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Humorvoll und locker erzählt. Kommissar Schneider ist mächtig gefordert: Der Fund einer Toten in der Kieler Förde bringt ihn schnell an seine Grenzen. Kann er dem Gymnasiallehrer trauen, der die Leiche entdeckt hat? Und dessen Frau, bei der die Verstorbene als Putzkraft angestellt war? Und was ist mit dem Ehemann der Toten? Bald hat Schneider mehr Verdächtige, als ihm lieb ist. Als dann noch eine weitere Leiche auftaucht, muss der Kommissar zweifelhafte Maßnahmen ergreifen, um nicht gänzlich den Überblick zu verlieren.
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Seitenzahl: 336
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Cornelia Leymann studierte Pädagogik und Straßenbau in Hannover und lebt seit mehr als fünfunddreißig Jahren in Kiel. Dort arbeitete sie über zwanzig Jahre als Software-Testerin. In ihrem Ruhestand widmet sie sich neben ihrer großen Liebe Bridge dem Schreiben und Malen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Dirk Hinz/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-429-2
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Ein Gewässer schreit ja förmlich nach einer Leiche, zumal in einem Krimi. Dass Frau Heinze allerdings im alten Kieler Olympiahafen treibt, ist dann doch ein wenig merkwürdig. Denn die Kieler Förde ist kein Fluss, sondern ein Fjord, wie man sich bei dem Namen schon fast gedacht hätte. Da fließt nix. Da schwappt die Ostsee nur mehr oder weniger träge hin und her, um ein wenig Bewegung in die Sache zu bringen.
Darum schmeißen wir unsere Leichen auch nicht in die Kieler Förde. Zumindest dann nicht, wenn wir sie loswerden wollen, um vor unliebsamen Nachstellungen sicher zu sein. Denn merke: Wo keine Leiche, da kein Mord. Musst du dir also unbedingt hinter die Ohren schreiben: KEINE LEICHEN IN DIE KIELER FÖRDE! Die kriegt man nicht los, die kleben geradezu.
Frau Heinze dümpelt also im alten Olympiahafen, bollert mit dem Kopf immer wieder gegen die Segelyacht von Uwe und jagt ihn schließlich zur Unzeit aus den Federn.
Das wirft natürlich Fragen auf, wobei die Frage, wieso Uwe es überhaupt hört, noch zu den einfachsten zählt: Ein Schiff ist wie ein Resonanzkörper, und selbst ein leichtes Klopfen klingt inwendig wie ein Donnerhall. So hat Uwe die Wanten alle sorgfältig am Mast verzurrt, damit ihr ewiges Klingkling ihm nicht den letzten Nerv raubt, und muss sich jetzt von einem Dongdong am Schlafen hindern lassen. Dabei hat er seinen Schlaf wirklich bitter nötig. Der gestrige Abend war mehr als unschön. Wobei er mit Fug und Recht sagen kann: Er war daran gänzlich unschuldig. Sonja hatte es förmlich darauf angelegt, ihn aus dem Haus zu treiben.
Wie er das hasst. Schon dieses süffisante »Na, war’s schön?«, da klingeln bei ihm sämtliche Alarmglocken. Doch was hat er gemacht, der Idiot? Statt klipp und klar zu sagen: »Ja, es war schön, aber nicht wegen Vanessa, sondern trotzdem. Mehr war nicht, und mehr wird auch nie sein, weil ich ihre Art nicht ausstehen kann«, statt also die Karten offen auf den Tisch zu legen, ist er ihren Fragen ausgewichen, in der Hoffnung, er käme drumrum. Hat versucht, Vanessas Anwesenheit auf dem Seminar abzustreiten. Und schon hatte er den Salat. Denn Sonja ist nicht doof, einer der Gründe übrigens, warum er sich damals in sie verliebt hat, und ein Merkmal, das er heute immer noch sehr an ihr schätzt, das aber natürlich auch seine Nachteile hat. Schwuppdiwupp, hat sie ihn im Anschein der Beiläufigkeit in eins ihrer berühmten Kreuzverhöre genommen, langsam, aber gezielt alles Unlogische aus seinen Aussagen herausgepopelt und am Ende glasklar geschlussfolgert: Vanessa war auch da. Er hat mit ihr an der Bar gesessen. Hat sogar mit ihr getanzt! Und dass sie danach nicht gemeinsam in die Kiste gestiegen sind, kann er seiner Großmutter erzählen.
In hohem Bogen ist sein Bettzeug aus dem Schlafzimmer geflogen, ehe die Tür mit lautem Knall ins Schloss fiel. Dann wurde abgeschlossen. Zweimal.
So was kommt nicht häufig vor. Gott sei Dank. Früher nie, aber jetzt, da Sonja zwar immer noch klug, jedoch nicht mehr ganz die Schönheit von einst ist, wird sie dünnhäutig. Als ob ihr Vanessa je das Wasser reichen könnte, dieses Küken, diese Gans! Ihre Figur ist allerdings wirklich einmalig, biegsam, schlank. Und dieser Vorbau! Man sieht ihn – natürlich –, und man fühlt ihn, wenn man mit ihr tanzt. Er hat ihn gesehen, gleich als ihm die neue Kollegin vorgestellt wurde. Er ist schließlich nicht blind – noch nicht –, und gefühlt hat er ihn nun auch. Deshalb hat er mit ihr getanzt. Das wird ja wohl noch erlaubt sein. Außerdem möchte man als Mann doch mal seinen Marktwert testen.
Nur ist es offensichtlich doch nicht erlaubt. Zumindest nicht bei Sonja. Schade. Das Leben könnte so schön sein.
Na, jedenfalls hat er sein Bettzeug zusammengeklaubt und sich aufs Sofa verzogen, dann aber gleich wieder diese Stelle im Rücken gespürt, die ihm bei seinem letzten Rauswurf aus dem ehelichen Schlafzimmer aufs wohnzimmerliche Kanapee schon so viel Kummer bereitet hat. Mit zunehmendem Alter wird das Gehirn zwar immer vergesslicher, der Körper dagegen nachtragender. Der vergisst nicht mehr so schnell.
