-BARRE:
Schnittblumengießen – so frühmorgens schon der Vanitas-Gedanke, du liebes bisschen.
SUTER:
Tulpen sind ja richtige Säufer. Die wachsen auch noch, wenn sie tot im Wasser stehen.
STUCKRAD-BARRE:
Tulpen sind ja zunächst immer ein Versprechen. Aber wie so oft ist die Verwirklichung von etwas bei Weitem nicht so schön wie unsere Vorstellung davon. Und kaum blühen die Tulpen auf, war’s das ja auch schon wieder für sie.
SUTER:
Nicht gleich.
STUCKRAD-BARRE:
Aber sehr bald. Mit dem Aufblühen werfen sie doch schon die Hände gen Himmel. Weißt du, wie dieses Shrug-Emoji: »Da kann man wohl nichts machen«, oder auch ein bisschen patziger: »Whatever«. Ich glaube, das ist die Botschaft dieses Emojis. Und schon fällt Staub aus den Tulpenblütenstempeln.
SUTER:
Dieses Emoji bedeutet doch auch »Ich kann nichts dafür«, oder?
STUCKRAD-BARRE:
Eher so ein passiv-aggressives »Tja«.
SUTER:
Das also sagen deine Tulpen dir. Und was sagst du dann deinen Tulpen?
STUCKRAD-BARRE:
»Ihr Süßen, ihr habt euch leider komplett in der Tür geirrt.« Also für mich bitte gar keine Blumen. Ich wohne einfach nie so, dass Blumen das gut bekäme. Mit plötzlichen Blumen in meinen Hotelzimmern verfahre ich ähnlich wie mit Bierflaschenirrtümern oder so in der Minibar, wenn da mal jemand nachfüllt, der mich noch nicht kennt – oder dem ich schon sehr lange nicht mehr begegnet bin. Alkohol und alles Florale wird von mir umgehend entsorgt, beinahe vorwurfsvoll knalle ich das vor die Tür. Das Schlimmste sind natürlich Trockensträuße.
SUTER:
Das ist das Schlimmste, das ist wahr. Habe ich dir mal von meiner Begegnung mit Ingrid Noll in Nürnberg erzählt?
STUCKRAD-BARRE:
Der Schriftstellerin? Die Apothekerin?
SUTER:
Ja, die schreibt lustige Krimis und ist überhaupt eine sehr lustige Frau. Wir trafen uns zufällig am Bahnhof und hatten dasselbe Reiseziel. Sie hat mich gefragt: »Ja, in welchem Hotel sind Sie denn untergebracht?« Und ich: »Im Romantikhotel sowieso.« Dann hat sie gesagt: »Oh, immer diese Romantikhotels, das sind die mit den Trockengestecken.«
STUCKRAD-BARRE:
Da muss ich Ingrid Noll wirklich zustimmen: Romantikhotels sind die Pest. Also überhaupt alles, was Romantik heißt. Das ist ja nie Romantik. Das ist immer bloß schrecklich.
SUTER:
Ja, gut, mich nennen sie ja auch romantisch.
STUCKRAD-BARRE:
Wer nennt dich romantisch?
SUTER:
Viele. Die Leserschaft manchmal. Und auch die Kritikergemeinde im Grunde genommen.
STUCKRAD-BARRE:
Das erfindest du alles jetzt gerade!
SUTER:
Nein! Außerberuflich erfinde ich nie.
STUCKRAD-BARRE:
Na ja, ich empfinde dich schon auch als romantisch, aber ob du tatsächlich als Romantic Force giltst in der deutschen … Achtung, wie findest du das: in der deutschen Literaturlandschaft? Die Literaturlandschaft ist natürlich ein Untergebiet der Kulturlandschaft, möglicherweise ein Sumpfgebiet. Ich glaube, in der Kulturlandschaft stehen jede Menge Romantikhotels.
SUTER:
Buchhandlungen bringen uns Autoren bei Lesereisen gerne dort unter.
STUCKRAD-BARRE:
Und da ist immer Herbst. Also in der Kulturlandschaft stand ein Romantikhotel, und da trafst du Ingrid Noll, und die aber sprach: »Vorsicht vor Romantikhotels, da dräut der Trockenblumenstrauß«?
SUTER:
Ja, Trockengestecke hat sie das höflich genannt.
STUCKRAD-BARRE:
Und schon riecht es in dieser Anekdote nach Tod. Da ist die Noll natürlich Profi.
SUTER:
Uns hast du aber schon manchmal Blumen mitgebracht.
STUCKRAD-BARRE:
Blumen verschenken, das mache ich sehr gerne. Ich bin vielleicht ein ganz guter Blumenkäufer, weil ohne Expertise oder floristischen Ehrgeiz, einfach nur mit der Maßgabe: Kein Grünzeug, bitte! Ich entscheide mich für den Blumentypus, der in dem Moment gerade am frischesten aussieht. Und ich mag es, wenn sie bunt sind. Konzentration also auf eine Sorte, davon aber gerne viele, sehr viele. Und dann sofort verschenken.
SUTER:
Man muss sie ausgepackt überreichen. Das erspart einem auch das Klingeln. Drinnen das Ehepaar, und sie sagt: »Oh, der kommt schon.« Und der Mann sagt: »Es hat gar nicht geklingelt.« – »Aber du hörst doch draußen schon das Papier rascheln.« Eine ungerade Anzahl Blumen muss es natürlich sein, aber das weißt du ja.
STUCKRAD-BARRE:
Eher so passiv, befolgt habe ich das nie. Warum auch, was ist die Idee dieser Regel?
SUTER:
Das weiß ich auch nicht. Manchmal habe ich den Stilbruch gemacht, eine gerade Zahl zu nehmen, um zu sehen, ob es jemand merkt. Aber bis jetzt nicht.
STUCKRAD-BARRE:
Aber ein interessanter Weg, herauszufinden, ob nicht doch noch ein paar mehr Bekanntschaften verzichtbar sind. Wer Blumen nachzählt, fliegt raus.
SUTER:
»Danke für die sechzehn Rosen« – und tschüß.
STUCKRAD-BARRE:
Wenn man sie zählen kann, sind es sowieso zu wenige.
SUTER:
Ich kenne eine Frau, die hasst Schnittblumen, die sagt: »Die tötelet«, das heißt auf Hochdeutsch: Die riechen nach Tod.
STUCKRAD-BARRE:
Also die riechen nicht nur modrig, sondern nach Verwesung?
SUTER:
Ja, nach Tod. Sie hat auch gesagt, das riecht wie in einem Leichenschauhaus.
STUCKRAD-BARRE:
War das etwa auch Ingrid Noll, diese dunkle Krimiseele?
SUTER:
Nein, das war eine Frau, die ihren Mann …
STUCKRAD-BARRE:
Umgebracht hat?
SUTER: …
verloren hat.
