Kiran - Kirancilla presents... - E-Book

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Kirancilla presents...

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Beschreibung

Der fulminante Auftakt der "Kiran"-Reihe. Das Bauernmädchen Kiran ist von klein auf außergewöhnlich. Zu ihrer geliebten Oma hat sie eine besonders starke Verbindung. Als sie stirbt, hinterlässt sie Kiran einen wichtigen Auftrag, dem diese sich fortan mit Haut und Haar verschreibt: ihr Vermächtnis weiterzuführen. Doch vorerst führt uns der "allwissende" Erzähler weiter durch Kirans frühe Lebensgeschichte. Von Streit unter Geschwistern, Missbrauch und Mobbing geschwächt, sucht Kiran Zuflucht in ihrer Fantasie - und findet schließlich ihre Kreativität als Ventil für ihre überfließenden Gedanken. Doch Gefühle lassen sich nicht so leicht im Zaum halten, und weil Kiran heranwächst, muss sie bald bemerken, dass eine besonders starke Liebe oft auch eine besonders schwere Bürde mit sich bringt...

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Inhaltsverzeichnis

Vorspiel: Sehnsucht… Das Heim und der Traum

01. Das Haus

02. Die Apfelkuchenbäckerin

03. Oma

04. Die Geschwister

05. Lernen zu leben

06. Verklebter Mund

07. Gewürze

08. Das Entlein

09. Erwacht mit einem Kuss

10. Der Ekel

11. Ein Traum von Freiheit

12. Perfekt

13. In die Tiefe

14. Immer wieder neu geboren

15. Ein langer Weg

16. Der Sandfarbene

17. Verführungen

Zwischenspiel: Eine Jesusbegegnung der anderen Art

18. Ein Sommertraum

19. Der Horizont

20. Fliegen

21. Wissen und Weise

22. Noch ein Sommer

23. Alles gegeben

24. Zweifel

25. Nach Hause

Nachspiel: Wie eine weiche Decke

Vorspiel: Sehnsucht

Vor dir…

Ich liege hier vor Dir wie eine Knospe, die sich öffnen will. Dein Licht hat mich berührt, es öffnet mich. Deine Augen haben mich gesehen und erwählt. Ich bin bereit für Dich.

Mit dir…

Du bist so schön. Ich explodiere. In tausend Farben.

Nach dir…

Das Heim und der Traum

Ich habe Dich so sehr geliebt

dass ich Dich schon in der Erinnerung vermisse…

Vermisse Dein Licht, Deine Poesie.

Vermisse Deine wohl gewählten Worte, vermisse den Traum, den wir gemeinsam träumten. Vermisse, dass Du nicht aushieltst mein Weinen, dass Du nichts wissen wolltest vom Schmerz. Und Deine ausgeklügelten Fantasien und Deine Stille; ohne ein Wort zu sagen fühlte ich mich nahe bei Dir. Und Dein ausgelassenes Lachen das mich stets zum Lächeln brachte. Vermisse Deine Liebe, Deine Achtung, Deine sanfte Art, mich zu behandeln. Vermisse… vermisse wie Du mich zum Träumen brachtest, mit nur einer Berührung, mit nur einem Kuss. Für Dich schrieb ich um die tausend Gedichte und es entspringen immer noch mehr. In Deinem Antlitz fand ich die Schönheit.

Doch Du musst mich sehen, nackt, musst mich sehen wie ich bin, konnte nicht leben fern dem, den ich liebe. Und versuchte, Dich zu vergessen in fremden Armen und zog schlussendlich vor ein Heim zu haben, ruhig und sicher, als eine Zukunft zu jagen, die nicht machbar erschien, ich wählte die Gewohnheit vor der Illusion.

Ich wählte zwei Arme, mich stets zu umarmen, zwei Augen, um mich stets zu sehen, Lippen, zu küssen; Körper, zu berühren einen Menschen, zu sprechen Aug in Auge und ehrlich, und ein ewiger Rat, eine ewige Hilfe, eine ruhige Zuflucht.

Doch… es sind nicht die Worte des Weisen, ist nicht Dein Licht noch Deine Poesie, nichts weiß er von Deiner Fantasie, von Deinem Weg, den ich wünschte zu teilen. Und deshalb bist es immer noch Du, der meine Träume malt in Aquarellen von leuchtendem Blau. Und ich bitte Dich, bewahre mir ein kleines Plätzchen in Deinem Herzen, denn obwohl unsere Wege sich trennten, haben wir das gleiche Ziel und Deine Seele bleibt immer MEIN TRAUM.

