Kiss of Nightmares - Laura Nick - E-Book

Kiss of Nightmares E-Book

Laura Nick

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Beschreibung

Willkommen an der Night Academy

Nach dem mysteriösen Tod ihrer Eltern besitzt die junge Vampirin Mina nichts mehr – keine Familie, kein Zuhause, keine Zukunft. Auf der Suche nach sich selbst begegnet sie dem ebenso rätselhaften wie verwirrend anziehenden Oliver, der ihr einen Platz an seiner Night Academy anbietet. Doch die altehrwürdige Universität nahe der schottischen Grenze wird von Vampiradligen regiert, die Machtkämpfe untereinander austragen. Als Mina zwischen die Fronten gerät, muss sie bald erkennen, dass ihre Rolle in den Konflikten größer ist, als sie glaubt – und dass der charismatische Oliver der Letzte ist, an den sie ihr Herz verlieren sollte.

Urban Fantasy im ländlichen Großbritannien. 

//"Kiss of Nightmares" ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Das Buch

Nach dem mysteriösen Tod ihrer Eltern besitzt die junge Vampirin Mina nichts mehr: keine Familie, kein Zuhause, keine Zukunft. Doch ihr Erwachen steht kurz bevor und ohne Hilfe ist ihr Leben in Gefahr. Da begegnet sie dem ebenso rätselhaften wie verwirrend anziehenden Oliver, der ihr einen Platz an seiner Night Academy anbietet. Doch die altehrwürdige Universität nahe der schottischen Grenze wird von rivalisierenden Vampirfamilien regiert. Als Mina zwischen die Fronten gerät, muss sie bald erkennen, dass ihre Rolle in den Konflikten größer ist, als sie glaubt – und dass der charismatische Oliver der Letzte ist, an den sie ihr Herz verlieren sollte.

Dark Academia trifft auf Vampire

Die Autorin

© Privat

Laura Nick wurde März 1995 inmitten des Ruhrpotts geboren. Jedem, der sie hören wollte – oder auch nicht –, erzählte sie Geschichten über fantasievolle Abenteuer und Liebe. Die allerersten eigenen Zeilen brachte sie nach ihrer Ausbildung zur Schilder- und Lichtreklameherstellerin, im Laufe des Fachabiturs für Gestaltung zu Papier. Sie ist aktives Mitglied im PAN e.V. und setzt sich gemeinsam mit dem Verein für die deutsche Phantastik in der Buchbranche ein. Mittlerweile lebt, liest und arbeitet Laura Nick mit ihrem Ehemann in Niedersachsen, nahe dem Meer und der niederländischen Grenze.

Laura Nick auf Instagram: https://www.instagram.com/laura_nick.autorin/?hl=de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Laura Nick

Kiss of Nightmares

Loomlight

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.

Auf der vorletzten Seite findest du eine Themenübersicht,

die Spoiler für die Geschichte beinhaltet.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese

Warnung liest.

Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!

Laura Nick und das Loomlight-Team

Für all jene, die in der Dunkelheit glaubten,

dass sie allein sind.

Ihr strahlt heller als jeder Stern am Himmel.

Playlist

Monsters – All time low ft Demi Lovato & Blackbear

House of Memories – Panic at the Disco

Boyfriend – Dove Cameron

Play God – Sam Fender

Broken Glass – Kygo & Kim Petras

Call Me – Gabry Ponte, R3HAB, Timmy Trumpet

Teeth – 5 Seconds of Summer

Rapunzel – Emlyn

Darkside – Neoni

Middle of the Night – Loveless

E.T. – Katy Perry

Dark Horse – Katy Perry

Insanity - Anna Sophie

Play God – Sam Fender

Joke’s on you – Charlotte Lawrence

Kapitel 1

Mina

»Ey!« Mit geballten Fäusten schlug ich gegen die Metalltür. Dahinter wummerten melancholische und hypnotisierende Bässe, die selbst den Boden unter meinen Füßen beben ließen. Diese Musik klang nach jeglichem Klischee, das je in schmalzigen Vampirfilmen bedient wurde. Aber genau dieser Club sollte laut dubiosen Websites der Treffpunkt für Nachtwesen sein. Erneut hämmerte ich dagegen. »Macht die verdammte Tür auf!«, schrie ich und klopfte weiter, in der Hoffnung, den Türsteher dazu zu bringen, sie wieder für mich zu öffnen. Nachdem er sie mir rüde vor der Nase zugeschlagen hatte, weil ich das blöde Passwort nicht kannte.

Abgesehen von den Bässen, blieb es hinter der Tür still. Erschöpft verharrte ich in meiner Position. Presste die Fäuste gegen das eiskalte Metall. Regen prasselte auf das kurze Vordach, unter dem ich stand.

Dieser Club war meine letzte Chance. Der letzte Hinweis, den meine Recherche zutage gefördert hatte. Ich ließ den Kopf hängen. »Verdammt«, zischte ich und rammte die linke Faust noch einmal heftig gegen die Tür, sodass ich die Vibration bis ins Schultergelenk spürte. Meine Finger schmerzten.

