Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens - Jan Hermelink - E-Book

Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens E-Book

Jan Hermelink

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Beschreibung

- Ein Buch für Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenvorstände, Kirchräte, Verwaltungsfachleute und alle, die kirchliche Leitungsverantwortung tragen

Mitgliederverlust, schwindende finanzielle Mittel, Verlust öffentlicher Wahrnehmung – das sind einige Stichworte, die die Dauerkrise der evangelischen Kirchen kennzeichnen. Neue Strukturen, neue Arbeitsformen, eine veränderte Personalpolitik und vieles andere soll Abhilfe bringen. Doch: Sind die angebotenen Lösungen realistisch? Und passen sie zum Problem? Das Buch von Jan Hermelink tritt angesichts von Kirchenkrise und Reformdebatte einen Schritt zurück. Jenseits aktionistischer Maßnahmenkataloge bietet es eine Gesamtsicht, eine Theorie der Kirche als Ganze: Was eigentlich ist eine evangelische Kirche? Wie funktioniert Kirche und wie organisiert sie sich? Wer leitet die evangelische Kirche auf welche Weise an welchen Orten?

So wendet sich das Buch auch nicht allein an Pfarrer/innen, sondern an alle, die in der Kirche Leitungsverantwortung tragen. Ihnen soll dieses Werk zu mehr Klarheit und Gelassenheit in ihren Entscheidungen verhelfen und sie ermutigen, das »Evangelische« der evangelischen Kirchen zu bewahren.

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Inhaltsverzeichnis

DankKapitel 1 – Einleitung Herausforderungen und Prinzipien einer praktisch-theologischen KirchentheorieKapitel 2 – Systematische PerspektivenKapitel 3 – Historische OrganisationstypenKapitel 4 – Empirische BestandsbedingungenKapitel 5 – Orientierung: Kirche leitenAnmerkungenAnhang: Häufig zitierte WerkeCopyright

Dank

Die hier vorgelegte Theorie der evangelischen Kirche beruht auf einer längeren Lehr- und Forschungstätigkeit, bei der ich vielfache und vielfältige Unterstützung erfahren habe.

Immer wieder konnte ich einschlägige Überlegungen auf Pfarrkonventen und Pastoralkollegs, mitunter auch auf internationalen Tagungen vorstellen. Das anhaltende Interesse hat mich ermutigt; die angeregten Diskussionen haben, so hoffe ich, zum Praxisbezug des Buches beigetragen.

Ausgesprochen wertvoll, inhaltlich klärend und persönlich motivierend waren die regelmäßigen Gespräche zum Thema in der Göttinger praktisch-theologischen Sozietät. Von ihren Mitgliedern haben einige die fortschreitende Arbeit auch mit detaillierter Sachkritik befördert – ich danke hier besonders Angelika Behnke, Alexandra Eimterbäumer, Regina Fritz, Julia Koll, Konrad Merzyn, Christian Stäblein und Amrei Störmer-Schuppner.

Um die äußere Textgestalt – die bekanntlich stets auch inhaltliche Implikationen hat – haben sich die Hilfskräfte am Lehrstuhl in großer Sorgfalt und freundlicher Geduld verdient gemacht. Mein Dank geht vor allem an Theodor Adam, Kirstin Becker, Martin Pyrek und Insa Siebels. Im Gütersloher Verlagshaus war und ist es Diedrich Steen, dem ich viel Ermutigung, Hilfestellung und Klärung verdanke.

Schließlich, aber nicht zuletzt bin ich Birgit Klostermeier für eine Begleitung dankbar, die große sachliche Nähe und stetes persönliches Interesse zeigte – und die zugleich die Grenze zwischen Lehre und Leben wahrt.

März 2011

Jan Hermelink

Kapitel 1 – EinleitungHerausforderungen und Prinzipien einerpraktisch-theologischen Kirchentheorie

1.1 Kirchentheorie als Bearbeitung kirchlicher Krisen

Literatur:1Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998. – Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 2006. – Kunz, Ralph: Kybernetik, in: C. Grethlein/H. Schwier (Hg.), Praktische Theologie – eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007, 607 – 684. – Nüchtern, Michael: Kirche evangelisch gestalten, Berlin 2008.

Seit Mitte der 1990er Jahre hat die öffentliche Debatte über die evangelischen Großkirchen in Deutschland ein neues Stadium erreicht. Auch wenn diese Debatte schon seit den reformatorischen Anfängen, erst recht seit der Aufklärung durchgängig als ein Krisendiskurs erscheint (vgl. Kunz, 606), so führen die sinkenden Einnahmen der Kirchen doch derzeit zu einer umfassenderen Problemwahrnehmung (a), zu neuartigen Ansätzen ihrer Bearbeitung (b) und zu spezifischen theoretischen Anstrengungen (c). Die praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, im Folgenden kurz »Kirchentheorie« genannt, ist damit in besonderer Weise herausgefordert 2.

(a) Zum ersten Mal, seit die evangelischen Großkirchen in Deutschland 1919 aus der staatlichen Administration gelöst wurden, sind ihre Einnahmen aus der Kirchensteuer seit etwa zwanzig Jahren – mitunter dramatisch – rückläufig; dies ist vor allem demographisch, durch zunehmende Überalterung der Kirchenmitglieder, dazu steuerpolitisch sowie durch den innerkirchlichen, west-östlichen Finanzausgleich bedingt.

In diesem Kontext erscheint auch das schon lange beobachtete Absinken der Mitgliedschaftszahlen als bedrohlich. Hier, wie auch in abnehmendem Gottesdienstbesuch und rückgängigen Kasualbegehren, scheint sich eine nachhaltig schwindende Relevanz der Kirche für die individuelle Lebensführung zu zeigen. Dem korrespondiert der Eindruck, auch im öffentlichen Leben, in bio- oder wirtschaftsethischen Debatten wie im Bildungssystem nehme das Gewicht kirchlicher Positionen ab, obwohl Religion durchaus als bedeutsames Thema gilt. Es sind jedoch die nicht-christlichen Religionen, besonders der Islam, denen derzeit die mediale wie die politische und juristische Aufmerksamkeit gilt.

Angesichts ihrer schwindenden Ressourcen sehen sich die kirchlichen Organisationen zu umfassenden Strukturveränderungen genötigt. Das betrifft vor allem die Reduktion von Stellenplänen und Gebäudebeständen, die verstärkte Kooperation oder Fusion von Arbeitsbereichen, Gemeinden, Dekanaten oder Landeskirchen sowie – nicht zuletzt – geänderte Bewirtschaftungsregeln. Diese Reaktionen erfolgten zunächst ad hoc und unsystematisch; für eine rasche, zugleich umfassende und einvernehmliche Reform scheinen die kirchlichen Kommunikations- und Leitungsstrukturen derzeit kaum geeignet (vgl. zum Ganzen Huber, 223 ff.).

(b) Reformvorschläge, »pia desideria« oder kirchenkritische Thesenreihen prägen die protestantische Selbstverständigung seit ihren Anfängen. Durch die skizzierten Krisenwahrnehmungen ist freilich eine Debatte ausgelöst worden, deren systematisch-analytische oder pragmatische Beiträge nicht mehr nur von Einzelnen oder Gruppen innerhalb oder außerhalb der Kirche stammen, sondern in der auch die Organe der Kirchenleitung selbst sich genötigt sehen, »Sparzwang« und »Strukturveränderung« in den Kontext einer – mehr oder weniger – systematischen Bestimmung von »Auftrag und Gestalt« der Kirche zu stellen3. So werden von Gemeinde- und Kirchenkreisvorständen »Leitbilder« beschlossen; Landessynoden, Bischofsräte und Kirchenleitungen publizieren »Zielorientierungen« oder »Perspektivprogramme« 4. Die gegenwärtigen Herausforderungen werden nicht zuletzt von den Leitungsinstanzen wahrgenommen; dazu passt, dass das Thema »Leitung in der Kirche« in Publikationen wie in der Aus- und Fortbildung mehr und mehr Beachtung findet.

Paradigmatisch für die Themen und Argumentationsweisen solcher Reformprogramme aus der Innenperspektive erscheint das Impulspapier »Kirche der Freiheit«, das der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 2006 vorgelegt und seither zur Grundlage eines umfassenden »Reformprozesses« gemacht hat. Das Papier thematisiert zunächst die »Chancen und Herausforderungen«, die die gegenwärtige gesellschaftliche, besonders die religiöse Situation wie die innerkirchliche Lage darstellt; dabei werden diese Verhältnisse mittels zahlreicher empirisch-sozialwissenschaftlicher Befunde erhellt. Aus diesen Befunden ergibt sich die Nötigung zu umfassender »Veränderung« – die kirchliche Organisation beschreibt sich derzeit vor allem pragmatisch, ziel- und handlungsorientiert; die theologische, genauer ekklesiologische Selbstklärung fällt dagegen knapp und eher skizzenhaft aus.

Das Impulspapier wie die meisten kirchlichen Reformprogramme thematisieren in pragmatischer Hinsicht vor allem strukturelle Veränderungen: Über einen Umbau der Gottesdienst- wie der Gemeindestrukturen soll die »Beheimatung« der Einzelnen in Kirche und Glauben gestärkt werden, bei den Mitarbeitenden sind das Ehrenamt zu stärken und die berufliche Kompetenz weiter zu professionalisieren. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von kirchlicher Diakonie, Bildung und Ethik soll verbessert, die kirchliche Organisation in finanzieller wie in struktureller Hinsicht durchsichtiger, flexibler und einheitlicher werden. Insgesamt bemühen sich die aktuellen Reformvorschläge, unterschiedliche Anliegen und Positionen zu integrieren; auch deswegen stehen weniger inhaltlich-theologische Reflexionen im Vordergrund als vielmehr die Strukturen des Handelns und seine soziale Wirkung: Die Kirche erscheint weniger als Überzeugungs- oder Glaubensgemeinschaft und eher, auch ausdrücklich, als eine spezifische religiöse Organisation.

(c) Von daher wird die gegenwärtige Debatte zur Kirchenreform, was ihren theoretischen Zuschnitt betrifft, vornehmlich organisationswissenschaftlich geführt. Nicht selten werden dabei Methoden, Theoreme und Sprachmuster rezipiert, die aus der ökonomischen Theorie betrieblicher Organisation stammen; aber auch die einschlägigen Debatten zur Gestaltung sozialer, pädagogischer oder politischer Organisationen, die vielfach systemtheoretisch argumentieren, werden oft herangezogen.