Also hat er die Bettdecke auf den Rücksitz seines Autos geschmissen und ist zum Boot gedüst. Natürlich hätte er die Decke da nicht gebraucht. Sein Boot ist mit allem Notwendigen ausgerüstet, bis hin zu sündhaft teuren Mikrofaser-Schlafsäcken. Aber im November ist es eben oft schon ein bisschen frisch. Da kann man eine zweite Decke ganz gut gebrauchen. Er hätte sich zwar zusätzlich zu seinem eigenen noch Sonjas Schlafsack überwerfen können, aber nein, da hat er seinen Stolz. Wenn sie ihn rausschmeißt, zumal völlig grundlos, dann nimmt er bestimmt nicht ihren Schlafsack, der obendrein nach ihrem Parfüm riecht.
Jetzt könnte er sich natürlich sonst wohin beißen, dass er nicht alles drangesetzt hat, Vanessa ins Bett zu kriegen – jetzt, da er dafür büßen muss, ohne vorher etwas davon gehabt zu haben. So richtig schwierig wäre es auch gar nicht gewesen. Ihre Avancen waren ziemlich eindeutig. Den Eindruck hatte er zumindest. Vielleicht hat sich die Welt inzwischen aber auch so sehr geändert, dass Frauen sich heutzutage so eindeutig zweideutig benehmen können, ohne dass … na ja. Er ist schon eine ganze Weile nicht mehr im Rennen, da kann man manches missverstehen.
Egal, er hat es nicht gemacht, und die Chance kommt wahrscheinlich nie wieder.
Was tut ein Mann, wenn ihm die Tragweite seines Tuns – beziehungsweise in diesem Falle Nichttuns – in voller Gänze bewusst wird? Richtig. Er lässt sich volllaufen. Für Uwe überhaupt kein Ding. Die Alkoholbestände an Bord sind ausreichend, die könnten eine Sechs-Mann-Kapelle flachlegen.
Damit ist eigentlich alles geklärt. Warum Uwe an Bord ist, als Frau Heinze mit ihrem Kopf an die Bordwand klopft. Warum es die sonst eigentlich bordsunüblichen Federn sind, aus denen sie ihn jagt. Und warum es zur Unzeit ist. Ab einem gewissen Alkoholpegel ist schließlich jede Zeit, zu der man geweckt wird, falsch. Auch dass er sich nach dem häuslichen Desaster die Kante gegeben und die Rumvorräte niedergemacht hat, ist klar. Rum in Anlehnung an die alten Seefahrerbräuche, die ja in jedem zweiten nautischen Lied besungen werden: »Hey, ho und ’ne Buddel voll Rum.«
Ein wenig Klärungsbedarf hat vielleicht noch die Frage, wieso eigentlich das Boot im Wasser ist. Jetzt sagst du womöglich: Wieso das denn? Boote gehören ins Wasser, das ist ihre gottgegebene Bestimmung. Das ist natürlich wahr. Aber nicht um diese Zeit. Und nicht in Kiel. Da gehören Boote spätestens ab Oktober an Land.
Es gibt böse Zungen, die behaupten, es gäbe im Leben eines Seglers eigentlich nur zwei schöne Tage: einen, wenn das Boot im April endlich im Wasser ist, und den zweiten im Herbst, wenn es wieder rauskommt, ohne Schaden genommen zu haben.
Musst du dir unbedingt mal ansehen, wie die Segler in Kiel im Herbst ihre Boote aus dem Wasser aufs Trockene bringen. Das ist ein Schauspiel der ganz besonderen Art. Da wird gezunzelt, gezerrt und gezupft, bis endlich der Mast gelegt und alles sicher verstaut ist. Dann kommt der große Autokran und nimmt das Schiffchen auf den Haken. Also, der Autokran hat einen Haken, das Schiffchen hat keinen. Es bekommt deshalb breite Gurte vor und hinter dem Kiel um den Bauch gebunden, wird aus dem Wasser gehoben und am Kran hängend zum nächsten Parkplatz gefahren. Schau nur so spaßeshalber mal den Eignern in die Augen, wenn sie zusammen mit der Gattin hektisch an Vor- und Achterleine zerren, um das Boot während der Fahrt mit dem Kran am Drehen zu hindern, damit es sich keine Beule an der nächsten Straßenlaterne holt. An der Panik, die du dann siehst, kannst du ungefähr ablesen, was das Boot kostet. Aber nicht, wie du vielleicht denkst, sondern genau andersherum: je billiger das Boot, desto größer die Panik. Erstaunlich, oder? Vielleicht aber auch gerade nicht.
Wenn das vorbei ist, hat das Boot Zeit zu wachsen. Boote wachsen nämlich über Winter. Da wird gewienert, poliert, geschraubt und getan, und alle Unzulänglichkeiten treten überdeutlich zutage. Langsam reift im Eigner die Gewissheit, dass er mit diesem Boot keinen zweiten Sommer überleben kann. Außerdem erinnert er sich an die vielen tausend anderen Boote, die ihn im letzten Sommer überholt haben, was mehr als kränkend, quasi unerträglich ist, und dann erinnert er sich an den alten Spruch: »Länge läuft.« Also muss ein längeres Boot her. Hier tritt die Gattin auf den Plan und stellt Ansprüche an die Küchenausstattung und Bequemlichkeit in der winzigen Nische, die Bad genannt wird, und schon ist das Boot in der Länge um gute neunzig Zentimeter gewachsen. Dazu vierzig in der Breite und zwanzig in der Höhe. Das geht hopp, hopp, so schnell kannst du gar nicht gucken, und aus dem ehemaligen Sportgerät ist ein Dickschiff geworden.
Uwes Boot hat keine Chance, über Winter zu wachsen, denn es liegt im Wasser. Das ist merkwürdig. Eben weil alle Boote des Winters angelandet werden. Wegen Eisgangs. Und siehst du, deswegen liegt uns Uwe sein Boot nicht auf dem Trockenen. Eisgang war gestern, genauer gesagt: In der Kieler Förde gab es seit 1996 keinen mehr, und Uwe ist der Überzeugung, dass dank der Klimaerwärmung der Eisgang in der Förde ein für alle Mal erledigt ist.
Darum hat er entschieden: Für kein Eis auf der Förde wird er sich nicht mehr dem Stress der Landverschickung seines Bootes aussetzen. Und schau: Jetzt hat er gut davon. Auf ein Boot, das zu Lande auf einem Parkplatz steht, wäre er zu nächtlicher Stunde nicht geklettert. Dann wäre er ohne eigenes Bettzeug in den Kieler Yacht-Club gegangen und hätte die Suite mit Meerblick gemietet, scheiß auf die Kosten. Das Geld hätte er Sonja vom nächsten Geburtstagsgeschenk abgezogen. Oder noch besser: Er wäre zu Vanessa gegangen, um sich Sonjas Rausschmiss nachträglich zu verdienen.