01. Das Haus

Im westlichsten Teil Österreichs, in einem winzigen Dörflein, wo der Berg sanft zum Fluss hinab fällt, liegt kurz vor dem Wald ein altes Bauernhaus. Von außen ist es nicht besonders auffällig, ein längliches, klassisch rechteckiges Gebäude. Außen links führt die Straße weiter hinunter zum Sportplatz, beziehungsweise über eine Abzweigung knapp hinter dem Haus zum Laufstall, wo auch die landwirtschaftlichen Maschinen stehen. Vom Haus selbst sieht man als Erstes wohl die markante Auffahrt zur Tenne; rechts daneben, vor den drei Türen, parken zwei Autos, ein gelbes und ein dunkelblaues. Letzteres gehört dem älteren Sohn und ist nur selten zu sehen, dennoch möchte ich es anführen, damit sich danach keiner wundert. Wie gesagt gibt es, von vorne, der Fassade, gesehen, drei Türen. Die linke, eine mit Plastikschildern (Auszeichnungen) benagelte Holztür, führt in den Stall, frisch renoviert. Die mittlere in einen sehr unordentlichen kleinen Schuppen, in dem einige kleine Kätzchen zwischen den Futtersäcken herumhuschen. Erst die Rechte, neben dem alten grünen Bänkchen, ist die eigentliche Haustür. Man erkennt sie leicht an den drei Stufen, die zu ihr hinaufführen. Neben der schiefen, halb zerfallenen Bank, unter den zwei Fenstern des Wohnhauses, zieht sich noch ein kleines Vorgärtchen mit Rosen, wuchernder Melisse und ein paar Tomaten, auch einigen versteckten Erdbeeren.

Links neben der Auffahrt ist die Tür zur Milchkammer, noch weiter links die Garage mit dem Dieseltank. Sie steht meistens leer, die Autos parken vor dem Haus. Neben der Garage führt die Straße hinunter zum Sportplatz, doch vorher zweigt ein breiter Kiesweg nach rechts ab und führt hinter das Haus zum Laufstall. Obstbäume stehen auf den Wiesen neben dem Weg.

Vier davon gehören den Kindern der Familie; für jedes Kind wurde ein Baum gepflanzt.

Die drei jüngeren stehen nahe beieinander in einer Reihe, auf dem Streifen Wiese zwischen dem Misthaufen, zu dem oben hinter dem Haus der Stall hinausführt, und dem Vorplatz des Laufstalls. Sie sind klein und bringen wenig Frucht. Der vierte, ein Apfelbaum, steht abseits, von den anderen getrennt durch den Kiesweg, nahe dem Sporthaus. Seit Jahren bringt er gute, wenn auch kleine Äpfelchen. Er repräsentiert Kiran, die Älteste der Bauernkinder.

Sie habe ich auserwählt; über Sie will ich berichten.

Um Sie zu finden, gehen wir bei der Haustür hinein und rechts durch den Flur mit den verdreckten Fliesen; links die Treppe hoch; im Gang mit dem grünen Linoleumfußboden nehmen wir die dritte Tür von links, die mit dem Bild von der Rose. Wenn wir die Tür öffnen und eintreten, sehen wir rechts von uns zwei über und über mit Fotos beklebte alte Holzschränke; vor dem Fenster einen großen ovalen Tisch mit drei Stühlen, zwei davon behängt mit Kleidung. Und dort im Bett, in hellgrün und weißem Bettzeug, da liegt Kiran, schlafend wie einst Dornröschen. Und wirklich, so romantisch verträumt ist dieses Mädchen, dass der Vergleich durchaus angemessen erscheint. Doch wahrlich, das Haus hat mit einem Schloss wenig gemein.

Öffnen wir die restlichen Türen des Obergeschosses, finden wir hinter einer Glastür das Zimmer des jüngeren Bruders. Einst war es das Zimmer Kirans; doch nachdem Sie lange Jahre von zu Hause weg war, schläft Sie nun in dem Raum, in dem wir Sie eben gesehen haben, und der eigentlich Ihrer Schwester gehört; aber die arbeitet auswärts in einem Hotel und ist nur selten zu Hause. Die Schwester ist es auch, die auf fast allen Fotos zu sehen ist. Manchmal beneidet Kiran sie um ihren großen Freundeskreis, aber Sie würde doch nicht tauschen wollen.

Das Zimmer hinter der Glastür ist unaufgeräumt, Kleider liegen herum, das Bett hat kein Laken. An den Wänden hängen Poster von Traktoren und Rennautos. Der Schrank ist eingefallen und liegt als lose Bretter auf dem Boden.

Der Bruder selbst fläzt im nächsten Raum, dem Wohnzimmer, auf der Couch und spielt mit seiner Playstation.

Der Fernseher ist gut, mit Flachbildschirm, und scheint nicht recht in den Raum zu passen, an dem schon die Farbe von der Wand bröckelt. Der Teppich ist voller Flecken. Ein halb kaputter Bürosessel steht vor einem alten Computer, rechts davon in der Ecke liegen Krümel auf dem Tisch; stille Zeugnisse der Pizza von gestern Nacht.

Eine andere Tür führt zum Klo mit verstopftem Waschbecken; das WC hat keinen Deckel. Die Letzte schließlich geht in eine alte Speisekammer, heute als Abstellraum genutzt, und lässt sich kaum öffnen; außerdem weht uns ein erbärmlicher Gestank entgegen. Schließen wir schnell die Tür und bewundern noch kurz den schönen Holzschrank mit der Gravur, der im Gang steht.