Fachtheologische, auch praktisch-theologische Beiträge spielen dagegen in der gegenwärtigen Debatte eine vergleichsweise geringe Rolle. Zwar liegen zu einigen zentralen Fragen wie der Ortsgemeinde, der Kirchenmitgliedschaft oder der Leitungsstruktur konzeptionell gewichtige Arbeiten vor5; die spezifisch neuen Momente der gegenwärtigen Krisendebatte werden hier aber eher implizit angesprochen, wenn etwa alternative Strukturmodelle skizziert (U. Pohl-Partalong), zielorientierte Gemeindeentwicklung angeregt (H. Lindner) oder kirchliche Entscheidungstheorien entwickelt werden (R. Preul). Die meisten praktisch-theologischen Beiträge legen den Akzent auf pragmatische Aspekte oder sie argumentieren eher historisch und grundbegrifflich6. Eine Verbindung theologisch-theoretischer Reflexion mit empirischer Detailwahrnehmung der gegenwärtigen Verhältnisse ist dagegen bisher nur selten gelungen (vgl. aber Nüchtern).

Die in diesem Buch vorgelegten Überlegungen zielen auf eine solche Gesamtschau, auf eine systematische Theorie der gegenwärtigen kirchlichen Situation. Die dabei leitenden Grundsätze sollen im Folgenden anhand der Beobachtung erläutert werden, dass die aktuelle kirchliche Krisendebatte in ihrem Interesse an empirischer Vergewisserung, in ihrer Fokussierung auf Strukturen wie auch in ihrem begrifflichen Inventar in hohem Maße durch eine bestimmte Organisations- und Theorie-Geschichte bedingt ist. Es sind vor allem drei kybernetische »Achsenzeiten« (Kunz, 634) struktureller wie theoretischer Reorganisation, die die gegenwärtige Lage zutiefst prägen: die Entstehung einer rechtlich, finanziell und programmatisch selbständigen evangelischen Kirchenorganisation nach 1918 (↗ 1.2); die Epoche praktischer wie theoretischer Ansätze zu einer dezidierten »Kirchenreform« in den 1960er Jahren (↗ 1.3) sowie, zeitlich davor, der Entwurf einer sich – mittels der Theologie – eigenständig steuernden evangelischen Kirche, wie ihn Friedrich Schleiermacher entfaltet hat (↗ 1.4). Der Rekurs auf diese Achsenzeiten ordnet die gegenwärtige Debatte in einen weiteren Horizont ein; von daher sind schließlich das Verständnis des Gegenstands wie der Aufbau der hier vorgelegten Kirchentheorie plausibel zu machen (↗ 1.5).

1.2 Kirchentheorie als Organisationstheorie

Literatur: Schian, Martin: Grundriss der Praktischen Theologie, Gießen 1922. – Dibelius, Otto: Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele, Berlin 1926, 61928. – Bloth, Peter C.: Praktische Theologie, Stuttgart u. a. 1994, 63 – 72.

Seit den 1880er und bis in die 1930er Jahre erscheint das Thema »Kirche« in der öffentlichen Debatte wie in der theologischen Literatur außerordentlich prominent. Den realgeschichtlichen Hintergrund der vielschichtigen Diskussion bildet die Verselbständigung der evangelischen Landeskirchen, die 1919/20 im Ende der Staatskirche kulminiert. Die politischen, die theologischen und auch die juristischen Debatten zur »praktischen Ekklesiologie« (Bloth, 65 ff.) gehen auch in der Weimarer Republik und am Beginn der NS-Zeit weiter, denn die neue kirchliche Lage der Kirche ist nach außen, im Blick auf Staat und Gesellschaft (a) wie nach innen, im Blick auf Leitungsinstanzen und Gemeindeorganisation (b) zu klären und theologisch zu begreifen (c). Die in dieser Achsenzeit gebildeten Strukturen, Argumentationen und Schlüsselbegriffe sind für die kybernetische Reflexion bis heute grundlegend.

(a) Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden die evangelischen Landeskirchen innerhalb der staatlichen Verwaltung eigenständiger; dies zeigt etwa die Ausgliederung der Kirchenbehörden, die Einführung einer besonderen Kirchensteuer seit den 1880er Jahren oder das wachsende Gewicht synodaler Gremien. Gleichwohl muss das Verhältnis von Staat und Kirche nach 1919 noch einmal ganz neu geordnet werden. Auf der Ebene der Reichs- und Landesverfassungen wie in Einzelgesetzen werden, z. T. nach langen Auseinandersetzungen, rechtliche Regelungen ausgehandelt, die oft bis heute gelten – etwa der Status der Kirche als »Körperschaft öffentlichen Rechts«, ihre starke Stellung im Bildungswesen, in der Wohlfahrtspflege oder im Steuerrecht. Die gegenwärtigen Strukturdebatten sind nicht zuletzt auf diesem Hintergrund zu verstehen.

Mit und neben dieser staatsrechtlichen Neuordnung muss die Kirche auch das Verhältnis zu ihren Mitgliedern neu bestimmen. Die Kirchensteuer, dazu die ebenfalls dem 19. Jahrhundert entstammenden Regelungen zum Kirchenaustritt, zur Ziviltrauung oder zur Schulaufsicht gewinnen nach 1919 hohe Brisanz. Denn die Großkirchen können sich der Unterstützung durch die einzelnen Gläubigen keineswegs selbstverständlich und in jeder Frage sicher sein: Wird die kirchliche Präsenz in der öffentlichen Schule Anfang der 1920er Jahre noch durch eine massenhafte Mobilisierung von Eltern durchgesetzt, so müssen die kirchenleitenden Organe um 1930 geradezu hilflos zusehen, wie ihre Mitglieder mehrheitlich Parteien wählen, die der verfassten Kirche höchst kritisch gegenüberstehen. Von hieraus ist noch das gegenwärtige Bedürfnis zu begreifen, sich der religiösen Einstellungen und kirchlich-organisatorischen Erwartungen der Menschen empirisch-sozialwissenschaftlich zu vergewissern.

Insgesamt wächst in den 1920er Jahren bei den kirchlich Verantwortlichen die Einsicht, dass die Kirche sich nicht nur gegenüber Staat und Einzelnen, sondern auch in der Öffentlichkeit neu zu positionieren hat. Die gesellschaftliche Stellung der Kirche wird seither unter dem vieldeutigen Stichwort einer »Volkskirche« verhandelt7, die sowohl von der Staatskirche wie – etwa bei E. Troeltsch (↗ 2.2.1) – von der weltabgewandten »Sekte« zu unterscheiden ist und die, um kulturell und »sittlich« wirken zu können, spezifische publizistische wie politische Anstrengungen unternimmt.

(b) Nach innen findet die institutionelle Verselbständigung nach 1919 ihren deutlichsten Ausdruck in einer komplexen landeskirchlichen Leitungsstruktur . Neben die Konsistorien/Landeskirchenämter, die eine starke Stellung behalten, treten einerseits synodale Gremien, deren »weltliches« Element gestärkt und denen – durch Wahl- und Haushaltsrecht wie Gesetzgebungskompetenz – die oberste organisatorische Verantwortung zugewiesen wird. Andererseits installieren alle Kirchenverfassungen eine personale Leitungsposition, von der vor allem »geistliche Leitung« erwartet wird8. Besonders wirkungsvoll artikuliert der kurmärkische Generalsuperintendent und nachmalige Berliner Bischof – Otto Dibelius – in seinem Bestseller »Das Jahrhundert der Kirche« (1926) den Zusammenhang zwischen organisatorischer Selbständigkeit der evangelischen Kirche, ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit und der Notwendigkeit »bischöflicher Persönlichkeiten« (a.a. O., 96).

Es sind diese oberen landeskirchlichen Instanzen, dazu die beginnende übergreifende Organisation durch den »Deutschen Evangelischen Kirchenbund« und seine reichsweiten »Kirchentage«, die am stärksten in die gesellschaftliche Öffentlichkeit wirken und die auch innerkirchlichen Reformbedarf am deutlichsten artikulieren. Die ausgesprochen pragmatische, organisationsbezogene Ausrichtung der jüngsten Reformpapiere ist auf diesem Hintergrund zu sehen.

Nicht selten geraten Bischöfe und Kirchenleitungen damit in einen gewissen Gegensatz zu den örtlichen Kirchengemeinden. Über die praktische Organisation der Gemeinde, die Gewinnung hauptamtlicher Mitarbeiter oder die Integration der zahlreichen christlichen Vereine wird schon in der »Gemeindebewegung« des späten 19. Jahrhunderts sehr differenziert diskutiert; in den kirchlichen Verfassungs-, Wahl- und Finanzordnungen der 1920er Jahre erhalten die Ortsgemeinden daraufhin großes Gewicht. Die anhaltende Spannung zu übergemeindlichen Arbeitsfeldern, Pfarrämtern und Leitungsinstanzen, die die kirchliche Debatte bis heute beschäftigt, ist nicht zuletzt in diesen strukturellen Entscheidungen begründet.

(c) In einer außerordentlich intensiven, vielschichtigen und kontroversen literarischen Debatte wird versucht, die skizzierten Strukturveränderungen nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern vor allem religiös-theologisch zu deuten und zu (de-)legitimieren9. Der Begriff der Gemeinde, der schon seit Luther hierarchie- und herrschaftskritisch konnotiert ist, erhält dabei eine prominente Rolle. Die »Gemeinde« wird im 19. Jahrhundert zum Kampfbegriff gegenüber »Amtskirche« und »Obrigkeit«; mit diesem Schlagwort sollen, auch in den Verfassungen, die engagierten Christen vor Ort aufgewertet werden. Die Bekenntnissynoden seit 1932 haben die theologische Dignität »der Gemeinde« dann kirchenpolitisch gegen die Tendenzen der »Gleichschaltung« akzentuiert; das entsprechende Selbstbewusstsein der »Kerngemeinde« ist bis heute spürbar. Nur auf dem Hintergrund dieser Begriffsgeschichte wird verständlich, wie hoch besetzt und zugleich wie inhaltlich vieldeutig mit ›der Gemeinde‹ bis heute für oder gegen Veränderungen argumentiert wird.

Die Debatte um die »Volkskirche« ist im gegenwärtigen Krisendiskurs zurückgetreten10. Die in den 1920er und 1930er Jahren diskutierte Frage, inwiefern eine Volks- zugleich »Bekenntniskirche« sein kann (vgl. Bloth, 66 f.), bleibt jedoch dergestalt aktuell, dass nach wie vor nach einem explizit theologischen Verständnis der spezifisch großkirchlichen Strukturspannungen gefragt wird, etwa zwischen Ortsgemeinde und landesweit profilierter Kirche, zwischen Pastoren- und Laienkirche, zwischen Kirchenverwaltung und synodalen Gremien oder zwischen Kirchenrecht und kirchlichem Auftrag.