STUCKRAD-BARRE:
Oh. Verloren hat? Aber du hast mir doch vor Kurzem beigebracht, dass diese Formulierung ungut ist: »jemanden verloren haben«. Warum noch mal?
SUTER:
Man bedauert damit den Überlebenden statt den Gestorbenen. Deswegen stört mich diese Formulierung.
STUCKRAD-BARRE:
Hast du eigentlich für dich mal ergründet den Unterschied zwischen »Mitleid« und »Beileid«? Beileid ist einfach Mitleid, das sich sonntagsfein gemacht hat, oder?
SUTER:
Beileid hat immer mit dem Tod von jemandem zu tun. Mitleid nicht, oder? Wenn jemand sich den Knöchel verstaucht hat, sagt man nicht: »Herzliches Beileid.«
STUCKRAD-BARRE:
Im Beileidszusammenhang wird auch nicht »gestorben«, sondern »verstorben«. Das ist ja das so besonders Anstrengende und oft auch Komik-Produzierende sozusagen am Tod: die allgemeine Sprachlosigkeit, die dann in Worte gekleidet zu den komischsten Ergebnissen führt. Wörter wie »Beileid« oder »Hinterbliebene«, das sind ja Sprachprothesen aus dem Lost & Found der fehlenden Worte, weißt du, so ein nebliger Totensonntagsjargon: »Bestattung«, »Grabgesteck«, »Angehörige«. Das ist ein ganz bestimmter Ton, bei dem ich immer versucht bin, zwischendurch einmal schnell in die Hände zu klatschen, um wenigstens momentweise das Flüsterkorsett zu lockern: So, Entschuldigung, ganz kurz mal, was genau ist jetzt gemeint? Das kann helfen, wenn es allzu formelhaft wird. Wie hast du diese allgemeine Beklommenheit um dich herum in den Wochen und Monaten nach Margriths Tod empfunden?
SUTER:
Natürlich ist man sprachlos. Ich habe viele solcher Beileidsbekundungen erhalten, und manche haben zu diesen Formeln gegriffen. Das finde ich aber auch akzeptabel. Es gab aber auch viele, die etwas gemacht haben, was mich sehr berührt hat: Sie haben ihre Erinnerungen an Margrith aufgeschrieben und mir geschickt. Also ich kann allen, die je schriftlich kondolieren müssen, empfehlen, das zu machen. Erinnerungen festhalten. Das ist eigentlich das Beste, weiß ich jetzt als Konsument dieser Literaturform.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, es ist konkreter, ist auch sinnvoller als dieses protokollstotternde Gestolper im Nebel: »Es ist noch gar nicht zu begreifen.« Das ist lieb gemeint, aber es ist trauerweidenverhangene Anteilnahmeprosa, die ja nichts anderes bedeutet als: Mir fehlen die Worte, deshalb habe ich mir diese hier geliehen aus den rhetorischen Standardtänzen. Mit solchen Schreiben wurden Ana und dir ja bestimmt auch sehr viele Blumen geschickt, nicht?
SUTER:
Ja, es kamen schon welche. Aber dass dann viel zu viele ins Haus kamen, daran waren wir selber schuld. Die Kirche wurde natürlich mit Blumen dekoriert, und die schmeißt man ja nicht einfach weg, oder? Dann hat man plötzlich eine halbe Kirche Blumen im Haus.
STUCKRAD-BARRE:
Das ist eine schöne Größeneinheit, finde ich: »eine halbe Kirche Blumen«. Im Großmarktbereich, wo ich ja tätig bin, sagt man: »ein halber Lastwagen«. Die halbe Kirche hingegen verwandelt die Handelsware Blume natürlich in einen emotionalen Geschmacksträger, vielleicht in einem Gedicht mal unterzubringen, einem Liebesgedicht: Eine halbe Kirche Blumen empfinde ich für dich. Da sollte man über das Tuwort noch mal nachdenken, aber so in etwa.
SUTER:
Genau, ich habe eine halbe Kirche Blumen geschenkt bekommen.
STUCKRAD-BARRE:
Eine halbe Kirche Blumen … Mir gefällt das sehr gut. Aber egal, wie viele es sind, fest steht: Die dümmste Blume ist natürlich die Rose.
SUTER:
Auch mit diesen Farben.
STUCKRAD-BARRE:
Eine unfassbar dumme Blume eigentlich, profaner geht es nicht, restlos leergesungen, weggefilmt und kaputtgemalt ist die Rose, aufgeliebt und zu Tode beschrieben. Die Phrase als Gewächs. Ein Klischee für die Vase. Sonnenblumen hingegen kaufe ich sehr gerne. Ideal zum Überreichen, schön groß, in Form und Botschaft von betörender Klarheit. Eine einzige Sonnenblume, uneingepackt natürlich, ersetzt und übertrifft jeden Prachtstrauß. Schon Kauf und Transport heben die Laune, und ja nicht nur die eigene: Man hält sie in der Straßenbahn einfach in der Hand – und jeder um einen herum lächelt automatisch. Sowieso, wenn man mit Blumen durch die Stadt geht, wird man sehr freundlich angeschaut von den meisten Leuten. Ich kaufe manchmal allein dafür Blumen, dass die gramgrauen Bürgersteigbürger mal freundlich gucken. Da reicht eben wirklich eine große Sonnenblume als Requisit, schon wird einem lächelnd in die Augen geschaut, zugenickt, Hüte werden gelupft, sogar das Überqueren einer roten Ampel wird einem nachgesehen – Lichthupen lächeln dich an, und Huphupen schweigen still. Ältere Damen schauen versonnen: Ach, dieser nette junge Mann – also aus deren Sicht junge Mann – geht jetzt bestimmt zu seiner Frau Gemahlin oder zu seiner Mutter oder so.
SUTER:
Oder der hat sich zu entschuldigen, denkt man auch.
STUCKRAD-BARRE:
Vielleicht auch das, aber er weiß wenigstens, wie man das macht, wunderbar. Ein Blumenstrauß hilft natürlich gar nicht, um eine Prügelei oder Messerstecherei oder so zu beenden, schon klar. Aber so ab und zu kann eine einzelne Sonnenblume einen ganzen S-Bahn-Waggon verzaubern. Vielleicht sollte man das mal staatlich organisieren und finanzieren, dass einfach Menschen mit Blumensträußen durch die Städte laufen. Ich glaube, das könnte viel zur Entspannung beitragen. Es gibt die Sonnenblumen ja auch in der Schwundstufe Gerbera. Die sind zumeist mit Draht umwickelt.
SUTER:
Ja, weil sie schnell schlappmachen. Und die gibt es in den verschiedensten Farben. Im Gegensatz zur Sonnenblume.
STUCKRAD-BARRE:
Die Gerbera ist so ein bisschen die triviale kleine Schwester der Sonnenblume.
SUTER:
Wieso trivial?
STUCKRAD-BARRE:
Ein bisschen zu bunt, zu laut, zu bemüht.