Rückblickend betrachtet wäre wohl alles besser gewesen, als die Nacht auf dem Boot zu verbringen und sich von Frau Heinze wecken zu lassen. Vom Rumgenuss nicht ganz auf der Höhe und wegen der frühmorgendlichen Störung wutentbrannt, versucht Uwe nämlich zuerst, mit dem Pikhaken das vermeintliche Holzstück wegzustoßen – und bringt Frau Heinze damit einige eklige Blessuren bei, die dem Aufschneider in der kalten Küche später noch einiges Kopfzerbrechen bereiten werden.
Frau Heinze lässt sich aber nicht vertreiben, schon deshalb nicht, weil sie sich mit dem linken Fuß unglücklich in einer Leine verfangen hat. Und endlich begreift auch Uwe, was ihm da sozusagen ins Netz gegangen ist, und ruft über Handy die Polizei.
Ja, so ein Handy ist eine wunderbare Sache, quasi die Telefonzelle in der Hosentasche. Man darf es natürlich nicht fallen lassen, sonst zerspringt das Display, und man hat die sogenannte »Spider-App«. Das kann einem an Bord Gott sei Dank nicht passieren. Jedenfalls nicht, wenn man beim Telefonieren an der Reling steht, so wie Uwe. Da fällt ein Handy einfach nur ins Wasser und ist weg.
Polizei dagegen ist keine reine Freude, selbst ohne dicken Kopf, und in Uwes Zustand ist sie eine richtige Zumutung. Der ist schon ohne Restalkohol ein Morgenmuffel. Da kannst du dir vorstellen, wie die ganze Fragerei des Herrn Hauptkommissar an seinen Nerven zerrt. »Kennen Sie die Frau?« – »Was wollten Sie um diese Zeit auf dem Boot?« – »Haben Sie überhaupt einen festen Wohnsitz?« Dann kommt Herr Schneider, Hauptkommissariat Kiel 12a, erst richtig in Fahrt. Warum er derart unvollständig bekleidet einer Frau im Wasser auflauere und sie anscheinend zu Tode erschrecke, und wer er eigentlich sei?
Auf Letzteres hat Uwe zwar glücklicherweise eine passende Antwort, doch weil das Handy über Bord und Uwe über dem ganzen Stress mit dem Bettzeug Ausweis und Haustürschlüssel vergessen hat, daher also ein Mann ohne Identität, dafür aber mit Mordverdacht ist, nimmt Herr Schneider ihn erst einmal mit.
Sonja hätte seine Identität natürlich bestätigen können, aber vielleicht hätte sie auch geschwiegen, um ihm wegen seiner Untreue eins auszuwischen. So was machen eifersüchtige Frauen manchmal. Ob sie allerdings tatsächlich so weit gegangen wäre, werden wir nie erfahren. Auch Uwe und Sonja nicht, denn Sonja ist nicht zu Hause, als die Polizei gegen acht mit Uwe im Schlepptau bei ihr klingelt.
***
Sonja ist ein Gewohnheitstier. Sie hat über zwanzig Jahre Zeit gehabt, sich an Uwe zu gewöhnen, und nun kann sie nicht mehr ohne ihn. Im Streit kann sie erst recht nicht ohne ihn. Das ist merkwürdig, aber wahr. Wenn sie sich ärgert, kann es tatsächlich so weit kommen, dass sie ihn rausschmeißt, doch dann merkt sie gleich, dass er ihr fehlt. Also ist sie letzte Nacht schon nach einer halben Stunde leise wieder aufgestanden, zur Schlafzimmertür geschlichen und hat den Schlüssel zurückgedreht. Zwei Mal. Uwe hätte wieder reinkommen können, und sie hätte ihm verziehen. Sie hatte sich die Verzeihung sogar ganz besonders erfreulich vorgestellt.
Aber er kam nicht. Als er nach einer Stunde immer noch nicht aufkreuzte, hat sie all ihre erfreulichen Vorstellungen zusammengenommen und ist ins Wohnzimmer geschlichen, um ihm auf dem Sofa zu verzeihen. Aber da war kein Uwe. Sie hat sogar Dachboden und Keller nach ihm durchforstet.
Kein Uwe.
Wo ist er abgeblieben?
Ja, und da ist dann doch wieder die Eifersucht in ihr hochgestiegen und hat der ganzen Verzeihung den Garaus gemacht. Na, wo kann er schon sein, hat sie nämlich gedacht, bei Vanessa natürlich, dieser falschen vollbusigen Schlange, und sich gefragt, was sie nun tun soll. Ihr die Augen auskratzen wäre ja wohl das Mindeste.
Ja, so sind wir Frauen. Du vielleicht nicht, aber die normale Frau, sozusagen die Frau auf der Straße, also die gemeine Frau schlechthin, die will der anderen die Augen auskratzen – nicht dem Gatten, dem eigentlichen Übeltäter. Dem auf keinen Fall, denn sie will ja nachher keinen Mann mit ausgekratzten Augen zurückhaben.
Nun, das sind alles müßige Gedanken, denn Sonja weiß nicht, wo Vanessa wohnt, kennt nicht einmal ihren Nachnamen. Also hat sie sich in ihr einsames Bett verzogen und weinend die Nacht verbracht.
Eine schreckliche Nacht, das kann ich dir sagen. Grauenvoll. Dabei hätte sie nur mal nach dem Bettzeug forschen sollen. Welcher Liebhaber bringt schon die eigenen Federn mit in den Sündenpfuhl der Lust, wenn er sich in fremden Federn wälzen kann? Aber so ist das. Wenn die Eifersucht überhandnimmt, kann selbst die klügste Frau nicht mehr klar denken.
Erst so gegen fünf Uhr morgens hat sie eine Idee. Das Internet ist geschwätzig und kann eifersüchtigen Ehefrauen manches ausplaudern. Auf der Website von Uwes Schule, unter dem Stichwort »Lehrkräfte«, wird sie fündig. Vanessa Koslowski. Na bitte. Die Adresse ist dann ein Leichtes, denn auch das gute alte Telefonbuch ist im Internet eins zu eins abgebildet. Google Maps tut ein Übriges und verrät ihr nicht nur, wo der Kolonnenweg ist, sondern auch, wie man hinkommt, und zwar auf kürzestem Wege. Da möchte Sonja sich am liebsten ohrfeigen, dass sie nicht schon vor vier Stunden auf die glorreiche Idee mit dem Internet gekommen ist und auf diese Weise noch rechtzeitig wie ein Deus ex Machina das Schlimmste verhindert oder zumindest einen echten Coitus interruptus erzwungen hat.