Der Begriff der Organisation, der dabei gegenwärtig in den Vordergrund tritt, spielt schon in den praktisch-theologischen Debatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rolle. So argumentiert das Lehrbuch von M. Schian mit Blick auf die ersten Gemeinden wie auf die zeitgenössische Situation:

»Ohne Ordnung kann die Gemeinschaft ihren Zwecken nicht genügen, ihr Wesen nicht vollenden. Die gemeinsame Übung der Frömmigkeit verlangt Ordnung (1 Kor 14,33.40), die Übung der Liebe nicht minder (Apg 6). Dazu kommen die äußeren Bedürfnisse des Gemeinschaftslebens, die Aufbringung der Mittel, die Beschaffung der Räume, die Bestellung von Leitern, Sprechern, Helfern […]. Endlich will jede religiöse Gemeinschaft für Ausbreitung, Nachwuchs, Fortbestand sorgen; und die Aufgaben gemeinsamer Selbstbehauptung, gemeinsamer Abwehr heischen ebenfalls geordnetes Vorgehen. Ordnung bei Verhältnissen größeren Maßstabes aber ist Organisation. Die Pflege christlicher Frömmigkeit fordert Organisation.« (Schian, 11; vgl. a. a. O., 6ff., 32ff. u. ö.)

Der Begriff der Organisation legt sich offenbar nahe, wenn unter dem Druck »gemeinsamer Selbstbehauptung« komplexe, auch spannungsvolle Verhältnisse integriert werden sollen, indem gemeinsame Ziele oder »Zwecke« öffentlich vertreten und nach innen mittels starker Leitungsinstanzen verfolgt werden. Für ein solches, derzeit wieder aktuelles Selbstverständnis der evangelischen Großkirchen hat die kybernetische Achsenzeit von 1880 bis 1930 wesentliche Grundlagen geschaffen. Wenn im Folgenden die Eigenart der großkirchlichen Sozialgestalten unter dem Begriff der religiösen Organisation wahrgenommen und reflektiert wird, so ist daher auf die strukturellen wie auf die konzeptionellen Entscheidungen jener Epoche immer wieder zurückzukommen.

1.3 Kirchentheorie als Konflikttheorie (Ernst Lange)

Literatur: Marsch, Wolf-Dieter: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970. – Lange, Ernst: Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgik und Pfarramt, München 21982. – Ders.: Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, München 1986. – Gestrich, Christoph: Die Heilung einer doppelten Entfremdung. Ernst Lange über Kirche und eine »Theorie kirchlichen Handelns«, in: BThZ 2 (1985), 33 – 52. – Hermle, Siegfried /Lepp, Claudia u.a (Hg.): Protestantismus und soziale Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2006.

Nachdem die westdeutsche kirchliche Organisation seit den 1950er Jahren – im Zuge der allgemeinen kulturellen und wirtschaftlichen Restauration – ihren Gebäudebestand, ihr hauptamtliches Personal und auch ihre sozialdiakonischen Aktivitäten ganz erheblich ausgeweitet hat, mehren sich – im Kontext des gesamtgesellschaftlichen Reformklimas der 1960er Jahre – auch in den Großkirchen kritische Stimmen, die die staatsanaloge öffentliche Stellung der Kirche sowie ihre pastoren- und gemeindezentrierte Organisation anfragen (vgl. Marsch, 211 ff.). Die breite, in sich vielfältige Bewegung der »Kirchenreform« fordert u. a. Pfarr- und Leitungstätigkeit im Team, die Stärkung der kirchlichen Regionen und der übergemeindlichen Arbeit sowie die Stützung von »Dienstgruppen« aus engagierten Laien und Theologen (↗ 3.5.2).

Der Berliner Pfarrer und Publizist Ernst Lange hat jene Bewegung u. a. durch die Gründung einer »Ladenkirche« (1960 in Berlin-Spandau) sowie durch diverse kirchentheoretische Skizzen mit geprägt (vgl. Lange, Kirche für die Welt). Deutlicher als viele seiner Mitstreiter begreift Lange die zunehmende Pluralität der kirchlichen Organisation wie der darin artikulierten religiösen Überzeugungen als Herausforderung zur vertieften praktisch-theologischen Reflexion.

Lange identifiziert die Ortsgemeinde als eine spezifische Institution zur Bearbeitung jener Pluralität (a. a. O., 184 ff.); und er beschreibt dabei insbesondere die Rolle des Ortspfarrers, in einer bis heute anregenden Weise, als ein »Spannungsfeld, das durch drei nicht auflösbare Konflikte bestimmt ist« (Predigen als Beruf, 145), nämlich einen »vertikalen« Konflikt zwischen den Ansprüchen der Kirchenleitung und den Forderungen vor Ort, einen »horizontalen« Konflikt zwischen den Erwartungen verschiedener Mitgliedergruppen und einen Konflikt in der »Temporalen« zwischen kirchlich-religiöser Traditionsbewahrung und Erneuerung. Alle diese Konflikte sind, so betont Lange, nicht nur deshalb unauflösbar, weil sämtliche Positionen – die Gemeinde wie die Kirchenleitung, die volkskirchlichen wie die vereinskirchlichen Mitglieder, auch die Konservativen wie die Reformer – gesamtgesellschaftlich verbreitete Bilder und Erwartungen an die Kirche zum Ausdruck bringen und weil diese Erwartungen sich soziologisch als Resultat der neuzeitlichen Ausdifferenzierung des Christentums erklären lassen. Sondern alle Konfliktparteien können auch ein theologisches Recht beanspruchen: Im Streit über die Gestalt der Kirche spiegelt sich die irreduzible Pluralität der christlichen Frömmigkeit selbst.

Die Wahrnehmung einer unhintergehbaren, konfliktträchtigen Pluralität des kirchlichen Lebens vertieft Lange Anfang der 1970er zu einer theologisch wie gesellschaftstheoretisch pointierten Deutung:

»Die Kirche institutionalisiert einen Widerspruch. Sie stellt den Einspruch Jesu gegen die Selbstzerstörung des Menschen auf Dauer. Jesus ist für sie dieser Einspruch, und sie bekennt ihn als den Einspruch Gottes, der die Selbstzerstörung des Menschen überwindet und ihm Heil eröffnet. – Die Vergesellschaftung des Widerspruchs Jesu gegen des Menschen Selbstzerstörung gelingt immer nur in einer höchst widersprüchlichen Weise. Weil der Einspruch Jesu konkreter Einspruch gegen eine bestimmte gesellschaftliche Gestalt der Entfremdung und der Selbstzerstörung des Menschen ist, bedarf er der immer neuen Übersetzung in immer neue Situationen und immer neue Sprachen. […]. Eben diese jeweils spezifische ›Indigenisation‹ des Einspruchs Jesu in einem konkreten soziokulturellen Zusammenhang, in eine gemeinschaftliche Lebenspraxis ist die Kirche.

Kirchbildung gelingt und dauert aufgrund einer eigentümlichen Interessenkoinzidenz. Die Kirche lässt sich auf die Gesellschaft ein, weil sie nur so den lebensrettenden Einspruch Jesu gegen des Menschen Selbstzerstörung hörbar, verbindlich, praktizierbar machen kann. Die Gesellschaft ihrerseits lässt sich auf die Kirche ein aufgrund einer doppelten Notwendigkeit. Sie bedarf der Religion zu ihrer Selbsterhaltung, zur positiven Sanktionierung aller Einstellungen und Verhaltensweisen, die sie zusammenhalten […]. – Zugleich und in Spannung dazu bedarf die Gesellschaft der Religion aber auch zu ihrer Selbsterneuerung. Genauer, sie bedarf eben jener Kräfte, die sie bewusst und mit Hilfe der Religion verdrängt, doch in anderer Form auch wieder als Energien der konstruktiven Verständigung […], und sie erwartet diese Energiezufuhr wiederum von der organisierten Religion.

Der geschichtliche Erfolg des Christentums hängt sicher auch damit zusammen, dass es diese Doppelfunktion als Instrument der Sozialisation und der Emanzipation besonders nachhaltig zu erfüllen scheint. Die Kirche eignet sich so als Spielraum der Gesellschaft, in dem die systemgefährdenden Konflikte […] fort und fort in des Wortes voller dialektischer Bedeutung ›aufgehoben‹ werden.« (Lange, Kirche für die Welt, 199—201)

Das längere Zitat macht deutlich, wie intensiv Ernst Lange sich den kulturellen wie den begrifflichen Kontext der 1960er Jahre zu eigen macht; zugleich markiert es wiederum die prinzipielle Verschränkung zweier Dimensionen jener Konfliktdynamik, die eben darum unhintergehbar und unauflösbar erscheint. Zum Einen kann die kirchliche Organisation (oder »Institution«, wie Lange sagt), weil sie gesellschaftlich verfasst ist, gar nicht ohne tief greifende, auf verschiedensten Ebenen und in verschiedensten Formen ausgetragene Auseinandersetzungen über ihre zukünftige Gestalt existieren. Das bedeutet im Übrigen, dass eine zureichende Bearbeitung jener Konflikte ohne eine Rezeption sozialwissenschaftlicher Theorie nicht mehr denkbar ist. In der Konsequenz hat sich Lange an der groß angelegten empirischen Selbsterkundung, die die evangelische Kirche seit Anfang der 1970er Jahre betreibt, intensiv beteiligt11.

Zum Anderen sind die Spannungen und Widersprüche der kirchlichen Organisation aber nur mit genuin theologischen Kategorien zureichend zu beschreiben. Denn die »Konfliktträchtigkeit« dieser Organisation ist auch, ja vor allem Ausdruck des »Widerspruchs Jesu gegen des Menschen Selbstzerstörung«; die Kirche stellt Gottes heilsamen »Einspruch« gegen die Sünde »auf Dauer«. Auch der missionstheologische Begriff der »Indigenisation« oder die homiletisch-hermeneutische Metaphorik einer »Übersetzung in immer neue Situationen« markieren die christologische Formatierung dieser »Theorie kirchlichen Handelns« (Lange, a. a. O., 197 ff.). Hinter eine solche doppelt codierte Wahrnehmung der kirchlichen Spannungsverhältnisse wird die praktisch-theologische Kirchentheorie nicht zurückgehen dürfen.

Die zünftige Praktische Theologie hat diese Sicht etwas verzögert, aber dann doch energisch aufgegriffen. Historisch-begrifflich besonders avanciert ist D. Rösslers Einbettung der kirchlichen Organisationsgestaltung in die »Theorie des neuzeitlichen Christentums«12, das sich nicht mehr nur in kirchlichen, sondern zugleich in individuellen und öffentlichen Ausdrucksformen manifestiert. Es ist darum durch »die Menge gleichwertiger und gleichrangiger religiöser Positionen bestimmt […], deren Relationen nicht durch die Beziehung auf einen übergeordneten Lehr- oder Glaubensstandpunkt, sondern durch den verbindenden Diskurs herzustellen sind. […] Neuzeitliches Christentum ist stets das Produkt von Auslegung« (a. a. O., 91 f.); und dies gilt für die öffentlichen wie für die innerkirchlichen Debatten.