Auf ihm steht der Name Kirans, und niemand aus der Familie weiß, was Sie darin aufbewahrt, denn den Schlüssel hütet Sie gut versteckt.

Begeben wir uns über die schmutzige Treppe nach unten; ignorieren wir das Dachgeschoss, der Aufgang dazu ist sowieso mit Gerümpel verstellt. Ignorieren wir auch den Keller; er ist uninteressant. Nur die Heizung (mit Brennholz), zwei Gefrierschränke, eine große Menge Holz und Papier zum Verbrennen und in einem Sonderabteil einige alte Schuhe, dazu ein paar Flaschen Wein, Äpfel und Kartoffeln. Nichts Besonderes also.

Das Untergeschoss ist vom Grundriss gleich wie oben; fünf Türen. Ganz links das Badezimmer in hellgrün und beige, voll gestellt mit zwei Waschmaschinen, wovon nur eine funktioniert. Darauf türmen sich Berge von Schmutzwäsche.

Das Waschbecken kann nicht benutzt werden, der Warmwasserhahn tropft zu sehr; stattdessen benützt man den Hahn bei der Badewanne. An den oberen Fliesen hängen Spinnweben; die Decke schimmelt.

Die nächste Tür führt, wie oben, zum WC, hier in tiefblau gehalten.

Die dritte Tür ist die zum Elternschlafzimmer, in dem nur die Mutter schläft; in zerwühlten Laken, umgeben von alten Zeitungen und Schokoladenpapier. Vor dem Bett ist ein überquellender Korb mit altem Bettzeug, das kaum benutzt wird; daneben die Bügelwäsche für Kiran.

Ansonsten noch drei Schränke, einer davon vorne offen. Es müsste mal wieder Staub gesaugt werden. Die Tapete löst sich in den Ecken. Spinnen harren ihrer Opfer.

Die vierte Tür bringt uns in einen großen, fast leer wirkenden Raum; hier steht ein alter Schreibtisch, längst nicht mehr benutzt, darauf einige Lebensmitteldosen und Gläser mit Eingemachtem. An der hinteren Wand steht ein Stockbett; dort oben schläft der ältere Sohn, ein gefühlskalter junger Mann mit harten Zügen und einem starken Willen, den er, wenn es sein muss, auch durchzusetzen weiß. Kiran fürchtet ihn.

Rechts daneben wieder eine Glastür: Sie führt uns in die Küche, endlich, doch werden wir auch hier wieder enttäuscht, auch hier empfängt uns Trostlosigkeit.

Ein alter Tisch mit Brandspuren von heißen Töpfen; darüber eine uralte Papierlampe voller Fliegenschiss. Der Bezug der Eckbank ist alt und verschlissen. Auf der Couch sammelt sich alles, was sonst nirgendwo Platz hat. Die Küchenzeile ist klein und halb zerfallen, die Bestecklade hängt schräg herunter, dazwischen der neue Herd mit Induktionskochfeld wirkt fast lächerlich. Vor dem Fenster sitzt eine weißgetigerte Katze und wartet auf Einlass.

Dies ist Kirans Elternhaus, das Schloss des neuen Dornröschens. Hier ist die Zeit nicht stehen geblieben, sondern hat verändert, gealtert, verstaubt. Doch wenn Kiran erwacht, wird das Haus nicht in altem Glanz auferstehen wie im Märchen. Sie wird es verlassen, es zurücklassen, und es wird bald noch trostloser dastehen wie jetzt.

Bald, sagt Sie sich, bald, werde ich nicht mehr hier leben. Doch noch, noch ist das hier mein Zuhause; nicht mehr lange. Meine Reise muss bald weitergehen, sagt Sie sich: dann werde ich mich aufmachen in ein anderes Heim. Doch noch, noch bin ich hier, sagt Sie sich; und wenn ich hier bin, brechen die Erinnerungen über mich wie Wellen über die Küste. Dann muss ich schreiben, mein Leben schreiben.

Und so wahr mir Gott helfe, es wird nicht leicht sein, darüber zu schreiben, doch ich werde es tun, in meinen Gedichten, und irgendein göttliches Gesetz wird sie wohl zusammenfügen.

So denkt Sie, und Sie denkt, es werden viele Kapitel sein, viele Stufen; wo soll da Ordnung hineinkommen, wo gehört was hin, und irgendwer wird ergänzen müssen, worüber ich nicht schreiben kann.

Keine Angst, kleine Kiran. Diese Aufgabe übernehme ich schon. Denn ich kenne Dich; ich kenne alle. Und ich kenne Deine Geschichte, noch bevor Du sie erzählen willst. Sie hat mich sehr berührt, und ich bin froh, daran teil gehabt zu haben. Mit Deiner Erlaubnis, liebe Kiran, werde ich sie erzählen; und Deine Gedichte werden mir dabei helfen.

Also: Kiran wurde geboren vor dreiundzwanzig Jahren, in einer Stadt am See; im Sommer, im Zeichen des Krebses, wie auch Ihr Vater.

