Kinderhirtin - Else Ury - E-Book

Kinderhirtin E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Ruth wohnt zusammen mit ihren Eltern und Schwester Anni. Papa Paul möchte, dass Anni eine Bankbeamtin wird, da sie so gut in der Schule ist. Aber Mutti meint, dass das nicht der beste Weg für ihre Tochter ist. Anni träumt selbst auch nicht davon Bankbeamtin zu werden. Die Eltern reden über den zukünftigen Beruf der beiden Töchter. Vater ist so ernst und meint, dass sie keine Zeit mit Unsinn verlieren sollen, Mutti aber meint, dass man das Leben doch nicht so ernst nehmen sollte. Was wird wohl aus den Geschwistern werden und werden die Eltern die Töchter unterstützen? -

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Else Ury

Kinderhirtin

 

Saga

Kinderhirtin

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1923, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726884616

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Durch die Türspalte fiel ein winziger Lichtstreif. Er zitterte golden über den Fußboden des bereits verdunkelten Zimmers, huschte über die roten Pantöffelchen der sanft schnarchenden Ruth, lief eilig bis zu dem Bett an der gegenüberliegenden Wand und hängte sich an krause Stirnlöckchen. Dort hob sich ein brauner Kopf vom Kissen. Jemand spitzte die Ohren. Es war aber auch zu aufregend, was da durch die nicht völlig geschlossene Tür zu der jungen Horcherin drang. Handelte es sich doch um ihre eigene Zukunft, über welche die Eltern im Nebenzimmer berieten.

»Am liebsten würde ich die Anni zu meinem Freund Wille ins Bankgeschäft geben«, hörte sie den Vater sagen. »Er ist Vorsteher einer Depositenkasse der Deutschen Bank und beschäftigt unter seinen Beamten auch mehrere junge Mädchen. Dort würde sie was lernen, vor allem pünktlich ihre Pflicht zu tun und ihre eigene Person dem Ernst der Arbeit unterzuordnen.«

»Nein, bloß nicht – aus dem Bankgeschäft laufe ich davon!« wollte die mit Herzklopfen lauschende Anni dazwischen rufen. Aber rechtzeitig legte sie noch die Hand auf den vorschnellen Mund. Aus war's dann sicher, die Tür wurde geschlossen und die Beratung der Eltern war gewiß zu Ende. Dann erfuhr sie nichts mehr.

Da hörte sie schon Muttchens Stimme sich ihrer annehmen. »Warum willst du unsere Anni, welcher der Lebensweg durch ein nettes Talent vorgezeichnet ist, nicht ihren Neigungen folgen lassen, Paul? Ich glaube nicht, daß sie zur Bankbeamtin, die ganz besonders zuverlässig sein muß, paßt.«

Ja, Muttchen war doch die beste!

»Sowenig oder soviel wie zu jeder anderen ernsten Tätigkeit. Das ist's ja eben. Alles ist spielerisch und oberflächlich bei Anni. Es ist ihr alles stets zu leicht geworden. In der Schule war sie ohne jede Anstrengung immer eine der Besten. Aber gehst du der Sache mal auf den Grund, so sitzt nichts fest. Zu einem Ohr hinein, zum anderen hinaus. Die reelle Gründlichkeit, der Ernst des Pflichtbewußtseins fehlt ihr noch völlig.«

So, Anni, da hast du dein Fett – so ergeht es dem Horcher an der Wand.

Heiß war es dem jungen Mädchen bei der schonungslosen Kritik des Vaters in die Augen geschossen. War sie denn wirklich solch ein oberflächliches Ding?

Da war wieder Mutters liebe Stimme. »Mein Himmel, mit sechzehn Jahren waren wir wohl alle noch nicht vom Lebensernst durchdrungen, Paul. Gott sei Dank, daß es so ist. Du kannst doch unserem Mädel keinen Vorwurf daraus machen, daß es einen offenen Kopf hat und alles spielend lernt. Wenn Anni erst für den eigenen Beruf arbeitet, wird sie schon gründlicher werden«, begütigte die Mutter.

»Das Bankfach wäre die beste Schule für sie zur Gründlichkeit und Zuverlässigkeit. Da könnte sie ohne Vorbereitung sogleich als Banklehrling eintreten; und nebenbei verdient sie sich noch ein hübsches Taschengeld. Die Ausbildung zur Kunstgewerblerin ist ziemlich kostspielig, wenigstens für einen Beamten, wie ich es bin. Die Zeiten sind so schwer, daß man daran denken muß, seine Kinder so schnell wie möglich selbständig zu machen«, schloß der Landgerichtsrat mit Nachdruck.