So sehr Rössler also bereit ist, die Vielfalt kirchlicher Anliegen und Bewegungen anzuerkennen – sie sind doch zugleich dadurch zu relativieren, dass sie zum Gegenstand verbindender (und verbindlicher) Diskurse werden, die sich ihrerseits als (praktisch-)theologische »Auslegung« ihrer gemeinsamen Grundlagen vollziehen. Die »evangelische Kirchenleitung« wird hier als eine historisch und hermeneutisch geschulte »Moderation der Diskurse« konzipiert 13, die deren »Beziehungen und Verbindungen, die unkenntlich geworden und verdeckt sind, aufklären und an den Tag bringen« soll14.

Setzt dieser Vorschlag vor allem auf einen theoretischen, theologisch-diskursiven Umgang mit der kirchlichen Pluralität, so wirbt Ernst Lange selbst für ein religiös-praktisches Modell: die »Konziliarität«. Er skizziert dieses Modell im Blick auf ökumenische Konflikte im Anschluss an einschlägige Texte der ÖRK-Kommission »Faith and Order«; dabei wird jedoch erkennbar, wie eine solche Deutung auch Binnenkonflikte um Frömmigkeit und Ordnung zu inszenieren wie zu relativieren erlaubt.

»Alle Beteiligten [eines kirchlichen Konflikts, JH] teilen die Hoffnung auf die Zukunft der Wahrheit, rechnen grundsätzlich damit, dass der Konsensus, nach dem sie suchen, mehr sein kann und mehr sein wird als die Summe der Einzelmeinungen oder der Kompromiss aus kontroversen Positionen oder der totale Sieg der stärksten Fraktion oder der stärksten Argumente. In den christlichen Räten – so jedenfalls die Theorie – treffen Einzelne, Gruppen, Gemeinden, Kirchen aufeinander, die sich gegenseitig wahrnehmen als Konkretionen der Gegenwart Christi, als Manifestationen der Erneuerungskraft des Heiligen Geistes. Eben darum erwarten sie von ihrem Zusammentreffen den Mehrwert der größeren Wahrheit. […]

Alle am Rat Beteiligten sind gleichen Rechts und gleicher Eigenständigkeit. Da aber alle diese Eigenständigkeiten als Konkretionen der einen Gnade wahrgenommen werden müssen, sind sie nicht Hindernisse, sondern Quellen der Einung. Ohne diese Eigenständigkeiten gibt es die Einheit, die erwartet wird, gar nicht. Jede Einheit, die weniger wäre als die Fülle dieser Eigenständigkeiten, wäre nicht nur weniger als Einheit, sie wäre das Gegenteil von Einheit: Spaltung, Aufspaltung der bunten Gnade Gottes (1. Ptr. 4, 10). […]

Konziliarität […] ist angewandte, operationalisierte Trinitätslehre […] Es geht […] darum, den Konflikt in Gott, dessen geheimnisvollstes Zeichen das Kreuz ist, als einen wirklichen Konflikt, nicht als einen Scheinkonflikt […] verstehen und festhalten zu können. Die konziliare Einheit der Kirche ist ganz entsprechend durchaus keine konfliktlose Einheit. Sie ist der Streit um die Wahrheit in der gemeinsamen Hoffnung auf die Zukunft der Wahrheit.«15

Lange skizziert die konziliare Struktur in Analogie zu den radikaldemokratischen Modellen seiner Zeit: den »Räten« oder »Runden Tischen«, wie sie politische Umbrüche kennzeichnen. Zugleich wird diese Form der Konfliktbearbeitung biblisch-theologisch grundgelegt: mit Hinweisen auf Apg 15, auf die altkirchlichen Konzilien und auf Kreuzes- wie Trinitätstheologie. Muss die kirchliche Realität unter den Bedingungen neuzeitlicher Pluralisierung geradezu als ein Konglomerat tiefgreifender religiöser und organisatorischer Auseinandersetzungen erscheinen, so kann dies doch als Ausdruck eines vielstimmigen »Streits um die Wahrheit« gedeutet werden; jene Spannungen und Widersprüche gehören dann zum Wesenskern der Kirche.

Wird die evangelische Kirche begriffen als im Kern konziliar verfasst, so ergeben sich diverse normative Konsequenzen für ihre Gestaltung, etwa was eine umfassende Beteiligung aller Betroffenen, ihre Würdigung als »Konkretionen der Gegenwart Christi« oder was die prinzipielle Revidierbarkeit aller Entscheidungen im Blick auf »die Zukunft der Wahrheit« betrifft. Kirchliche Leitung zielt dann zunächst nicht auf die Herstellung von Konsens, sondern auf die Darstellung von Dissens, weil allererst auf diese Weise die »bunte Gnade Gottes« zur Wirkung kommen kann.

Orientiert sich die praktisch-theologische Kirchentheorie an solchen Einsichten, dann wird ihr Interesse offenbar auf die ästhetische Dimension des kirchlichen Handelns und Leitens gelenkt: Inwiefern bringen Strukturen und Diskurse die spannungsvolle, ja widersprüchliche Verfassung der evangelischen Kirche zum Ausdruck? Und inwiefern kann die kirchliche Leitung, auf allen Ebenen, die Bearbeitung jener Konflikte durch ihre Inszenierung im Lichte der gemeinsamen »Hoffnung auf die Zukunft der Wahrheit« befördern? Diesen Fragen widmet die vorliegende praktisch-theologische Theorie der Kirche besondere Aufmerksamkeit.

Zur »ökumenischen Utopie« der Konziliarität gehört für Lange schließlich die gesellschaftliche Wirkung dieser pneumatologisch fundierten, partizipativen und performativen Form der Konfliktinszenierung: »Gerade wenn die Kirchen sehr prononciert ihr eigenes Projekt verfolgen, ohne sich […] als Vorhut der Menschheit zu dramatisieren, gerade wenn sie ihre besonderen Möglichkeiten […] des Glaubens nutzen, werden sie als instituitionalisierte Irritation der [menschlichen] Friedensbemühung […], als Hüter des Shalom immer auch ein Impuls für diese Bemühung sein.« 16 Nutzt und inszeniert die Kirche ihre spezifische Form des Umgangs mit religiöser und organisatorischer Pluralität, so kann sie hoffen, »Spielraum der Gesellschaft« zu sein, die sich ihrerseits als plural, von Konflikten durchzogen begreifen muss.

1.4 Kirchentheorie als Leitungstheorie (Friedrich Schleiermacher)

Quellen: Schleiermacher, Friedrich D. E.: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 11811, 2 1830, krit. Ausgabe hg. v. Heinrich Scholz, Leipzig 1910. – Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evang. Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftl. Nachlass und nachgeschr. Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (SW I/13), Nachdruck Berlin/New York 1983.

Literatur: Dinkel, Christoph: Kirche gestalten. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/New York 1996. – Gräb, Wilhelm: Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher, in: Chr. Grethlein/M. Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte der Praktischen Theologie, Leipzig 2000, 67 – 110.

Angesichts der gegenwärtigen Krisen- und Reformdiskurse ist für die praktisch-theologische Kirchentheorie noch eine dritte kybernetische Achsenzeit von Bedeutung, nämlich die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die kulturellen wie die politischen Umbrüche und Revolutionen, die die Jahrzehnte etwa ab 1780 kennzeichnen, stellen den äußeren Bestand der deutschen evangelischen Kirchentümer, aber auch ihre innere Orientierung so nachhaltig wie selten zuvor in Frage. In dieser Situation entwickelt insbesondere Friedrich Schleiermacher eine philosophisch avancierte Kultur- und Sozialtheorie, die der Kirche eine sozial unverzichtbare Funktion zuschreibt: Indem sie den christlichen Glauben in Gottesdienst, Seelsorge und Bildung zum Thema macht, wird den Einzelnen eine Klärung, Vertiefung und wechselseitige Bereicherung ihrer je eigenen religiösen Überzeugungen eröffnet. Auf diese Weise fördert die Kirche das freie und selbständige Handeln der Individuen und zugleich den sittlichen – und politischen – Fortschritt einer Gesellschaft, die auf Freiheit, Gleichheit und Mündigkeit beruhen soll.

Kirchentheoretisch revolutionär sind nun insbesondere die Folgerungen, die Schleiermacher für das Verständnis der Theologie zieht. Die gesamte wissenschaftliche Theologie wird von ihm nicht mehr aus der Idee des Glaubens oder der christlichen Kirche heraus konzipiert, sondern durch den Bezug auf eine bestimmte Profession, auf die spezifischen Aufgaben der kirchlichen Amtsträger. Das theologische Studium zielt demnach auf die Aneignung »derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche […] nicht möglich ist« (Kurze Darstellung, § 5). Angesichts der zeitgenössischen Umbruchs- und Krisenerfahrungen begreift Schleiermacher das pastorale Handeln wesentlich und durchgehend als ein Leitungshandeln, mit dem das kirchliche Leben koordiniert, profiliert und theologisch verantwortet wird.

Dieses Konzept der Theologie als Theorie der Kirchenleitung wird von Schleiermacher bekanntlich durch einen dreigliedrigen Aufbau konkretisiert (vgl. a. a. O., §§ 24 – 31): Die »philosophische Theologie« bestimmt das Wesen des Christentums und seiner Gemeinschaftsformen; sie erarbeitet damit die fundamentalen Kriterien aller Kirchenleitung. Die »historische Theologie« vermittelt »die Kenntnis des zu leitenden Ganzen« in seinem jeweils geschichtlich gewordenen Zustand; sie umfasst genetisches wie empirisch-statistisches Wissen zur Verfassung der Großkirchen in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Verflechtung. Und die »praktische Theologie« hat die Regeln und Methoden zu reflektieren, denen die konkreten Leitungsvollzüge einer »besonderen Kirchengemeinschaft« im Ganzen wie im Einzelnen zu folgen haben.

Das Zusammenspiel von Wesensbestimmung, historisch-empirischer Detaileinsicht und methodischer Reflexion nutzt Schleiermacher in seinen praktisch-theologischen Vorlesungen, um u. a. eine Theorie des »Kirchenregiments« zu entfalten, die – zum ersten Mal – auch die Fragen kirchlicher Gestaltung jenseits der Ortsgemeinde zum Thema der Theologie macht (vgl. Praktische Theologie, 521 – 798). Die Darstellung ist hier in hohem Maße an einschlägigen Konflikten orientiert, wie sie etwa zwischen »Klerus und Laien« (a. a. O., 569 ff.), zwischen Einzelgemeinde und Kirchenregiment (587 ff.) oder einzelnen Landeskirchen, und nicht zuletzt zwischen verschiedenen Richtungen der Frömmigkeit zu bearbeiten sind (630 ff.). Das ideale, kulturtheoretisch begründete Bild einer Kirche, die sich aus staatspolitischer wie moralischer Fremdbestimmung zu lösen hat, wird auf diese Weise praktisch konkretisiert; ebenso wenn Schleiermacher detailreich für eine presbyterial-synodale Verfassung argumentiert, in der geistliche und weltliche Kompetenzen sowie lokale und zentrale Instanzen zu vermitteln sind.