Aber nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Na, die Metapher ist vielleicht etwas unglücklich gewählt, denn so blöd wird Vanessa hoffentlich nicht sein, Kinder in ihren Brunnen fallen zu lassen.
Sonja geht ins Bad, erschrickt vor ihrem Spiegelbild und hätte sich beinah wieder zu dem dringend erforderlichen Schönheitsschlaf ins Bett verzogen. Doch die Eifersucht, gepaart mit rasenden Rachegedanken, siegt. Vierzehn Minuten später, genau wie Google Maps es prophezeit hat, ist sie da, obwohl sie langsam gefahren ist, um nebenbei nach Uwes Auto Ausschau zu halten. Na, so dämlich ist er natürlich nicht, in Sichtweite zu parken, dass sie ihm gleich draufkommt. Sie hält vor Vanessas Haustür. Direkt davor, wie es sich für einen Krimi gehört. Musst du mal drauf achten: Im Fernsehen findet der Kommissar – oder der Mörder oder wer auch immer – selbst in der allerinnersten Innenstadt stets einen Parkplatz direkt vor dem Ziel – und der ist obendrein noch so groß, dass er vorwärts einparken kann.
Da dies hier ein Krimi ist, ist das bei Sonja auch so.
Völlig verlassen sitzt sie da. Von Uwe und von allen guten Geistern. Gott sei Dank hat auch ihr Mut sie nun verlassen. Wie peinlich, als betrogene Ehefrau mit total verschwiemelten Augen vor der Tür der Rivalin aufzutauchen und um die Herausgabe des Gatten zu bitten. Das geht gar nicht. Auf den letzten Metern holt die Vernunft Sonja doch wieder ein. Sie bleibt in ihrem Auto sitzen und behält die Tür im Auge. Ihre große Stunde wird schlagen, wenn Uwe die Stätte seiner Sünde verlässt.
***
Gegen zehn Uhr an diesem Morgen ergibt sich folgendes Bild: Uwe sitzt in etwas unzureichender Garderobe vor dem Schreibtisch von Kommissar Schneider, Frau Heinze liegt klatschnass in einem Zinksarg, Sonja ist hinter dem Steuer ihres Wagens eingeschlafen, und wo Vanessa ist, wissen die Götter.
Sagt man so, »das wissen die Götter«. Ist eine Redensart. Ich verrate dir aber sicher kein Geheimnis, wenn ich dir gestehe, dass ich natürlich weiß, wo sie ist, obwohl ich kein Gott bin. Oder vielleicht doch. Kennst du das Bild mit dem Hund, der Katze und den zwei Gedankenblasen? Der Hund denkt: Sie füttert mich, sie streichelt mich, sie muss ein Gott sein. Die Katze denkt: Sie füttert mich, sie streichelt mich, ich muss ein Gott sein.
Ich bin kein Gott und weiß trotzdem, wo Vanessa ist. Ist allerdings völlig unspektakulär: im Bett nämlich. Noch dazu im eigenen. Und zwar allein.
Eigentlich ungewöhnlich, denn Vanessa ist ein heißer Feger. So was verbringt die Nächte nur im äußersten Notfall allein. Sollte man meinen. Aber siehst du, das täuscht. Vanessa trägt schwer an ihrem großen Busen, wenn ich das mal so sagen darf. Sie ist nämlich eigentlich ganz anders, als sie aussieht. Eher ein Kumpeltyp, lacht gern und viel, wünscht sich einen soliden Mann und Kinder. Aber so einen Mann hat sie noch nicht gefunden. Denn diese Sorte Mann lässt sich von dieser Sorte Busen eher abschrecken, kann nicht über ihn hinwegsehen und dahinter die Frau erkennen, die sie ist und die zu ihm passen würde. Nur die anderen umschwirren sie wie Motten das Licht. Doch die will sie nicht und bleibt daher unbemannt.
Für eine Freundin würde Vanessa durch dick und dünn gehen. Doch sie hat keine Freundin. Nicht in Kiel. Schließlich ist sie gerade erst hierhergezogen, und wir Norddeutschen sind reserviert. Nie würden wir uns im Lokal auf eine Bank setzen, auf der schon einer sitzt. Deshalb gibt es bei uns auch kaum Bänke. »Schade, alles voll«, sagen wir, wenn wir in die Kneipe kommen und an jedem Tischchen sitzt einer.
Vanessa hat also weder Freund noch Freundin und ist meist allein. Schlanke Beine bis zum Hals, ein mächtiger Vorbau und lange blonde Haaren machen einsam. Vanessa lebt im falschen Körper und kann kaum etwas dagegen tun. Schließlich lassen sich Beine nur schwerlich verstecken, und auch ein dicker Busen macht sich durch alle Falten und Ritzen der Bekleidung hindurch wichtig. Nur die Haare könnte sie kurz schneiden und vielleicht grau färben.
Aber sie hat es gern bequem und will nicht dauernd beim Friseur sitzen. Daher lässt sie ihre Haare, wie sie sind, bindet sie allenfalls mal zum Pferdeschwanz zusammen, steigt in Jeans und Pulli und lacht die Welt an, auch wenn die Welt meist nicht zurücklacht.
Auf dem Seminar allerdings ist etwas gehobenere Kleidung angesagt gewesen, weshalb sie sich in ihr kleines Blaues geschmissen hatte – und siehste, schon hatte sie den Salat. Da ist doch dieser Mathe-Uwe auf sie zugestelzt und hat auf Gockel gemacht. Ihn hielt sie im Grunde für den einzigen normalen Menschen im Kollegium, und nun ist er ihr beim Tanzen so dermaßen auf die Pelle gerückt – geradezu peinlich, so was. Scheußlich, diese Fortbildungsseminare, auf denen eigentlich ganz sympathische Kollegen auf einmal den Macho raushängen lassen. Was macht man in solch einer Situation? Brüsk zurückweisen? Na bravo, welcher Mann nimmt so was nicht krumm? Noch dazu vor den anderen Kollegen, deren Aufforderungen zum Tanz sie alle mit kummervollem Blick auf ihre viel zu hohen Schuhe abgewiesen hatte und die sich nun gespannt lauernd fragten, ob Uwe zum Stich kommen würde.
