Ketzerhaus - Ivonne Hübner - E-Book

Ketzerhaus E-Book

Ivonne Hübner

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Beschreibung

November 1517. Luthers 95 Thesen gelangen durch aufrührerische Studenten in die hochfromme Stadt Görlitz an der Neiße. Elsa, eine Magd, und Andres, Brauereisohn und Hoffnungsträger einer großen theologischen Laufbahn als Priester, ahnen nicht, dass ihrer beider Schicksal miteinander verknüpft ist. Während Elsa das Leben an der Seite von Gunnar, Andres’ Stiefbruder, vorbestimmt ist, verliert Andres den Glauben an die römisch-katholische Kirche und an seine Gelübde. Seine Proteste sollen ihm zum Verhängnis werden. Die verbotene neue christliche Religion und das Leben unter dem Dach des »Ketzerhauses« verbinden ihn und Elsa unzertrennlich. In den Wirren des Glaubenskonfliktes, in Zeiten der Pest und Inquisition und als Anhänger reformatorischen Gedankenguts feiern sie die erste lutherische Hochzeit in Görlitz, und es wird ihnen möglich, einen gemeinsamen Weg zu finden. Phantasievoll, spannend und kenntnisreich erzählt die Autorin von den bewegten Zeiten der Reformation, in denen Andres als Wittenberger Student Martin Luther und dessen Umfeld begegnet, und rückt zugleich die Frauen, die zum Gelingen einer neuen Ordnung wesentlich beitrugen, ins Blickfeld.

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

personis dramatae

personis historiae

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Nachbemerkung

Glossar

Weiteres zu den historisch belegten Personen

Die Frau während der Reformation

Dank

Impressum

Meinen Töchtern

personis dramatae

Elsa Mälzer

Tochter des Braumeisters Johannes Mälzer

Katharina Mälzer

Elsas Mutter

Johannes Mälzer

Elsas Vater

Siegtraut, Anneruth, Irmel

Elsas Schwestern

Andres Hinterthur

ältester Sohn des Brauers Orwid Hinterthur

Johanna und Maria

Andres’ Schwestern

Jost Hinterthur

sein Bruder

Reinhilde Hinterthur

Andres’ Mutter

Orwid Hinterthur

Brauermeister

Niclas Tylike

Braumeister, zweiter Ehemann der Reinhilde Hinterthur

Gunnar Tylike

Niclas Tylikes Sohn und Erbe der Görlitzer Brauerei

Ignatius Weidner

Druckermeister

Matthes Weidner

dessen Sohn, Pastor nach Luther’scher Lehre ab 1520

Barbara Weidner

des Druckermeisters Frau

Susanna Weidner

deren Tochter

personis historiae

Andres Hinterthur

im 16. Jh. einer der wenigen namentlich belegten Görlitzer Studenten zu Wittenberg

Christian Vollhardt

Schwertfeger und Gassenrichter, flieht 1521 aus der Stadt

Pleban Martin Schmid

gen. Faber, geistliche Spitze in Görlitz bis 1520

Pleban Franz Rupertus

gen. Rothbart, tritt seine Nachfolge an, predigt die Evangelien

Rat der Stadt

Johannes Haß, Stadtschreiber und Chronist; Bürgermeister: Michael Schartze (1517), Franz Schneider (1518), Peter Tyle (1519), Matthias Rosenberg (1520)

Doktor Joppener

Physikus seit 1517

Valentin Trotzdendorf

Unterschulmeister bis 1518

JohannesVIII.

Bischof zu Meißen

Thomas Leiße

Erzpriester von Görlitz

Dr.Martin Luther

Theologe, Reformator, 1483–1546

1

Als unser Gott und Herr Jesus Christus sagte:

Tut Buße usw., da wollte er,

dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.

Prolog

Görlitz, Nebelung 1517

Das Mädchen wurde von einem scharrenden Geräusch wach. Zuerst glaubte es, es sei wieder die Ratte. Eine fette Ratte hier oben unter dem Dach. Niemand schaffte es, die Ratte zu fangen. Nicht Meister Niklas, auch nicht sein Sohn Gunnar, nicht die klimpernde Reinhilde, des Meisters zweites Eheweib, und die schöne Peternelle erst recht nicht. Peternelle war die erste Magd. Das Mädchen die zweite. Keine Magd dieser Welt brachte eine so dreiste Ratte zur Strecke. Nicht die erste und nicht die zweite Magd.

Da! Da war es schon wieder, dieses Scharren, dieses Kratzen, das sich mit dem tosenden Herbststurm vermengte. Doch nun mischte sich noch ein ganz dumpfes Rumpeln unter das Übrige. Das Mädchen setzte sich auf. Das Stroh raschelte unter ihm. Es versuchte die Geräusche der Nacht besser voneinander zu trennen und zu verstehen, was sich hier oben zutrug. Auf das Rumpeln folgte träges Schleifen. So etwas brachte selbst die allerfetteste Ratte nicht zustande. Hier oben unterm Dach gab es kein Fenster, durch das der Mond einen gnädigen Lichtschimmer hätte schicken können. Einzig die Vorstellungskraft des Mädchens erhellte die Sache. Ihre Fantasie war farbenfroh und unzuverlässig wie ein Frühblüher.

Die Fingerkuppen ertasteten die rauen, knubbeligen Flicken auf der gemeinsamen Zudecke, fanden die Schultern der anderen und rüttelten so lange, bis Peternelle wach wurde. Natürlich hatte diese nur ein Murren für das Mädchen. „Lausch!“ Flüsternd reckte es den Hals in die stockdunkle Nacht. „Hörst du das nicht?“

Peternelle schnaufte wie jemand, der in tiefen Schlaf zurücksank. Mit dem jetzt sehr nahen Krachen versteifte sich Peternelles Körper. Sie rappelte sich auf. Schulter an Schulter saßen beide reglos.

„Sieh nach, was das ist!“, befahl Peternelle.

Das Mädchen zögerte. Natürlich zögerte es. Wer wollte schon mitten in der Nacht – in einer eher kalten als wohligen Nebelungnacht – mit blanken Füßen über den kalten Dielenboden tapsen, um ein unheimliches Geräusch zu ergründen? So etwas macht doch keiner!

„Na los!“, piekste Peternelles Zeigefinger sie gemein in die Seite. Ihr Tonfall war in den hohen Lagen altjüngferlich lang gezogen. Das Mädchen wusste, Peternelle würde es ihr bei nächster Gelegenheit heimzahlen, wenn es jetzt nicht gehorchte.

Während das Mädchen nun also mit den Zehen nach ihren Holzschuhen tastete, die da irgendwo neben dem Strohlager sein mussten, wurde das Rumoren auf der anderen Seite der Bretterwand, die die Mägdekammer vom restlichen Dachboden trennte, immer drängender.

Wie eine Blinde streckte das Mädchen die Arme weit von sich. Es wusste, es sind drei Schritte bis zur Wand, tastete sich bis dorthin und erstarrte wie ein Mime auf dem Marktplatz. Schritte: ganz deutlich. Und dann, keine zwei Herzschläge später, schlich ein Lichtschimmer unter und zwischen den groben Brettern der Tür hindurch. „Ich will lieber nicht …“ So ein dünnes Flüstern.

„Schau nach, was dort los ist!“ Peternelles ruppige Art mochte täuschen.

Die Jüngere legte die Hand vorsichtig auf den hölzernen Riegel. Der Riegel klemmte. Dann knarzte er, wie um gegen die nächtliche Störung zu protestieren. Es war also absolut unsinnig, sich die Mühe einer lautlosen Auskundschaftung zu machen und das Mädchen konnte da nicht ahnen, dass die Schritte genau gegenüber der Tür innegehalten hatten.

Ihr Blick fiel direkt auf das, was ganz sicher nicht für Zuschauer aufgeführt wurde. Es waren zwei, eigentlich drei, aber einer zählte ja kaum, denn er war wohl tot. Jedenfalls hingen seine Arme schlaff herunter. Der Kopf wippte mit den schlurfenden Schritten der beiden, die den dritten trugen, beziehungsweise getragen hatten, bevor das Mädchen sie dabei ertappt hatte. Und jetzt starrten die beiden verblüfft herüber.

Zuirst

wird im irsten Teyl erzeleth, wie es sich zugethragen vom Frühjahr anno 1510 bis zum Ausklang anno 1512

in der Parochie Hurke einem Flecken in

der Landvogtey Görlitz

2

Diese Worte können nicht von der sakramentalen Buße, d.h. von Beichte und der Genugtuung, die durch das Amt der Priester geübt wird, verstanden werden.

Sie trippelte auf der Stelle, als übte sie eine Courante, obwohl sie nicht wissen konnte, wie man sie tanzte. Der Sandweg war so aufgeheizt. Wenn sie nicht die Grasbüschel traf, brannten ihre Fußsohlen. Den Krug umklammerte die Kleine. Kein Tropfen durfte verloren gehen. Sie musste ihn zum Schauplatz tragen. Dort würde ihre Mutter die Brui verkaufen. Das hatte der Herr Vater so aufgetragen.