Konstitutiv für ein dezidiert evangelisches, theologisch verantwortetes »Kirchenregiment« ist für Schleiermacher – neben einer balanciert verfassten, amtlich-professionellen Organisation – die Wahrnehmung eines »ungebundenen« Impulses, der in der »freien Einwirkung auf das Ganze, welches jedes Mitglied der Kirche versuchen kann«, besteht und ohne den eine »Verbesserung der Verfassung« nicht denkbar ist (Kurze Darstellung, § 312). Diese »freie Geistesmacht«, die Schleiermacher programmatisch am Schluss seiner Ausführungen thematisiert, wird durch theologisch-akademische Lehre und religiöse Publizistik ausgeübt; sie ist darum, stärker noch als das »gebundene Element« der Leitung, auf eine »möglichst unbeschränkte Öffentlichkeit« des religiösen und wissenschaftlichen Austauschs angewiesen (a. a. O., § 328). Die Leitung der Kirche ist demnach gerade in Krisen- und Umbruchzeiten auf eine offene, vielfältige und öffentliche Kommunikation angewiesen; die organisiert-amtlichen Entscheidungen werden durch jene freie Geistesmacht angeregt, interpretiert – und relativiert.

Offenbar bringt sich in dieser Auffassung von Kirchenleitung Schleiermachers spezifisches Verständnis der christlichen Religion zur Geltung: Religion ist ein wesentlich kommunikatives, auf subjektiver Expression und freier Aneignung beruhendes Phänomen wechselseitiger »Mitteilung« und »Darstellung«, das eng mit der Kunst verwandt ist17. Von daher bestimmt Schleiermacher die Methoden der Kirchen- und Gemeindeleitung dezidiert als »Kunstregeln«, deren konkrete Anwendung nicht nur – wie bei »mechanischen Regeln« – Wissen und Übung erfordert, sondern dazu »ein besonderes Talent«, eine unverfügbar subjektive Disposition (Kurze Darstellung, § 265). In ähnlicher Weise ist auch das Medium jenes Leitungshandelns durch die Momente der individuellen Freiheit und ihrer Darstellung bestimmt. Eine sachgemäße Kirchenleitung vollzieht sich für Schleiermacher nicht durch Anweisung oder autoritative Entscheidung, sondern durch »bestimmte Einwirkung auf die Gemüter«, als »Seelenleitung« (a. a. O., § 263)18. Die Kunstregeln der Praktischen Theologie beschreiben kein äußerlich zwingendes, sondern ein gleichsam ästhetisches, auf Stimmigkeit und Überzeugung zielendes Handeln.

Die materialen Zielbestimmungen, denen das kirchliche Handeln nach Schleiermacher unterliegt, sind an den gleichen Grundsätzen orientiert. Wenn es in der »Praktischen Theologie« heißt: »Jeden selbständiger zu machen im ganzen Gebiet seines Daseins, ist die Tendenz der evangelischen Kirche« (a. a. O., 569), so wird hier nochmals der enge Zusammenhang von religiöser, geistiger und politischer Freiheit markiert, wie er sich in Gottesdienst und Seelsorge, aber ebenso im gesellschaftsöffentlichen Handeln der Kirche manifestieren soll. Und deren Leitung kann, so heißt es in der »Kurzen Darstellung«, nur den »Zweck haben, die Idee des Christentums nach der eigentümlichen Auffassung der evangelischen Kirche in ihr immer reiner zur Darstellung zu bringen, und immer mehr Kräfte für sie zu gewinnen« (a. a. O., § 313).

Mit einer solchen, dezidiert ästhetischen und ebenso dezidiert ressourcenorientierten Zielformulierung bezieht sich Schleiermacher offenbar sehr präzise auf den Eindruck der kulturellen Marginalisierung und der organisatorischen Verunsicherung in der Kirche seiner Zeit. Wird die kirchliche Lage in der Gegenwart – mutatis mutandis – ganz ähnlich wahrgenommen, dann sind jene Überlegungen zum Zusammenhang von evangelischer Freiheit, deren öffentlich überzeugender Darstellung, und einer sowohl empirisch wie auch theologisch reflektierten Leitungstheorie für die praktisch-theologische Kirchentheorie von hohem Interesse.

1.5 Gegenstand und Aufbau der Kirchentheorie

Literatur: Breitenbach, Günter: Gemeinde leiten. Eine praktisch-theologische Kybernetik, Stuttgart u. a. 1994. – Preul, Reiner: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin / New York 1997. – Winkler, Eberhard: Gemeinde zwischen Volkskirche und Diaspora. Eine Einführung in die praktisch-theologische Kybernetik, Neukirchen 1998. – Lindner, Herbert: Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u. a. 1994, NA 2000.

Schleiermachers Ansatz, die gesamte akademische Theologie als Theorie einer »zusammenstimmende [n] Leitung der Kirche« zu konzipieren, hat sich weder wissenschafts- noch institutionsgeschichtlich durchgesetzt: Die Kybernetik ist zu einer praktisch-theologischen Subdisziplin geworden, deren Zusammenhang mit der Organisationsgeschichte der Kirche wie mit der systematischtheologischen Ekklesiologie keineswegs selbstverständlich erscheint und die auch nicht ohne Weiteres auf die Fragen kirchlicher Leitungsmedien und -organe zu reduzieren ist. So begreift etwa R. Preul als Gegenstand der »Kybernetik« zwar einerseits nur das »disponierende Handeln«, das durch geeignete Rahmensetzung die verschiedenen kirchlichen Handlungsfelder strukturiert und koordiniert (Preul, 6 f.); andererseits macht seine Kirchentheorie – im Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Bezüge der Kirche – doch auch die »Amtshandlungen« oder die politischen Stellungnahmen zum Thema (vgl. a. a. O., 13 – 17). Praktisch-theologische Theorie der Kirche und Theorie der Kirchenleitung, Kybernetik im weiteren und im engeren Sinne sind offenbar nicht leicht ins Verhältnis zu setzen.

In einer » kybernetischen Situation« (Kunz, 609 f.), in der die gesellschaftliche Stellung der Kirche, ihr öffentliches Profil wie ihre Relevanz für die Lebensführung fraglich erscheinen, scheint Schleiermachers Ansatz, das gesamte Handeln des »Geistlichen« als Leitungshandeln zu konzipieren, erneut an Plausibilität zu gewinnen. Es ist offenbar die ganze, in sich höchst vielfältige Praxis der Kirche, die die »Idee des Christentums nach der eigentümlichen Auffassung der evangelischen Kirche […] immer reiner« oder eben auch unklar und irritierend »zur Darstellung zu bringen« vermag (Kurze Darstellung, § 313). Nicht nur die Predigt19, auch unterrichtliche, seelsorgliche oder administrative Vollzüge vermitteln und prägen stets ein bestimmtes Bild der Kirche; das Handeln wie das Verhalten aller Mitarbeitenden trägt implizit zu ihrem öffentlichen Profil bei und beinhaltet insofern auch eine kirchenleitende Dimension (↗ 2.6.4).

Gerade diese Einsicht eröffnet zugleich die Wahrnehmung von Akten expliziter Kirchenleitung, in denen – wiederum nach Schleiermacher – die »zusammenstimmende« Darstellung der kirchlichen Praxis sowie deren gezielte organisatorische Koordination ausdrücklich in den Vordergrund treten. Hier muss nach den Grundsätzen wie den Instanzen jener »zusammenstimmenden« Leitung gefragt werden sowie danach, wie sich die explizite Leitungstätigkeit zur darstellend-expressiven Dimension aller kirchlichen Praxis verhält. Eine solche Theorie expliziter Kirchenleitung (Kybernetik im engeren Sinne) bildet demnach nicht – wie bei R. Preul – den Ausgangspunkt, sondern – wie etwa bei G. Breitenbach (a. a. O., 236 ff.) – den Zielpunkt einer umfassenderen Reflexion der kirchlichen Gestalt (Kybernetik im weiteren Sinne).

Im Rekurs auf die drei kybernetischen Achsenzeiten liegt es nahe, den sachlichen Zusammenhang zwischen impliziter und expliziter kirchenleitender Praxis bei der manifesten Vielfalt des kirchlichen Lebens zu suchen sowie bei den Auseinandersetzungen und Konflikten, die diese innere Pluralität der evangelischen Großkirchen seit Langem verursacht. Prägen solche Konflikte das Bild der Kirche implizit – und darum umso nachhaltiger – auf allen Ebenen und in allen Bereichen, so wird eine explizite Gemeinde- und Kirchenleitung jene Konflikte in ihrer historischen Genese, ihrer soziologischen wie psychologischen Prägung und nicht zuletzt in ihrer theologischen Bedeutung zu verstehen haben; und sie wird über Verfahren verfügen müssen, um diese Auseinandersetzungen verantwortlich zu »moderieren« (D. Rössler) und auf diese Weise – wenn nicht zu lösen, so doch – zu klären. Angesichts dieser Aufgabenstellung kann die praktisch-theologische Kirchentheorie sich an Schleiermachers Aufbau des theologischen Studiums im Ganzen orientieren und systematisch-prinzipielle, historisch-empirische und schließlich pragmatische Reflexionen unterscheiden (vgl. etwas anders Kunz, 666 ff.).

Die systematisch-prinzipielle Kirchentheorie rekonstruiert zum Einen systematisch-theologische Modelle der Ekklesiologie (↗ 2.1 – 4) in kybernetischem Interesse20. Die exemplarische Auswahl konzentriert sich auf diejenigen Entwürfe, die in der gegenwärtigen Debatte besonders erhellend, auch irritierend wirken. Ein knapper Blick gilt darum der römisch-katholischen Ekklesiologie; weitere ökumenische und internationale Perspektiven wären wünschenswert, können aber aus Platzgründen nicht entfaltet werden.

Zum Anderen muss, wie schon die Konzepte von Lange und Schleiermacher zeigen, eine prinzipielle kybernetische Besinnung auch den Rekurs auf die gesellschaftsstrukturellen Verhältnisse der Gegenwart umfassen (↗ 2.5). Im Anschluss an den gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskurs werden hier vor allem systemisch-soziologische Theorien herangezogen21; psychologische und auch ökonomische Perspektiven treten dagegen in den Hintergrund, weil sie die strukturellen Besonderheiten der kirchlichen Organisation zu wenig berücksichtigen.