SUTER:
Aha. Mir ist die Sonnenblume auch ein bisschen zu gelb-schwarz. Schenk mir bitte nie eine. Die Sonnenblume ist die Karikatur einer Blume, eine abgegriffene noch dazu.
STUCKRAD-BARRE:
Dir würde ich sowieso nie eine mitbringen, du bekommst andere, wichtig nur: immer Schnittblumen. Die befristete Freude, die Schnittblumen in sich tragen, macht sie zu einem höflichen Mitbringsel. Wie aufdringlich dagegen Topfblumen sind! Sagt man so, Topfblumen? Also das Gegenteil von Schnittblumen?
SUTER:
Eine Topfblume, ja. Oder wie wir sagen: ein Blumenstock.
STUCKRAD-BARRE:
Ein aufdringliches, ja unverschämtes Geschenk, weil es ja bedeutet: Bitte schön, ein Pflegefall für die nächsten Jahre. Und der mitgeschenkte Dauervorwurf: Daran, wie du diesen Blumenstock pflegst und wie es ihm ergeht, werde ich ablesen können, wie viel dir unsere Freundschaft bedeutet! Wenn ich beim nächsten Mal komme, und er steht nicht erstens in voller Blüte und zweitens an einem zentralen Ort der Wohnung, dann bin ich sehr, sehr enttäuscht. Ironiker bringen gerne mal einen Kaktus mit, grauenhaft, die können eigentlich direkt wieder gehen. Es gibt auch noch die brutalste Form des Schnittblumenstraußes, das ist der sogenannte Tankstellenstrauß.
SUTER:
Tankstellenstrauß, das ist, wenn man im letzten Moment denkt: Was bringe ich mit? Und dann: einen Tankstellenstrauß.
STUCKRAD-BARRE:
Und dem sieht man die Verlegenheit auch an, was ihn in meinen Augen zu einem klaren Sympathieträger macht. Man kann übrigens auch mit Blumensamentütchen emotionale Erfolge erzielen. Ich habe meinem Anwalt mal aus einer Klinik Das Weiße Album der Beatles geschickt und ein Samentütchen Vergissmeinnicht drangeklebt. Für die Blume selbst gilt natürlich einmal mehr Robert Gernhardt: »Mein Gott, ist das beziehungsreich/Ich glaub, ich übergeb mich gleich«. Aber als Samentütchen hat das Vergissmeinnicht eben diesen einen Abstraktionsschritt, durch den es wieder verwendbar wird.
SUTER:
Ich habe mich als Junge immer gefragt: Warum heißt es nicht Vergissmichnicht, warum Vergissmeinnicht? Das ist doch ein Fehler, habe ich gedacht. Die Blume heißt falsch.
STUCKRAD-BARRE:
Ist aber natürlich viel eleganter: Vergiss meiner nicht.
SUTER:
So geht es, ja. Aber dann müsste man nach dem »mein« einen Apostroph setzen, Vergiss mein’ nicht. Oder?
STUCKRAD-BARRE:
Ach so, einen Auslassungsapostroph? Stört aber schon, wenn du gerade eine Samentüte bedruckst.
SUTER:
Ja, natürlich. Es fließt schöner: Vergissmeinnicht.
STUCKRAD-BARRE:
Vielleicht sollten wir ins Schlagergeschäft einsteigen mit einer Kirche voller Vergissmeinnicht.
SUTER:
Aber heute nicht mehr.
SUTER:
Ein Freund von mir hat gesagt: »Ich kenne einen, der hat jetzt gerade eine Insel gekauft.«
STUCKRAD-BARRE:
Also mir zum Beispiel gehört ja gar nichts. Kein Haus, keine Wohnung, nicht mal ein Keller – nix. Das bringt Schwung in den Alltag, für immer der Typ Girokonto zu sein. Allein schon das Wort Eigentümerversammlung oder die Vorstellung, mit irgendwelchen Leuten eine wohlabgewogene gemeinschaftliche Entscheidung treffen zu müssen über die Wandfarbe des Treppenhauses oder so, lässt mich Fluchtpläne entwerfen.
SUTER:
Dann musst du zelten. Da gibt es keine Treppenhäuser.
STUCKRAD-BARRE:
Oh, es gibt durchaus mehrstöckige Zelte mit Treppenzelten. Für die Generation zwischen deiner und meiner, die als wohl letzte noch nennenswerte Pensionen und Renten kriegt und die mit etwas zu farbiger Kleidung etwas zu viele Urlaube macht, Safaris und dergleichen. Zu lange Lebenserwartung und zu kurze Hosen, und eben Zelte, in denen man aufrecht gehen kann, das sind ja fast Häuser. Mit klassischem Zelten jedenfalls, mit fehlenden Heringen, Gummigeruch, Kondenswassertropfenfolter ab Mitternacht und Haltungsschäden am Folgetag hat das wenig gemein.
SUTER:
Ich habe eine lange Zelt-Tradition. Schon als kleiner Junge habe ich im Garten des Doppel-Einfamilienhauses meiner Eltern gezeltet, indem ich einfach Tücher befestigt habe an den Wäschestangen.
STUCKRAD-BARRE:
Hat Ana hier in deinem Garten schon mal gezeltet? Irgendwann wollen doch Kinder immer zelten. Um dann gegen 23 Uhr zurückzueilen ins Haus, blaugefroren, von Mücken zerstochen – war dann doch nicht so toll alles.
SUTER:
Natürlich kursierte auch hier diese Idee, als Ana noch kleiner war. Wir besitzen auch ein Zelt. Ich habe es erstanden, weil Ana im oberen Teil des Gartens zelten wollte, aber dann ist irgendetwas dazwischengekommen. Ich war gar nicht so unglücklich darüber, weil ich hätte mitzelten müssen. Und Margrith hätte hier kuschelig im Bett gelegen.
STUCKRAD-BARRE:
Das war der Plan?
SUTER:
Ja, das erste Mal. Beim zweiten Mal wollte Ana dann alleine zelten. Aber auch dieser Plan wurde nie in die Tat umgesetzt. Meine Campingkarriere hat allerdings kurz nach dem Wäschestangenzelt begonnen, nämlich bei den Pfadfindern. Da warst du sicher auch?
STUCKRAD-BARRE:
Nein, aber immerhin war ich kurz vor dem Abitur mal mit einem Freund drei Wochen zelten in Portugal.
SUTER:
Schön, ja.
STUCKRAD-BARRE:
Wir hatten zwei Zelte, so aluminiumbehäutete Iglu-Zelte, jeder eins.
SUTER:
Im Zeltlager mit den Pfadfindern hat es manchmal stark geregnet. Man musste dann um diese Zelte einen Graben ausheben, damit das Wasser nicht ins Zelt reinlief.