Resigniert glitten meine Fäuste am Metall hinab. Feine Splitter gruben sich in die Handballen. Unter der durchweichten Jacke waren meine Schultern zentnerschwer. Das Wetter in London war zum Kotzen und zeigte mir grinsend den Mittelfinger. Die nasse Kälte biss unter der Regenjacke in meine Haut und ließ mich frösteln.

Ich sah an der Fassade des Hauses hinauf. Begutachtete jedes der diffus beleuchteten Fenster. Rötliche Lichter flackerten hinter den dünnen Vorhängen, auf denen Schatten tanzten.

Die Verzweiflung vermischte sich mit der Wut, die ich seit Jahren schon in mir trug, und die mit jedem Tag greifbarer geworden war. Ich presste die Zähne aufeinander. Diese Schatten besaßen mit großer Wahrscheinlichkeit die Antworten, die ich brauchte. Sie wussten, was ich war — zu was ich werden würde. Statt die Verzweiflung zuzulassen, die seit dem Vorfall jeden Tag weitere Wurzeln schlug, befeuerte ich die Wut. Sie war leichter zu ertragen als die Panik, die mich allmählich verzehrte.

So lange Zeit war ich wegen ihnen im Dunkeln getappt. Sie hatten mir auf meine Fragen nur ein vermeintlich liebevolles »später« ins Haar geraunt. Als ob uns zu viel Zeit zur Verfügung stünde. Und jetzt stand ich hier. Komplett durchweicht vom Regen, in einer Jacke, die in den Müll gehörte, und vollkommen ahnungslos.

Ich lehnte mit der Stirn an der Metalltür. »Verflucht, verflucht, verflucht!«, brach es aus mir heraus. In einer geschmeidigen Bewegung holte ich aus und trat gegen die Tür. Schmerz rollte von meinen Zehen bis zur Hüfte. »Fuck!«, schrie ich und hüpfte auf der Stelle. Zischend sog ich Luft zwischen die Lippen.

Die Tür wurde aufgerissen. »Mädchen! Sieh zu, dass du endlich von hier verschwindest«, grollte der Türsteher. Mit seiner tiefen Stimme klang er wie ein anrollendes Gewitter. Seine riesigen Proportionen füllten den gesamten Türrahmen. Er trug eine altmodische Melone, die seine kleinen, tiefgelegenen Augen in Finsternis hüllten. Das weiße Hemd spannte über dicken Armen.

Wie eine Ertrinkende jagte ich auf die Öffnung zu, umklammerte mit eisigkalten Fingern seine Weste. »Ich weiß, dass darin Wesen der Nacht sind!«, sprudelte es aus mir heraus. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Bitte, bringen Sie mich zu jemandem, mit dem ich reden kann!«

Ich wusste nicht, inwieweit die Wesen der Albträume von Menschen zu unterscheiden waren. Falls dieser Kerl ein Mensch war, hielt er mich sicherlich für eine Irre – vollkommen zu Recht. Ich erkannte mich selbst nicht einmal mehr wieder. Sein Blick war im Schatten des Hutes und dem diffusen Licht des Eingangsbereiches nicht zu deuten. Doch wenn er ein Nachtwesen war, würde er es verstehen.

Seine Lippen verzogen sich zu einer Mischung aus Skepsis und Mitleid. Eine Mimik, die ich in den letzten Wochen zu häufig erntete. »Egal, was du genommen hast, Mädchen, geh nach Hause«, riet er mir.

Ernüchterung breitete sich in mir aus. »Ich bin keine …« Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Ein heftiger Stoß gegen die Brust und ich verlor das Gleichgewicht. Hilflos ruderte ich mit den Armen, ehe ich nach hinten stolperte und schmerzhaft auf die Stufen stürzte, die zurück auf den Gehweg führten. Trotz meines Gewichts hatte der Kerl die Tür zugeschlagen.

»Fuck! … Arschloch«, zischte ich und presste die Hand gegen die pochende Stelle am Steißbein.

Der Kloß in meiner Kehle wurde gefährlich schwer. Ich zwang mich, die aufkochenden Tränen herunterzuschlucken. Sie für mich zu behalten. Der Club war meine letzte Hoffnung gewesen. Davor hatte ich acht weitere in und um London abgegrast. Hatte mein weniges Erspartes aufgebraucht, um mir die Zug- und Taxifahrten zu leisten. Und jetzt hockte ich dennoch ohne Antworten auf der Straße.

Regen prasselte auf mich herab. Meine Haare klebten platt und feucht an der Haut. Wenn ich hier ausharrte, würde der Besitzer früher oder später die Polizei rufen, um mich zu entfernen. Seufzend rieb ich mir über die Stirn. Die letzten Male hatte ich Glück, dass ich mit einer Verwarnung davongekommen war. Doch bei dem katastrophalen Tag heute wollte ich diese Glückssträhne herausfordern.

Mit einem sehnsuchtsvollen Ziehen betrachtete ich die Schatten, die sich hinter den Fenstern bewegten. Nur ein Wesen – ein einziges –, das mir Gehör schenkte. Mehr wollte ich doch gar nicht.