Aufgewachsen war Sie im schon beschriebenen Bauernhaus: nun, heute sah es so aus, freilich, die Erinnerungen Kirans sahen mehr, sahen den früheren Zustand, wussten, dass in Ihrem Zimmer einst die geliebte Großmutter schlief, wussten, dass der nun fast leere Raum einst ein enges Kinderzimmer voller Leben war, wussten von den Zeiten, als es hinter der Glastür im Obergeschoss noch nach Apfelküchlein roch statt nach Axe Excite. Doch all das ist vergangen, wie auch der vorhin beschriebene Zustand vergehen wird – irgendwann. Wer weiß, wie das Haus dann aussehen wird. Vermutlich wird es irgendwann von allen Bewohnern verlassen, überlassen dem Staub und den Spinnweben, überwuchert von Moos und Unkraut, übergeben dem Moder, vermacht dem Verfall. Doch heute ist darin noch ein wenig Leben. Und eines davon möchte ich beschreiben; von einem will ich erzählen. Ein Leben, das stets los wollte von diesem Zuhause, und das doch hier seine Heimat hat.

Doch vorerst überlasse ich das Wort Kiran selbst, um sich vorzustellen.

Ich

ich

braune Haare

grüne Augen

ich

klein

und mollig

ich

romantisch

und schüchtern

doch

lache ich gerne

bin auch gern etwas faul

rede gerne mit Menschen

die mich verstehen

ich

kann mich nicht gut beschreiben

ich

bin einfach ich

du musst mich sehen

um mich zu kennen

ich

bin das wirklich ich?

oder bin ich vielleicht

zuinnerst ganz anders?

wer kennt mich denn wirklich?

kenne ich mich?

denn ich

habe eine Vision meiner selbst

als ganz anderes Wesen

bin das ich?

kann das ich sein?

wie viele bin ich denn

wie viele kann ich sein?

Nun: Kiran. Wir wollen Sie hier gar nicht näher beschreiben.

Dies deshalb, weil Ihr „tatsächliches“, bürgerlichbäuerliches Leben, wie Sie aussieht, wie Ihr Körper beschaffen ist, et cetera, nicht von Interesse ist. Zumindest für mich. Was mich interessiert, ist Ihre Geschichte. Jene Geschichte, die ich erzählen will. Die Reise Ihrer Seele.

Eine Reise, die dort beginnt, wo die Beschreibung des Hauses, des Jetztzustandes geendet hat: In der Küche.

Die Küche

Hier sitzen wir hinter dem Tisch und warten auf den Kakao mein Bruder drängelt mal wieder und meine Schwester schüttet ihre Tasse um oh weh, schon wieder ein Fleck stöhnt meine Mama und holt den Lappen der Papa am Kopfende des Tisches schmunzelt nur und sagt den Mund voll Brot lass, es sind Kinder ja, sagt Mama aber aufpassen könnten sie dochverweht, verweht vom Wind verweht Wind of Change

der Papa liegt auf der Couch und hört dem Radio zu während Mama den Abwasch macht gleich nach den Nachrichten muss er raus in den Stall doch das wollen wir nicht zulassen wir klettern auf ihn drauf und halten ihn fest bis in den Flur kann er uns nicht abschütteln

verweht, verweht

vom Wind verweht

Wind of Change

Weihnachten

die Couch voll Geschenke

Oma mittendrin strahlt

ich habe eine blaue Flöte

und mein Bruder eine Trommel

wir machen einen Heidenlärm

verweht, verweht

vom Wind verweht

Wind of Change

wieder auf der Couch

mein Bruder und ich

und dazwischen die kleine Schwester

noch ein Baby

so süß

wir werden sie immer beschützen

verweht, verweht

vom Wind verweht

Wind of Change

mein Bruder und ich

im Streit

er liegt auf dem Boden

verkrallt in mein Bein

ich sitze auf der Couch

und trete ihn sanft

damit er loslässt

doch das tut er nicht

verweht, verweht

vom Wind verweht

Wind of Change

am Tisch

Hausübungen

ich verstehe sie nicht

die Mathematik

und heule vor Wut

verweht, verweht

vom Wind verweht

Wind of Change

und heute

ist alles gleich

außer dem Herd, der ist neu

und der Wandteppich ist ab

der mit den Katzen

und das Bild von der Uhr

das ich damals gemalt hatte

ist nicht mehr da

heute

ist alles alt

verschlissen

zerfallen

kaputt

schade

Wünsche

Ich wünsche mir, ich könnte mich ändern

und anders sein als jetzt

besser

perfekt

ich weiß nicht, aber

ich fühle mich nicht wohl

mit mir selbst

so wie ich bin

und doch

geht es mir besser

als damals…

02. Die Apfelkuchenbäckerin

Wo beginnt man, eine Geschichte zu erzählen? Am besten am Anfang. Doch wo ist dieser Anfang zu setzen?

An einem schönen Tag im Herbst, die Blätter waren schon bunt und die Sonne strahlte durch die Wälder, bemerkte Ilse Z., dass ihre Periode ausgeblieben war. Wenige Tage später hatte sie die Gewissheit: Sie war schwanger. Sie nahm diese Mitteilung mit Freude und auch mit etwas Vorsicht auf. Mit Freude aus den offensichtlichen Gründen, mit etwas Vorsicht aber auch, da sie im März desselben Jahres bereits ein Kind verloren hatte. Sie teilte ihrem Mann Hannes die frohe Nachricht mit, und er freute sich mit ihr.