STUCKRAD-BARRE:
Pfadfinder, ich weiß nicht, es gibt natürlich die harmlose Variante, Fähnlein Fieselschweif mit Tick, Trick und Track – aber ich assoziiere damit vor allem etwas sehr Düsteres. Uniformiert und erbauliche Lieder singend im Gleichschritt einem Mann hinterherlaufen, das hat so was militärisch Unangenehmes, finde ich. Pfadfinder … Es werden ja auch gar keine Pfade gefunden. Die sind doch alle schon da. Es tut mir leid, aber für mich haben so Jungmännerorganisationen immer einen Drift ins Männermiefig-Paramilitärische.
SUTER:
Ja, eigentlich alles Organisierte. Ich erinnere mich, als es mal nicht geregnet hat in diesem Zeltlager, da saß man am Lagerfeuer und sang diese …
STUCKRAD-BARRE:
Kriegslieder?
SUTER:
… dubiosen Lieder, ja. Und dann hat mal plötzlich einer, der sich auskannte, in den Himmel gezeigt und gesagt: »Da, der Sputnik!« Das war der erste Satellit. Und der russische Kosmonaut, der Gagarin. Wir haben ihn mehrmals in der Nacht vorbeifliegen sehen, so schnell war der um die Erde rum. Ich weiß nicht, vielleicht alle zwanzig Minuten kam der wieder.
STUCKRAD-BARRE:
Das habe ich nie so ganz begriffen, was da Abendstern war, was Sternschnuppe, was Flugzeug.
SUTER:
Ja, gut, du warst halt kein Pfadfinder.
STUCKRAD-BARRE:
Laika und später Gordo waren natürlich Identifikationsfiguren, wenn man in den Himmel schaute. Und Drew Barrymore auf dem BMX-Rad. Was mich jedoch bis heute geistig überfordert, und zwar massiv überfordert, das war die Information, dass erloschene Sterne noch unerhört lange, eine Million Jahre oder so, zu strahlen scheinen. Weil deren letztes Leuchten so lange braucht, um hier anzukommen.
SUTER:
Ja, das sind natürlich andere Distanzen als beim Sputnik.
STUCKRAD-BARRE:
Und der Startpunkt dieser andauernden Überforderung markierte auch schon wieder das Ende meines Interesses an der Astronomie. Mir war das ein bisschen unheimlich, dass da jetzt etwas so hell leuchtend wirkt, obwohl es möglicherweise schon sehr lange dunkel ist. Man lernt das, merkt es sich auch, kann es hersagen – aber begreifen konnte zumindest ich es nie. Philosophisch hat mich das überfordert. Seitdem für mich nur noch Großer Wagen.
SUTER:
Mich hat es immer interessiert. Ich habe mir diesen Strahl vorgestellt. Der Strahl ist sehr lang und hört irgendwann einfach auf.
STUCKRAD-BARRE:
Schon das Wort Lichtjahre ist ja nicht vorstellbar.
SUTER:
Ja, das hat ja sehr viel damit zu tun.
STUCKRAD-BARRE:
Deshalb schien es mir passend, das jetzt anzubringen.
SUTER:
Das war sehr intelligent von dir, muss ich sagen. Also es zeugt von einer soliden Allgemeinbildung.
STUCKRAD-BARRE:
Das ist jetzt gar nicht nötig, dass du so auf meinen Gefühlen rumtrampelst.
SUTER:
Sei nicht immer so empfindlich. Also, ich habe mir immer vorgestellt: Wie sieht das Ende des Lichtstrahls aus? Den Anfang kennen wir ja. Wahrscheinlich sehen wir ja ständig von Millionen von Sternen den Anfang. Aber irgendwann ist das Ende. Oder irgendwo?
STUCKRAD-BARRE:
Siehst du, all das entzieht sich unserer Vorstellung und jeder Beschreibbarkeit: das Ende des Lichts. Da ist Schluss.
SUTER:
Ich habe noch eine andere Campingerinnerung: Meine Eltern haben mal beschlossen, Campingferien zu machen. Sie haben einen Wohnwagen gemietet und sind mit uns nach Südfrankreich gefahren auf einen Campingplatz. Mit meinem jüngeren Bruder, meine Schwester war schon ausgeflogen, und mit mir. Und weil es ein bisschen eng war in diesem Wohnwagen, schlief ich im Einerzelt. Einmal war es mir wohl zu heiß, und da schlief ich mit dem Kopf draußen. Am nächsten Morgen bin ich erwacht und dachte, ich sei erblindet, weil ich auf jedem Augendeckel etwa dreitausend Mückenstiche hatte.
STUCKRAD-BARRE:
Das ist ein vorübergehendes Ende des Lichts, das kann man sich noch gut vorstellen.
SUTER:
Auf diesem Campingplatz – ich glaube, ich weiß sogar den Namen noch, Pin de la Lègue hieß der –, da gab es eine Sanitäterin, die mich pflegte. Die kam dann auch, als ich sehr erkältet war. Wie ich mich erkältet habe, kann ich nachher erzählen, da kommt auch ein Gummiboot vor. Meine Augen waren jedenfalls zwei Tage lang so geschwollen, dass ich nicht mehr zu den Campingjugendtreffs gehen konnte. Die Campingjugend hat sich da zum Tanz eingefunden. Und mit diesem Kopf wäre ich da chancenlos gewesen.
STUCKRAD-BARRE:
Um noch mal genauer zu fassen, wie die soziale Realität zwischen uns beiden ist, dieses von dir zur Seite Gesagte: »Ich kann später noch ausführen, wie es zu der Erkältung kam«, samt Trailer: »Es kommt auch ein Gummiboot vor« – wie genau stellst du dir das vor? Dass ich später frage, Martin, was war denn nun mit der Erkältung und dem Gummiboot? Oder hast du die Idee von dir selbst, dass du diesen Gummibootstrang im Hinterkopf bereithalten kannst, um ihn zu gegebener Zeit wieder in den Vorderkopf zu bugsieren? Dazu würde ich dir nämlich die erfahrungssatte Rückmeldung aus der Bevölkerung geben wollen: Auf gar keinen Fall wirst du da von selbst wieder drauf kommen, auf Erkältung und Gummiboot. Vergiss es, wollte ich jetzt fast sagen, aber das ist ja eben gar nicht nötig.
SUTER:
Ja gut, aber es ist ja schon ein Cliffhanger.
STUCKRAD-BARRE:
Es ist ein Cliffhanger, aber du lässt auch mich da immer hängen, am Cliff. In unserer Konstellation hier bin ja ich der Pragmatische, ich bin Mister Roter Faden. Das ist ja das Verrückte.
SUTER:
Du bist der Wortführer.
STUCKRAD-BARRE:
Vielleicht verlaufen wir uns deshalb andauernd. Wie stellst du dir das denn im weiteren Verlauf vor mit deinem Cliffhanger? Wann und durch wen erfolgt denn wohl die Wiedervorlage Gummiboot?
SUTER:
Also sobald ich erklären würde, wie es kam, dass dieselbe Sanitäterin, die mich gerettet hat vor dem Mückentod, mir auch geholfen hat bei der Angine blanche …
STUCKRAD-BARRE:
Das klingt nach einer Nachspeise, das klingt angenehm.