Ihn hat sie gestern also nicht abgewiesen, sondern mit ihm getanzt, aber nur, weil sie gern tanzt und sich bei Uwe vor einer Anmache sicher fühlte. Der war ein guter Kollege. Dachte sie. Na, da hatte sie sich getäuscht, aber sie ist aus der Nummer dann doch noch irgendwie wieder rausgekommen. Dachte sie.
So denkt sie immer noch, als sie nun im Bett liegt und über das Seminar und den verkorksten Abschlussabend nachgrübelt. Sie weiß ja nicht, dass unten im Wagen die eifersüchtige Ehefrau sitzt, während Gockel Uwe auf dem Kommissariat seinem vergessenen Ausweis nachtrauert.
***
»So langsam sollte Ihnen jemand einfallen, der bezeugen kann, wer Sie sind, damit wir hier endlich zu Potte kommen«, sagt Kommissar Schneider und sieht seinen Delinquenten missmutig an.
Uwe überlegt. Solche Leute gäbe es reichlich. Aber was zieht das für einen Rattenschwanz von Fragen nach sich. »Soso, auf dem Boot hast du übernachtet. Warum das denn?« – »Stress mit Sonja? Warum das denn?« Das hämische Gegrinse mag er sich gar nicht vorstellen. »Wegen Vanessa? Die ist wohl mehr als nur eine Kollegin, was?« Ein Mist, das alles! Dass er mit seinem Bettzeug aufs Boot ausgewandert ist und sich hat volllaufen lassen, geht nun wirklich nur ihn und Sonja etwas an.
Wenn er Helmut bittet, ihn hier rauszuhauen, kann er gleich eine Annonce in die Zeitung setzen. Er sollte bei Frank anrufen. Der ist ein echter Freund, diskret und verständnisvoll. Schon will er dem Kommissar die Telefonnummer von Frank geben, da fällt ihm gerade noch rechtzeitig dessen neue Freundin ein. Die hat so was Spitzes, so was … Seit sie in Franks Leben getreten ist, hat sich das Verhältnis der beiden Männer geändert. Die Vertrautheit hat einen Riss bekommen. Nein, Frank geht auch nicht.
Da fällt ihm Putzi ein. Jawohl, er wird Putzi bitten, aufs Kommissariat zu kommen und zu bezeugen, dass er Uwe Grossmann ist. Den Schlüssel soll sie auch gleich mitbringen, damit er zu Hause reinkann. Von einer Putzfrau ist nichts zu befürchten. Alles, was es über das Ehepaar Grossmann zu wissen gibt, ist ihr schon lange bekannt. Wer sonst nimmt so tiefen Einblick in das Leben seiner Beputzten wie die Putzerin? Wer weiß über alle Details Bescheid, von der Unterwäsche bis zu den Zahnputzgewohnheiten, vom Einkauf bis zum Stuhlgang? Von anderen Intimitäten ganz zu schweigen. Da kommt es auf eine Peinlichkeit mehr oder weniger nicht mehr an.
Ihre Nummer weiß er auswendig. Er ruft sie oft an, denn Sonja pflegt Sonderaufträge über ihn abzuwickeln. »Ruf Putzi an. Das kleine Bad starrt vor Dreck und müsste dringend mal wieder auf links gezogen werden«, befiehlt sie ihm, was er dann für Putzi in zarteres Deutsch übersetzt: »Wir bekommen vielleicht Besuch, und meine Frau meint, dafür sollte das Bad im Erdgeschoss … Wenn Sie eventuell Zeit hätten, da vielleicht noch mal besonders gründlich …«
Ja, er fasst Putzi mit Samthandschuhen an. Nicht umsonst heißen Putzfrauen »Perlen«, und Putzi ist eine Perle erster Güte.
Der Herr Kommissar tippt die genannte Nummer in sein Telefon. Diese ausweislose Plage vor seinem Schreibtisch wird er eigenhändig, und zwar so schnell wie möglich, aus dem Weg räumen. Mit solchen Bagatellen will er seine Sekretärin nicht belästigen. Frau Tengel ist nämlich ebenfalls eine Perle, eine Vorzimmerperle, die er nicht mit belanglosen Telefonaten verärgern will, wenn sie wegen der Wochenendleiche schon für ihn ihren Sonntag opfert.
Aber unter der Nummer meldet sich niemand.
»Kennen Sie sonst noch jemanden?«
»Nein«, sagt Uwe.
Mein Gott, was für ein einsamer Mensch, denkt der Kommissar und hat beinahe etwas Mitleid mit ihm. Aber nun muss auch mal Schluss sein. Schließlich hat er eine Leiche auf dem Tisch, da zählt jede Stunde, und er kann sich nicht um einsame Uwes kümmern. Er übergibt sein Gegenüber also der Vorzimmerperle mit der Maßgabe, noch eine Weile nach Identifizierungshilfen zu fahnden, und wenn das nicht klappt: ab mit ihm in die Ausnüchterungszelle. Einigermaßen ernüchtert ist Uwe zwar, aber was anderes ist im Augenblick nicht frei. Und zwischen den Füßen will Schneider ihn auch nicht rumlaufen haben. Vielleicht fällt Herrn Grossmann in der Abgeschiedenheit der vier ungastlichen Wände ja doch noch jemand ein, der ihn hier rausholen kann. Oder seine Frau taucht wieder auf. Oder die Perle kehrt heim. Oder … ach, weiß der Teufel.
Unter den kundigen Händen von Frau Tengel, die noch bis weit in die achtziger Jahre Fräulein Tengel geheißen hätte, weil das Wort im Amtsdeutsch damals noch sehr gebräuchlich war, was Frau Tengel aber nicht mitbekommen hätte, weil sie damals noch gar nicht auf der Welt war … na jedenfalls, unter Frau Tengels kundigen Händen blüht Uwe auf. Mag an dem starken Kaffee liegen, den sie ihm serviert, oder an ihren hübschen Beinen, auf denen sie zur Kaffeemaschine schreitet; es könnten natürlich auch ihre großen, mitleidig blickenden Augen sein, die beinah zärtlich auf seinem immer noch ziemlich derangierten Äußeren ruhen. Man weiß es nicht.