Nach einiger Zeit spürte sie die Bewegungen des Lebens, das in ihr keimte; sanft wie die Flügel eines Schmetterlings. Nach und nach wuchs ihr Bauch und so auch die Hoffnung in ihr.

Mittlerweile wusste sie, dass sie ein Mädchen gebären würde, und sie begann alles für das Kind bereit zu machen.

Am 1. Juli gebar ihre Nachbarin ein Mädchen, das Jasmin genannt wurde. Nur zehn Tage später, an einem Donnerstag, kam Kiran zur Welt. Es war 22:21, die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden, und ein sicheliger Mond lächelte blass vom Himmel. Auch die erschöpfte Mutter lächelte, und neben ihr der frischgebackene Vater.

Die Geburt war sehr schwer gewesen, fast 24 Stunden Wehen, und musste durch einen Notkaiserschnitt beendet werden. Kiran war einige Tage zu früh geboren und wog nur zweieinhalb Kilo, und so verbrachte Sie Ihre erste Nacht auf Erden im Brutkasten, bedeckt mit verschiedensten Schläuchen.

Am Sonntag darauf trafen nach und nach die Verwandten ein, und alle waren sich einig, dass Kiran trotz Ihrer gelbstichigen Haut ein ausnehmend hübsches und vor allem sehr gesundes Baby war.

Ilses Mutter freute sich sichtlich über ihr erstes Enkelkind, und auch der frischgebackene Großvater ließ langsam und fast ehrfürchtig die Finger über das winzige Händchen gleiten. Auch Ilses jüngere Geschwister staunten über das Neugeborene.

Hannes‘ Mutter Emilia war zwar schon seit längerem in den Genuss von Enkelkindern gekommen, und mittlerweile hatte ihre Tochter ihr bereits fünf davon beschert.

Und doch, das erste Kind von ihrem „Bub“ war etwas Besonderes für sie, und sie schloss das kleine Mädchen sofort ins Herz.

Zehn Tage später sahen Kirans große, verwunderte Augen das erste Mal Ihr neues Zuhause. Ilse und Hannes hatten das alte Bauernhaus umgebaut in ein zweistöckiges Gebäude. Ihre Wohnung lag im Erdgeschoß, Hannes‘ Eltern Emilia und Jörg wohnten im Stock darüber.

Kiran gewöhnte sich schnell an das Stillen, und tat Ihren Hunger mit lautem und wütendem Gebrüll kund. Das erste Kind war für Ilse eine Herausforderung und brachte sie oft an ihre Grenzen. Und doch – welch Freude, das kleine Geschöpf in Armen zu halten!

Als der Gelbstich von Kirans zarter Haut gewichen war, schien Sie auffallend blass. Der Arzt vermutete Anämie, doch bestätigte sich dieser Verdacht nicht. Kiran war blass und blieb es zeit Ihres Lebens. Sie hatte oft Fieberkrämpfe und Wadenkrämpfe, und bekam kalte Wickel.

Oft und oft fragt Kiran Ihre Eltern heute, wie Sie als Baby war, doch Sie erhält wenig Information. Ein „braves“ Kind sei Sie gewesen, sagen Ihr die Eltern; die Wiege habe im Elternschlafzimmer gestanden, und beim kleinsten Weinen habe man Sie herausgeholt und gestillt. Man habe Sie recht lange gestillt, so lange, bis Sie den ersten Zahn bekam und Ihre Mutter vor Hunger in die Brust biss; nach dem „aua“ der Mutter habe Sie keinen Tag länger gestillt werden wollen.

Bei der Fütterung habe Sie fortan auf Papas Knien gesessen; dort fühlte Sie sich wohl.

Den „Bapfi“ (Schnuller) habe Sie lange gemocht, allerdings mehr zum Weitspucken als zum Saugen. Es amüsierte Sie, wie Ihre Eltern liefen, um den Bapfi wieder aufzuheben.

Wenn Kiran heute Ihre Baby- und Kleinkindfotografien durchsieht, fällt es Ihr schwer, die ersten Jahre Ihrer Kindheit zu rekonstruieren. Sie sieht wohl die Fotos, doch scheinen sie nicht so richtig zu Ihr zu gehören. Auch die Daten in Ihrem Babyalbum scheinen nicht viel zu verraten: Geboren mit etwa zweieinhalb Kilo und 49 Zentimetern, ein leichtes, kleines Geschöpf, das schnell wuchs und zunahm. Am 1. Mai des nächsten Jahres die oberen zwei Schneidezähne, mit 14 Monaten die unteren vier, schon mit 16 Monaten oben vier, unten zwei und vier Mahlzähne. Die ersten Schritte am 3. September, drei Wochen später lief Sie draußen von der Haustüre bis zur Stalltür auf dem neu geteerten Platz. Zum ersten Geburtstag bekam Sie Kleider und Schuhe und dazu ein Planschbecken und Schwimmtiere.