SUTER:
Ja, oder sehr poetisch. Es ist aber eine Angina, die so stark ist, dass sie weiße Eiterflecken hervorbringt.
STUCKRAD-BARRE:
Also genau das, was man braucht, wenn gerade die Mückenstiche beinahe verheilt sind und man sich vorbereitet auf den letzten Abend, der den Durchbruch bringen wird beim Campingcrush, vielleicht ein gemeinsamer Tanz, verlegenes Murmeln, Adressen austauschen. Das war ja diese Lebensphase, vermute ich.
SUTER:
Ja, das war die Zeit. Ich konnte nicht teilnehmen am Abschlussabend.
STUCKRAD-BARRE:
Du hast dich in deinem Zelt versteckt, dieses Mal aber mit dem Kopf vorwärts.
SUTER:
Genau das habe ich gemacht. Und ich habe auch meinen Kopf mit Mückenabwehrprodukten eingerieben.
STUCKRAD-BARRE:
Das sorgt immer für Probleme mit den Augen. Dieses Spray, selbst wenn man die Augen auslässt, irgendwann sickert es doch hinein, von der Stirn runter oder von der Seite.
SUTER:
Ja gut, die Augen brennen, so oder so. Man kann aber ja immer nur einen Schmerz spüren.
STUCKRAD-BARRE:
Ist das so?
SUTER:
Glaubst du das nicht?
STUCKRAD-BARRE:
Ich würde gerne mehr darüber erfahren, gerade mag ich es noch nicht so recht glauben, nein. Es kann doch gleichzeitig im Auge brennen und auf dem Auge stechen. Nein? Man kann immer nur einen Schmerz spüren? Das wäre jetzt eine große Sensation für mich.
SUTER:
Ja, ja, doch. Doch, das ist so.
STUCKRAD-BARRE:
Wer sagt das, wo steht das?
SUTER:
Mir hat noch nie jemand aus der Medizin widersprochen. Vielleicht haben die alle gedacht: Soll er das denken, ist ja gut, oder? Wobei, ich merke es auch …
STUCKRAD-BARRE:
In der letzten Zeit, meinst du? Also den Begriff Schmerz hier etwas weiter gefasst …
SUTER:
Tatsächlich, ja. Einige Monate nach Margrith ist ja auch meine Mutter gestorben. Und ich habe dann aber nicht meiner Mutter nachtrauern können, weil ich nicht zwei Schmerzen gleichzeitig haben kann. Ein Schmerz ist immer kleiner als der andere.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, da erinnere ich mich auch gut dran, wie gelöst, ja heiter wir miteinander sprachen direkt nach dem Tod deiner Mutter und dass diese gewisse Albernheit dir eben guttat, wie du sagtest. Eigentlich war es ja zutiefst trostlos, es wäre denkbar gewesen, dass du ganz darin versinkst, um dich herum nur noch Tod und Abschied, warum eigentlich noch ausziehen, den schwarzen Anzug. Aber jenseits der Zumutbarkeit, da kippte die Stimmung auf einmal. Deine Frau war gestorben, ein halbes Jahr später deine Mutter – und man bedachte auch dein Alter und stutzte plötzlich: Entschuldigung, was denn für eine Mutter eigentlich? Das haut doch alles nicht hin!
SUTER:
Ja, sie war über hundert.
STUCKRAD-BARRE:
Und eine sehr liebe Frau. Von ganz außen draufgeschaut aber stellte sich ja weniger die Frage, warum oder woran sie denn gestorben sein könnte, als vielmehr: Warum lebte denn eigentlich Martin Suters Mutter gerade eben noch?
SUTER:
Das hast du in dem Gespräch auch gleich gesagt: Die Reihenfolge stimmt nicht.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, die Reihenfolge stimmte nun wirklich nicht. Erst stirbt euer Kind mit drei Jahren, dann deine Frau und erst danach deine Mutter. Und weil du ja nun auch schon, glaube ich, Ermäßigung in der Straßenbahn bekommst, ist die Frage statthaft: Wie geht es denn wohl Martin Suters Großeltern aktuell so? Da kippte es. Vor Weihnachten hattest du mir gesagt, jetzt geht es deiner Mutter schlechter und du hättest eigentlich mit Ana nach Guatemala fliegen wollen, ihr würdet aber jetzt doch nicht gar so weit reisen, um im Notfall schnell zurückfliegen zu können.
SUTER:
Ja, nur noch drei Stunden weit weg statt zwölf.
STUCKRAD-BARRE:
Dann starb sie, und du hast mit deinen Geschwistern besprochen, dass es jetzt eigentlich nicht nötig war, die Reise abzubrechen, weil eure Mutter ja nun eben tot war und Ana und du zur Urnenbestattung dann zurück sein würdet.
SUTER:
Und du stimmtest dieser Vorgehensweise zu und sagtest: »Die wird ja nicht schlecht.«
STUCKRAD-BARRE:
Ja, die wird ja auch nicht schlecht, diese Asche. Stimmt, das ist mir da so rausgerutscht.
SUTER:
Siehst du, jetzt muss ich schon wieder so lachen.
STUCKRAD-BARRE:
Ist doch herrlich! Ja, du hast da am Telefon so doll gelacht, wie ich dich überhaupt noch nie lachen gehört hatte. Seit wir uns kennen nicht, eine Entladung war das, spektakulär. Es wirkte, als ob einer plötzlich seine Krücken wegwirft und wieder gehen kann. Das war ein wirklich schöner Moment, weil du gelacht hast wie ein kleiner Junge.
SUTER:
Das ist das hysterische Trauerlachen.
STUCKRAD-BARRE:
Lachen wirkt in Trauerangelegenheiten immer unangemessen, und alles muss ja so furchtbar angemessen sein rund um den Tod. Alle sind immer ein bisschen ruhiger, leiser, flüsternder und schleichender. Betreten gucken, heilig daherreden, bitte leise atmen. Und genau deshalb war das ein so schöner Moment, unsere gemeinsame Albernheit am Telefon, weil das mal kurz eine Pause vom Protokoll war und auch so ein bisschen zurechtrückte, worüber man jetzt wie traurig zu sein hatte. Auf der emotionalen Ebene also stimmt das wohl: Man kann nur einen Schmerz empfinden. Zumindest sortieren sich die Schmerzen, es gibt eine klare Schmerzhierarchie. Das ist wohl eine Überlebensstrategie des Gehirns.
SUTER:
Ich nehme es an, ja, weil das Gehirn auch nicht immer traurig sein kann. Jetzt fällt mir ein, dass ich … Ich war ja als Kind schon mal verheiratet mit Vivian. Und Vivians Großmutter …
STUCKRAD-BARRE:
Für unsere Leser bitte noch mal »Kind« ein bisschen präzisieren, damit sie nicht zu barocke Vorstellungen haben.