Er, Johannes Mälzer, hoffte auf das große Geschäft an diesem Tag. Einem Tag, an dem eine Schauhinrichtung für Abwechslung sorgen sollte. Das Mädchen, das behänd den Weg entlanghüpfte und das Krügelein balancierte, hatte keine konkreten Vorstellungen davon, was es bedeutete, zum Tode verurteilt zu sein. Sie hatte ihre Mutter mit den Weibern aus dem Dorf sprechen hören. Man äußerte sich erstaunt darüber, dass sich die Unholdin Margarete Rieger ausgerechnet das Wasser zu diesem Zwecke erwählt hatte. Die Kleine aber erstaunte es, dass ein Mensch nicht durch Gottes Hand, sondern durch Menschenhand hinübergeführt werden würde. Und wieso ertränken? Weil einem dann niemand beim Sterben zusehen konnte? Sie hätte niemals Ertränken ausgewählt. Das Mädchen war nicht in dem Alter, abzuwägen, auf welche Todesart ihre Wahl fallen würde. Sie war nicht in dem Alter, Vor- und Nachteile zu ermessen. Beim Erwürgen konnte man zumindest sitzen.

Am Tage Marci, dem fünfundzwanzigsten des Ostermonds, sammelte sich nun also das halbe Dorf am Fluss mit Namen Weißer Schöps und der Krug wurde schwer.

Der Schöps kam vom Süden, vom Eigen, führte dunkelgrünes Wasser, roch eigentlich nach Gras und war an einigen Stellen so tief, dass man fürchten musste, er sei von Querxen und anderen Gestalten bevölkert. Den Mälzerhof fand man am Schwarzbach im südöstlich von Horka gelegenen Mückenhain. Dort floss das Wasser stetig. Unaufgeregt.

Des Mädchens Augenmerk galt dem Krug und nichts als ihm. Das bauchige Gefäß in ihren schmalen Händen wurde immer schwerer. So schwer. Die Kostbarkeit, für die sie Verantwortung trug, war unter einem festgezurrten Tüchlein vor Schmutz und Fliegen geschützt. Ihm entströmte der saure Geruch, der überall in ihrem Elternhaus hing und legte sich über den zarten Duft der ersten Blüten am Feldrain.

Von Ferne war dies sensationslüsterne Rufen und Lachen zu hören. „Du wirst gut hinsehen, wenn es so weit ist!“, hatte ihre Mutter gemahnt. Aber noch war es nicht so weit. Vorerst machte man aus dem Spektakel ein Fest.

Der Karren mit der Hexe wurde aus Görlitz erwartet. Ehebrecherin, Mörderin hatte der Vater die Unholdin genannt. Die Frauen im Dorf soll sie verhext haben, damit die ihre Kindlein des Nachts im Bette ersticken oder sich gar von dem falschen eines machen ließen. Der Teufel hatte seine Buhlin unfruchtbar gemacht, damit ihr Mann die Ehe schied und die Hexe verbannte. So erst konnte sie ihr wahres Werk vollenden. Oben auf dem Weinberg hatte man sie zum Einsiedler gesteckt. Nur wenige Monate war sie dort geblieben. Doch der Alte hatte die Riegerin keines Besseren belehren können: Sie brachte trotzdem Bauer Rieger um. Und da für musste sie jetzt ins Wasser des Schöps’, der doch nichts dafür kann.

Ihr linker Arm war taub. Das Mädchen blieb mitten auf dem Weg stehen und stellte das kostbare Gut vor seinen Füßen ab. Und, dass du dich bloß beeilst!, hallte Vaters Stimme nach. Die Sonne stach im Nacken.

Die Kleine drehte sich um, sah zuerst die Staubwolke aufwirbeln, wie wenn die Mutter die Strohmatten ausklopfte, dann erst das johlende Rudel Halbwüchsiger nahen. Mädchen waren auch dabei. Älter als sie und ohne Krug unterwegs.

Als Nächstes spürte sie ihren Hintern im Sand aufschlagen und einen dumpfen Schmerz im Steiß. Die Horde hinterließ Fußabdrücke im knisternden Schaum, der sich zu einem Rinnsal vereinte. Aller Fußabdrücke, außer von zweien. Zwei blieben stehen, unschlüssig zwar, ob sie den anderen folgen sollten, entschieden sie sich letztlich zu bleiben.

„Hast du dir wehgetan?“

„Lass mich in Ruhe, Andres!“, ging das Mädchen den an, der es offenbar gut mit ihm meinte, von dem es aber keine Hilfe wollte, weil der Vater gesagt hatte, die Hinterthurs können mehr als nur Wasser kochen. Sie rückte den verrutschten Reif auf ihrem Haar zurecht.

„Ach, komm schon, Els.“ Aber Elsa begann zu weinen, weil sie sich schämte und müde war und der Krug leer. Sie weinte, wie es eben Mädchen von zehn Jahren tun. Sie hob aber nicht den Blick, sondern schaute den sich in den Staub grabenden Perlenschnüren zu, wie sie ein Löchlein, eine Unebenheit suchten, um zu versacken, und keine fanden, weil es seit Tagen nicht geregnet hatte.

Die beiden Jungen, die stehengeblieben, waren Brüder. Das schloss man aus den dunkelbraunen Strähnen im halblangen, leicht gelockten und widerborstig verknoteten Haaren und den schmalen Gesichtern. Beide guckten die Jüngere unschlüssig an. Ein weinendes Mädchen ist keine einfache Angelegenheit. So wurde sie vom Älteren, Blasseren und Unscheinbareren verunsichert, vom anderen eher belustigt gemustert.

Die Verhältnisse zwischen den Nachbarsleuten Mälzer und Hinterthur waren kompliziert. Obschon zwischen beiden Gehöften nicht nur besagter Weinberg, sondern auch der Schwarzbach, einige schmale Hufen und ein verschlungener Pfad durch ein Waldstück führten, waren es immer noch Nachbarn. Nachbarn, die einander inniglich verachteten. „Hau ab!“, schrie das Mädchen und nahm allen Mut zusammen, den Jungen ihr allerbösestes Gesicht zu zeigen. Das machte es nur noch schlimmer.

Jost, der jüngere der beiden, neigte sich zu ihr hinab. „Na komm, steh auf.“

Sie nahm seine Hand, weil er hübsch war. „Ihr könnt eurem Vater schöne Grüße bestellen, dass dem Mälzer nun der letzte Schluck ausgegangen ist!“ Sie war nur ein Mädchen, wusste aber, dass mit diesem letzten Tropfen, das Ausschankrecht ihres Vaters verwirkt und der Nächste an der Reihe war, sein Rezept anzurühren.

„Komm mit, ich hab eine Idee“, hob Jost an und bückte sich nach dem Krug. Das sture Kind in Elsa entwendete ihn ihm.

„Ich will deine Ideen nicht, ich will die Briu meines Vaters zurück!“

„Hör endlich auf zu heulen. Komm mit.“ Jost nahm entschlossen den Krug. Beide Buben schlugen dann die Richtung ein, aus der sie eben gekommen waren.

Im Abstand von fünf Fuß folgte die Kleine ihnen, denn schlimmer, als ohne Suppergeld nach Hause zu kommen, war es, ohne Geld und ohne Krug zurückzukehren.

Andres Hinterthur, zwei Jahre älter als sie, ließ sich zurückfallen und ging neben ihr her. Er war groß für sein Alter und hager. Anders als der Jüngere, der das Haar lang über die Schultern trug, verwegen wie ein Städter, reichte Andres’ Kopfkraut, das sich noch entscheiden musste, ob es einmal gelockt oder gesträhnt wachsen wollte, jedoch krumm wie Grashalme fiel, bis zu den Ohren. Während Jost Hinterthur selbstbewusst und unbehelligt vor ihnen her schritt, passte sich Andres scheinbar ihrem vorsichtigen Gang an. „Ihr führt mich ab, wie eine, die was Unrechtes gemacht hat“, murrte Elsa. Sie bekam keine Antwort vom Jungen. Jost hatte sie nicht hören können. „Euch entgeht das Spektakel!“, setzte sie gehässig einen oben drauf. „Mein Vater sagt, wer das Sempel sich nicht anschaut, wird selber zum Verbrecher.“

„Du meinst wohl Exempel. Es ist Blödsinn“, murmelte Andres.

„Willst du sagen, mein Vater lügt?“ Elsa, kühn, holte den Schritt nach links auf und rammte ihm die Schulter in den Oberarm. Vom Mädchenrempler blieb Andres ungerührt. „Nein, ich sage, dass das Zuschauen an sich schon einen schlechten Menschen aus einem macht, uns von bösen Taten aber nicht abhält!“

Elsa fiel nichts Schlagfertiges dazu ein. In Gedanken formulierte sie hässliche Verwünschungen. Der Hinterthur-Hof sollte in Flammen aufgehen, oder vom nächsten Schlossenwetter erfasst und davongeschwemmt werden. Dass Hinterthur und Mälzer die ärgsten Konkurrenten im Geschäft mit der bernsteinfarbenen Briu waren, wusste ja jeder, doch ging der Hass nicht so weit, dass sie einander Besuche abstatteten, um sich Lästereien anzutun. So aber geschah es jetzt, da Elsa Mälzer mit den Hinterthurjungen den Hinterthur-Hof betrat.

Die Buben beschieden, Elsa möge warten und verschwanden mit ihrem Krug im Pfannenhaus, ohne über Hühnerlöcher zu stolpern, weil die Hühner eingezäunt waren. Bei Elsa zu Hause stolperte man in einem fort über irgendwas. Gerümpel und Unordnung suchte man auf dem Hinterthur-Hof vergeblich. Unter dem Laubengang fanden sich weder Küchenabfälle noch tierische oder menschliche Hinterlassenschaften, alles hatte seinen Platz. Man konnte den Hof überqueren, ohne den Saum des Kittels heben zu müssen, weil der Sand geharkt und Pfützen und Rinnen regelmäßig aufgeschüttet wurden.

Von dort, wo in Sudpfannen Gerste verkocht wurde und es stickig heiß werden konnte, trat Meister Orwid auf den Hof. Einen Krug in jeder Faust. Elsa erkannte, dass der ihre von Matsch befreit, das Zeichen der Mälzers im braunen glänzenden Steingut schön poliert worden war. Die andere Kanne zeigte das Emblem der Hinterthurs.