Das Sommerkind liebte von klein auf das Wasser, und die Zeit im Planschbecken gehörte zu seinen liebsten Stunden. Circa einen Monat nach der Geburt die Taufe. Taufzeugen waren der jüngere Bruder der Mutter und die ältere Schwester des Vaters. Die „Gota“ (Patentante) sollte in Kirans Leben stets eine große Rolle einnehmen, denn diese liebte ihr Patenkind, als wäre es das eigene.

Wer Kiran aber über alles liebte, war die Großmutter väterlicherseits, ihre Oma Emilia.

Kiran war ihr zeit ihres Lebens das liebste Enkelkind, und zu ihr fasste Kiran Vertrauen wie zu kaum einem anderen Menschen.

Als Erinnerung an Ihr frühes Leben hat Kiran also nicht viel mehr als Ihre Fotografien. Kiran mit Ihrer Mutter einen Tag nach Ihrer Geburt, neben ihr ein strahlender, braungebrannter Papa. Kiran in den Armen ihres Vaters, der das zerbrechliche kleine Geschöpf mit größter Vorsicht hält. Kiran auf der Frühgeburtenstation mit Hebamme Schöffthaler. Kiran am Tag Ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, wie Sie sich mit einem breiten Gähnen von den Säuglingsschwestern verabschiedet. Kiran, vor Hunger brüllend, ein gelungener Schnappschuss des Vaters. Kiran in der vererbten, uralten Wiege, in der schon Ihre Großmutter, die Gota und der Vater gut geschlafen hatten. Kiran mit Schnuller, was ein ungewöhnliches Bild war, denn Sie brachte es früh zur Meisterschaft im Schnullerweitspucken. Kiran beim Wickeln. Kiran mit Oma auf Besuch bei Bekannten, mit der Nachbarin und ihrer Jasmin, nur zehn Tage älter als Kiran. Kiran bei der Taufe. Kiran in den Armen Ihrer Großeltern, einmal mütterlicherseits, einmal väterlicherseits. Kiran mit Ihrer Tante, die bereits ihr eigenes Kind erwartete. Kiran im Planschbecken. Dann ist schon das erste Jahr vorbei.

Die folgenden Fotos zeigen Kiran im rosafarbenen Kleidchen vor dem Haus mit dem Opa aus Langenegg. Kiran an Weihnachten, im gestreiften Pullover, mit ihrem kleinen Cousin Klaus. Kiran am Muttertag im winzigen Dirndl. Dann ist auch das zweite Jahr herum. Ein Foto ist da jedoch noch, ein Foto, an das Kiran sich erinnert.

Im oberen Stock bei Oma, vergnügt im roten Lieblingspulli hinter dem Tisch, beim Backen von Apfelküchlein. Daran erinnert Sie sich: An den Geruch der Küchlein, Apfel und Zimt. Die mehlbestäubten Händchen, den runden Ausstecher und vor Ihr ein Teller mit fertigen Küchlein. Die lachende Oma. Das Blitzen des Fotoapparates. An diesen Augenblick erinnert Sie sich lebhaft.

Sie erinnert sich auch an die nachfolgenden Fotos, an die Ausflüge mit der ganzen Familie nach Schönenbach auf die Alpe, das riesige Pferd, vor das der Vater Sie hielt, lachend ob Kirans ängstlichem Zurückweichen. Das Picknick mit Oma, die bunt karierte Decke, Kiran selbst im zitronenfarbenen Kleidchen mit passendem Hut. Sie erinnert sich an den Ausflug nach Kaisers in Tirol, die Mama im blauen Kleid, Ihr eigener erschauernder Blick in die unheimliche Tiefe. Das Schwesterchen, erst wenige Monate alt, schlief im Auto, und dem Bruder wurde schlecht.

Die nächsten Fotos zeigen Kiran auf dem Sofa, an Weihnachten, in der Hand die neue Puppe. Auf der Couch in der Küche, mit Ihrem Bruder und der kleinen Schwester Michelle, noch ein Baby. Auf der Lehne aufgereiht die Teddybären, an der Wand eine Zeichnung von Kiran, das Bild von der Uhr. Mit sieben Jahren bei der Preisverleihung des Osterhasenrennens, Kiran auf dem dritten Platz.

Dann folgen schon die Bilder der Erstkommunion. Seufzend legt Sie das Album weg. Gibt es denn keinen anderen Weg, sich an seine eigene Kindheit zu erinnern? Doch Sie findet keinen. Bis auf einen: Oma.

03. Oma

Der Mensch, der Kiran in jungen Jahren am meisten prägte, war mit Sicherheit Ihre Großmutter. Die „Oma“ lebte im oberen Stockwerk ihres Hauses und war so jederzeit erreichbar. Und oft flüchtete sich Kiran zu ihr, wenn Sie das Leben unten einfach nicht mehr aushielt. Oma war immer da, gutmütig und großzügig, und sie konnte gut zuhören. Am Ende gab es eine kleine Nascherei, und die Welt war wieder in Ordnung.

Kiran verbrachte viel Zeit bei Oma. Sie sah ihr beim Kochen zu; sah fern auf dem kleinen Schwarzweißfernseher; streichelte die alte Katze, die bald eingeschläfert werden würde; spielte und las Bücher, die Oma ihrer kleinen Leseratte regelmäßig zum Geburtstag oder zu Weihnachten schenkte. Oma war immer für Sie da, und ihre Wohnung war ein Reich des Friedens.

Kiran liebte Ihre Oma, und Oma liebte Sie. Die beiden führten oft lange Gespräche. Doch speziell an eines sollte sich Kiran immer erinnern.

Die Nachfolge

Die Gespräche mit Oma verliefen immer anders: Manchmal verstanden wir uns, manchmal nicht. Ich warf ihr so einiges vor. Und sie mir. In vielen Punkten ließ sie nicht mit sich reden, beharrte sie auf ihrem Standpunkt, bis mir schlecht wurde. Und dann wieder gab sie mir so grenzenlos Recht, dass ich nicht anders konnte als Herzen an die Wand zu malen, mit unseren beiden Namen darin.

An ein Gespräch mit ihr erinnere ich mich aber ganz besonders, weil ich ihr so stark widersprach, bis sie mich zwingen musste, das zu tun, was sie wollte. Wieder einmal ging es um Geschlechtlichkeit (ich wuchs heran und begann mir darüber meine Gedanken zu machen). Oma bestand auf der jungfräulichen Hochzeit. Ich war dagegen. Wir warfen uns Worte hin und her, und hätten wohl ewig so weitergemacht (denn ich liebte dieses Spiel), hätte Oma nicht in ihrer uralten Weisheit ein Machtwort gesprochen.

„Erinnerst du dich an den Schrank?”

Welchen Schrank denn, Oma? fragte ich – Schränke gab es schließlich viele in unserem Haus, einer hässlicher als der andere, und altmodisch bis zum gehtnichtmehr.

„Der jetzt beim Tischler ist.”

Ja, sicher, Oma, sagte ich – den kannte ich, denn der Ärger war großteils meinetwegen; wir hatten ihn nämlich von oben bis unten mit Stickern beklebt und mit Filzstift bemalt, bis kaum noch ein Stück Holz darauf übrig blieb.

„Du sollst ihn bekommen.”

Ääääh… machte ich nur, denn ich war sprachlos. Das war nun wieder typisch Oma. Ich machte etwas falsch, und sie ließ es gelten.

„Aber pass darauf auf.”

Ja, sicher, Oma… meinte ich verwirrt. Was sollte ich denn sonst tun? Etwa nochmals drauf herummalen?

„Und jetzt sag ich dir was. Ich schenke ihn dir, weil du meine Enkelin bist; und du schenkst ihn dann wieder deinem Enkelkind.”

Oma! schrie ich. Ich weiß doch gar nicht, ob ich Enkelkinder haben werde. Ich weiß doch gar nicht, ob ich überhaupt Kinder haben werde!

„Natürlich wirst du Kinder haben! Und darunter ein Mädchen! Zumindest eines!”

Ich war geschockt. Ich konnte sie nur ansehen. So aufbrausend hatte ich Oma noch nie erlebt. So fordernd. Immer war sie gütig gewesen; so gebend. Und jetzt das. Aber ich konnte sie verstehen. Ja, ich verstand sie, irgendwie. Ich hatte ihr offenen Widerstand geleistet. Das war unklug. Oma war schon alt und auf ihre Nachfolge bedacht. Ich war die älteste Tochter ihres Sohnes – das verpflichtet. Ein Nein akzeptierte sie nicht. Wie konnte ich es wagen? Ihr Vermächtnis abzulehnen! Doch in einem letzten verzweifelten Versuch unternahm ich einen müden Fechthieb:

Nein.

„Was soll das heißen, nein? Du bist eine Frau!”

Ich bin ein Kind.

„Aber bald wirst du eine Frau sein, und du wirst eine Tochter haben.”

Punkt. Ich musste es nicht sagen, aber es stand fest. Ich wusste, das Gespräch war beendet. Leise schlich ich mich aus dem Raum, und ließ sie schlafen.

Oma bedeutete Kiran sehr viel. Ein umso größerer Schock war es für Kiran, als sie plötzlich starb, im stolzen Alter von 91 Jahren.

Es war einer dieser Tage, an denen die dreizehnjährige Kiran den Nachmittag bei Oma verbracht hatte. Es war etwa fünf Uhr abends, und Oma saß im Wohnzimmer bei einem einfachen Abendessen mit Brot und Wurst. Kiran war in der Küche und machte Tee. Da wurde Sie nach unten zum Abendessen gerufen. Sie wollte gerade in Ihr Brot beißen, da fiel Ihr der Tee ein. Sie lief nach oben, holte das kochende Wasser vom Herd, gab die Teebeutel hinein und wartete, dass der Tee durchzog. Endlich, nach langen Minuten des Wartens, goss Sie den Tee in die Kanne und ging ins Wohnzimmer.