SUTER:
Ja gut, das sage ich immer so. Ich war gerade zwanzig geworden, und meine Frau war achtzehn. Und damals war man in der Schweiz erst mit zwanzig volljährig. Sie brauchte also die Unterschrift ihres Vaters, die er mürrisch gegeben hat, weil ich nicht die Art Auskommen für meine Frau garantieren konnte, die er sich gewünscht hätte.
STUCKRAD-BARRE:
Wie war denn dein Auskommen mit zwanzig?
SUTER:
Da war ich Werbeassistent und verdiente 700 Franken im Monat. Und meine Frau war Malerin und ging daneben aber noch in Teilzeit in einem Antiquitätengeschäft als Verkäuferin arbeiten und verdiente 300 Franken. Also hatten wir 1000 Franken im Monat. Das war auch damals schon nicht genug.
STUCKRAD-BARRE:
Also du warst auf den ersten Blick nicht, was man eine gute Partie nennt?
SUTER:
Überhaupt nicht, nein.
STUCKRAD-BARRE:
In Vateraugen zumindest nicht.
SUTER:
Jedenfalls war Vivians Großmutter aus Wien zu Besuch bei Vivians Mutter und ist eines Tages einfach tot umgefallen. Sie wurde in der Schweiz kremiert. Und bestattet wurde sie in Wien. Ich weiß auch nicht, heute würde ich mich das nicht mehr trauen, aber wir fuhren im Schlafwagen zu dritt, also zu viert, muss ich sagen – wir drei eben mit dieser Urne – nach Wien.
STUCKRAD-BARRE:
Das klingt wie eine deutsche Komödie. Weißt du, dann hält der Zug ein bisschen zu doll, macht eine Notbremsung und dadurch löst sich der Deckel der auf dem Schoß umklammerten Urne, und dann fliegt die Großmutter raus, teilweise, Teile der Großmutter fliegen aus dem Fenster. Und natürlich hat auch einer dann ein aschebesudeltes Gesicht, möglicherweise der Schaffner.
SUTER:
Ja, also auf alle Fälle hatten wir dann so ein Couchette-Abteil besetzt. Mit der Urne. Und sonst noch ein bisschen Reisegepäck.
STUCKRAD-BARRE:
Aus welchem Material war die Urne? Metall oder Stein?
SUTER:
Die war aus Metall.
STUCKRAD-BARRE:
Oben richtig verschraubt? Versiegelt? Plombiert?
SUTER:
Die konnte man schon öffnen. Die Schrauben hätte man herausdrehen können. Und dann hatten wir plötzlich zu dritt, nicht zu viert – obwohl, wer weiß –, in dem Schlafabteil einen Lachanfall, einen hysterischen Lachanfall: Wir hier mit dieser Urne unterwegs! Die Beerdigung war direkt am Tag unserer Ankunft. Es hat uns jemand abgeholt am Wiener Westbahnhof. Von dort aus sollte es weitergehen nach Mödling zu dem Friedhof, wo schon der Großvater beerdigt war. Die Trauergemeinde war bereits versammelt und wartete nervös auf uns. Doch erst mussten wir noch im Westbahnhof durch den Zoll.
STUCKRAD-BARRE:
Fiel das Wort »Materialwert«?
SUTER:
Nein, aber der Zöllner hat gefragt: »Was haben S’ denn in dieser Vase da?« Da habe ich gesagt: »Da ist die Asche meiner Schwiegergroßmutter drin.«
STUCKRAD-BARRE:
Frank McCourt, Band 3 eigentlich.
SUTER:
Der Zöllner hat gesagt: »Du, Josef, der sagt, hier ist die Schwiegergroßmama drin.« Und dann haben die in diesem Zollbüro auch einen Lachanfall gehabt. Ich habe gesagt: »Bitte beschleunigen Sie das Verfahren. Die Trauergemeinde erwartet uns schon am Friedhof von Mödling.« Darauf meinte der Zöllner: »Dann geh schon, Bub, mach’s gut!« Heute ginge das nicht mehr.
STUCKRAD-BARRE:
Leider. Ich habe mich da schon in eigener Angelegenheit verschiedentlich erkundigt, weil ich ja so gerne verstreut werden möchte dermaleinst, und zwar in Übersee, wie es wohl heißt. Also unbedingt verbrannt, damit es auch sicher ist. Ich glaube ja an gar nichts, außer vielleicht an die Kunst. Ich glaube an Popmusik, Kunst und Liebe, so würde ich sagen.
SUTER:
In der Reihenfolge?
STUCKRAD-BARRE:
Weiß ich nicht. Keine Ahnung. Das ist doch auch vermischt alles. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es ein Jenseits gibt. Trotzdem, man weiß es ja nicht. Und wenn man dann plötzlich erwacht in so einer Holzkiste, und man kommt nicht raus, das ist ja furchtbar.
SUTER:
Schrecklich.
STUCKRAD-BARRE:
Zugenagelt, und keiner hört dein Klopfen. Ich habe diesen wiederkehrenden Albtraum, übrigens auch tagsüber, entweder kopfüber in ein Loch hineinzufallen, das genau auf meinen Körper angepasst ist …
SUTER:
Ja, den hatte ich früher auch.
STUCKRAD-BARRE:
Oder ich höre den Sand fallen auf die Kiste, in der ich liege. Das wird ja durch Verbrennen ein bisschen unwahrscheinlicher. Also Asche werden, und dann unbedingt auch so schnell wie möglich raus aus dieser Urne. Unterm Zitronenbaum am Pool des Chateau Marmont möchte ich verstreut werden als Asche. Aber natürlich ist die Einreise ein in Amerika besonders humorloser Vorgang – wie also kriegt man nun die Urne dahin? Kann man ja nicht mailen.
SUTER:
Ja, und wer macht das?
STUCKRAD-BARRE:
Ich habe schon ein paar Leute, die öfter dorthinfliegen, vertraut gemacht mit diesen Plänen. Das wird aber zumeist mit Befremden aufgenommen. Ist das jetzt ein Hilfeschrei? »Benjamin, geht es dir gut? Willst du mal ein paar Nächte bei uns schlafen vielleicht?«
SUTER:
Man kann es nicht wertfrei diskutieren.
STUCKRAD-BARRE:
Nein, es ist natürlich auch ein bisschen eine Zumutung.
SUTER:
Aber stell dir vor, dieses Bild der Urne auf Reisen – das hat halt einfach eine Komik. Auch damals, in Wien. Wir sind nach Mödling rausgefahren, die Trauergemeinde wartete schon, und da stellte sich natürlich die Frage: Wer trägt die Urne in die Kapelle? Natürlich wusste ich: Der Martin trägt die Urne.
STUCKRAD-BARRE:
Der Martin trägt die Urne – könnte der Refrain sein eines Mallorca-Noir-Hits.
SUTER:
Man hätte auch denken können, die Tochter hätte sie eigentlich tragen müssen oder vielleicht die Enkelin. Aber nein, der Mann.