Theologische und systemisch-soziologische Theoriebildung wird schließlich in einem praktisch-theologischen Begriff der evangelischen Kirche zusammengefasst (↗ 2.6). Die empirisch sichtbare Kirche lässt sich insofern als »Organisation« begreifen, als ihre soziale Verfassung – spätestens seit 1918 — die inhaltliche Selbständigkeit ihrer Praxis wie auch deren gesellschaftliche Verflechtung zum Ausdruck bringt.

Die Geschichte der theologischen Kirchentheorie, etwa Schleiermachers Hinweis auf die »freie Geistesmacht«, aber auch die soziologische Reflexion zeigen freilich, dass die evangelische Kirche als Organisation nicht hinreichend bestimmt ist. Zu ihrer sozialen Gestalt gehören vielmehr drei weitere, organisationsrelativierende Dimensionen: als »Institution« steht sie für eine gesellschaftlich vorgegebene religiöse Kultur, die theologisch als Ausdruck der organisatorisch unverfügbaren Freiheit des Geistes zu deuten ist. Als »Interaktion« manifestiert sich die Kirche in den gottesdienstlichen Versammlungen wie in den seelsorglichen, diakonischen oder katechetischen Begegnungen, in denen der Glaube unmittelbar ausdrücklich wird. Und als »Inszenierung« ist die Kirche insofern zu beschreiben, als sie den christlichen Glauben, seine inhaltlichen Gründe wie sein gemeinschaftliches Leben ausdrücklich, aber auch beiläufig zu öffentlicher Darstellung bringt. Im Ganzen hat die praktisch-theologische Kirchentheorie die evangelische Kirche daher als eine Organisation zu beschreiben, die den christlichen Glauben gerade darin zur Wirkung und zum Ausdruck bringt, dass sie sich offen hält für die Manifestationen des Glaubens jenseits der Organisation.

In zwei historisch-empirischen Kapiteln, die das Thema von Schleiermachers »historischer Theologie« aufnehmen, sind jene kybernetischen Prinzipien zu konkretisieren und zu bewähren. Gelegentlichen Hinweisen von P. C. Bloth wie von U. Pohl-Patalong folgend22 werden zunächst einige historische Typen der kirchlichen Organisation untersucht, die bis heute strukturell wie im Blick auf verbreitete Bilder ›idealen‹ kirchlichen Lebens wirksam erscheinen. Von besonderem Interesse sind dabei die Parochie, die Landeskirche und der christliche Verein (↗ 3.1 – 3), weil hier die organisationsrelevanten Dimensionen der Mitgliedschaft, der Mitarbeit, der Leitung und der Baulichkeiten eine je in sich geschlossene Gestalt gewonnen haben und auf diese Weise die Organisation, aber auch die Institutionalität, die Interaktion und die Inszenierung der Kirche nachhaltig prägen. Was im binnenkirchlichen Sprachgebrauch unter »der Gemeinde« verstanden wird, lässt sich eher begreifen, wenn die kirchliche Sozialität vor Ort als historisch gewachsene Kombination jener idealtypischen Muster rekonstruiert wird (↗ 3.6).

In einem weiteren, noch stärker exemplarisch verfahrenden Kapitel werden zwei Strukturelemente kirchlicher Organisation, die deren empirische Bestandsbedingungen betreffen, näher betrachtet. Sowohl die Mitgliedschaftsbeziehungen (↗ 4.1) als auch die finanzielle Verfassung der Kirche (↗ 4.2) werden wiederum historisch-typologisch, dazu im Blick auf die vier o. g. Dimensionen kirchlicher Organisation, Institution, Interaktion und Inszenierung untersucht. Dabei kommen auch Entwicklungen wie das Fundraising oder die Frage nach abgestufter Mitgliedschaft in den Blick, die in der gegenwärtigen Debatte eine besondere Rolle spielen.

An der Systemstelle von Schleiermachers »praktischer«, pragmatischtechnischer Theologie kommt in der vorliegenden Kirchentheorie schließlich die Reflexion der expliziten kirchlichen Leitungspraxis zu stehen (↗ 5). Aus der kybernetischen Theoriegeschichte ist hier die Einsicht aufzunehmen, dass als Subjekte gezielter Einflussnahme auf die Gesamtgestalt der Kirche keineswegs nur (Pfarr-)Personen anzusprechen sind23. Auf Gemeinde- wie auf überörtlicher Ebene wird von den Kirchenordnungen vielmehr auch anderen Hauptamtlichen, etwa Juristen oder Verwaltungskräften, vor allem jedoch ehrenamtlich arbeitenden, synodalen Gremien Leitungsverantwortung zugeschrieben. Dies wird in der kirchenjuristischen Literatur regelmäßig, in der praktisch-theologischen Debatte jedoch nur selten gesehen; zuletzt hat G. Breitenbach »presbyteriale«, »episkopale« und »kongregationale« (zu ergänzen sind konsistoriale) Leitungsstrukturen reflektiert (Breitenbach, 311 ff.). Neben den Prinzipien sowie den spezifischen Formen bildet daher eine Betrachtung der Subjekte kirchlicher Leitung den Kern der hier vorgelegten Kybernetik im engeren Sinne (↗ 5.3).

Die Kirchentheorie behandelt nicht nur Methoden, Strukturen und Prinzipien der Leitungspraxis, sondern muss auch die gängigen Begriffe reflektieren, in denen die einschlägige innerkirchliche Verständigung sich üblicherweise vollzieht. Neben der Rede von »der Gemeinde« (↗ 3.6) und »den Mitgliedern« (↗ 4.1.4) ist darum schließlich auch der Begriff der »geistlichen Leitung« zu bedenken (↗ 5.5). Der im Titel des Buches markierte Ansatz bei der »Organisation« wird hier so aufgenommen, dass geistliche Leitung nicht im Gegensatz zur »weltlichen« oder »organisatorischen« Leitung erscheint, sondern vielmehr als eine spezifische Dimension aller kirchlichen Leitungspraxis, die diese – in religiösen Formen wie in theologischer Reflexion – für das Handeln des Geistes offen hält.

Kapitel 2 – Systematische Perspektiven

Literatur: Kühn, Ulrich: Kirche, Gütersloh 1980 (HST). – Preul, Reiner: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin / New York 1997.

Die gegenwärtige kirchentheoretische Debatte zehrt – ausdrücklich oder unbenannt – von einer reichhaltigen Theoriegeschichte. Die leitenden Begriffe, die prägnanten Bilder und selbstverständlichen Zuschreibungen, mit denen die Aufgaben der Kirche für die Einzelnen wie für die Gesellschaft beschrieben werden, verdanken sich dieser Tradition ebenso wie gängige Postulate zu notwendigen Strukturreformen. Die theoriegeschichtlichen Skizzen, die hier in den Kapiteln 2.1 bis 2.4 vorgelegt werden, mögen die gegenwärtige Debatte darum in verschiedener Hinsicht bereichern.

Zunächst soll der exemplarische Rekurs auf reformatorische, neuzeitliche, römisch-katholische und auf aktuelle protestantische Gestalten der Ekklesiologie die Herkunft gängiger Leitbegriffe und -unterscheidungen erhellen und damit zur Präzisierung, auch zur Korrektur des üblichen Sprachgebrauchs beitragen. Sodann sollen einige systematische Ansätze, die wirkungsgeschichtlich besonderes Gewicht bekommen haben, in ihrer Binnenlogik vorgeführt werden. Der normative Anspruch, den jene Ansätze mit sich führen, wird weder bestritten noch schlicht affirmiert; durch die Skizze der jeweiligen Argumentationsstruktur kann vielmehr die Schlüssigkeit ihrer systematischen Konstruktion, ihrer spezifischen Perspektive zur Geltung kommen. Auf diese Weise könnte das Folgende schließlich zur produktiven Irritation beitragen: Die Theoriegeschichte speichert ekklesiologische Argumente, Hinsichten und Fragestellungen, die derzeit zu wenig oder gar nicht im Blick sind.

Auf dem Hintergrund der konflikt-, organisations- und leitungstheoretischen Ausrichtung der vorliegenden Kirchentheorie (↗ 1.2 – 4) wird im Folgenden zunächst nach den sozialen und institutionellen Kontexten und spezifischen Konflikten gefragt, in denen das kirchliche Leben jeweils wahrgenommen wird. Sodann werden die theologisch-normativen Kriterien benannt, denen sich die jeweiligen Aufgaben-und Wesensbestimmungen der Kirche verdanken. Dabei sind die außertheologischen, empirischen bzw. theoretischen Horizonte im Blick zu behalten, die jene Kriterien prägen; und es wird namhaft gemacht, welche Leitungsformen damit in den Vordergrund treten. Zudem wird gefragt, welche organisatorischen Strukturen die Autoren für konstitutiv halten – und inwiefern sich diese Optionen auch tatsächlich realisiert haben. Nicht zuletzt sind auch die Grenzen der jeweiligen systematischen Perspektive zu benennen, wie sie sich in der Rückschau ergeben, wie sie aber gelegentlich auch von den Autoren selbst benannt werden.

Die systematische Rekonstruktion exemplarischer ekklesiologischer Ansätze dient nicht zuletzt der Vorbereitung eines eigenen Vorschlages, ›Kirche‹ praktisch-theologisch zu konzipieren. Mit diesem Ziel wird zunächst eine knappe gesellschaftstheoretische Skizze vorgelegt (↗ 2.5), um die spezifische Perspektive anzudeuten, in der die gegenwärtige Situation der Kirche hier thematisiert wird. Sodann wird die systemische Soziologie nach N. Luhmann und A. Nassehi zur Entfaltung eines praktisch-theologischen Begriffs der kirchlichen Organisation genutzt, der auch die ›Schatten‹, die nicht organisierbaren Aspekte der kirchlichen Sozialgestalt umfasst. Die vier Dimensionen dieses Begriffs – Organisation, Institution, Interaktion und Inszenierung – lassen sich ekklesiologisch wie soziologisch entfalten (↗ 2.6); sie strukturieren die vorliegende Kirchentheorie dann auch in ihren anderen Kapiteln.

2.1 Einsichten der Reformation

2.1.1 Die Kommunikation des Evangeliums als Strukturprinzip der verborgenen und der sichtbaren Kirche – Luther und die Confessio Augustana

Quellen: Luther, Martin: Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen: Grund und Ursach aus der Schrift (1523), WA 11, 408—416; zitiert nach: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. v. K. Bornkamm/G. Ebeling, Bd. 5: Kirche, Schule, Gottesdienst, Frankfurt/M. 1982, 7—18. — Ders.: Von den Konzilien und Kirchen (1539), WA 50, 509—653; Teil 3 zit. nach a. a. O., Bd. 5, 181 – 220.