Ihre nicht nur kundigen, sondern auch flinken Finger huschen über die Telefontastatur, und schon hat sie Putzis Mann an der Strippe. Das nützt aber nichts, denn seine Frau ist nicht da, und er kann nicht helfen. Er kennt den Arbeitgeber seiner Frau nicht vom Ansehen und könnte daher auch nicht sagen, ob er es ist. Wann seine Frau wiederkommt, weiß er nicht.
»Ist der immer so?«, fragt Frau Tengel, nachdem sie aufgelegt hat.
»Ich kenn den kaum. Wie war er denn?«, fragt Uwe und verbrennt sich den Mund an der zweiten Tasse Kaffee. An der ersten hat er sich auch schon die Zunge verbrannt. Das sollte ihm eigentlich nicht noch einmal passieren, aber unter Frau Tengels sanftem Blick hat er es vergessen.
»Weiß nicht, irgendwie mürrisch, kurz angebunden, vielleicht kummervoll«, sagt sie und strahlt ihn an. Ihr überschwängliches Strahlen veranlasst ihn dazu, sich etwas dabei zu denken. Als sie aber die beiden Uniformierten, die Uwe in die Zelle führen, ebenso anstrahlt, denkt er sich nichts mehr.
In der Zelle gibt es keine hübschen Beine, keinen heißen Kaffee, keine zärtlich blickenden Augen, wenn man vom Kameraauge absieht, das sanft auf ihm ruht. Die Tür wird geräuschvoll verschlossen.
Nun heißt es warten. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Buch, kein gar nichts. Einfach nur warten.
***
Sonja hebt mühsam den Kopf vom Lenkrad, dehnt die verspannten Schultern und sieht auf die Uhr. Sie hat mindestens drei Stunden geschlafen. Damit kann sie die Hoffnung, Uwe in flagranti oder zumindest postflagranti zu erwischen, begraben. Während sie geschlafen hat, kann er ihr zehnmal durch die Lappen gegangen sein und jetzt – ganz Unschuldslamm – zu Hause gemütlich im Sessel auf sie warten und alles abstreiten.
Was nun? Sie kriecht aus dem Auto und streckt sich. Der Rücken schmerzt, der Nacken kracht, die Knie lassen sich kaum durchdrücken. Und alles wegen Uwe. So verspannt war sie das letzte Mal nach dem sechsstündigen Flug auf die Kanarischen Inseln. Im Grunde auch nur wegen Uwe. Sie hätte einen wunderschönen Urlaub mit Buch und Campari auf einer Liege in der Sonne an der Costa del Sol diesem schwachsinnigen Surfurlaub auf dem windigen Atlantikeiland bei Weitem vorgezogen.
Während sie die Hände gegen das Autodach stützt und den Körper wieder einigermaßen in Form biegt, erstellt sie im Geiste eine Liste mit Uwes Missetaten. Ganz oben natürlich Vanessa. Dann diese Rebekka, die sich im Nachhinein allerdings als Fehlinterpretation herausgestellt hatte. Außerdem natürlich Fuerteventura und unzählige weitere Urlaube, die sie alle gern in gemütlichen Liegestühlen auf irgendeiner Mittelmeerinsel verbracht hätte, statt sich sturmumtost an steinigen Stränden den Arsch abzufrieren. Ganz zu schweigen von jeder Menge lieblos ausgequetschter Zahnpastatuben, überall verstreuten dreckigen Socken und unzähligen scheußlichen Abenden, an denen zweiundzwanzig verschwitzte Männer in der ARD über den Flachbildschirm rannten und diesen gut aussehenden Schauspieler auf 3Sat ins Abseits drängten. Ach ja, die vielen vergessenen Müllbeutel, die er hätte raustragen sollen, wären ihr bei der Länge der Liste beinah durchgeschlüpft.
Wegen eines solchen Taugenichtses hat sie sich den Rücken derart verbogen, dass ihr nun das Kreuz inklusive sämtlicher Gräten wehtut, während er alles vögelt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ist sie denn noch zu retten?
Nein, sie ist nicht mehr zu retten. Zumindest nicht, wenn sich nicht schnellstens einiges – das Wort betont sie im Geiste: einiges – in ihrer Ehe ändert.
Grimmig steigt sie wieder in ihren Wagen, entschlossen, nun ganz andere Saiten aufzuziehen und ihrem Scheusal, das sich da auf dem Sessel lümmeln wird, wenn sie nach Hause kommt, mal ordentlich die Leviten zu lesen.
Doch was sich nicht lümmelt, als sie nach Hause kommt, ist das Scheusal.
Kennst du sicher auch, dieses Gefühl. Man kommt mit wahnsinnig viel Brast an, will verbal mal so richtig auf den Tisch hauen, ist aber niemand zum Draufhauen da. Grausam, so was. Wohin mit dem ganzen Frust? Sonja macht sich erst einmal an den Sofakissen Luft und schmeißt sie mit aller Wucht auf den Boden, dass es kracht. Hast du das schon mal gemacht? Da kracht nämlich nun wirklich gar nichts, wenn die Kissen nicht zufällig irgendwas mitreißen.
Sonja sieht sich um. Nichts da, was so richtig schön scheppern und dessen Verlust sie verschmerzen könnte. Schließlich verschaffen ihr die Teller des Hochzeitsgeschirrs die gewünschte Befriedigung. Ha, jetzt kann er zusehen, von was er zukünftig seine Steaks herunterschlingt! Die Erkenntnis, dass auch sie ihre Salatblättchen ab jetzt von Untertassen wird essen müssen, bringt Ernüchterung. Vorsichtig steigt sie über die Scherben und beschließt, dass Uwe den Saustall wieder in Ordnung zu bringen hat. Er ist schließlich schuld an der Verwüstung. Dieser Zahnpastatubenquetscher, dieser Sockenrumliegenlasser, dieser untreue, urlaubversauende Fußballunhold, dieser …
Ach Uwe. Lieber, zärtlicher, humorvoller Uwe.