»Gewiß, da hast du ganz recht, Paul. Nur glaube ich, daß Anni durch Ausbildung ihres Zeichentalentes bessere Aussichten für ihre Zukunft hat. Das Kunstgewerbe hat im letzten Jahrzehnt einen starken Aufschwung genommen. Und wenn man mit Lust und Liebe bei seiner Arbeit ist, so ist das doch mehr wert als Zwangsarbeit. Die Ruth kannst du mal später in einen kaufmännischen Beruf stecken. Die ist praktisch und tüchtig.«

»Ruth wird sich überall als tüchtig erweisen und ihren Platz ausfüllen, trotzdem sie lange nicht so begabt ist wie unsere Große. Ist sie dir nicht heute schon mit ihren dreizehn Jahren im Haushalt eine bessere Hilfe als Anni? Kümmert sie sich trotz der Schularbeiten nicht viel mehr um die Kleinen, als die große Schwester? Es behagt mir gar nicht, daß Anni das Sommerhalbjahr feiert und dem lieben Gott die Zeit fortstiehlt. Gleich nach dem Schulabgang wieder in eine feste, geregelte Tätigkeit, daß die Mädel keine Zeit haben, an dummes Zeug, an Putz und Vergnügen zu denken, das ist mein Prinzip.«

»Anni war ziemlich bleichsüchtig, als sie Ostern von der Schule abging. Zu Oktober beginnt der kunstgewerbliche Jahreskursus. Da war es doch das beste, daß sie ein halbes Jahr lang pausierte und sich inzwischen in der Wirtschaft betätigte.« Mutters sanfte Art verstand es stets, den leicht erregbaren Vater zu besänftigen.

»Na ja, wenn sie nur was in der Wirtschaft anfassen würde«, brummte er. »Aber da ist bald Tennis, bald Schwimmen und bald eine Wanderfahrt mit den Freundinnen. Und die Pflicht kommt dabei zu kurz.« Der Landgerichtsrat Weber war selbst ein so pflichteifriger Beamter, daß er auch von seinen Kindern straffe Pflichterfüllung verlangte.

»Du lieber Pedant«, scherzte die Mutter. Ohne es zu sehen, wußte Anni, daß sie dem Vater jetzt liebevoll über die sich lichtenden Haare strich. »Anni wird ihren Weg schon gehen und ihr Pfund nicht vergraben. Sie ist ja unsere Tochter. Nun haben wir als Eltern die Pflicht, sie auf den richtigen Platz zu stellen. Ich verspreche dir, das Mädel bis zu Beginn der Kunstgewerbeschule tüchtig in der Wirtschaft heranzunehmen, Paul.« Damit verstummte das Gespräch.

Der schmale Lichtstreif, der aus dem Nebenzimmer drang, huschte über ein tränenfeuchtes Mädchengesicht. Ja, warum heulte denn die Anni bloß? Hatte sie doch allen Grund, sich zu freuen und zu frohlocken, daß Mutter ihre Sache so beredt durchgefochten hatte. Daß ihr Wunsch, zu Oktober die Kunstgewerbeschule besuchen zu dürfen, sich nun aller Wahrscheinlichkeit nach erfüllen sollte. Und trotzdem Tränen? War Annis Gewissen wachgerüttelt worden, waren es Tränen der Einsicht, der Reue?

Eigentlich nicht. Die salzige Flut, die sich über das Kopfkissen ergoß, hatte seine Quelle in verletztem Stolz. In ihrem nun bald siebzehnjährigen Leben hatte das junge Mädchen fast nur Angenehmes erfahren. Jeder war Anni freundlich entgegengekommen, denn ihre liebenswürdige Art nahm für sie ein. Die Lehrer und Lehrerinnen mochten das nette, begabte Mädel gern, bei den Freundinnen war sie tonangebend. Auch daheim die Mutter verzog ihre hübsche Älteste, die allgemein beliebt war. Sogar die kleineren Geschwister, die sie öfters tyrannisierte, hingen mit Liebe an ihr. Nur der Vater hatte ab und zu etwas an ihr auszusetzen.

Vater hat eben kein Verständnis für meine Art. Vater ist zu pedantisch als Jurist, dachte das unreife Mädel, in die Kissen hineinschluchzend. Aber ich will es ihm schon beweisen, daß ich ebenso gewissenhaft bin wie Ruth – mit solcher Göre von dreizehn Jahren werde ich es doch noch aufnehmen können. Und Geld will ich verdienen, viel Geld, daß ich nicht um jede Bahnkarte zur Elektrischen, um jedes Theater- oder Konzertbillett erst zu betteln brauche. Man muß sich unabhängig machen.