STUCKRAD-BARRE:
Da war euer Lachanfall vermutlich längst ausgestanden – oder kam der noch mal?
SUTER:
Der Lachanfall kam ja schon bei der Besprechung dieses Vorgehens wieder: Wer geht voraus und vor allem auch wie und mit welcher Miene?
STUCKRAD-BARRE:
Trauernd. Repräsentativ erschüttert.
SUTER:
Ich weiß noch, wie ich, wahrscheinlich im Passschritt, auf diese Kapelle zugegangen bin, und plötzlich ist das so eine andere Rolle: der pragmatische Schwiegersohn, der das mit der Kremierung und der Auswahl auch des Totenhemds erledigt hat im Begräbnisinstitut.
STUCKRAD-BARRE:
Wir nehmen das für 79 Franken. Alles so pragmatisch auf der Hinterbühne, was gibt es für Kuchen, wer sitzt neben Tante Annemarie, wer dreht die Musik lauter, wenn der Stiefsohn Fragen zum Testament stellt – und dann aber bitte abrupt Würde ausstrahlen. Und zwar mit dem vereinbarten Gesichtsausdruck!
SUTER:
Du bist plötzlich eine Art Ministrant, wenn du als Protestant weißt, was das ist.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, ja. Eines von diesen hochgefährdeten Kindern.
SUTER:
Und die Großmutter war ja zu Lebzeiten eine sehr lustige Frau.
STUCKRAD-BARRE:
Oh, das jetzt auch noch einbeziehen ins Mienenspiel?
SUTER:
Ja, also die Asche hat eigentlich gelacht.
STUCKRAD-BARRE:
Das Lachen ist ja sowieso das Einzige, was uns bleibt, und das Lachen rettet am Ende auch jede Beerdigung. Irgendwann sitzt man dann zusammen, viele sind schon gegangen, man ist völlig erschöpft von all der Rollenprosa und dem strengen Zeremoniell, Knöpfe werden gelockert mitsamt der Sprache, und man erfreut sich gemeinsam an all dem, was schiefgegangen ist an dem Tag. Über jedes Malheur heißt es dann begütigend: »Das hätte ihr gefallen.« Das kann man schließlich immer sagen. Die Rede des Nachbarn war peinlich – das hätte ihr gefallen. Es hat geregnet – darüber hätte sie laut gelacht. Dass wir uns so gestritten haben ums Geld, noch bevor sie begraben war – sie hätte jede Sekunde dieses Zerwürfnisses geliebt. Die Urne ist umgekippt – sie hätte geschrien vor Vergnügen. Und hast du das alles denn ganz, wie sagt man, würdevoll hinbekommen?
SUTER:
Ich glaube schon. Damals war ich noch eher schüchtern und für einen Moment ja die Hauptperson dieses Anlasses. Alle schauten. Und ich ging dann den nächsten Schritt. Das ist jetzt ein gutes Ende, oder?
STUCKRAD-BARRE:
Versau es bloß nicht noch mit Erkältung und Gummiboot.
SUTER:
Willkommen im Süden, mein Lieber.
STUCKRAD-BARRE:
Also, wir sitzen in der schönen Frühlingssonne, und du hattest hier gerade ein Stativ und einen Fotoapparat aufgebaut.
SUTER:
Und auf besonderen Wunsch meines Gesprächspartners …
STUCKRAD-BARRE:
Ich habe es dich direkt wieder abbauen lassen, ja.
SUTER:
… wieder weggeräumt. Weil es dir Angst machte, dieses etwas größere Objektiv, das ein bisschen wie ein Kanönchen ausschaut.
STUCKRAD-BARRE:
Na ja, Angst – man muss Angst immer auch begreifen als Information. Es sah zunächst so aus, als ob du mit diesen Aufbauten von hier oben aus so agentenhafte Lasermorde am See durchführst. Außerdem bin ich auch heute wieder ein bisschen schwierig und fühle mich äußerst unfotogen, to say the least. Wir haben dann die Fundamentalfrage erörtert, ob man eigentlich ein Gesicht hat oder ein Gesicht macht. Denn natürlich kann man posieren, aber dem geht ja doch sinnvollerweise der Befund voraus, was man aktuell für ein Gesicht hat.
SUTER:
Vielleicht könnte man sagen, ein Gesicht haben, das meint die Hardware – und ein Gesicht machen, das ist die Software? Also Ausgangsmaterial und Werkzeugkasten.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, und deren jeweilige Begrenzung – also mit dem Gesichtsausdruck kann man zwar einiges bewirken, aber natürlich immer nur Variationen dessen, was nun mal der Fall ist: das Gesicht, das man eben hat. Und da ist ein Foto wohl doch noch, trotz aller Manipulationsmöglichkeiten, genauer und dadurch unbarmherziger als, sagen wir mal, ein Ölgemälde. Also Fotografieren bedeutet ja erst mal weniger Interpretation durch das bildgebende Verfahren selbst. Wobei, es kommt sehr drauf an. Ein Freund von mir schrieb mir mal von einem Stadionkonzert der Toten Hosen, dass ein paar Plätze neben ihm Andreas Gursky stehen würde. Ich befahl ihm, Gursky auf die Schulter zu klopfen und dann ins Ohr zu schreien: »Diese Plätze sind ja echt fantastisch, von hier sieht man wirklich jeden Punkt im gesamten Stadion genau gleich scharf, finden Sie nicht auch?«
SUTER:
Keine schlechte Pointe, allerdings eine mit, wie wir Werber sagen, doch recht spitzer Zielgruppe.
STUCKRAD-BARRE:
Wir Schmuddelhoodieträger zwischen Ende zwanzig und Haarausfall sagen dazu: »nischig«.
SUTER:
Verstehe ich das also richtig: Meine Leica samt Stativ empfindest du als unzumutbar, aber eine Staffelei würdest du akzeptieren?
STUCKRAD-BARRE:
Ja, auch bei Paparazzi halte ich es so. Staffelei ist ein fairer Kompromiss. Ich werde deutlich lieber von unten gemalt als von unten fotografiert. Wobei ich bilanzieren muss, dass ich insgesamt doch relativ selten gemalt werde.
SUTER:
Ich leider auch.
STUCKRAD-BARRE:
Das glaube ich nicht, von dir gibt es doch bestimmt weltweit containerweise Aquarelle, Porträtteppiche, Ölgemälde, Kaltnadelradierungen und Statuen.
SUTER:
Na ja, es gibt halt diese Marmorskulpturen, die man …
STUCKRAD-BARRE:
… die man immer schon von Weitem sieht, wenn man in Zürichs Innenstadt fährt?
SUTER:
Zugegeben.
STUCKRAD-BARRE:
Nicht zu vergessen auch die Messingstatue am Bahnhof.
SUTER:
Ja, gut. Aber ich hätte sie gerne auf Gleis 1 gehabt, Bahnsteig 1. Aber sie haben sie an Gleis 15 aufgestellt. Das finde ich ein bisschen verletzend.