Literatur: Wendebourg, Dorothea: Kirche, in A. Beutel (Hg.), Luther-Handbuch, Tübingen 2005, 403—414. – Korsch, Dietrich: Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 22007, 103—117.

In der gegenwärtigen Diskussion über die Gestaltung der Kirche wird immer wieder auf Aussagen Martin Luthers und auf die von seiner Theologie bestimmten Sätze der Confessio Augustana zurückgegriffen. Luthers Einsichten wie die einschlägigen Formeln der CA sind darum ausführlicher zu skizzieren. Dabei ist zu bedenken, dass Luther stets angesichts aktueller Herausforderungen und Auseinandersetzungen argumentiert: Die prägnanten Begriffe, Unterscheidungen und Begründungsmuster, die bis heute die kirchentheoretische Debatte prägen, entstammen spezifischen Konfliktlagen. Vor allem zwei Konfliktlinien sind bedeutsam.

Zum Einen reagieren Luthers kirchentheoretische Äußerungen auf den Widerstand, den seine Grundeinsicht, die Rechtfertigung allein durch den Glauben, in der kirchlichen Hierarchie seiner Zeit erfährt. Immer deutlicher ist er überzeugt: Der Anspruch der römischen Kirche, über Leben und Glauben der Einzelnen verbindlich urteilen und ihnen den Zugang zur Gnade Gottes eröffnen oder verweigern zu können, widerspricht der Einsicht in die Zueignung des Heils »sola fide« prinzipiell und darum auch strukturell. Daher sieht sich Luther genötigt, das eigentliche Wesen der Kirche (↗ (a/b)), den Sinn kirchlicher Ämter (↗ (d)) und die Prinzipien der kirchlichen Leitung (↗ (e)) aus dem Wesen des Glaubens heraus zu explizieren.

In dem Maße, in dem jene Einsichten auch zu organisatorischen Veränderungen, zur Bildung reformatorischer Gemeinden und ganzer Territorien führen, sieht sich Luther zum Anderen veranlasst, konkrete Einzelfragen kirchlicher Gestaltung zu bedenken: von der Gottesdienst- und Finanzordnung über die Einsetzung evangelischer Pfarrer und Bischöfe bis zur Kompetenz kirchlicher Aufsichtsorgane. Theologisch zu klären ist dabei jeweils auch die Rolle der politischen Instanzen, der Magistrate bzw. der Fürsten und ihrer Verwaltung. Angesichts der staatlichen Indienstnahme religiöser Institutionen im Landesherrlichen Kirchenregiment, dessen Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart reicht (↗ 3.2), verdienen Luthers Einsichten zur kirchlichen Stellung der ›Obrigkeit‹ besonderes Interesse (↗ (e)).

(a) Das Wesen der Kirche als gottesdienstliche Gemeinschaft

Im Zentrum aller theologischen Lehre steht für Luther bekanntlich die Einsicht, dass die Rechtfertigung des Menschen vor Gott »sola fide« und »solo verbo« geschieht. Die Beziehung zu Gott kann nicht durch irgendwelche menschliche Anstrengung zurechtgebracht werden, sondern das Heil verdankt sich allein dem Handeln Gottes, der den Menschen im Glauben an das Evangelium von Jesus Christus gerecht macht. Dabei versteht Luther den Glauben als ein genuin sprachliches Geschehen: Es ist Gottes Wort, das das Herz des Menschen trifft, es tröstet und vergewissert. Glaube ist dann genauer zu fassen als ein Ineinander von göttlicher Anrede und menschlichem Vertrauen darauf, dass dieses Wort ›mir‹ gilt und ›mich‹ von Sünde, Angst und allen anderen Mächten befreit, die von Gott trennen könnten.

Wird das Heilsgeschehen derart in die Person, in das individuelle Hören und Vertrauen auf das Evangelium verlegt, dann kann die Kirche nicht mehr als hierarchische, ›von oben nach unten‹ gegliederte Institution aufgefasst werden, die Gottes Gnade sakramental wirksam zueignet (oder verweigert). Luther begreift die Kirche vielmehr primär genossenschaftlich: als Gemeinschaft der Glaubenden, als Sammlung oder »Haufen« all der Menschen, die auf das Wort Gottes vertrauen. Von hieraus kann er eine elementare, nicht institutionell, sondern personal akzentuierte Definition formulieren: »Es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ›die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören‹.« 1

Während die römische Lehre von der Kirche ihre religiöse Aktivität, ihre sakramentale Macht betont, den Einzelnen wie der Gesellschaft den Zugang zu Gott zu eröffnen, versteht Luther die Kirche primär als »ecclesia audiens« : Sie entsteht aus der Passivität des Hörens und ist somit von fundamentaler Ohnmacht geprägt. Dabei ist die Kirche – als »creatura Evangelii«2 – nicht nur im Blick auf ihre Entstehung ohnmächtig. Sondern auch dort, wo sie – als »ecclesia docens« – ihrerseits das evangelische Wort verkündigt, hat sie es nicht in der Hand, ob jenes Wort Glauben findet. In genauer Entsprechung zum individuellen Glauben gilt auch für dessen Gemeinschaft, dass sie nicht durch eigene Anstrengung zur »Kirche« werden kann, sondern allein durch Gottes Handeln, der in ihr (und durch sie) Glauben schafft.

Weil Luther die Kirche als eine Genossenschaft von (glaubenden) Personen versteht, benennt er sie gerne mit Sozialbegriffen wie »christliches, heiliges Volk«, »christlicher Haufe« oder »Sammlung«, oder eben »Gemein (d)e«.3 Als »heilige Christenheit« (BSLK, 656) existiert die Kirche in aller Welt; sie ist nicht an einen bestimmten Ort oder eine spezifische Ordnung gebunden. Sie manifestiert sich jedoch vor allem an dem sozialen Ort, an dem der Glauben selbst entsteht und immer neu vergewissert wird: Es sind die konkreten gottesdienstlichen Versammlungen, in denen die Glaubenden »ihres Hirten Stimme hören«. Wenn in CA 7 darum von der Kirche nicht – traditionell – als »communio«, sondern – spezifischer – als »congregatio sanctorum« gesprochen wird, so entspricht dies Luthers ekklesiologischem Grundverständnis: Im Gottesdienst wird deutlich, dass die Kirche ein durch das Wechselspiel von göttlichem Wort und menschlichem Vertrauen konstituiertes kommunikatives Geschehen ist.

(b) Verborgene und sichtbare Kirche

Als Gemeinschaft der Glaubenden verdankt sich die Kirche allein dem Wirken des göttlichen Geistes. Wie und wo dieser Geist wirkt, das ist freilich dem empirischen Urteil verborgen: »Abscondita est ecclesia, latent sancti.« (WA 18, 652) Wenn Luther die Verborgenheit der ›eigentlichen‹ Kirche so sehr betont, dass er gelegentlich von »zwei Kirchen« sprechen kann, nämlich einer »geistlichen, innerlichen Christenheit«, die niemand sieht, und einer »leiblichen, äußerlichen« und darum auch erkennbaren Christenheit 4, so ist das offenbar gegen zwei Seiten kritisch akzentuiert.

Zum Einen widerspricht Luther der »schwärmerischen« Vorstellung einer gleichsam reinen Kirche, zu der – eindeutig erkennbar – nur die wahrhaft Glaubenden gehören (dürfen). Von daher lehnt er jede Form einer Sammlung geistlich Entschiedener ab, die sich als die ›eigentliche‹ Kirche verstehen. Denn ein solcher Anspruch, in der Kirchengeschichte immer wieder erhoben, übergeht die Einsicht, dass überhaupt niemand von sich oder anderen sagen kann, ob er zu den Glaubenden gehört: Wie die Person im Herzensgrund bestimmt ist, das sieht nur Gott selbst; dazu gilt auch und gerade für den Glaubenden, dass er sich immer (nur) als »simul iustus et peccator« verstehen kann.

An der Frage nach dem numerischen Umfang der verborgenen bzw. der sichtbaren Kirche ist Luther daher kaum interessiert; ihn beschäftigt weniger die geistliche Qualität der Mitgliedschaft als vielmehr – zum Anderen – die geistliche Bedeutung ihrer organisatorischen Struktur. Während die römisch-katholische Lehre – bis heute – die rechtlich fixierte Hierarchie der Kirche als wesentlichen Aspekt ihres geistlichen Wesens begreift, so dass die religiöse Vollmacht von Papst und Bischof als »ius divinum« gilt, bestreitet Luther mit dem Hinweis auf die »absconditas« der Gemeinschaft der Glaubenden, dass dem kirchlichen Recht geistlich bindende Autorität zukommt und dass die sichtbare Kirche – sei sie römisch, sei sie protestantisch verfasst – sich als eindeutige Manifestation der »innerlichen Christenheit« begreifen dürfe.

Von hieraus kann Luther die sichtbare Kirche scharfer, teilweise vernichtender Kritik unterziehen; diese Kritik zeigt jedoch zugleich, dass den sichtbaren Strukturen der Kirche selbst eine wesentliche, »geistliche« Qualität eignet. Die »zwei Kirchen« sind in Luthers Sicht keineswegs getrennt, sondern sie bezeichnen, wie die Metaphorik »geistlich/leiblich« erkennen lässt, zwei Aspekte oder Dimensionen der Gemeinschaft der Glaubenden. Die verborgene Kirche markiert jene Gemeinschaft unter dem Aspekt des göttlichen Handelns; (nur) ihr kommen darum die »notae« der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität zu. Die sichtbare Kirche dagegen erscheint als Resultat menschlichen Handelns, das darauf befragt werden kann, wie es sich zu jener geistlichen Wirklichkeit verhält – oder genauer: wie in dieser menschlichsichtbaren Institution die geistliche Kirche selbst zum Ausdruck kommt.

Luther markiert vor allem zwei Bezüge der sichtbaren auf die verborgene Kirche. Zum Einen fragt er: »Woran […] kann doch ein armer, irrender Mensch merken, wo solch christliches, heiliges Volk in der Welt ist?« (WA 50, 628) Wenn der angefochtene Glauben sich nicht mehr in der sakramentalen Institutionalität der (römischen) Kirche bergen kann, dann wird die Frage drängend, wie – und wo – der verunsicherte Mensch Zugang zum Evangelium findet. Luther nennt in diesem Sinne eine ganze Reihe von Kennzeichen, die die reale Präsenz der Gemeinschaft des Glaubens markieren, etwa die Absolution, geordnete Ämter und die Verfolgung, das »Kreuz« der Kirche 5. Zugleich betont er, dass eindeutige Gewissheit nur durch die Predigt des Evangeliums sowie durch die Sakramente zu erlangen ist. Das hör- und sichtbare Wort markiert die verborgene Kirche, denn »Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein […] Wer sollte es sonst predigen oder predigen hören, wenn kein Volk Gottes da wäre?« (WA 50, 629)

Diese und ähnliche Passagen verdeutlichen, dass die äußeren Kennzeichen nicht nur signifikativ auf die Präsenz der geistlichen Kirche verweisen, sondern dass jene Strukturen – zum Anderen – eine kausative oder konstitutive Bedeutung für die geistliche Dimension haben6. Weil Gottes Geist den Glauben durch die Mittel (CA 5: »instrumenta«) des gepredigten und leiblich-sakramentalen Wortes schafft, darum ist dieses von Menschen ausgeteilte Wort notwendige Bedingung für die Entstehung und Erhaltung der Gemeinschaft des Glaubens.