„Hier, Mädchen. Du kannst nichts dafür, dass dein Vater ein Idiot und die Dorfjungs Rüpel sind.“ Mit diesen Worten und einem Grinsen stippte Meister Orwid das Mädchen an der Nasenspitze. Sie wich nicht rechtzeitig vor seinem breiten Finger zurück. Sie hätte ihm gern ins Gesicht gespuckt, was sie sich natürlich nicht getraute. Der Hüne wandte sich nach dem Pfannenhaus um und rief nach seinen Söhnen. „Wie besprochen, Jungs: halbe, halbe. Ihr bekommt einen Schock für den Krug, verlangt also einen halben Groschen pro Becher. Mach die Becher voll. Wir berumsen unsere Kundschaft nicht.“ Letzteres besiegelte er mit einem Augenaufschlag für Elsa. „Guck nicht so belämmert“, meinte er zu ihr, „du bekommst das Doppelte von dem, was das Gebräu deines Vaters eingebracht hätte.“

„So bereichert Ihr euch auch am Unglück der Unholdin? Ihr habt heut nicht Ausschank“, reckte Elsa das Kinn, um sich gegen den Meister zur Wehr zu setzen. Der aber fuhr ihr kurz entschlossen über den Rand: „Und du hast keine Briu mehr.“ Es wäre nicht nötig gewesen, aber Meister Orwid erinnerte das Mädchen dennoch an die Fehde von vor zwanzig Jahren, die den Kindern beizeiten erzählt wurde, damit sie die Zunft und deren Mitglieder ehrten.

Wie eine tönerne Glocke klang das Antippen von Hinterthurs breitem Daumennagel, als er Elsa den Krug gab. Er war leicht und leer.

„Ich rette dir wahrscheinlich den Arsch, kleine Zicke. Also nimm das Angebot an, dann wirst du heut Nacht ruhig schlafen. Andernfalls wird dir der Hintern noch mehr wehtun als so schon.“

Die Hinterthurbrüder hatten wohl berichtet, wie sie vorhin auf ihrem Allerwertesten gelandet war.

Abermals öffnete sich die Tür. Ein Gesicht, blass und glatt wie Milch unter einer ebenso straffen Haube schob sich in die Sonne. Reinhilde war damals aus der Stadt gekommen, um den Orwid Hinterthur zu heiraten. Sie war und blieb die Städterin, auch wenn sie ein gut Dutzend Jahre schon in der Parochie lebte. Die Reinhildin zahlte das ihr entgegengebrachte Misstrauen mit barer Münze zurück. Sie herrschte wie eine Königin über ihren Besitz. Schön und klug, fromm und geschäftstüchtig.

„Sind die Mälzers so gottlos, Geschäfte mit dem Tod zu machen?“, rief sie über den Hof. Elsa steckte die freie Hand in die Tasche ihres Kittels, damit niemand sah, wie sie sie zur Faust ballte. „Ist es nicht genug, dass ihr über alle Meister herzieht, müsst ihr sie nun auch behelligen?“

Elsas Schlagfertigkeit reichte nicht weiter als sie spucken konnte. Die Brauleute verschwanden im Haus.

„Mutter hat recht. Wir sind kein Stück besser als Mälzer“, sagte Andres, kaum, dass sie in die Richtung unterwegs waren, wo der Schöps am tiefsten war. „Wir bereichern uns am Unglück der Unholdin und der Gaffsucht der Leute, wenn wir am Schafott unsere Ware feilbieten.“

Sein Bruder Jost winkte ab und schenkte Elsa ein neckisches Grinsen. Es gefiel ihr.

„Mal im Ernst, Jost“, beharrte Andres, „Die arme Seele! Unser Herr würde das nicht wollen.“

Jost blieb abrupt stehen und schaute seinen älteren Bruder teils genervt, teils ungeduldig an. „Dann lauf doch zurück, Andres, geh zu Mutter und bete, oder spiele mit deinen Glasmurmeln.“ Wieder dieses Lächeln, und Elsa kicherte.

Andres aber tat nichts dergleichen. Nur ließ er sich hinter sie zurückfallen.

„Meinen Bruder interessiert sein Seelenheil mehr, als sein Geldbeutel“, spöttelte Jost.

„Richtig, Dummkopf“, kam es von hinten. „Wir haben mit der Riegerin nichts zu schaffen. Unser Herrgott weiß das. Der Herr hat es gefügt, dass Elsa ihren Krug verschüttet hat, damit sie keine Geschäfte am Schafott macht.“ Elsa protestierte. So war der Hergang nicht gewesen.

Der Herr wolle gern, dass die Wartenden am Schöps eine Erfrischung bekämen, erwiderte Jost. Ein Zwinkern für Elsa, das wohl tat wie ein Löffel voll Honig. Jost trug die bauchige Kanne mit Leichtigkeit, denn er war stark.

Während von Elsa die Sorge des Groschens und die Angst vor Vaters Schlägen verblassten, sie gewillt war, dem sonnigen Tag im Ostermond endlich das Wärmende abzugewinnen, kam Andres so schnell nicht mit seinen Gewissensbissen zurecht. „Aber, wenn es Gottes Wille ist, dass die Zuschauer mit dem Gebräu aufgemuntert werden, dann verfehlt die Hinrichtung doch ihre Anschaulichkeit.“

„Halt endlich die Klappe“, blaffte Jost. „Genieß die Sonne, das Vogelzwitschern, die arbeitsfreie Stunde, oder willst du lieber beim Vater Pfannen schrubben oder Maische rühren bei der Mutter?“ Andres antwortete nichts. „Na also.“

Elsa wollte es so halten wie Jost: Sie wollte den nichtsnutzigen Moment genießen, obwohl Müßiggang eine Todsünde war.

„Wenn du so sehr haderst, Andres, dann kannst du dich an den Wegrand setzen und mit deinen Glasmurmeln spielen. Wir erledigen dann schon den Rest, was Mälzerin?“ Jost knuffte Elsa freundschaftlich in den Oberarm. „Das wär doch gelacht, uns von so einer Mörderin das Geschäft verderben zu lassen!“

Zu Josts Worten nickte Elsa entschlossen: „Ja, das hat mein Vater auch gesagt.“

„Na also!“ Jost wiederholte die verschwörerische Geste.

„Sie hat unter Folter gestanden, Jost“, sagte Andres jetzt mit einer klaren, reifen Stimme. „Ihr Geständnis soll gekauft worden sein.“

Jost war des Themas überdrüssig. Doch Andres zog ihn jetzt rüde am Arm zu sich herum, sodass alle drei im Kreis standen. „Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass die Riegerin unschuldig ist?“

Jost machte sich los. „Sie hat ihm keine Kinder geschenkt. Das spricht für die Buhlschaft mit dem Teufel. Fertig.“

„Fertig“, äffte Andres seinen jüngeren Bruder nach, „Fertig! Gott sei auf Knien gedankt, dass du Briuwer wirst und nicht Jurist!“ Er schubste den Jüngeren von sich und ging weiter voraus. Jost versicherte Elsa, sein Bruder sei nicht ganz normal im Oberstübchen, was er mit einer Geste untermalte, über die Elsa kichern musste. Andres drehte sich nicht zu ihnen um.

„Im ersten Buch Mose steht“, sprach er über die Schulter zu ihnen, wodurch Jost laut aufseufzte, „dass Rahel ebenfalls unfruchtbar war. Sie konnte Jakob keine Kinder schenken. Lea aber, Rahels Schwester, schenkte Jakob sechs Kinder. Rahel wurde auch nicht zum Tode verurteilt.“

„Weil sie von Jakob geliebt wurde“, leierte Jost die Worte herunter.

„Nein, weil sie von Gott geliebt wurde. Gott hat aus übergroßer Liebe Rahel keine Kinder geschenkt?“, rief Andres gereizt nach hinten.

Wie gut die beiden sich auskannten! Elsa selbst brachte meist alle biblischen Namen durcheinander. Die Hinterthurs waren nicht nur reich. Sie waren auch so fromm, dass sie eine eigene Kirchenbank besaßen.

„Das ist ein Gleichnis, du Idiot!“, schimpfte Andres jetzt. „Gott wollte, dass Jakob beide Frauen liebte und deshalb hat er derjenigen, die er nicht mochte, den Kindersegen geschenkt. Gott wollte nicht, dass Rahel neidisch auf ihre Schwester war und daher …“

„Jakob hat es mit allen getrieben, Andres, sei nicht so dumm. Jakob hat sogar bei den Mägden seiner Frauen gelegen, um Gott milde zu stimmen und Rahel den Kindersegen zu bringen.“

„Nein, so darfst du nicht reden.“ Während Andres schulmeisterte, Lea habe nichts als Intrigen und Rahel den Neid gehabt, beobachtete Elsa Jost. Der lächelte müde über den Schlauberger. „Gott lehrt uns Geduld“, schloss Andres, „und Genügsamkeit. Das, was der Rieger mit seinem Weibe damals nicht konnte, und deshalb muss sie heut sterben und das ist furchtbar! Sie stirbt wie unser Herr für die Sünden, die andere begangen haben.“

„Er schläft mit der Heiligen Schrift unterm Kopfkissen“, flüsterte Jost und grinste in Elsas Richtung. Sie, seiner Anziehung verfallen, erwiderte das Lächeln. Das Buch der Bücher hatte sie noch nie von Nahem gesehen. Zu Hause besaß ihre Mutter eine Bilderbibel. Aber das war nicht dasselbe wie die dicke Heilige Schrift mit dem ganzen lateinischen Text.

Sie erreichten den Fluss. Wie eine überreife Traube hingen die Menschen am Schaugerüst, drängelten um die besten Plätze, schoben sich dichter ans Wasser. Elsa konnte ihre Mutter nicht sehen und vollzog gemeinsam mit Jost den Betrug. Andres weigerte sich, Zeuge des Spektakels am Fluss zu werden. Er blieb an einem sacht ansteigenden Hügel unter einer Birkengruppe zurück und wachte über den gedemütigten Krug der Mälzers.

Die Leute streckten Jost ihre Becher entgegen. Sie wussten, das Produkt seines Vaters war das beste, was man kriegen konnte. Man beäugte Elsa, als befürchte man, sie könnte einen Krug vom Mälzer-Gepansch zücken, das man dann umständlich ablehnen müsste. Beim Mälzer schmeckte es eben nicht. Es gab neuerdings Reinheitsauflagen. Die konnte man leicht umschiffen, wenn man Bilsenkraut oder Tollkirsche beimischte, so wie es schon Johannes’ Vater getan hatte. Es gab dem Gebräu zwar etwas Säuerliches, intensivierte jedoch die Wirkung, und ließ sich gerade deshalb um ein paar Kannen strecken. Der Rausch, den man sich mit Johannes’ Gesöff antrank, war ein anderer. Johannes’ wenige Stammkunden wussten das.

Natürlich bekam Jost Hinterthur doppelt so viel für seines, als es Elsa mit dem ihren je erzielt hätte. Natürlich hielt er sich ans Wort seines Vaters, gab ihr einen halben Schock, was mehr war, als ihr Vater für einen ganzen Krug bekommen hätte.

Katharina Mälzer, als sich Elsa mit barer Münze zu ihr durch die Menschen durcharbeitete, war höchst zufrieden.

3

Doch bedeutet es nicht nur die innerliche Buße:

ja, die innerliche Buße ist nichtig, wenn sie nicht nach außen mehrfache Abtötung des Fleisches bewirkt.

Elsa hatte nicht hingesehen. Sie hatte wohl den einen oder anderen Kommentar gehört, aber zugesehen, wie man Margarete Rieger mit Steinen beschwerte und ins Wasser führte, hatte sie nicht.

Spät kamen sie heim. Die Urteilsvollstreckung hatte sich hingezogen. Der Kaplan war nicht erschienen. Was die Klatschweiber sich nach dem Spektakel erzählten, war schlimm. Nein, Ertränken wäre nichts für Elsa. Sie war froh, dass sie keine Bilder im Kopf hatte. Jost Hinterthur hatte hingesehen und brüstete sich damit. Elsa verzieh ihm das.

Am Abend, das Knie der ein Jahr jüngeren Siegtraut im Kreuz, den riechenden Fuß der zwei Jahre jüngeren Anneruth an der Nase und das Geschrei der neu geborenen Irmel im Ohr, hörte Elsa die Mutter noch lange mit der Base tuscheln. In Elsas Traum tauchte Jost auf. Ihm hätte sie am Nachmittag gerne Danke gesagt für seine Idee mit der Briu.

Tags darauf ging die Kunde von Mund zu Mund. Eine Kunde, die alles Schauderbare überstieg. Und als die Neuigkeit bis auf den Mälzer-Hof rollte, musste Elsa die ganze Zeit an Andres Hinterthurs Worte denken.

„Ist die Riegerin also unschuldig gestorben?“, fragte das Mädchen, als die Klatschtanten von dannen gezogen waren. Wenn man ihnen glauben wollte, war noch am selben Tag, als man die Margarete Rieger zu Tode brachte, der Priester Czeppil doch noch aufgetaucht, unpünktlich zwar, und auch nicht in guter Verfassung. Tot. Nicht etwa selig entschlafen in seinem Daunenbette, sondern eingeschlossen und elendiglich wie ein armer Sünder unter der Erde in einem alten, halb verfallenen Fluchtgang, der von der Kirche in die Wälder führte, krepiert. Erstickt? Konnte man vor Angst sterben?

„Gottes Wille!“ Beim Sprechen zitterten die Zipfel der Hörnerhaube der Base. Der Einsiedler habe den Priester gefunden, hieß es weiter. Der Priester hatte den Bauer Rieger auf dem Gewissen, raunte man. Den Mord hatte demnach nicht die Riegerin begangen?

„Also ist sie unschuldig verurteilt worden“, schlussfolgerte Elsa, weil es die Erwachsenen nicht taten.

Ein Ersatz für die Pfarre fand sich so schnell nicht. Die Menschen fühlten sich von Gott im Stich gelassen. Ein gewisser Priester Simon Horn kam für die Predigt ins gottlose Dorf. Es kursierten zweierlei Ansichten: Die einen meinten, dass der Riegerin ein Unrecht angetan worden war, wofür jetzt die Gemeinde büßen sollte. Die andere besagte, dass allein die Hexenkunst der Riegerin den Priester Czeppil im wahrsten Sinne unter die Erde gebracht hatte.

Letztere Meinung erhielt Zuspruch, als auf den fruchtbaren Lenz eine beschwerliche Hitze im Sommer folgte. Der Sonntagspfaff Simon Horn hatte keine tröstenden Worte und man schob die Dürre auf die Hexe, die den Pfarrer vor ihm ermordet haben soll. Der verwaiste Riegerhof im Norden der Parochie wurde zunächst gemieden, dann aber, eines Nachts, brannte er lichterloh. Gott sei Dank! Man war froh, als das Unglück bringende Gehöft weg war. Regen aber kam trotzdem keiner.

Die Felder drohten zu vertrocknen. Gebete wurden lauter. Elsa musste hart anpacken, die goldgelbe Gerste mit Kübeln aus dem Schwarzbach bewässern.

Auf dem Hinterthur-Hof wurden Leitungen aus Holz gelegt und ein Esel im Göpel um den Brunnen laufen gelassen, um stetig Wasser zu schöpfen. Das schütteten die Jungs in die Rinnen, die dann das Wasser direkt auf die Felder führten. Die Hinterthur-Mädchen, Johanna und Maria, spornten den Esel mit Streicheleien zwischen den Ohren und Löwenzahn an.

Elsas Vater hatte weder Söhne noch Geld für Brunnen, Esel und Göpel. Nicht einmal genügend Löwenzahn wuchs auf der dürren Wiese vor dem Haus. Also mussten die beiden ältesten Mälzertöchter die Wasserkübel zum Feld schleppen. Jeden Abend sanken sie mit berstenden Rückenschmerzen, wunden Händen und Füßen auf das Lager.

Elsas zunächst dankbare Erinnerung an Meister Hinterthur schlug um in jene abgrundtiefe Abneigung, die sie von ihren Eltern vorgelebt bekam. Ihre abendlichen Gebete waren weder von christlicher Nächstenliebe noch von Demut und Reue bestimmt. Sondern von Neid. So fügte sie heimlich jedem Gebet an, den Hinterthur sollte der Blitz treffen.

Auf jede Dürre folgt ein Regen. Regen kam so viel, dass es den Leuten in der Parochie auch wieder nicht recht war. Ein heftiges Wetter im Spätsommer peitschte die Gerste und ließ den Fluss über seine Ufer treten. Jetzt mussten die Mälzertöchter die Wasserkübel aus dem Hause tragen. Das Strohdach war so marode, dass es dem Gotteszorn nicht standhalten konnte und mit einem heftigen Wuschsch einfach in sich zusammenfiel. Nun war die Gerste zwar prall gegossen, aber die Familie saß ohne Dach über dem Kopf im Nassen.

Es gab genügend Dörfler, die ein Erbarmen hatten, und die Kinder getrennt – nicht alle vier auf einmal! – für ein oder zwei Tage aufnahmen, so lange Johannes Mälzer das Stroh auf dem Dach erneuerte.

Auch die Reinhildin, von Gottgefälligkeit getrieben, bot an, eines der Kinder zu nehmen. Sie hatte ein Auge auf die stille Anneruth geworfen. Mit ihr würde sie ein paar Tage lang gut zurechtkommen. Katharina Mälzer aber wollte keines ihrer Kinder ins Haus derjenigen geben, die schlecht über sie sprachen.

„Denk doch mal nach, Weib“, forderte Johannes Mälzer. „Lass uns die Große geben. Die soll tüchtig helfen und dann das Rezept auskundschaften.“

Das Letzte, was Elsa wollte, war zu den Hinterthurs zu gehen. Und wenn dort fünf von Josts Sorte wohnen würden. Vor der Reinhilde hatte sie Angst. „Bitte, Herr Vater, steckt mich nicht zur Reinhildin!“ Elsa schwor, fleißig beim Dachdecken zu helfen. Sie versprach, die Strohbündel selbst zu schnüren und wenn sie noch so viele Flöhe davon bekam. Sie gelobte, bei der nächsten Dürre das Feld ganz allein zu bewässern … alles, nur nicht zu den Hinterthurs! Aber das Betteln half nichts. Elsa musste fort, weil Johannes Mälzer das Geheimnis von Hinterthurs Erfolg wissen wollte.

Und die Reinhildin konnte wohl kaum ihre Mildtätigkeit Lügen strafen, indem sie die älteste Mälzertochter nicht aufnahm.

Hier ging es anders zu als daheim: Die Kinder aßen mit den Eltern am Tisch. Sie durften sogar sitzen. Auch wenn sie als Letzte etwas zu Essen bekamen, wurden sie doch satt. Nach dem Gebet wurde die Mahlzeit nicht schweigend eingenommen, wie es bei den Mälzers an der Tagesordnung war. Wer beim Essen sprach, verlor Gottes milde Gabe und die Speise verkehrte sich in Schlechtes. Nein, hier unterhielt man sich: Die Erwachsenen sprachen mit den Kindern!

Elsa aber schwieg, weil sie ja nicht wollte, dass Gottes gute Gaben sich beim Sprechen mit dem Verderbten des Alltäglichen in Schlechtes verwandelten.

Wie es ihr der Vater aufgetragen hatte, lauschte das Mälzer-Mädchen jedem Wort und merkte sich alles ganz genau. Doch ein Geheimnis, eine Rezeptur konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Elsa musste die Briustube putzen. Es schien ganz so, als taten die Hinterthurs nichts anderes, als den lieben langen Tag zu putzen. Sobald ein Maischekübel abgeschöpft war, wurde der geschrubbt. Elsa konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater je einen Maischekübel sauber gemacht hätte. Hinterthurs Lauge stank zum Himmel und bald bildete sich Elsa ein, dass sie genauso roch.

Die Eltern und die Buben hatten ihre Stuben oben, unter dem Dach. Die Mädchen nächtigten im Erdgeschoss. Sittsamkeit wurde hier geachtet. Elsa lauschte dem Spiel der Erwachsenen. Geräusche, fremd und Ehrfurcht einflößend wie eine Verlockung, wie eine Weise in einer fremden Sprache drangen zu ihr und jagten ihr Schauder über den Rücken. Sie fragte sich, ob es Jost auch hörte und wenn ja, ob er dann ebenso peinlich berührt war wie sie.

4

Deshalb währt die Strafe,

so lange die Selbstverachtung währt.

Das ist die wahre Buße im Innern, nämlich

bis zum Eingang ins Himmelreich.

Elsa schlief unstet unter dem fremden Dach. Der Regen trommelte unaufhörlich, blieb aber draußen. An den Dielen über dem festen Fundament vermochte er nicht zu saugen. Die Kleine hockte in einem Lehnstuhl mit Polstern und Wolldecke wie ein aufgeplustertes Vögelchen. Die Hinterthur-Mädchen, Maria und Johanna, schliefen in einem richtigen Himmelbett. Sie rochen auch nicht säuerlich. Elsa vermisste ihre Schwestern. Das Heimweh jedoch wurde gemildert durch die Gewissheit, Jost ganz nah zu sein.

In der zweiten Nacht wurde Elsa aus ihrem Dämmer von einem Klacken und Klimpern geweckt. Es war kein so einschüchterndes, alles zum Stillstand bringendes Geräusch eines Tieres, das sich Zugang zu etwas Essbarem verschaffte, oder der Trieb der Erwachsenen. Elsa sortierte die Elemente, Stein auf Stein? Ton auf Ton? Nein. Holz auf Holz? Metall? Auch nicht. Elsa konnte sich zwar nicht erklären, wie dieses Geräusch zustande kam, aber es beruhigte sie und brachte sie in ruhigen, traumlosen Schlaf.

„Wie viel weißt du über das Handwerk deines Vaters?“, fragte Meister Hinterthur sie am folgenden Tag. Fest und entschlossen. Elsa spürte aller Augen auf sich ruhen. Das Duckmäuserchen in ihr wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, und wie unendlich langsam sich Haferbrei kauen ließ! „Zum Brauen soll man nicht mehr nehmen als so viel Malz, als man zu den drei Gebräuen von dreizehn Maltern und ein Viertel Gerstenmalz braucht“, sagte sie aus der Statuta thaberna, die sie von ihrem Vater gelernt hatte. „Es sollen auch nicht in die Briu weder Hafer noch keinerlei andere Ungeferck. Dazu soll man nichts anderes geben als Hopfen, Malz und Wasser. Das verbietet man bei zwei Mark und derjenige, der muss die Gemeinde für vier Wochen räumen.“

Mit jedem weiteren Wort wurde Meister Hinterthurs Lächeln breiter, die runden Augen, die er Jost vermacht hatte, strahlender. „Bist doch nicht so dämlich, wie dein Vater aussieht. Siehst du, sie kann es. Du nicht.“

Jost kreuzte die Arme vor der Brust. Auf der anderen Seite von Elsas Gesicht, dort, innen, wo es niemand sah, strahlte sie und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, etwas gut gemacht zu haben und zu etwas nütze zu sein.

„Warum aber hält sich dann dein Vater nicht dran?“, fragte Meister Hinterthur und Elsas innerliches Strahlen verglomm. „Was soll das Gepansch mit dem Tollkraut?“

„Weiß ich nicht.“ Elsa mied den Blick in die Gesichter der ehrbaren Hinterthurs und der alte Hass war wieder da. Auf diesem Thema wurde nicht beharrt, doch der Meister verstand es, mit solch kleinen Spitzen Elsa klarzumachen, dass ihr Vater ein Beflecker der Zunft war. So dachten alle.

Den restlichen Tag hingen Elsa und Jost kopfüber in den Maischekübeln und Sudbottichen und lösten mit den Schweineborstenbürsten die Überreste des Würzekochens. Nur die Malzdarre musste nicht geschrubbt werden. Damit das Aroma haften blieb, erklärte Jost. Elsa staunte, was er alles wusste. Auch, dass beim Schroten des Malzes die Spelzen, die kleinen Vorblättchen, erhalten blieben, erklärte er. Die waren brauchbar. Beim Kochen sanken sie auf den Grund des Bottichs. Malzkuchen nannte man das. Jost zeigte ihr die keimende Gerste. Sie sah viel praller und dicker aus als die, die ihr Vater erzielte. Und Jost erklärte, wie man das Feuer unterhalb des Sudes so anschürte, dass die Würze nicht zu heftig aufkochte. Die Erschwernisse ihrer Aufgaben und der Groll, den Elsa gegen Orwid Hinterthur hegte, verbaten ihr jedes Wort, aber sie merkte sich jeden Handgriff, den sie tat, um ihrem Vater davon zu berichten. Sie wollte sich nicht länger ihrer Herkunft schämen.

Am Abend sangen die Hinterthurs fromme Lieder. Reinhilde hielt strenge Gebetsstunden ab. Missa canonica. Andres konnte alles auswendig und Jost langweilte sich. Dessen Fuß suchte unter dem Tisch Elsas, was das Mädchen sehr vom Beten abhielt. Ab und an machte sich Orwid über Reinhildes stundenlanges Beten und Singen lustig. Manchmal folgte Streit und Geschrei und darauf wiederum die Weise in der fremden Sprache.

Schon nach wenigen Tagen verheilten die Blasen an Elsas Füßen. Von bleischwerer Müdigkeit war nichts zu spüren. Elsa schwor sich, der Mutter davon nichts zu berichten, auch nicht, dass sie der Reinhildin geholfen hatte, die Kleider zu richten, dass sie am Abend am offenen Fenster gesessen und bis zum Sonnenuntergang beobachtet hatte, wie Andres Hinterthur, vor dem Haus kauernd, Rinnen in die nasse Erde zog und bunte Glasmurmeln dort entlanggleiten ließ. Und sie wollte nicht erzählen, wie Jost an Andres vorbeischlenderte, wie zufällig in die gezogenen Spurrinnen trat, sich übertrieben dafür entschuldigte und Elsa etwas Lustiges daran fand, wie Andres mit zerknitterter Miene von vorn beginnen musste. Und das tat er. Elsa musste wieder an das Gleichnis der Geduld denken, das Andres im Frühjahr erzählt hatte. „Gott lehrt uns Geduld und Genügsamkeit.“ Beim dritten Mal fanden es weder Elsa noch Jost unterhaltsam, dem anderen das Spiel zu zerstören und suchten sich eine andere Beschäftigung.

Zu Hause war kein Platz für Müßiggang. Zu Hause half Elsa der Mutter bis zum Umfallen mit der Ernte von Kräutern und dem Binden von Amuletten, die unter den Frauen verschenkt wurden. Jedes Amulett hatte seinen Zweck. Kranke und Schwangere waren Mutters häufigste Besucher. Manchmal kamen auch Frauen mit Liebeskummer, die hartnäckigste, wenn auch harmloseste aller Krankheiten, wie Mutter es nannte.

Elsa rollte sich auf dem Lehnstuhl zusammen und lauschte lange dem Klacken Glas auf Glas, das Andres’ Perlen von sich gaben, wenn sie in der Rinne aneinanderstießen.

5

Der Papst will und kann keine Strafe erlassen,

außer denjenigen, die er nach seinen eigenen oder

nach den Satzungen Ermessen auferlegt hat.

Das Dach der Mälzers war so weit in Schuss gebracht, dass die Kinder zu ihren Eltern zurückkehren konnten.

Die Finger der Mutter flochten behände eine Strähne von Siegtrauts Jungfrauenhaar zu einem Faden und um einen Mondstein herum, den eine Kundin mit anhaltenden Frauenleiden und Kopfschmerzen bestellt hatte. Für derlei Bestellungen musste das Haar der Töchter herangezogen werden. Katharina verstand, den Preis zu staffeln: Elsas Haar war am billigsten. Wegen der Farbe. Katharina Mälzers Finger hielten nur inne, wenn Johannes im schroffen Tonfall seine Tochter im Berichten unterbrach. Er wollte jede Einzelheit der Hinterthurschen Brauweise erfahren, musste aber feststellen, dass seine vom Vater und Vatervater erlernte Kunst sich gar nicht von der des Konkurrenten unterschied. Was war also Orwids Geheimnis? Vielleicht, so überlegte Elsa, waren die kleinen Details, über die ihr Vater die Nase rümpfte, der Schlüssel zu Orwids Erfolg? Sie würde sich hüten, ihre Beobachtung laut auszusprechen.

„Mich soll die Blindheit schlagen, wenn dein Herr Vater eines Tages seinen Jähzorn überwindet“, murmelte Katharina Mälzer, als Johannes nicht in Hörweite war, und schickte die Kinder zu Bett.

Elsas Vater schrubbte die Kessel und Sudpfannen nicht. Wie es seine Ungeduld nun einmal gebot, streckte er weiterhin den Sud mit zu kurz gekeimter Gerste und dem Tollkraut, da konnte die Hölle zufrieren, bevor er davon abkam, weil er nicht ahnen konnte, dass zweitägiges Mälzen dem Gebräu sein bitterherbes Aroma vermachte. Eintägiges Mälzen jedoch das Ganze wie Pisse schmecken ließ. Sein Produkt blieb billig, die Familie kam über die Runden.

Wochen strichen belanglos an ihr vorbei, bis Elsa all ihren Mut zusammennahm und die Wanderung auf die andere Seite des Rittergutes antrat, um der Familie Hinterthur einen Besuch abzustatten. Sie hatte gut anderthalb Stunden Fußmarsch Zeit, sich ein Gespräch zu überlegen und hatte zu diesem Zwecke der Mutter ein Körbchen roter, saftiger Äpfel aus der Ernte abgeluchst, die sie der Reinhildin überbringen wollte. Für die Bewirtung im Spätsommer.

Elsas Dank wurde von Reinhilde Hinterthur formell angenommen. Vom Meister Orwid wurde sie über das Befinden der Eltern ausgefragt, von Andres kaum eines Blickes gewürdigt, aber von Jost beäugt, als wäge er einen Schabernack ab, den sie beide treiben konnten. Elsa wollte nicht länger als nötig verweilen, und obschon es sich nicht schickte, dass Mädchen und Buben Zeit miteinander verbrachten, es sei denn, sie waren Geschwister und gingen einer nutzbringenden Arbeit nach, erlaubte Meister Orwid Jost und ihr, sich ins Wäldchen hinter dem Hof zu verdrücken, um zu spielen. Spielen hatte es in Elsas Wortschatz bislang nicht gegeben. Höchstens heimlich, vor dem Zubettgehen und in den wenigen Augenblicken, die ihr manchmal blieben, wenn sie eine Aufgabe erledigt hatte und die Mutter noch keine neue für sie ersonnen hatte. Dann spielte sie mit Stöckchen und was man eben so fand. Jungen durften spielen. Nicht aber Mädchen. Deshalb genoss Elsa die Stunde, die sie gemeinsam mit Jost verbrachte, obschon ihr Anteil daran im Eigentlichen darin bestand, Jost beim Spielen zuzusehen.

Sie bewunderte, wie behände er über den Bachlauf sprang: hin und wieder zurück. Mehrmals. Sie liefen die Weide hinauf bis zur Baumgruppe. Elsa konnte kaum Schritt halten. Jost zeigte ihr einen Kletterbaum und wie man in die Krone kam. Elsa suchte eine Ranke oder eine Winde, mit der sie den Rock zwischen ihren Beinen hätte zusammenbinden können, wurde aber nicht fündig und sah sich auf das Vergnügen, im Wipfel zu sitzen, verzichten. Jost versprach ihr, nicht zu gucken und kletterte voran, damit sie ungeniert hinter ihm her konnte.

Es war herrlich, die Welt von oben zu sehen. Nie zuvor hatte Elsa in einem Baum gesessen. Jost pflückte ihr einen Apfel. Von hier oben konnte man die Spitze des Kirchturms sehen, das von Bäumen gesäumte silbern glitzernde Band des Weißen Schöps’, die überreifen oder schon abgeernteten Hufen, die von jedem Hof abgingen und das ein oder andere Fuhrwerk, das den Dorfweg gen Osten entlangrumpelte, um auf die Hohe Straße und Richtung Görlitz zu gelangen. Görlitz war mit dem Ochsengespann in gut vier Stunden zu erreichen. Elsa war noch nie in der Sechsstadt gewesen. Die Geschichten von Vater und Mutter, die dort manchen Krug vom Gebräu zu verkaufen suchten, beängstigten sie. Niemals wollte sie in die übervolle, übellaunige und garantiert stinkende Stadt!

Jost erzählte ihr von der Sechsstadt, die auch das Tor nach Osten genannt wurde. Er hatte dort Verwandte mütterlicherseits und gab sich weltmännisch. Elsa war beeindruckt. Er erzählte, was man in der Stadt Schönes kaufen konnte. Er beschrieb das feine Tuch, das dort hergestellt wurde, und den Stapel, in dem alles, was das Herz begehrte, gelagert wurde. Er berichtete von den Gauklern, die auf den beiden Marktplätzen ihre Kunststücke zeigten und Lieder sangen. Manchmal kamen richtige Bänkelsänger vorbei oder ganze Trupps von Schaustellern. Der Junge sagte das so, als fuhr er monatlich einmal dorthin, um sich diese Spektakel anzusehen. Elsa war immer nur hier gewesen. Hier kannte jeder jeden. Man musste genau aufpassen, wem man was erzählte, damit es nicht am nächsten Tag alle und vor allem die Falschen wussten. Jost beschrieb die Spielsachen, mit denen in Görlitz gehandelt wurde. Spielsachen! Elsa staunte über Josts übergroße Schlauheit. „Du meinst Dinge, die zu nichts anderem da sind, außer zum Herumtollen und sonst keinen Nutzen haben? So wie die Murmeln von Andres?“

Jost nickte. „Ja, die auch, aber Murmeln sind langweilig. Ich meine Steckenpferd, Reifen und Kegel und so. Ich zeig dir ein Spiel.“ Damit sprang Jost aus der Astgabel, suchte und fand unterm Baum drei Stöcke. „Na, komm schon.“ Elsa kletterte vorsichtig vom Baum und dieses Mal guckte er doch.

Jost zeigte ihr ein Spiel mit drei Stöcken, bei dem es darum ging, einen Stock mit den beiden anderen hochzuwerfen, und wieder aufzufangen. Die Schwierigkeit bestand darin, dass sich der hoch geworfene Stecken in der Luft drehen sollte. Elsa gelang das nicht. Jost amüsierte sich köstlich über sie.

Von nun an machte sich Elsa für den Gottesdienst besonders fein: kämmte ihr Haar so lange, bis es glänzte, steckte den Reif mit Hingabe auf und achtete auf ihren Sonntagsstaat. Hatte sie früher ein kleiner Fleck oder ein gezogener Faden nicht gestört, so behob sie den Makel wie ein zu verbergendes Schandmahl. Das alles tat sie nicht aus tiefster Gottesfurcht. Sie wollte nicht Gott gefallen, sondern einem anderen.

Diesen Plan verfolgte aber so ziemlich jedes Mädchen der Parochie. Elsa fiel auf, dass die Mädchen sich verhohlen nach Jost umdrehten, kaum, dass er die Kirche betrat. Er war immer noch eine Elle kleiner als sein stattlicher Vater, doch vom selben Stolz beseelt wie jener und von eben jenem Ansinnen erfüllt, sich in der Gemeinde als der Briuwer hervorzutun. Nur Elsa verrenkte sich nicht den Hals nach ihm. Dazu war sie zu schüchtern. Sie schlug das Kreuz und die Augen nieder, wie es sich an diesem Ort gehörte, und war doch mit jeder Faser drüben, auf der Nordseite des Kirchenschiffs, wo die Hinterthurs ihre Bank hatten. Elsa hörte den Priester sprechen. Dessen Worte tummelten sich im Kirchenschiff, ohne an ihrem Verstand zu kratzen. Ihre Gedanken glitten in den Apfelbaum zurück. Es gehörte sich nicht, das Gebet zu sprechen und die Lithurgie zu singen und gleichzeitig nur an diesen Jungen zu denken.

Es lag sicher nur an seinem Aussehen. Das Oberlausitzische war gnädig zu seinen Menschen. Anders als das Böhmische mit seinen Mondgesichtern hinter dem riesigen Gebirge. Aber dort redete man sicherlich genauso über die Hiesigen. In der Markgrafschaft Oberlausitz war die Luft rein, waren die Herzen fromm. Es gab nur wenige Exemplare, denen Elsa das Attribut wirklicher Hässlichkeit hätte anheften wollen. Die Hinterthurs waren allesamt von einer Ebenmäßigkeit gezeichnet, die einen schaudern ließ. Alle außer einem: Womit der Jost gesegnet war, war dem Andres abholt. Der war blass, schien verhärmt und schmal und seine Extremitäten taten stets etwas anderes, als sie sollten.

„Wer mit so viel Schönheit in der Jugend gesegnet ist, dem steht Schlimmes im Alter ins Haus“, pflegten die Basen zu wettern, wenn das Gespräch auf die Hinterthur-Sprösslinge fiel. Sicher: Man durfte dem Orwid Hinterthur nicht zu viel Segen und Glück wünschen, wenn man als Mälzer überleben wollte. Doch waren die Hinterthurs vom besonderen Schlage. „Wer reich und schön ist, hat doch was beim Gehörnten schuldig“, meinte die Schwägerin einmal und Katharina Mälzer erwiderte: „Das wäre mir egal. Ich würde jede meiner Töchter den Jungs geben.“ Worte, die Elsas Herz hüpfen ließen. Freilich: Das hatte die Mutter nur so dahingesagt, wie sie sich schon des Öfteren einen jungen Burschen von der Straße weg ins Haus gewünscht hatte, weil ihnen eben der anpackende Sohn fehlte. Elsa aber blieben diese Worte besonders im Gedächtnis. Von allen Buben in der Gemeinde war der Jost ihr der liebste. Gedanken, mit denen sich Elsa versündigte.