STUCKRAD-BARRE:
Interessanterweise ja in dem Abschnitt von Gleis 15, wo immer die zweite Klasse hält. Vielleicht wollte die hiesige Politik damit, wie es heißt, Anreize schaffen. Die hatten gehofft, dass dich das motiviert, endlich den Band Economy Class nachzuliefern. Auch du selbst begreifst dich ja eigentlich als Volksdichter.
SUTER:
Danke, dass du darauf zu sprechen kommst.
STUCKRAD-BARRE:
Arbeiterlieder auf der Mundharmonika?
SUTER:
Damit ich nicht singen muss.
STUCKRAD-BARRE:
Wir waren noch nie zusammen Karaoke singen, ist mir vorhin aufgefallen, als ich hier den Berg hochgegangen bin zu dir. Bei so längeren Gängen singe ich ganz gerne vor mich hin. Ich höre dann sehr laut Lieblingsliederlisten, und zwar nicht mit diesen traurigen Earpods, die ja immer so forcierte Meeting-Bereitschaft signalisieren, sondern mit riesigen Kopfhörern, die die Ohren vollständig bedecken und die Welt um einen herum komplett auf mute schalten. Und so singe ich beim Spazierengehen also zur Musik, laut und ohne jede Scham. So dicke Kopfhörer sind ja Sonnenbrillen fürs Gemüt. Man erlebt darunter auch die eigene Stimme ganz anders, hält ein bisschen auch die Sängerstimme für die eigene. Nur wenn man den Kopfhörer kurz mal anhebt an einem Ohr, bekommt man eine Ahnung davon, wie man gerade tatsächlich klingt.
SUTER:
Und das ist nicht zufriedenstellend?
STUCKRAD-BARRE:
Mit ohrabschließenden Kopfhörern ist es sozusagen mehr Ölgemälde als Foto, da traue ich mich mehr, transponiere bedenkenlos eine Oktave höher, statt immer nur die sichere Bassvariante zu nehmen. Bis in die Kopfstimme hinein sogar.
SUTER:
Ja gut, die ist sowieso gewagt, oder?
STUCKRAD-BARRE:
Ist riskanter, aber legt natürlich viel mehr Gefühl frei. Ich habe hier in Zürich übrigens noch von früher Hausverbot in einer Karaoke-Bar.
SUTER:
Das wirkt noch nach?
STUCKRAD-BARRE:
Ja, das hat tatsächlich bis heute Bestand. Ich bin letztes Jahr dort mal wieder hingegangen und …
SUTER:
Die Bar gibt es noch?
STUCKRAD-BARRE:
Mich ja auch, und man weiß gar nicht, was von beidem man damals für unwahrscheinlicher erachtet hätte. Jedenfalls habe ich in dieser Karaoke-Bar vor knapp zwanzig Jahren offenbar einen, sagen wir mal, bleibenden Eindruck hinterlassen – sie haben mich im letzten Jahr immer noch nicht wieder mitsingen lassen, der Dialog ging in etwa so: »Ich würde gerne Angels singen!« – »Und wir würden dir gerne mal den Ausgang zeigen, jetzt.« Schau mal, du hast, obwohl der Frühling jetzt … Ist eigentlich schon Frühling?
SUTER:
Ich glaube, ja.
STUCKRAD-BARRE:
Aber im Pool ist trotzdem noch kein Wasser. Hast du eigentlich eine Gegenstromschwimmanlage im Pool?
SUTER:
Im Pool? Ja. Ich kann sie dir aber nur mit Wasser vorführen. Eigentlich mag ich sie nicht besonders gern. Gegenstromschwimmanlagen sind ja etwas unglaublich Frustrierendes.
STUCKRAD-BARRE:
Sisyphos in der kalifornischen Variante eigentlich. Als ich vorhin unten am See aufbrach, um so wie gestern schon und wie auch morgen wieder hier zu dir auf den Berg zu kommen, hatte ich Freude daran, mich beim Bergaufgehen ein bisschen zu verlieren im Nachdenken darüber, ob eigentlich Sisyphos seinen blöden Stein nie ganz hochbekommt auf den Berg oder ob er es zwar jedes Mal schafft und genau deshalb der Stein aber immer wieder den Berg runterrollt, also auf der anderen Seite dann.
SUTER:
Ich glaube, Sisyphos ist einfach am Schluss so erschöpft, dass ihm der Stein wegrutscht, und dann muss er wieder runter.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, klar, aber auf welcher Seite?
SUTER:
Auf der gleichen Seite.
STUCKRAD-BARRE:
Es ist ja eine Art Perpetuum mobile eigentlich. Kein Anfang und kein Ende. Also es ist nie geschafft, denn selbst wenn es geschafft ist, geht es genau dadurch direkt wieder von vorne los. Wie aber stellst du dir eigentlich Sisyphos vor?
SUTER:
Als ehrgeizig würde ich ihn mir vorstellen.
STUCKRAD-BARRE:
Als einen glücklichen Menschen?
SUTER:
Sisyphos ist sicher nicht der Typus Quiet Quitting. Aber vielleicht ein Der-Weg-ist-das-Ziel-Mensch.
STUCKRAD-BARRE:
Ja, grauenhaft. Eigentlich ist Sisyphos der Typ Zweckkleidung. Zweckkleidung? Nee, wie heißt diese Kleidung noch mal genau?
SUTER:
Streetwear.
STUCKRAD-BARRE:
Nein, nein! Diese so schrecklich sinnvolle Kleidung, weißt du, atmungsaktiv und die intelligente Faser und so weiter. Also wo der Pulli klüger ist als man selbst, weil er das Wasser irgendwie wegleitet. Meine Güte, wie nennt man dieses Zeug denn noch? »Zweckkleidung« eben nicht, aber so ähnlich. »Smartwear« natürlich auch nicht.
SUTER:
Ich habe dieses Wort verdrängt.
STUCKRAD-BARRE:
Und als dein Laientherapeut muss ich dich genau davor warnen – das hat nicht nur Vorteile, das Verdrängen.
SUTER:
Aber weißt du, diese Kleidung, die du da beschreibst, die spielt in meinem Alltag einfach keine besonders große Rolle.
STUCKRAD-BARRE:
Es geht doch nur um das Wort, Martin! Warum fällt mir dieses Wort denn jetzt nicht ein? Es liegt mir noch nicht mal auf der Zunge, da habe ich gerade extra noch mal nachgeschaut. »Zweckkleidung« eindeutig nicht, aber die Richtung stimmt. Wirklich, ich werde keine Ruhe finden, bis mir dieses verdammte Wort einfällt! Und Sisyphos würde da jetzt eben ganz anders rangehen als ich, systematisch, ohne Hast und Panik, selbst wenn er dafür einen ganzen Duden durchlesen müsste.
SUTER:
Ja, der hat eine ganz andere Frustrationstoleranz.
STUCKRAD-BARRE: