Kirchenrebellen - Christopher Schlicht - E-Book

Kirchenrebellen E-Book

Christopher Schlicht

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Beschreibung

Wie müsste sie aussehen – eine Kirche, in der sich möglichst viele Menschen wirklich wohlfühlen? Christopher Schlicht und Maximilian Bode, zwei junge Pastoren, probieren es einfach. Als Pastor nicht zu heilig daherzukommen, das ist beiden wichtig. Deshalb tragen Pastor Max und Pastor Chris im Gottesdienst keinen Talar, sondern Jeansjacke oder Flanellhemd. Nur am Kollar, dem Priesterkragen, sind sie während des Gottesdienstes zu erkennen. Und wer nicht persönlich dabei sein kann, der hat die Möglichkeit, einfach den Livestream einzuschalten. Die beiden predigen nicht von der Kanzel herab, weil sie den Menschen nahe sein wollen, die sie in ihre sogenannte #Zuhausekirche einladen. Sie sagen jeder und jedem: »In unserer Kirche bist du willkommen, egal, wer du bist und was du machst. Sei einfach nur du selbst, das genügt.« Während die Evangelische Kirche in Deutschland seit Jahren an einem Zukunfts-Konzept arbeitet, um aus der Defensive zu kommen, sind die beiden längst mittendrin und schieben mit viel Spaß verrückte Projekte an. »Wir setzen einfach das um, was wir uns selbst von der Kirche wünschen. Und das funktioniert richtig gut!« Christopher Schlicht & Maximilian Bode

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Seitenzahl: 220

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Christopher Schlicht / Maximilian Bode

Kirchenrebellen

Wir bringen Leben in die Bude

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Wie müsste sie aussehen – eine Kirche, in der sich möglichst viele Menschen wirklich wohlfühlen? Christopher Schlicht und Maximilian Bode, zwei junge Pastoren, probieren es einfach. Als Pastor nicht zu heilig daherzukommen, das ist beiden wichtig. Deshalb tragen Pastor Max und Pastor Chris im Gottesdienst keinen Talar, sondern Jeansjacke oder Flanellhemd. Nur am Kollar, dem Priesterkragen, sind sie während des Gottesdienstes zu erkennen.

Und wer nicht persönlich dabei sein kann, der hat die Möglichkeit, einfach den Livestream einzuschalten. Die beiden predigen nicht von der Kanzel herab, weil sie den Menschen nahe sein wollen, die sie in ihre sogenannte #Zuhausekirche einladen. Sie sagen jeder und jedem: »In unserer Kirche bist du willkommen, egal, wer du bist und was du machst. Sei einfach nur du selbst, das genügt.« Während die Evangelische Kirche in Deutschland seit Jahren an einem Zukunfts-Konzept arbeitet, um aus der Defensive zu kommen, sind die beiden längst mittendrin und schieben mit viel Spaß verrückte Projekte an.

Inhaltsübersicht

Dem Klub, trotz allem.

Im Partyraum

1. Volle Pulle Pastor

2. Ein unbeliebtes Wunschkind

3. Wie soll ich sein?

4. So siehst du gar nicht aus

5. Nagellack vom Pastor

6. Einfach mal machen

7. Die Presseabteilung von König Artus

8. Anecken

9. La-Ola in Schottland

10. Weg mit der fingerdicken Staubschicht

Am Partydeich

Zehn Impulse für Kirchenrebell*innen

Dem Klub, trotz allem.

 

© Sina Schuldt

Im Partyraum

Chris & Max // Ein schwarzer Polo auf einem Klosterparkplatz. Kurz vor Mitternacht steigen zwei Vikare ein. In diesem Fall sind »Vikare« keine praktischen Stützbretter für Kinderbetten von IKEA, sondern die Bezeichnung der evangelischen Kirche für ihre Pastor*innen in Ausbildung. Bei der Aussprache von »Vikar« ist zu beachten, dass das »V« gesprochen wird wie bei »Videos«, nicht wie bei »Vögeln.« Die beiden Vikare sind wir, Max und Chris. Es ist ein bisschen klischeehaft, dass wir in einem Kloster ausgebildet werden, aber so ist es nun mal.