6

Der Papst kann keine Schuld vergeben, es sei denn er erkläre und bestätige, sie sei von Gott vergeben, oder sofern er die ihm selbst vorbehaltenen Fälle vergibt, die zu missachten ein Verbleiben in Sündenschuld bedeuten würde.

Die Weihnachtszeit war insofern die schönste, da man jetzt besonders häufig in die warme Kirche kam. Elsa achtete darauf, bei der Eucharistiefeier zu Josts Linker zu stehen. So nahm sie den Kelch von seinen Lippen, und sie tat so, als berührten ihre die seinen.

Es wunderte sich die Katharina Mälzer über die plötzliche Frömmigkeit der ältesten Tochter. Sie stellte die biblia picta, Erbstück der Mutter und Großmutter, bereitwillig zur Verfügung. Das Kind sollte der Heilserlangung teilhaftig werden. Die aus ihrem Einband weitestgehend gelösten Blätter waren an den Rändern speckig, eingerissen sogar. Überaus kostbar war das Buch. Doch im Grunde nichts weiter als eine zerschlissene Blattsammlung mit vielen verblichenen Stellen und wenig Text.

So klang das Jahr im Herrn Fünfzehnhundertzehn aus. Die Schicksalsschläge, die in diesem Jahr über die Parochie hereingebrochen waren, wurden einem gnädiglichen Vergessen anheimgegeben oder zumindest versucht zu verdrängen und in eine weit entfernte Vergangenheit geschoben.

Elsa ging beständig in die Kirche. Sie beneidete die Jungen, die mit Hochwürden Horn nach dem Gottesdienst den Katechismus lernten. Mit Elsas Frömmigkeit zeigte sich Meister Mälzer gern und erzählte jedem, der es nur wissen wollte, wie eilig es die Zehnjährige hatte, am Kirchentag das Weihwasser zu nehmen und stets in Reue und Demut ganz hinten zu sitzen. Dass der kindliche Antrieb ein ganz und gar unfrommer war und Elsa hinten Platz nahm, um ab und an Jost einen Blick zuzuwerfen, das erkannte lediglich ihre Mutter.

Katharina Mälzer erbat sich beim Priester Simon Horn die Erlaubnis, dem Kind das Lesen der biblia picta beizubringen. Zunächst lachte der Priester über die Schnapsidee. Als er erkannte, dass Katharina Mälzer von bitterem Ernst beseelt war, erlaubte er ihr, dem Mädchen das Alphabet beizubringen. Außerdem dürfte dem gelegentlich in der Parochie predigenden Geistlichen bekannt sein, dass die Kräuterfrau zumindest die Damen der Schöpfung auf ihrer Seite hatte. Insgeheim glaubte er nicht daran, dass der Backfisch weiter als bis zum G kam. Dass Elsa es bis zum P schaffen würde, konnte er da noch nicht wissen. Für die priesterliche Absolution die Lektionen betreffend, forderte Horn für seine alte, gebrechliche Mutter ein stärkendes Tonikum, welches Katharina aus Kräutern fertigte.

So stand Elsas frommem Ansinnen nur noch der eigene Vater im Wege. Ein Weibsstück hatte nicht zu lesen! Johannes Mälzer gehörte zu denen, die dachten, wenn man etwas lange genug nicht tut, kann man es eines Tages auch nicht mehr. Bei seiner eigenen Eheschließung hatte er gehofft, niemandem würde auffallen, dass sein Weib lesen konnte, hatte gehofft, sie würde es verlernen. Vielleicht hatte er recht. Die Bilderbibel war ja eben bebildert, damit man nicht lesen können musste. Das war Mälzers Ansicht. Dem Wort des Priesters aber widersetzte er sich nicht. Er tat auf andere Weise seinen Unmut kund.

An einem stürmischen Januarnachmittag begann Katharina Mälzer also den Unterricht. Es war einer jener Tage, an denen man nichts anderes tun konnte, als bei geschlossenen Fensterläden um das Feuer herum zu sitzen und zu warten, dass der schreckliche Winter mit all seiner Kälte und Ungemütlichkeit vergehen möge. Elsas Mutter streute Asche auf ein Brett und zeichnete mit einem Stecken das A hinein.

Die Gelegenheiten, in denen Tochter und Mutter ungestört üben konnten, waren spärlich gesät. Die Frucht nicht üppig. Dafür sorgte schon Johannes. Wenn Elsa nicht mit der Mutter übte, versuchte sie mithilfe der Buchstaben, die sie bereits kannte, neue Wörter zu entschlüsseln. Die Handschrift der Armenbibel jedoch war so unstet, dass sie auf jeder Seite unterschiedlich aussah und es Elsa schwerfiel, Buchstaben, geschweige denn Wörter zu finden. Entzifferte sie doch mal eines treffsicher, fehlte ihr noch die Übersetzung aus dem Lateinischen in die Volkssprache. Mit Latein war es bei Katharina Mälzer auch nicht weit her. Elsa nahm diesen Umstand als Grund, mit Jost ins Gespräch zu kommen.

Sie waren über die oberen Grenzen des Dorfes hinaus, da hatte sich Elsa längst in haltloses Geplapper verstrickt. Sie wurde von Jost ausgelacht, von Andres missmutig in ihrem kindlichen Verständnis von heiligen Zusammenhängen korrigiert. Einige Tage auf dieses dumme Gespräch klopfte es, leise aber dringend. Katharina Mälzer wusch mit den Jüngeren am Schwarzbach die Wäsche, der Vater hatte in der Sudküche zu tun. Elsa öffnete die Tür. Die Überraschung, einen der Hinterthur-Burschen zu erblicken, wog die Enttäuschung, dass es der falsche war, nicht auf. Andres übersprang die Grußformel und streckte Elsa ein Leinenpäckchen entgegen. „Die kannst du haben.“

„Was ist das?“

„Eine Bibel.“

„Eine Bibel?“

„Ja. Ich denke, wenn es dich wirklich interessiert, kommst du mit den Bilderzetteln nicht weit.“

„Bilderzettel!“ Bezüglich der Degradierung des größten Familienschatzes stemmte Elsa die dünnen Fäuste in die Hüften und bot trotzdem keine Angst einflößende Erscheinung. Andres reckte wachsam das Kinn. Er beäugte das gereizte Mädchen von oben herab und nahm das Päckchen, das er dem Mädchen die ganze Zeit hingehalten hatte, zurück vor seine Brust, als könne es ihn vor dem kindlichen Zorn schützen.

„Blasphemie ist das und ich werde es dem Hochwürden Horn sagen!“, schimpfte Elsa aus Wut, weil nicht Jost, sondern der andere zu ihr gekommen war.

„Es wird ihn brennend interessieren“, spöttelte Andres, meinte aber nicht, was er sagte. Das erkannte Elsa sehr wohl. Und ihr entging nicht das kleine Lächeln, das ihm nur flüchtig in den Mundwinkel gerutscht war. Das machte sie nur noch wütender. Im Grunde war ihr die Sache mit der Heiligen Schrift ganz egal, aber es hätte der andere sein müssen, der auf sie aufmerksam wurde. Dem Jungen, der es bestimmt nur gut gemeint hatte, aber eben der falsche war, knallte sie die Tür vor der Nase zu.

Und dabei hatte Andres nichts Verkehrtes gesagt: Die Blattsammlung der Armenbibel war nicht mehr als ein paar Zettel, unterteilt in drei Bereiche: Spruchband mit Miniatur zuoberst, im Mittelstück zumeist Brustbilder von irgendwelchen namenlosen Propheten oder Heiligen und darunter zwei sich reimende Zeilen, die nichts weiter darstellten als die Namen der beiden unteren Propheten mit vielen Symbolen, die selbst Elsas Mutter nicht deuten konnte.

Vor Katharina Mälzer konnte Elsa schlecht verheimlichen, von wem sie Besuch bekommen hatte. Katharina Mälzers Stirn lag in Sorgenfalten. Nicht, weil ein Halbwüchsiger das Mädchen überrascht hatte, was einem Skandal gleichkam und um nichts in der Welt ins Dorf getragen werden durfte, sondern die Tatsache, dass Elsa mit dem Bibellesen hausieren ging. Eine altkluge, des Lesens kundige Jungfrau war schwer an den Heiratswilligen zu bringen. Das erklärte sie dem Mädchen und stellte die Lesestunden ein. Die Lithurgien in der Kirche mussten genügen. Das beschied Katharina Mälzer und Johannes konnte diesen Entschluss nur gutheißen.

Das war, als Elsa noch nicht einmal das P wie Papa – Papst – sicher beherrschte. Und das Gefühl blieb, als fehle ihr noch eine ganze Reihe von Buchstaben.

Trotz alledem suchte Elsa Josts Gesellschaft. Sie wurde eine Meisterin der Effizienz. So schaffte sie die meisten Arbeiten in immer kürzerer Zeit, sodass sich ab und an Gelegenheiten boten, über den Kamm des Weinbergs zu laufen und auf Jost zu warten. Ihre Treffen wurden bald regelmäßig.

Elsa hatte längst begriffen, dass Jost seinen großen Bruder nicht leiden konnte, weil der in den freien Stunden entweder las oder mit seinen Glasmurmeln spielte. Elsa willigte ohne zu zögern ein, Andres eins auszuwischen. Sie willigte ein, weil sie Jost gefallen wollte. Außerdem war sie von einer inneren Wut auf Andres beseelt, die im Grunde nur darin begründet lag, dass sie sich einfach nicht dazu durchringen konnte, sich bei Andres für ihr freches Benehmen von neulich zu entschuldigen.