Sie sammelt die Kissen wieder ein, setzt sich aufs Sofa und nimmt sich erneut ihre geistige Liste vor. Was sind das eigentlich alles für Banalitäten, die sie ihm ankreidet? Bis auf Vanessa natürlich. Aber ansonsten? Alles Kinkerlitzchen. Das ließe sich doch alles ganz einfach regeln. Als Erstes kommt ein zweiter Fernseher ins Haus, auf dem sie Uwes zweiundzwanzig verschwitzte Männer gegen einen adrett gekleideten, richtig schönen Mann eintauschen wird. Außerdem erwägt sie die Anschaffung einer eigenen Zahnpastatube. Dann kann Uwe mit seiner machen, was er will. Herumliegende Socken wird sie unter das nächstbeste Möbel kicken, damit sich Putzi ihrer ebenso annehmen kann wie all der vergessenen Müllbeutel. Ach, wunderbar, mit etwas Phantasie lässt sich das Leben so schön machen. Eine Putzfrau kann wahrlich der Grundstein einer glücklichen Ehe sein. Und seinen Urlaub kann Uwe verbringen, wo er will. Sie wird am Mittelmeer mit Campari und Buch im Liegestuhl zu finden sein.
Aber halt, das geht nicht. Während sie an der Costa del Sol ihre Drinks schlürft, wird Uwe auf Fuerte von Baum zu Baum hüpfen und alles runterwedeln, was dort vor ihm Schutz gesucht hat.
Quatsch! Das hat ihr Uwe ja nun wirklich nicht nötig. So gut, wie er immer noch aussieht, braucht er nur mit dem Finger zu schnipsen, und die Damenwelt springt. Er ist groß, er ist schlank, hat nicht einmal eine Andeutung von Bauch, und seine Augen sind dunkel mit samtenem Schimmer. Ein Traum, dieser Mann, selbst wenn er seine dreckigen Socken überall herumliegen lässt. Sonja hatte schon überlegt, ob sie nicht die Spiegel im Haus verhängen sollte, damit er nicht merkt, wie gut er noch immer aussieht. Aber Männer wie er strafen Spiegel sowieso mit Nichtachtung, brauchen sie nur zum Rasieren. Denn der wahre Spiegel für einen Mann ist der Glanz in den Augen der Frauen. Deshalb achtet Sonja streng darauf, dass nichts glänzt – und wenn doch, legt sie den Arm um ihren Uwe und zeigt damit jeder Rivalin: Der gehört mir.
Jawohl. Sie hat einen attraktiven Mann.
Leider.
Das ist ja die Krux. Sie hat einen attraktiven Mann und braucht ganz sicher nicht ohne ihn in Urlaub zu fahren, damit er fremdgeht. Nein. Mal fünf Minuten nicht aufgepasst und schon treibt er es quasi vor ihren Augen!
Vanessa, Rebecca, alle diese Doppelkonsonanten. Die sind ihr Unglück. Gitta, Susanna, Hanna … Lauter Dubletten geistern durch ihren Kopf. Moment mal, heißt Putzi nicht mit Vornamen Hanna? Natürlich! Hanna. Mein Gott, mit der auch?
Das Telefon klingelt. Wenn man vom Teufel spricht …
Da sie von ihm nicht gesprochen, sondern nur an ihn gedacht hat, ist nicht der Teufel selbst, sondern sein Stellvertreter dran.
»Ist meine Frau bei Ihnen?«, fragt Herr Heinze.
»Nein, Ihre Frau kommt doch immer montags und donnerstags«, antwortet Sonja.
»Ja, ich weiß«, sagt Putzis Mann, »aber ich dachte vielleicht, dass sie trotzdem … wo sie doch häufiger für Ihren Mann …«
»WAS MACHT IHRE FRAU HÄUFIGER FÜR MEINEN MANN?«, brüllt Sonja unbeherrscht.
»Ach, ich dachte nur so«, erwidert Hannas Mann etwas verstört, »weil sie doch weg ist …« Dann macht es in der Leitung »klick«, und er hat aufgelegt.
Sonja ist wie versteinert. Nicht einmal von Putzi kann ihr Uwe die Finger lassen! Und sie ist selbst daran schuld. Schließlich hat sie die Frau ins Haus geholt. Aber wer rechnet denn mit so was?
Sonja gehört zu der unbegreiflichen Sorte Frauen, die denken, Sekretärinnen und Personal wären grundsätzlich tabu. Wirklich erstaunlich. Landauf, landab beweisen Scharen von Männern beinahe täglich, dass sie es erstens mit der Treue nicht so genau nehmen und zweitens extrem faul sind. Sie umschwirren die Frauen nicht wie Motten das Licht. Wie anstrengend ist das denn? Nein, sie drehen sich nur behäbig ein wenig zur Seite: Da steht schon die Sekretärin, respektive die Putzfrau – je nachdem, zu welcher Seite sie sich drehen.
Sonja atmet schwer. Natürlich, solche Männer gibt es, aber dass ihr Uwe auch dazugehört, wer hätte das gedacht?
Keiner.
Mal unter uns gesagt: Uwe ist weder untreu noch faul, er ist im Grunde ein richtiges Schaf. Aber wer weiß, vielleicht piesackt Sonja noch so lange an ihm herum, dass er irgendwann doch mal den Wolf aus dem Schafspelz lässt.
***
Frau Heinze hat sich inzwischen in die Warteschlange vor dem Obduktionstisch eingereiht. Aber Achtung: Da man bei ihr weder Ausweis noch Schlüssel noch sonst irgendwas gefunden hat, wodurch man auf ihre Identität schließen könnte, wissen nur du und ich, dass es sich bei der Toten aus der Förde um Frau Heinze handelt. Das ist der Staatsanwaltschaft zu wenig. Auch sie will wissen, wer die Leiche ist, und vor allem, warum sie tot ist. Um die erste Frage möglichst mühelos zu beantworten, wird Frau Heinze bis auf Weiteres auf Eis gelegt. Vielleicht meldet sich jemand, dem sie abhandengekommen ist. Danach werden sich die Herren und Damen im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein voll und ganz auf die zweite Frage konzentrieren.
Natürlich nicht alle. Nicht einmal alle Obduzierer, sondern nur die des Instituts für Rechtsmedizin, die dafür zuständig sind. In so einem großen Krankenhauskomplex wird nämlich fein säuberlich getrennt zwischen eigenen und eingeschleppten Toten. Die eigenen, die sozusagen hausgemachten, landen unter dem Messer eines Pathologen, wenn man wissen will, warum sie tot sind. Aha, denkst du nun vielleicht, das hätte ich ja gar nicht gedacht, dass die Krankenhäuser ihren eigenen Ärzten auf die Finger schauen, um ihnen bei eventuellen Kunstfehlern mal gehörig auf die Patschehändchen zu hauen. Aber so ist das gar nicht. So was ist eher selten. Da hättest du ganz richtig gedacht, wenn du das nicht gedacht hättest.