Der Polo ist unser Partyraum, sobald die Kloster-Bar geschlossen hat. Als wir das erste Mal von der Bar im Kloster hören, haben wir sofort zwei Vorurteile: Da gibt’s bestimmt keinen Alkohol und: Die Lokalität macht sicher mies früh zu. Zum Glück trifft nur eins der beiden Vorurteile zu.

Nach dem letzten Bier an der Bar ist noch viel von der Nacht übrig. Aber unsere Kolleg*innen gehen jetzt schlafen. Wir nicht. Für uns geht die Party im Auto von Max weiter. Genau für diese Anlässe steht immer eine Notfall-Palette Dosenbier im Kofferraum. Direkt daneben hat Max einen Subwoofer verbaut. Mit dieser Lautsprecherbox kommen die tiefen Schallwellen besonders wuchtig bei uns an, wenn wir U Got That von »Halogen« hören. Der Polo heißt übrigens »Stella«. Denn Max gibt allen Gegenständen, die er besitzt, einen Namen. Sein Gefrierschrank heißt »Kühlfrank«. Chris gibt seinen Sachen keine Namen. Er findet das seltsam.

Als wir das erste Dosenbier geöffnet haben, schlägt die Klosteruhr im Turm Mitternacht. Dann schalten wir unsere E-Zigaretten an. Wir dampfen die von Chris selbst hergestellte Geschmacksrichtung »Wassermelone mit Eiswürfeln«. Schon nach kurzer Zeit ist das Innere von Stella so vernebelt wie eine Londoner Seitengasse in einem alten Sherlock-Holmes-Film.

Auf dem Klosterparkplatz können wir so laut Musik hören, wie wir wollen. Leider haben die Sitze im Polo keine Massagefunktion. Aber die Bassbox tut ihr Bestes, um aus dem Autositz einen Massagesessel zu machen. Wir spielen Song-Pingpong. Die Spielregeln dafür sind einfach. Genau genommen gibt es nur eine einzige: Immer abwechselnd darf einer von uns das nächste Lied aussuchen. Das Spiel funktioniert auch mit mehreren Personen. Dabei wandert der Spotify-Staffelstab einfach im Uhrzeigersinn durch den Raum.

Die Texte der Lieder, die jemand mag, verraten viel über eine Person. Beispiel gefällig?!

Trotzdem seid ihr die, die nichts tun und zuschauen. Es gibt nichts, was euch gefällt, von dem, was andere schaffen. Ein Tipp von »M&N«: Fresse halten – selber machen. M&N, das sind Mono & Nikitaman. Max hat das Lied ausgesucht. Er sagt: »Das ist meine Horrorvorstellung. Irgendwann so einer zu werden. Einer, der immer nur meckert, anstatt was zu ändern. Aber im Studium und jetzt in der Ausbildung können wir ja nur drüber reden. Ich will endlich anpacken und vor allem was verändern in der Kirche. Es ist mir scheißegal, ob ich es schaffe, aber ich will es zumindest versuchen. Sonst weiß ich ganz genau, wie das endet. Dann sitze ich als frustrierter Rentner einsam am Fenster und beschimpfe spielende Kinder.«

Mittlerweile ist so viel Dampf im Auto, dass wir nicht mehr rausgucken können. Und auch von draußen kann niemand mehr reinschauen. Chris nimmt einen Schluck und antwortet: »Genau das ist der Punkt. Mit Meckern und Heulen bekommst du die Welt eben nicht verändert. Klar gibt es Grund zum Flennen. Die Kirche verliert immer mehr Mitglieder. Jaja, voll traurig, ich weiß. Aber wir bekommen die Leute nicht mit Heulen zurück. Ich will auch endlich loslegen und was machen. Es gibt so viele coole Kolleginnen und Kollegen, die Megaideen haben. Doch sie merken dann im Job, dass keine Zeit dafür übrig ist. Das zeigt, dass Ideen alleine nichts verändern. Nur wer sie umsetzt, ändert etwas.«

Mache Überstunden, mach mein Hobby zu meinem Job. Mache Spaß, mache ernst, mache durch, mache Bock, singen die »Beginner«. Chris hat den Song ausgesucht. Max nimmt einen Zug von seiner E-Zigarette, pustet den wassermelonigen Dampf an die Scheibe und sagt: »Alter, ich würde ja sogar unbezahlt mehr arbeiten. Wenn ich dafür ein paar von meinen Ideen umsetzen kann. Ich bin das ganze Darüber-Reden leid. Ich will loslegen. Ich will machen. Und dafür würde mir sogar eine halbe Stelle irgendwo in einer Gemeinde reichen. Hauptsache, ich habe Zeit für das, was mir wichtig ist! Zeit, um endlich mal neue Ideen zu testen und einfach so mit den Leuten über Gott und die Welt zu reden.«

Chris schaut nachdenklich in Richtung Fenster, durch das längst nichts mehr zu sehen ist, und antwortet: »Ich will endlich mal Gottesdienste so feiern, wie ich sie geil finde. Also genau so, wie ich sie als Jugendlicher gebraucht hätte. Gottesfeiern mit so viel Gefühl, dass die Leute Pipi in den Augen haben, und so lustig, dass manche vielleicht auch anschließend Pipi in der Hose haben. Und ich will genug Zeit haben, um den ganzen abgefahrenen Bumms zu testen, den wir uns ausgedacht haben: einfach mal ausprobieren, wie es ist, Internet- und Kneipenpastor zu sein.«

Hey, wenn’s dir nicht gefällt, mach neu, singt Peter Fox. Max hat den Song ausgesucht und sagt: »Ich will Kirche neu machen. Endlich wieder Leben in die Bude bringen. Aber dafür brauche ich was.«

Chris hebt die linke Augenbraue und fragt: »Und das wäre?«

Max lässt seine leere Dose in den Fußraum fallen und sagt grinsend: »Zwei neue Bier für uns.«

Chris lässt die Augenbraue wieder sinken, kann sein Grinsen nicht unterdrücken und öffnet die Autotür. Sofort steigt eine Dampfsäule in den Himmel, fast so wie bei einem Rockkonzert. Er holt zwei Dosenbier aus dem Kofferraum und setzt sich wieder ins Auto. Als er die Tür schließt, fragt er: »Darf es noch etwas sein, der Herr? Oder brauchen Sie nur diese Dosenbiere, um die Kirche neu zu machen?«

Daraufhin tut Max etwas Unfassbares: Er bricht die Regel des Song-Pingpong und sucht noch ein zweites Lied aus. Als er zum Handy greift, sagt er: »Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Ich könnte dir einfach antworten, aber Rio Reiser hat es besser gesagt, als ich es je könnte. Deshalb werde ich jetzt noch ein Lied anmachen.« Nach einem kurzen Moment der Stille beginnen »Ton Steine Scherben« zu singen: Wer soll die neue Welt bauen, wenn nicht du und ich?

Chris grinst breit und sagt: »Wenn ich dich und Rio richtig verstehe, dann willst du dir mit mir eine Gemeinde teilen. Die Idee ist leider geil. Dann hätten wir viel Zeit, nur die halbe Kohle, aber voll Bock. Da muss ich mal drüber nachdenken.«

Max hebt seine Dose, um anzustoßen, und antwortet: »Genau das ist meine Idee. Habe zwar keinen Plan, wie wir das der Kirche verkaufen werden. Aber das ist dann unsere erste Aufgabe als Team. Und jetzt tu nicht so, als ob du noch nachdenkst. Ich habe dich doch schon längst überzeugt. Also heb an die Dose. Darauf müssen wir anstoßen.«

Die Leude woll’n, dass was passiert. Die Leude woll’n das krass serviert, singen »Fünf Sterne deluxe«. Chris hat ausgesucht und sagt: »Geil. Dann wollen wir doch mal gucken, was der liebe Gott auf Lager hat. Und, Alter, sollten wir jemals ein Buch schreiben, dann fangen wir safe mit dieser Geschichte an.«

Max lacht laut und sagt: »Von wegen, als ob wir beide jemals ein Buch schreiben würden. Aber ich packe es mal auf die Liste, direkt zwischen ›Album aufnehmen‹ und ›Sexy-Pastoren-Kalender herausbringen‹.«

Den Rest der Nacht verbringen wir damit, erste Pläne zu schmieden. Das Dosenbier und unsere Ideen sprudeln. Zum Abschluss dreht Max noch mal »Großstadtgeflüster« auf. Die singen: Jetzt ist Feierabend. Währenddessen lüften wir das Auto, und Stella, die alte Karre, kann wieder durchatmen. Es braucht den ganzen Song, bis der Dampf verschwunden ist. Dann gehen wir ins Bett, als der Himmel langsam die Farbe von Schwarz zu Blau wechselt.

1. Volle Pulle Pastor

Chris & Max // Pastor zu werden ist unspektakulär. Zuerst kommen ein langes Studium und gut zwei Jahre praktische Ausbildung. Die Kirche hat sich dafür den Namen »Vikariat« ausgedacht. Wenn das alles geschafft ist, dann kommt der große Augenblick: Du darfst deine erste Stelle antreten. Und sobald du eine Gemeinde hast, bist du Pastor. Die Vergabe haben wir uns als großen Festakt vorgestellt. Wie das Staffelfinale einer lieb gewonnenen Serie. Oder zumindest so wie bei »Der Preis ist heiß.« Spannungsvolle Musik ertönt. Eine epische Stimme aus dem Lautsprecher verkündet: »Und ihre erste Stelle ist … Kunstpause … die Emmaus-Kirchengemeinde in Bremerhaven.« Gleichzeitig öffnet sich unter Nebelzischen eine Schiebewand, und dahinter ist ein Foto der Gemeinde zu sehen. Alle applaudieren, Freudentränen fließen. Ein ganz großes Spektakel.

Aber so läuft das nicht. In unserem Fall ist es ein einfaches Telefonat, in dem wir erfahren, welche Gemeinde wir zukünftig begleiten dürfen. Damit für uns der besondere Moment deutlich wird, haben wir die Nacht vorher gefeiert. In Chris’ gemütlich eingerichteter Kellerwohnung, in der er während des Vikariats wohnt. Max bezeichnet die Bude liebevoll als »Hobbit-Höhle«. Am Morgen nach der Party vergehen die Stunden wie im Flug. Um zwölf Uhr soll der Anruf erfolgen. Tut er aber nicht. Von da an kriecht die Zeit dahin. Wir tun alles, um uns abzulenken, gehen sogar spazieren. Und als wir gerade überlegen, ob wir jetzt den Kniffel-Block rausholen, klingelt endlich das Telefon. Der lang erhoffte Anruf. Leider funktioniert natürlich genau bei diesem entscheidenden Anruf die Technik nicht. Immer wenn wir das Handy auf Lautsprecher stellen, kann uns der Anrufer nicht mehr hören. Wir können also nicht wirklich zusammen mit dem Personalreferenten sprechen. Stattdessen müssen wir, wie in den Neunzigerjahren, bevor die praktischen Freisprecheinrichtungen erfunden wurden, gemeinsam über dem Handy hängen. Während der Personalreferent verkündet, wo unsere erste Stelle sein wird, reiben wir unsere Köpfe aneinander, um beide seine Stimme aus der Sprechmuschel hören zu können. Und dann fällt der für uns so entscheidende Satz: »Joa, es wird Bremerhaven, passt doch ganz gut, oder?« Ganz unspektakulär und fast schon nebenbei am Telefon.

Wir sind beide eher die Stadttypen und haben darauf gehofft, dass unsere erste Gemeinde in einer großen Stadt sein wird. Damit die Frustration nicht so groß ist, wenn es doch Pusemuckel wird, haben wir es nicht gewagt, uns die Stelle genauer auszumalen. Nun ist unsere Hoffnung erfüllt.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Hoffen und Wissen. Zu wissen, dass wir ab jetzt in Bremerhaven arbeiten können, freut uns unendlich. Nach all den Wochen des Hoffens können wir endlich jubeln. Und zum Glück sind wir zu zweit. So kann immer einer von uns die Beherrschung bewahren und so professionell wie möglich weitertelefonieren, während der andere abshaken und feiern kann. Gut, dass wir kein Videotelefonat vereinbart haben. Trotz all unserer Fragen dauert das Gespräch nur eine halbe Stunde. Für den Personalreferenten ist es nur eines von vielen, die er an diesem Tag führt. Für uns ist es das Gespräch. Jetzt werden die Weichen für die nächsten Jahre gestellt. Wir kommen nach Bremerhaven, in die Emmaus-Kirchengemeinde! Fast hätten wir vergessen zu erfragen, welche Gemeinde es eigentlich sein wird – einfach, weil wir so froh sind, in einer Stadt arbeiten zu können. Die meisten Städte haben ja bekanntermaßen mehr als nur eine Kirchengemeinde. Und Bremerhaven bildet da keine Ausnahme. Doch zum Glück sind wir beim Telefonat zu zweit. Und können so sicherstellen, dass wir alle wichtigen Fragen loswerden. Die Alternative wäre auch hart peinlich: Den Personalreferenten nochmals anzurufen und zu sagen: »Entschuldigung, wir haben ganz vergessen zu fragen, wie unsere Gemeinde eigentlich heißt.«

Nach dem Telefonat können wir uns endlich in die Arme fallen. Auch wenn unsere Köpfe schon die ganze Zeit gekuschelt haben, ist jetzt eine richtige Umarmung notwendig. Und eigentlich auch eine Flasche Sekt. Oder irgendetwas anderes zum Anstoßen.

Letztlich entscheiden wir uns für eine Fritz-Kola. Denn wir wollen uns die Gemeinde sofort angucken und nicht nur davon hören. Deshalb setzen wir uns direkt mit der Limo ins Auto und fahren los. This is the beginning of the rest of our lives, singt RuPaul. Chris hat ausgesucht. Und er hätte keinen besseren Titel für den Moment auswählen können. Die Hymne für unseren Jobbeginn ist gefunden. Max macht noch einen Zwischenstopp bei einem allseits bekannten Restaurant mit schnellen Burgern. Die Fahrt von Hildesheim nach Bremerhaven dauert gut zwei Stunden. Aber schon nach der Hälfte taucht das erste Highlight für Chris auf. Und damit ist nicht der Burgerladen gemeint, sondern ein blaues Straßenschild. Besagtes Schild steht am Rand der A27 und verkündet, dass noch 127 Kilometer bis nach Bremerhaven zu fahren sind. Bei Chris stellen sich Glücksgefühle ein, als er auf einer Autobahn den Namen seiner zukünftigen Heimatstadt ausgeschildert sieht. Nicht, weil er noch nie in einer Stadt gelebt hat. Sondern, weil er die vergangenen Jahre in einer Kleinstadt verbracht hat, die zu weit von einer Autobahn entfernt ist, um dort ausgeschildert zu werden. Chris wird klar, dass sich unser nächster Lebensabschnitt in so etwas wie einer Großstadt abspielen wird. Mit eigenem Autobahnzubringer und so. Ich bin Wellenreiter, ich will das Meer sehen, will in die Freiheit gehen, singt die Band »Massendefekt«. Max hat ausgesucht.

Eine Stunde später erreichen wir Bremerhaven. Nach der Autobahnabfahrt geht es kurz durch ein Industriegebiet. Danach an ein paar kleinen Einfamilien- und Reihenhäusern vorbei – und dann sind wir da: »Die Wohnriegel«, so nennen wir spontan die architektonischen Gebilde, an denen wir vorbeifahren. Ein Hochhaus und drum herum ein Wohnblock am anderen. Alles grau, alles gleich. Wir fühlen uns ganz klein, umgeben von den großen Blöcken. Und natürlich setzt das Wetter zu der Trostlosigkeit, die wir plötzlich empfinden, noch einen obendrauf. Es nieselt. Dieses Wetter ist, wie wir später erfahren, typisch für Bremerhaven. So sehr, dass die Einheimischen einen eigenen Begriff dafür haben: Bremerhavener Sonnenschein.

Zwischen den ganzen Wohnriegeln taucht plötzlich ein Kirchturm auf. Kein Backsteinturm, wie Max ihn an der Küste erwartet hat, sondern ein moderner Turm aus gebürstetem Stahl. Der ist natürlich auch grau, macht aber trotzdem was her, für Leute, die auf Türme stehen. Damit haben wir unser Ziel vor Augen und wissen: Das Ding gehört uns.

Keiner von uns beiden sagt ein Wort. You’re gonna go far, kid, singen »The Offspring«. Chris hat ausgesucht.

Wir parken in sicherer Entfernung zur Kirche, genau wie Privatdetektive bei einer Beschattung. Dann schlendern wir an der Kirche vorbei. Aber nicht mit Trenchcoat und Zeitung, wie wir es oft in Filmen gesehen haben, sondern in unseren Alltagsklamotten. Unser Ziel ist das einzige Einfamilienhaus im Viertel: das Pfarrhaus.

Während Chris höflich distanziert auf dem Gehweg stehen bleibt, geht Max sofort auf Schnupperkurs. Wie ein fröhlicher kleiner Hundewelpe stürmt er los und drückt seine Nase an die Tür des Pfarrhauses, um einen Blick hineinzuwerfen. Das bringt leider gar nichts, weil die Tür Milchglasscheiben hat. Chris ist das Verhalten von Max ein bisschen peinlich.

Max denkt: »Das ist jetzt ja unsere Gemeinde.« Und dementsprechend benimmt er sich. Zum Glück nicht komplett wie ein Hundewelpe – auf die typische Reviermarkierung verzichtet er. Trotzdem wird sein auffälliges Verhalten sofort bemerkt. Ein Fenster des Nachbarhauses öffnet sich, eine Dame beugt sich vor und ruft: »Entschuldigung Sie bitte, was machen Sie da?«

Eigentlich lautete unser Plan: nur mal locker alles angucken, durch die Gemeinde wandern und erste Eindrücke sammeln. Ein Geheimagent ist an Max allerdings nicht verloren gegangen. Er fällt einfach immer auf. Und so bleibt von unserem ursprünglichen Plan nicht viel übrig. Jetzt müssen wir uns erklären. Keine drei Stunden nachdem wir selbst davon erfahren haben, sagen wir das erste Mal den Satz: »Wir sind hier die neuen Pastoren.«

Auch unseren ersten Auftritt haben wir uns ganz anders vorgestellt. Ein Begrüßungskomitee mit strahlenden Gesichtern hätte uns in Empfang nehmen können – eine jubelnde Menge, voller Vorfreude auf ihre neuen Pastoren. Und wir gehen lächelnd auf die Menschen zu, stellen uns ihnen dann mit offenen Armen vor …

Stattdessen stehen wir ertappt und durchnässt vom Regen auf der Straße, unterhalten uns schreiend mit der Frau im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Die Fensterruferin stellt sich übrigens als Frau unseres Küsters heraus. Ein Küster, das ist so was wie ein »Hausmeister plus« in der Gemeinde. »Plus«, weil ein Küster deutlich mehr Aufgaben hat als ein Hausmeister. Und er ist zugleich die gute Seele der Kirche. Darum kommt der Mann auch direkt runter auf die Straße und macht mit uns eine kleine Führung durch die Gemeinde. Er zeigt uns die Kirche, das Pfarrhaus und die Räume im Gemeindehaus. Wirklich jeden einzelnen Raum, inklusive erstaunlich vieler Abstellräume. Währenddessen erzählt uns Detlef – wir sind inzwischen schon per Du – auch, was sonst so in der Gemeinde los ist. Und da sind wir ganz Ohr. Denn durch seine Geschichten kommt plötzlich Farbe in das ganze Grau. Die Wohnriegel füllen sich mit Leben. Hinter den immer gleichen Fassaden sehen wir jetzt Menschen mit unterschiedlichen Namen und verschiedenen Biografien. Wir bekommen einen ersten Eindruck von unserer neuen Gemeinde. Das ist für uns ein großes Geschenk. Denn kein Spaziergang hätte uns so viele Einblicke geben können. Und auch wenn wir den Stadtteil Grünhöfe gegoogelt hätten, hätten wir nicht im Ansatz so viel über die Menschen hier erfahren wie durch Detlefs Geschichten. Im Internet finden sich stattdessen Begriffe wie »Brennpunktgemeinde« oder »Stadtteil mit hoher Kinderarmut«. Beides sagt nicht wirklich viel über ein Viertel aus. Lebendig wird alles erst durch die Geschichten und Schicksale der Menschen, die dort leben. Indem wir von ihren Problemen und Brüchen in den Lebensgeschichten erfahren. Für einige ist die eigene Wohnung kein Zuhause mehr, weil der Streit mit der Familie alles überschattet. Andere sind seit Jahren arbeitslos, und es fehlen Perspektiven. Wir merken schnell, dass es hier in der Gemeinde viel zu tun gibt. Arbeit für mindestens die nächsten zehn Jahre.

Chris hat beim Bewerbungsgespräch gesagt: »Gebt uns ruhig eine Challenge, eine Stelle, die sonst niemand will.« Die haben wir bekommen. Beim Rundgang durchs Viertel realisieren wir mit voller Wucht, welche Herausforderungen auf uns warten. Wir erfahren im Gespräch auch, dass die Pfarrstelle, die wir uns jetzt teilen werden, seit über einem Jahr unbesetzt ist. Die Gemeinde hat die Stelle immer wieder ausgeschrieben. Und ein paar Pastorinnen und Pastoren haben sich die Gemeinde auch angeguckt. Aber niemand wollte die Stelle haben.

Als wir wieder im Auto sitzen, sagt Max: »Ich kann alle verstehen, die diese Stelle abgelehnt haben. In dieser Gemeinde ist krass viel zu tun. Alter, wenn ich hier alleine anfangen müsste, hätte ich jetzt wahrscheinlich erst mal geheult.«

Die Aufgaben, die sich nach dem ersten Eindruck vor uns auftürmen, sind kaum zu überblicken.

Nachdem wir einen Moment schweigend nebeneinander im Wagen gesessen haben, sagt Max: »Mit dir zusammen habe ich richtig Bock auf diese Herausforderung.«

Daraufhin grinst Chris und antwortet: »Ich weiß genau, was du meinst, denn mir geht es genauso.«

Wir haben bereits erlebt, dass wir zusammen durch Scheiße waten können und dabei sogar Spaß haben, einfach nur, weil wir zu zweit sind. Chris fällt ein Spruch ein, der auch im Büro von »How I met your mother«-Charakter Barney Stinson hängen könnte: »Probleme sind nur dornige Chancen.«

Eigentlich haben wir geplant, uns noch ein bisschen die Stadt anzugucken. Nach der Führung ist es aber bereits so spät, dass sich das nicht mehr lohnt. Bevor wir uns auf den Rückweg nach Hildesheim machen, halten wir unsere ersten Eindrücke kurz schriftlich fest. Max hat für so was immer ein Notizbuch in der Tasche. Chris findet das ein bisschen seltsam. Vor allem, wenn Max kurz vor dem Aufbruch irgendwohin nochmals panisch zurück ins Haus rennt, nur um sein Notizbuch einzupacken. Das ist auch heute Mittag so gewesen. Jetzt muss Chris zugeben, dass es sich gelohnt hat. Denn so können wir alle Gedanken und Eindrücke festhalten.

Als wir wieder zurück in der Hobbit-Höhle von Chris sind, gönnen wir uns das erste Feierabendgetränk als Pastoren. Zu diesem Anlass greifen wir nicht zur Fritz-Kola, sondern kosten ein paar norddeutsche Biere. Die haben wir uns vor der Rückfahrt in Bremerhaven besorgt, um gebührend auf unsere erste Stelle anstoßen zu können.

 

*

 

Bis wir in unsere neue Gemeinde ziehen können, vergehen noch ein paar Wochen. So ein Umzug muss ja auch geplant werden. Dass Chris ins Pfarrhaus zieht, bedurfte aufgrund unserer unterschiedlichen Möbelmengen keiner Diskussion. Und uns war klar: Wenn wir zusammen arbeiten und befreundet bleiben wollen, dann dürfen wir nicht auch noch zusammenwohnen. Eine Wohngemeinschaft im Pfarrhaus kommt nicht infrage. Max zieht in einen der Wohnblöcke. Ihm ist es wichtig, in der Gemeinde zu wohnen, wie alle anderen. Sich eine hübsche Wohnung in Bremerhaven Mitte zu nehmen hätte seltsam gewirkt. Gemeinsam mit den Menschen, die hier leben, wollen wir den Stadtteil gestalten. Und das geht viel besser, wenn du mittendrin wohnst.

Mit unserem Kumpel Hagen machen wir beide Umzüge hintereinander. Der Umzug von Max geht recht schnell über die Bühne. Leider haben wir nur auf der ersten Fahrt einen großen Transporter. Die zweite Tour mit deutlich mehr Geraffel von Chris müssen wir mit einem kleinen Sprinter durchführen. So werden aus einer geplanten Fahrt zwei Touren und eine Nachtschicht.

Nach dem Einzug ist unsere erste Aufgabe, die Gemeinde kennenzulernen. Wir laufen durchs Viertel und stellen uns jedem, den wir treffen vor: »Wir sind hier die neuen Pastoren.« Danach sagen wir gar nicht mehr viel, sondern hören einfach erst einmal eine Weile zu. Auf diese Weise bekommen wir einen lebendigen Eindruck von unserer Gemeinde. In den Geschichten, die uns die Menschen erzählen, spiegeln sich ihre Wünsche und Hoffnungen. Und genau die wollen wir hören. Wenn’s ums Zuhören geht, zitiert Max gerne eine Passage aus Michael Endes Buch »Momo«. Dort heißt es, »Zuhören, das ist doch nichts Besonderes.« In unseren ersten Wochen als Pastoren tun wir nichts anderes. Ganz im Sinne von Momo, denn das Zitat geht wie folgt weiter: »Aber das ist ein Irrtum! Denn richtig zuhören können nur sehr wenige Menschen.«

Allein nach dem ersten Gespräch mit unserem Küster schreiben wir mehrere Seiten in dem Notizbuch von Max voll. Und durch jedes weitere Gespräch kommen mehr Notizen hinzu. Natürlich haben wir durch unser Studium auch einen Sack voller Ideen mitgebracht. Aber von denen erzählen wir der Gemeinde erst mal nichts. Stattdessen versuchen wir herauszufinden, welche von unseren Ideen sich mit denen der Menschen, die hier leben, überschneiden. Welche Hoffnungen wir teilen. Welche Wünsche bestehen. Und wenn wir merken, dass die Schnittmenge groß ist, packen wir Neues an.

Natürlich will die Gemeinde auch etwas von uns hören. Viele sind gespannt, wer nun ihre neuen Pastoren sind. Und dauerhaft lässt sich das »Erzählt doch erst mal von euch«-Spiel auch nicht durchziehen. Deshalb stellen wir uns überall vor. Um nicht immer wieder dasselbe zu sagen, machen wir eine kleine Challenge daraus, unsere Vorstellung immer leicht zu variieren. Zusätzlich soll die Gemeinde Fragen an ihre Pastoren sammeln, die wir dann beantworten. Unsere Kirchenmusikerin Vivi erklärt sich netterweise sofort bereit, die Fragen zu sammeln. Und sie steuert auch den Titel für unsere Antwortvideos bei: »Frag die Captains.« So entsteht unser erstes Youtube-Format. Einmal pro Woche beantworten wir Fragen, egal, was die Menschen von uns wissen wollen. Eine der ersten Anfragen an uns war: »Warum gibt es keinen Brotaufstrich aus Nutella und Erdnussbutter?« Zum Glück hat Chris während seines Studiums lange in der Gastronomie als Koch gearbeitet und kennt daher eine Lösung: Einfach warme Snickers aufs Brot schmieren.

Eigentlich sind diese kurzen Videos nur für unsere Gemeindemitglieder gedacht. Erst als wir von Menschen aus anderen Stadtteilen von Bremerhaven darauf angesprochen werden, merken wir, dass deutlich mehr Leute die Videos sehen, als wir angenommen haben. Wir sind erstaunt, auf wie viel Interesse dieses Format stößt. Eigentlich ist es nur entstanden, weil Max keine Lust hat, Dinge doppelt und dreifach zu erzählen. Nun beschließen wir, einen Schritt weiterzugehen. So wird aus den kurzen Videos unser Podcast »Liebe, Altaaar«. Einmal pro Woche setzen wir uns vor den Altar in unserer Kirche und schnacken eine Runde, während Kameras auf uns gerichtet sind. Und auch in diesem Format beantworten wir Fragen, die uns gestellt werden. Unter den Videos, die wir ins Internet stellen, finden sich mehrere Kommentare, in denen sich einige dafür bedanken, dass wir so »normal« und »verständlich« sprechen.

Kirche wird offensichtlich oftmals nicht verstanden. Denn sonst wäre »Verständlichkeit« kein Kompliment.

Die ersten Gehversuche mit »Frag die Captains« und »Liebe, Altaaar« zeigen uns, dass Menschen nach wie vor neugierig sind auf Gott. Und wir merken, dass Gottesdienst und Predigt alleine nicht mehr ausreichen, um eine möglichst breite Basis anzusprechen. Verschiedene Formate sind wichtig, weil jedes auf seine Weise unterschiedliche Menschen anspricht. Auch wenn einige Leute sich noch in einem Sonntagsgottesdienst wohlfühlen, schauen sich andere lieber zu Hause auf dem Sofa ein Video an. Und wieder andere erreichen wir über Podcasts oder nur im persönlichen Gespräch.