Und bekam den Schock Ihres Lebens. Oma lag am Boden, mit offenem Mund und Blut am Kinn. Sie hatte sich wohl am Fensterbrett gestoßen, denn das lag genau in der Linie. Doch warum wollte sie so schnell zum Fenster, und warum, warum, warum lag sie jetzt am Boden? Kiran erinnerte sich schnell an Ihren Erste-Hilfe-Kurs: Bewusstsein überprüfen.

Oma gab keinen Ton von sich. Atmete einfach nicht mehr. Kiran durchfuhr es siedendheiß. Was sollte Sie jetzt tun? Stabile Seitenlage. Sie drehte Oma herum. Dann wusste Sie nicht mehr, was Sie tun sollte. Oma atmete einfach nicht mehr, die früher sprühenden Augen plötzlich leblos. Kiran erschrak. Blitzschnell lief Sie auf den Flur, flog die Treppe hinunter, so schnell Sie konnte, rannte in die Küche, und schrie: „Papa, Papa! Komm schnell, die Oma liegt auf dem Boden! Komm schnell!“

Papa konnte nichts mehr tun. Das Rettungsteam, das einige Minuten später eintraf, konnte nur noch den Tod feststellen. Lungenembolie. Ein Blutklümpchen, das versehentlich in die Lunge geraten war und zum Ersticken geführt hatte. Kiran glaubte, es sei allein Ihre Schuld. Sie hatte sich in letzter Zeit so jugendlich-grässlich aufgeführt, hatte keine Geduld mehr gehabt mit Ihrer senil werdenden alten Oma. Wenn Sie nur früher nachgeschaut hätte… wenn Sie nicht wie blöde in der Küche gewartet hätte… vielleicht hätte Sie ihr noch helfen können… Es war Ihre Schuld… wenn Sie nur ein bisschen schneller gerannt wäre… wenn Sie nur ein bisschen schneller gewesen wäre… dann würde Oma noch leben.

Alle versicherten Kiran, dass es nicht Ihre Schuld war, dass keiner Ihrer Oma hätte helfen können, selbst wenn er daneben gestanden hätte. Sie wäre vor seinen Augen erstickt, und niemand hätte ihr helfen können.

Doch Kiran glaubte ihnen nicht, auch nicht dem Pfarrer bei der Totenwache, der die schluchzende Kiran in den Arm nahm und trösten wollte. Kiran ließ sich nicht trösten. Es war Ihre Schuld. Ganz bestimmt war es Ihre Schuld. Nie wieder, nie wieder könnte Sie sich bei Oma entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass Sie zu spät gekommen war. Entschuldigen dafür, wie hässlich Sie sich ihr gegenüber benommen hatte.

Entschuldigen dafür, dass Sie nicht die Rettung gerufen hatte, als Oma vor ein paar Wochen hingefallen war und sich den Arm gebrochen hatte; immer noch trug sie den Gips.

Nie wieder könnte Kiran Oma sagen, wie sehr Sie sie liebte. Nie wieder. Jetzt war Oma tot, unwiderruflich tot. Und es gab keine Gelegenheit mehr… und es war Kirans Schuld. Niemand konnte Sie trösten.

Doch zumindest wollte Sie sich verabschieden. Sie stand am Totenbett und betrachtete Oma. Ihr Ausdruck war sanft, friedvoll. Und Kiran erinnerte sich an etwas. An Ihren Text, den Sie etwa ein Jahr zuvor geschrieben hatte, das Gedicht vom Baum. Der Baum war eine Allegorie für Stärke, dieselbe Stärke, die Oma immer gezeigt hatte, selbst in den letzten Tagen, da sie sich an nichts mehr erinnern konnte, da langsam die Demenz ihr Gedächtnis zerstörte.

Kiran holte den Text hervor und schrieb drei Zeilen dazu. Dann legte Sie den Text auf das Totenbett. Und alle, die ihn lasen, waren gerührt. Alle fanden, es gab keine schönere Art, sich von einem geliebten Menschen zu verabschieden. Alle staunten über Kirans Gabe, mit Worten so viel Gefühl auszudrücken. So jung und so begabt.

Kiran las den Text bei der Totenmesse. Und alle, ausnahmslos alle, weinten.

Der Baum

Herr, sieh’ diesen Baum!

Er ist alt. Traurig und allein steht er auf dem Feld.

Er ist morsch. Aber dennoch wirkt er stark mit

seinen knorrigen Armen.

Der Mann will den Baum umsägen. Er braucht

Brennholz.

Gerade will er seine Säge starten. Aber dann sieht

er sich den Baum genauer an.

Er sieht die Rille, die der Blitz in ihm hinterlassen hat.

Er sieht die abgebrochenen Äste, die am Boden liegen.

Er sieht die traurigen Überreste eines nicht fertig

gestellten Baumhauses.

Sie erzählen von vergangenen, schönen Zeiten, als

noch die Kinder in ihm gespielt haben.

Er sieht die Löcher und die Verletzungen, die er hat.

Er sieht die wenigen Blätter, die der Baum noch hervorbringt.