So gab Jost ihr eines Tages den Auftrag, beim Wurzelheinrich einen Viertelscheffel Baumharz zu holen. Jost hatte ihr die Münze dafür zugesteckt. Was genau Jost mit dem klebrigen Zeug vorhatte, war Elsa schleierhaft. Für sie war es eine unheimliche Herausforderung, ohne Begleitung in den Wald zum Pechklauber zu gehen. Sie fürchtete sich schon allein vor dem Ruf, der dem von der Menschheit vergessenen Alten vorausging.

Mit dem Viertelscheffel gelangte sie mit Einbruch der Dunkelheit am Brauhof Hinterthur an. Im Osten war der Himmel schon ganz finster, aus dem Schöpstal schallte Hundegebell und an ihren Füßen kroch die Lenzeskälte herauf. Elsa beobachtete, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Sie versuchte in der Gestalt, die den Hof überquerte, Jost zu erkennen. Das Schlagen von Schuppentüren kreuzte das Keckern einer aus ihrem Winterschlaf geweckten Fledermaus. Dann ein kräftiges Anschlagen einer Axt. Wer auch immer im Schuppen Holz gemacht hatte, war wieder ins Haus zurückgekehrt.

Elsa wartete, bis es ganz still war und betrat den Hof. Wie abgemacht, klopfte sie an die Tür der Sudküche. Jost, der sie schon erwartet hatte, öffnete ihr. Das breite Grinsen in seinem Gesicht hätte das Mädchen eingeschmolzen, wenn es nicht vor Furcht und Kälte schon fast erstarrt wäre. Jost weihte Elsa in den Plan ein, der ihr ganz und gar nicht gut gefiel.

7

Niemanden vergibt Gott die Schuld,

den er nicht gedemütigt dem Priester als

seinen Stellvertreter unterwirft.

Das Klacken der Glasmurmeln, die aufeinanderstießen, weil Andres in der Bubenstube damit spielte, hatte sie noch in den Ohren, als sie aus dem Hause Hinterthur rannte. Das Klacken der Glasmurmeln, das Poltern und Andres Schmerzensschreie, die in gottlose Flüche mündeten.

Das nächste Mal, als sie Andres sah – von der Distanz aus dem Kirchengestühl her – lag sein geschienter Arm in einer Schlinge. Elsa musste zugeben, dass es sich schwierig gestaltet, das Gleichgewicht am Kopf der Treppe zu halten, wenn der Körper zwar voran will, die Füße aber in einer Lache aus Harz festkleben. Und war es nicht Gottes Gnade gewesen, dass Andres sich nur den Arm und nicht das Genick gebrochen hatte?

Aber wo sich Gottes Gnade fand, war auch unweigerlich Gottes Zorn. Elsas Blick wanderte hinüber zu Jost, der aus einem von Veilchen geränderten Auge zum Altar hin und seiner Bußfertigkeit entgegenblickte. In Elsas Brust zitterte die anerzogene Angst vor Gottes Zorn. Ihre Gottesfurcht wurde so erstickend, dass sie es nicht wagte, ihre Sünde zu beichten, aber freiwillig drei Ave Maria aufsagte, die zu sprechen der Priester ihr zur Buße verordnet hätte. Drei Ave würden das Vergehen aus ihrem Sündenregister bestimmt streichen.

Noch Wochen später, als Andres’ Schiene längst abgenommen und der Arm wieder zusammengewachsen war, fühlte Elsa sich unwohl, sobald sie ihn sah. Doch auch dieser flaue Anflug schlechten Gewissens wurde bald von der Sommerhitze erstickt.

Am Schöps, wo sich die Kinder für eine Abkühlung trafen, verbündeten sich Elsa und Jost aufs Neue. Andres saß im Schatten, ein Buch auf den Beinen, und beobachtete, wie die Jungen an einem tief hängenden Ast über den Schöps schwangen. Nur die mutigsten getrauten sich, bis zu den Knien in den Schöps zu waten. Wer sich das getraute, musste das Gebenedeit seist du Maria aufsagen, weil sonst die Querxen auf dem Grund des Flusses wach würden oder die verlorene Seele von Margarete Rieger aus dem Wasser emporsteigen würde. Solches Gerede machte Elsa Albträume.

Sie zog es sicherheitshalber vor, nicht in den Fluss zu steigen. Sie fürchtete sich vor den unergründlichen Wesen, die hier lauerten. Außerdem konnte sie nicht schwimmen. Wer konnte schon schwimmen! Elsa gab vor, mit einem der Mädchen Hahn oder Henne zu spielen. Ein Spiel, bei dem die Wedel der Gräser zwischen Daumen und Zeigefinger noch oben geschoben werden mussten, um zu sehen, welche Form sie annahmen. In Wahrheit aber beobachtete sie aus dem Augenwinkel die Hinterthur-Jungs. Wieso es immer dann, wenn sie Jost ansah, in ihrem Bauch kribbelte, verstand sie nicht, dass es ihr von Tag zu Tag schwerer fiel, sich ungezwungen in seiner Nähe zu geben, war ihr lästig. Und vielleicht war es an der Zeit, sich bei Andres für den dummen Streich mit dem Baumharz zu entschuldigen, vielleicht bei Jost für seine Verschwiegenheit zu bedanken? Aber nichts davon tat sie, sondern betete wieder drei Ave Maria für die Vergebung ihrer Sünde. Und alles sollte noch schlimmer werden.

Josts Freundschaft bedeutete ihr so viel, dass sie nicht merkte, dass er sie abermals für einen seiner Streiche gebrauchte. „Er hat mich vor Vater einen Dummkopf genannt. Ich hab ihm seine blöden Glasmurmeln in die Suppe getan, damit er daran erstickt“, erzählte Jost mit beleidigter Miene. „Ist er aber nicht. Und Vater hat mit mir geschimpft und dann hat Andres mich bei Mutter angeschwärzt, weil ich Maria den Hof hab’ fegen lassen“, beschwerte sich Jost.

„Aber du solltest den Hof fegen, richtig? Und nicht deine Schwester.“

„Das spielt doch keine Rolle. Andres ist ein Halunke! Also … hilfst du mir?“

Elsa überlegte. Sie wollte eigentlich nicht noch einmal Gottes Zorn auf sich laden.

„Ich seh schon, ich muss mir eine andere Freundin suchen. Vom Wagner die Elisabeth hat mehr Schneid als du.“

Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. „Die Wagner-Elisabeth schielt!“

Jost grinste, stellte sich dicht vor sie und nahm ihre beiden Hände in die seinen. „Hilfst du mir?“

Elsa willigte ein, wieder nur, weil sie Jost gefallen wollte. Sie trafen sich am darauffolgenden Tag bei Einbruch der Dunkelheit im Pfannenhaus der Hinterthurs. Es war ein lauer Frühsommerabend. Jost brachte eine Schale Kirschen mit, Elsa einen Mörser, mehr brauchte es nicht. Bevor sie ans Werk gingen, ließ Jost Elsa beim Kirschkernweitspucken gewinnen. Sie spuckten das Fruchtfleisch in den Mörser. Elsa wandte einiges Geschick dafür auf, das Rot so unter Josts Nase und in seinen Mundwinkeln zu verteilen, dass es echt aussah. Auch am Ellbogen verteilte sie ein bisschen was von dem Matsch. Sie warteten jenen Moment ab, da Orwid Hinterthur die Schweine fütterte und Reinhilde den Hühnerstall verschloss. Johanna und Maria waren ebenfalls draußen beschäftigt und sammelten die tagsüber gelegten Eier ein.

Jost stieg zu den Schlafstuben hinauf. Er wusste, dass Andres in der Kammer hockte, las oder betete oder beides. Als Jost vor der Tür Aufstellung bezogen hatte, gab er Elsa ein Zeichen. Daraufhin schlug sie so kräftig die Haustüre, dass es oben gut zu hören war, imitierte die Stimme einer der Hinterthur-Mädchen und rief Andres’ Namen. Folgsam, wie der Langweiler nun einmal war, riss er die Kammertür auf. Jost warf sich zu Boden, ließ seinen Bruder im Glauben, vom Türblatt hart gegen den Kopf getroffen worden zu sein. Er brüllte und zappelte wie einer, der einen Anfall bekam. Dann blieb er steif liegen, die Augen starr gen Dachstuhl gerichtet. Elsa, immer noch in der unteren Haustür, hatte einen vortrefflichen Blick nach oben und unterdrückte ihr Gelächter. Andres, schockiert und erschrocken von seiner Gewalttat, beugte sich über ihn, stammelte seine Entschuldigungen, sandte Stoßgebete zum lieben Herrgott und rüttelte Jost an den Schultern, um ihn zurück zu den Lebenden zu holen.

Bald mimte Jost, zu sich zu kommen, spuckte den blutroten Kirschsaft um sich – auch gegen Andres’ Gesicht – und obendrein eine Salve Kirschkerne. Danach hielt es ihn nicht länger und er prustete los.

„Witzig!“, stieß Andres den Lachenden, der sich aufrichten wollte, zurück auf die Dielen und verschwand in der Kammer. Jost lachte noch, als er sich am Schwarzbach den Kirschmatsch aus dem Gesicht wusch, und beschrieb immer wieder Andres’ Miene. Er begleitete Elsa noch ein Stück heimwärts.

„Das nächste Mal …“ Und Jost kreierte weitere Gemeinheiten gegen seinen Bruder, die kaum zu übertreffen waren. „Zu keinem ein Wort, kleine Els, ja?“