Und während die weinende Anni sich den Kopf zerbrach, auf welche Weise eine derartige Unabhängigkeit am schnellsten zu erreichen sei, entführte sie ein lachender kleiner Traumgott in ein Land, wo es weder Elektrische noch Theaterbillette gab.

Am nächsten Morgen hatte Annis leichtes Temperament die nächtlichen Schmerzen bereits überwunden. Wenn die Sonne scheint, sieht alles ganz anders aus, und selbst das Düsterste erhellt sich. Und die liebe Sonne schien heute ganz besonders strahlend. Hurra – das würde ein feiner Tennisvormittag werden!

Ruth und Erwin waren bereits in der Schule, als Landgerichtsrats Älteste am Kaffeetisch erschien. Denn Frühaufstehen gehörte nicht gerade zu Annis Liebhabereien. Sie mußte doch ihre goldene Freiheit nach zehnjährigem Schulzwang genießen.

Mutter war schon über eine Stunde in der Wirtschaft tätig, Vater bereits im Amt. Das war Anni recht angenehm. Denn nach dem gestrigen kalten Wasserstrahl, den Vaters Worte über die unfreiwillige Lauscherin ergossen hatte, wäre es immerhin etwas peinlich gewesen, daß der Zeiger des Regulators bereits stark auf neun rückte.

Nesthäkchen, das noch nicht vierjährige Kurtchen, war damit beschäftigt, aus den Lederstühlen des Speisezimmers eine Hochbahn zweiter Klasse zu konstruieren. Es war empört, daß die große Schwester einen seiner Waggons als Sitzplatz für sich in Beschlag nahm.

»Nee – das deht niss. Denn trink defällist im Tehen Taffee. Meine Hochbahn darf niss taputt demacht werden, sonst ssimpft der Herr Szaffner.« Vergeblich versuchten die kleinen Fäuste, die große Schwester von dem ihr nicht zukommenden Sitz herunterzuschieben.

Nun wäre es sicher ein leichtes gewesen, das erregte Kerlchen zu beruhigen. Wäre Anni auf sein Spiel eingegangen, hätte sie beim »Herrn Szaffner« eine Fahrkarte gelöst, so wäre der Kleine selig gewesen, einen Fahrgast in seiner Hochbahn zu haben, und sie hätte in aller Gemütsruhe Kaffee trinken können. Statt dessen aber machte sie sich unsanft von den vergeblich schiebenden und stoßenden Händchen frei.

»Dummer Bengel, laß mich in Frieden. Ich möchte meinen Kaffee in Ruhe trinken. Spät genug ist es doch wohl dazu. Und kalt ist der Kaffee noch obendrein.«

Kurtchens Geheul lockte die Mutter herbei. Sie hörte Annis letzte Worte noch gerade.

»Wem mißt du denn die Schuld daran bei, Anni? Wenn du erst um neun Uhr zu erscheinen geruhst, trotzdem wir heute, wie du wohl weißt, Vaters Zimmer reinmachen, darfst du dich nicht wundern, wenn das Frühstück inzwischen kalt geworden ist.« Es klang ärgerlicher als sonst. Das war sicher der Erfolg der gestrigen elterlichen Unterredung.

Anni unterdrückte ein ungehöriges »bei uns wird ja immer reingemacht« und goß eilig den kalten Kaffee hinunter. Die gründliche Reinigung von Vaters Zimmer bedeutete von jeher einen aufregenden Tag für das ganze Haus. Denn der Herr Landgerichtsrat durfte nichts davon merken. Er teilte die Abneigung seiner Tochter gegen die Scheuerfluten. Wenn er mittags vom Gericht heimkam, mußte alles wieder in tadelloser Ordnung sein. Sein Heiligtum, den Schreibtisch, betrachtete Mutter als ihr Spezialarbeitsfeld. Keine fremde Hand durfte sich daran wagen. Wenn Akten verlegt waren oder wenn der Landgerichtsrat nach irgendeinem Blättchen suchen mußte, konnte er ungemütlich werden.

»Du kannst eine Mandel Kohlrabi holen, Anni. Nimm den Kleinen mit, daß er an die Luft kommt. Und Haferflockensuppe setze nachher auf und richte den Kohlrabi zu. Du hast es ja neulich schon unter meiner Aufsicht getan. Du mußt dich heute um die Küche kümmern. Minna brauche ich, daß wir bis Tisch mit Vaters Zimmer fertig werden.«