Gemeint ist eher die Sorte Tote, die gestern noch putzmunter auf Station lagen und am nächsten Tag urplötzlich ab in den Keller müssen – aus heiterem Himmel. Oder die Fälle, bei denen immer wieder irgendwas schiefgeht. Da möchte ein Arzt dann schon gern mal wissen, warum es mit der Genesung nicht klappt. Ob es vielleicht an einer falschen Diagnose liegt oder ob die Behandlung nicht die richtige war oder ob sich womöglich ein Krankenhauskeim in die heiligen Hallen geschlichen hat. Überhaupt möchte ein Arzt – entgegen allen Eindrücken, die so durch die Gazetten geistern –, dass seine Patienten dank seines Zutuns das Krankenhaus gesund und fröhlich wieder verlassen. Wenn sie das nicht tun, bittet er schon mal den Pathologen um Aufklärung. Wofür der dann wiederum die Hinterbliebenen um ihre Einwilligung bittet, denn die braucht er, bevor er zu Schere und Säge greifen darf.
Der rechtsmedizinische Aufschneider braucht diese Einwilligung nicht. Wäre ja noch schöner, wo doch die meisten Morde Beziehungstaten sind und die Familie quasi als Erstes verdächtigt wird. Da würde man schön blöd dastehen, wenn der mutmaßliche Mörder bestimmen dürfte: Nix da, Mutti wird nicht aufgeschnitten, der Sarg bleibt zu, und basta. Was im Falle von Frau Heinze aber gar nicht möglich wäre, weil sie keinen Sohn hat.
Immerhin weiß man am Nachmittag endlich, dass Frau Heinze Frau Heinze ist. Herr Heinze hat während der vergangenen Tage nach ihr gefahndet. Er ist gleich Donnerstagabend um den Kieler Yacht-Club, ihre letzte Arbeitsstelle, herumgeschlichen, hat am Freitag bei gemeinsamen Bekannten nachgefragt, ob rein zufällig seine Frau … hat den Samstag überlebt in der Hoffnung, sie sei einfach nur mit dem Manager des Kieler Yacht-Clubs durchgebrannt, um es dann am Sonntag, nachdem er auch noch bei ihren diversen Putzstellen nachgefragt hatte, nicht mehr auszuhalten. So ging er zur Polizei und wurde fündig. Nun, was heißt fündig? Gefunden hat er sie dort genau genommen nicht, denn sie liegt ja auf Eis. Aber nach eingehender Befragung über Aussehen, Alter und Kleidung seiner Frau konnte man ihm die erfreuliche Mitteilung machen, dass er nicht weiterzusuchen braucht. Sie hat sich inzwischen angefunden.
Eine Gegenüberstellung wie im Fernsehen, bei der der Anverwandte unter dem kritischen Blick der Polizei vor dem Obduktionstisch wahlweise zusammenbricht oder ein gefasstes »Ja, das ist sie« heraushaucht – was für die Täterermittlung schon die halbe Miete ist –, so etwas gibt es für Herrn Heinze nicht. Weil es das eben überhaupt gar nicht gibt – außer im Fernsehen. Im richtigen Leben müssen die Anverwandten ihre abgelebten Familienmitglieder nicht identifizieren. Ein Toter sieht nämlich tot erheblich anders aus als zu Lebzeiten. Diese entgleisten Gesichtszüge will man den trauernden Hinterbliebenen nun wirklich nicht zumuten. Nicht zu vergessen der Geruch. Ist im Fernsehen praktisch nicht rüberzubringen, allenfalls dadurch, dass sich der Kommissar dezent ein Taschentuch vor das Gesicht hält oder eine weiße Eukalyptus-Paste vor die Nasenlöcher schmiert.
Man sagt, Leiche riecht wie Fleischreste, die zwei Wochen in der Mülltonne ausgeharrt haben, um den Urlaubsheimkehrer schon an der Wohnungstür zu begrüßen. Bei Wasserleichen wie in unserem Fall ist es genauso, nur dass man statt Fleisch Fisch nimmt und drei Wochen Urlaub macht.
Also: Der Geruch von Frau Heinze ist atemberaubend. So etwas dürfte man nicht einmal einem mörderischen Schwiegersohn zumuten und einem liebenden Gatten schon gleich gar nicht. Weil es eben auch nichts bringt. Außer vielleicht ein »Nein, meine Frau sieht anders aus … und sie riecht auch besser … jedenfalls etwas«.
So einen kann Herr Överkötter in seiner kalten Küche nicht gebrauchen. Da macht er lieber seine Arbeit und weist zweifelsfrei nach, dass Frau Heinze Frau Heinze ist. Dabei wird er heute nicht sonderlich gefordert. In ihrem Ehering steht »Christian«. Den darf Herr Heinze identifizieren, weil sich ein Goldring trotz längerer Lagerung im Wasser praktisch nicht verändert.
Womit wir bei der Länge der Lagerung wären. Die macht Herrn Överkötter schon etwas mehr Schwierigkeiten. Natürlich helfen einige unappetitliche Details bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts beziehungsweise der Verklappung ins Wasser, die mit dem Todeszeitpunkt ja nicht übereinstimmen muss. Ist aber trotzdem nicht so einfach. Seine Kollegen aus dem Fernsehen würden sich jetzt vielleicht erst einmal eine Zigarette anstecken oder ein Bütterken auspacken und Beethovens Fünfter lauschen, um sich mental auf ihre Aufgabe einzustimmen. Aber der gute Överkötter greift einfach nur zu seiner etwas zu groß geratenen Geflügelschere und legt Frau Heinzes Innenleben – der Ausdruck passt bei einer Toten im Grunde nicht wirklich – bloß.
Nach eineinhalb Stunden konzentrierter Arbeit ist er mit Frau Heinze fertig. Sie hat etliche postmortale Verletzungen, die ihr mit einem spitzen Gegenstand beigebracht wurden und die er sich nicht erklären kann, die aber für ihren Tod unerheblich sind. Der Schlag mit einem scharfkantigen Gegenstand auf den Hinterkopf ist da schon wichtiger, selbst wenn er ebenfalls nicht zum Tode führte. Frau Heinze ist ertrunken, sie ertrank im Wasser des Olympiahafens, wo sie ja auch gefunden wurde. Der Tod trat am Donnerstag zwischen sechzehn und achtzehn Uhr ein.