Zusammengefasst ergibt sich für die Gestaltung der sichtbaren Kirche, die allein Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion sein kann, nach Luther: Zwar darf jene Gestaltung nicht darauf zielen, die geistliche Wirklichkeit der Kirche – gleichsam schwärmerisch – sichtbar verwirklichen zu wollen, wohl aber kann und soll die kirchliche Organisation auf ihre geistlich-verborgene Seite verweisen, sie soll jene geistliche Gemeinschaft spiegeln, sie – mit Schleiermacher gesprochen – zur Darstellung bringen.

(c) CA 7 als Grundformel der lutherischen Kirchentheorie

Luthers rechtfertigungstheologischen Einsichten zum Wesen der Kirche sind historisch vor allem dadurch wirksam geworden, dass sie die einschlägigen Aussagen der Confessio Augustana geprägt haben. Insbesondere deren 7. Artikel »De ecclesia« hat, wie D. Rössler bemerkt, »Geschichte gemacht. Er bildet seither den Grundstein der evangelischen Ekklesiologie.« 7 Einige Aspekte dieser ekklesiologischen Basis seien hier markiert. Nach der Versicherung, »quod una sancta ecclesia perpetua mansura sit«, heißt es in CA 7 (BSLK 61) bekanntlich:

»Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.«

Die Kirche wird hier zunächst als »Versammlung« beschrieben; der Gemeinschaft der Glaubenden eignet auch in ihrer geistlichen, ewig bleibenden Dimension eine erfahrbare soziale Gestalt. Diese Gestalt wird freilich nicht, wie im römischen Katholizismus, durch fixierte Institutionen oder besondere Amtsrollen bestimmt, sondern durch eine spezifische Praxis. Auch die beteiligten Personen sind erst und allein durch die praktische Austeilung des Wortes als Glaubende (als »Heilige«) bestimmt; durch inhaltliche Überzeugungen oder individuelle Einstellungen wird die Kirche demnach gerade nicht konstituiert. Konstitutiv ist vielmehr genau dasjenige Geschehen, in dem ihre innere, von Gott gewirkte Seite mit ihrer äußeren, durch menschliche Praxis bewirkten Seite zusammenkommt: CA 7 bezeichnet die Kirche in ihrer verborgenen wie in ihrer sichtbaren Dimension zugleich.

Im Kontext der CA ist jene Praxis durch einen spezifischen inhaltlichen Bezug gekennzeichnet: Das »evangelium« wird in CA 5 als Lehre von der Rechtfertigung »non propter nostra merita, sed propter Christum« präzisiert; die Kirche kommt dadurch und nur dadurch zustande, dass in ihr die Rechtfertigung , wie sie fundamental in CA 4 umrissen wird, situationsgerecht entfaltet und verkündigt wird. Die sichtbare Kirche wird demnach als ein inhaltlich bestimmtes Kommunikationsgeschehen, genauer: als ein Bildungsgeschehen oder eine Bildungsinstitution gekennzeichnet (vgl. Preul, 140 ff. 151 f.).

Die Nennung der Sakramente verhindert dabei, dass die den Glauben ›bildende‹ Kommunikation rein verbal und kognitiv (miss-)verstanden wird. Zur Austeilung des Gotteswortes gehören nichtsprachliche Medien, die ihm eine mit allen Sinnen erfahrbare Gestalt verleihen. Zugleich markieren die Sakramente die konkrete soziale Gestalt der Kirche: Mit der Taufe wird die individuelle Zugehörigkeit, mit der Teilnahme am Mahl wird die leibliche Präsenz in der »Versammlung der Heiligen« und deren Gemeinschaft zur Darstellung gebracht8.

Was die konkrete Ausgestaltung dieser Gemeinschaft betrifft, beschränkt sich CA 7 dezidiert auf eine Art Minimaldefinition. Das betrifft nicht nur die empirische wie die geistliche Verfassung der beteiligten Personen – in CA 8 werden auch »hypocritae et mali« als mögliche Empfangende wie als Austeilende des Wortes genannt. Auch die geistliche Einheit der Kirche bedarf nach CA 7 keiner weiteren Sicherungen:

»Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique similes esse traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutas […].«

Dass »menschliche Traditionen« oder »Zeremonien« für die kirchliche Einheit keine konstitutive Bedeutung haben, richtet sich im zeitgenössischen Kontext gegen den religiösen Herrschaftsanspruch des römisch-katholischen (Kirchen-) Rechts. Die knappe Formel »satis est« kann aber, wie ihre Wirkungsgeschichte zeigt, auch positiv verstanden werden9, nämlich als Eröffnung einer außerordentlichen Freiheit zur kirchlichen Selbst-Gestaltung, in der sich wiederum die Welt gestaltende Freiheit des Glaubens selbst spiegelt. Weder bestimmte Traditionen, seien sie noch so ehrwürdig, noch spezifische Rituale und andere Vollzüge, seien sie noch so eindrücklich und wirkungsvoll, gehören notwendig zur sozialen Gestalt der Kirche.

Vielmehr ist ihrer verantwortlichen Gestaltung kein anderes Kriterium vorgegeben als die Sorge um die inhaltliche Klarheit und die kommunikative Zugänglichkeit desjenigen Wortes, durch das Gott den Glauben – und damit die Gemeinschaft des Glaubens – schafft. Eben diese ›minimalen‹ äußerlichen Bedingungen der Glaubenskommunikation werden in der CA, aber auch bei Luther selbst immer wieder zum Thema, und zwar unter dem Stichwort des »ministerium verbi«.

(d) Allgemeines Priestertum und kirchliches Amt

Die Frage nach einem evangelischen, der Rechtfertigung allein durch das Wort entsprechenden Verständnis des kirchlichen Amtes hat Luther prägnant beantwortet anlässlich eines konkreten Konflikts um das Recht der Stadtgemeinde Leisnig, sich selbständig, ohne die Zustimmung des kirchlichen Patronats einen Pfarrer zu wählen. Die diesbezügliche Schrift von 1523 beginnt mit dem Hinweis, die christliche Gemeinde sei »mit Gewissheit« daran »zu erkennen, dass da das reine Evangelium gepredigt wird« (Dass eine christliche Versammlung, 8), und zitiert im Folgenden wiederum Joh 10:

»›Meine Schafe kennen meine Stimme‹; ferner ›Meine Schafe folgen den Fremden nicht, sondern fliehen vor ihnen […]‹. Hier siehst du ganz klar, wer das Recht hat, über die Lehre zu urteilen: Bischof, Papst, Gelehrte und jedermann hat die Vollmacht zu lehren, aber die Schafe sollen urteilen, ob sie die Stimme Christi oder die Stimme der Fremden lehren.« (9 f.)

Wird die Gemeinde durch die Kommunikation des Evangeliums begründet, das bei den Einzelnen Glauben findet, so ist die Existenz einer Gemeinde nicht denkbar ohne individuelle Aneignung, ohne das je eigene »Urteil« der Hörenden, dass sie hier in der Lehre der Predigt tatsächlich die (Glauben wirkende) Stimme Christi gehört haben.

Die Einsicht in die Konstitution der Gemeinde durch die religiöse Stellungnahme jedes Einzelnen wendet Luther zunächst kritisch gegen »alle Bischöfe, Stifte, Klöster, hohe Schulen mit ihrer ganzen Körperschaft«, insofern »sie das Urteil über die Lehre den Schafen auf schamlose Weise wegnehmen und sich selber aneignen« (a. a. O., 10): Die hierarchischen Instanzen bedrohen die Selbständigkeit des Glaubens, weil sie die objektive Geltung ihrer Lehre vor und ungeachtet aller subjektiven Anerkennung behaupten. Diese Anmaßung macht sie gänzlich untauglich; eine Gemeinde, in der das Evangelium gepredigt wird, hat diese Autoritäten »zu meiden, zu fliehen, abzusetzen« (12).

Gleichwohl ergibt sich aus der kommunikativen Struktur der Kirche, »dass sie ja dennoch Lehrer und Prediger haben müssen, die das Wort ausrichten« (12). Dieses Wortamt kommt zunächst und bleibend allen Christen zu. Luther greift zur Begründung auf die neutestamentliche Figur des Priestertums aller Glaubenden (vgl. etwa 1. Ptr 2,5.9; Apk 1,6; 20,6) zurück und wendet sie kritisch gegen das Priestertum seiner Zeit10: Nicht etwa der bischöflich geweihte Amtsträger eröffnet den Einzelnen den Zugang zu Gott, sondern durch die Taufe sind alle Christen beauftragt, vor Gott bittend für Andere einzutreten und vor den Menschen das Wort Gottes nicht nur zu beurteilen, sondern »es zu bekennen, zu lehren und auszubreiten« (13). Damit wird die Austeilung des Wortes zur »Lebensaufgabe jedes einzelnen Christen. Alle treiben je an ihrem Ort das Predigtamt; das gilt namentlich für Eltern und Schulmeister und ganz besonders für die Hausväter, die ihre Kinder und ihr Gesinde anhand des Katechismus unterweisen.« (Preul, 105)

Zugleich hält Luther im Blick auf die öffentliche, d. h. der ganzen Gemeinde geltenden Verkündigung des Wortes die Einsetzung besonderer Amtsträger für erforderlich, ja für kirchlich konstitutiv. Dafür gibt er immer wieder zwei einander ergänzende Begründungen, wie sie besonders prägnant in »Von den Konziliis« formuliert sind:

»Man muss Bischöfe, Pfarrer oder Prediger haben, die öffentlich und gesondert die […] Heilsmittel geben, reichen und üben, wegen der Kirche und in ihrem Namen, viel mehr aber wegen der Einsetzung Christi, wie Paulus Eph 4,11 sagt […]. Denn der Haufen im Ganzen kann das nicht tun, sondern sie müssen es einem anbefehlen oder anbefohlen sein lassen. Was sollte sonst werden, wenn jeder reden oder die Sakramente reichen und keiner dem anderen weichen wollte.« (Von den Konziliis, 194)