Blinzelnd starrte ich in den dunklen, verhangenen Himmel. Wie Splitter fielen die Regentropfen auf meine Wangen, vermischten sich mit Tränen, die ich nicht länger zurückhalten konnte. Ich schloss die Augen. Wie sollte ich nur weitermachen? Wie sollte ich die nächsten Tage planen – die kommenden Monate – wenn ich nicht einmal mehr wusste, wie viel Zeit mir noch blieb? Diese dunkle Bedrohung war wie ein schwarzes Loch, dem ich mich unweigerlich näherte und vor dem es kein Entrinnen gab.

»Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen«, murmelte ich und sah in Richtung des pechschwarzen Himmels. Regungslos wartete ich. Auf irgendein Zeichen. Spürte jeden verfluchten Regentropfen auf meiner Haut. Doch nichts passierte. »Wirklich? Nicht einmal ein bisschen?«, fragte ich, obwohl mir klar war, dass der schwarze Nachthimmel keine Antworten bereit hielt.

Seufzend richtete ich mich auf, stapfte die Treppe hoch zur Straße. Alles in mir sträubte sich, den Rückzug anzutreten. Mir blieb nur leider nichts anderes übrig. Ich war am Ende. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. In wenigen Monaten würde ich mit großer Wahrscheinlichkeit sterben. Weil ich nichts von dem wusste, was auf mich zukommen würde.

Stumm verfluchte ich die Personen, die mein Universum gewesen waren. Die mich verlassen hatten, ehe sie mir Antworten gaben, um die ich tausendmal gebeten hatte. Nichts als Erinnerungen waren von ihnen übrig. Trauer schwelte unter dem Kummer und schien eins mit ihm zu werden. Mir war es nicht möglich, nur eins der beiden zu fühlen. Sie waren wie Pech und Schwefel. Einmal miteinander vereint, waren sie untrennbar.

Ich vergrub die Hände tiefer in die Taschen meiner nassen Jacke und stapfte über die feuchte, leere Straße. Keine Betrunkenen staksten durch die Gassen. Bei dem Wetter trauten sich nicht einmal die streunenden Katzen hinaus.

Obwohl der Club einen eher fragwürdigen Ruf besaß, lag er in einer der vornehmeren Gegenden Londons. Niemand erwartete hinter den eisernen Zäunen und den hübschen Einfamilienhäusern Wesen, die sonst nur in Schauermärchen vorzufinden waren. Neben mir flackerte eine der altmodischen Laternen, die für das Viertel typisch waren. Eiskalter Wind zog durch die schmalen Gassen zwischen den Häusern, die in die Hintergärten führten. Gänsehaut rieselte über meinen Körper. Ich hob den Kragen der Jacke in der Hoffnung, dass mich das etwas vor dem Wind schützte, nur um mir einen Schwall Regenwasser in den Nacken zu schütten. »Danke«, maulte ich.

Neben mir erklangen die Geräusche eines herannahenden Elektromotors, die ich ignorierte. Zwar hatte ich keine Lust, durch diesen monsunartigen Regen nach Hause zu laufen, aber per Anhalter zu fahren, kam für mich nicht infrage und ein Taxi konnte ich mir nicht leisten.

Das Fahrzeug drosselte das Tempo. Ich warf einen Blick über die Schulter. Es war ein deutscher SUV, der gepflegt und teuer aussah. Und der hartnäckig an meinen Fersen klebte. Ein Knäuel breitete sich in meinen Magen aus, das mir Unwohlsein verursachte. Hastig sah ich wieder nach vorn und beschleunigte die Schritte. Ich zog die Schultern hoch, als könnte mich das vor dem Blick des Fahrers verbergen.

Gedanklich überprüfte ich den vor mir liegenden Weg. Hier gab es nirgendwo eine Fußgängerzone, sodass ich den Wagen nicht abschütteln konnte. Bemüht unauffällig sah ich mich nach einem Versteck oder einer Fluchtmöglichkeit um, doch nichts. In dieser Gegend Londons gab es nur ordentlich gestutzte Vorgärten und gepflegte Häuserreihen.

Warum musste immer mir so was passieren? Vor meinen Augen sah ich bereits die Schlagzeilen: Unbekannte junge Frau ermordet in der Themse aufgefunden.

In den Taschen ballte ich die Hände zu Fäusten. Vielleicht fuhr der Fahrer nur wegen des Wetters so langsam. Eventuell hatte er sich verfahren, redete ich mir zu und glaubte doch kein einziges Wort. Im Hintergrund hörte ich, wie eine Fensterscheibe heruntergelassen wurde. Ich schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel – oder meinetwegen gen Hölle, solange mir die Antwort wohlgesonnen war.

»Ms Morgan?«

Überrascht hielt ich inne. Mit geweiteten Augen sah ich über die Schulter zum Fahrzeug. Auf dem Rücksitz saß ein junger Mann, der mich anstarrte.

Für einen Moment überlegte ich, ihn zu ignorieren. Mein Tag war beschissen genug. Durch die Dunkelheit und den Regen war sein Gesicht nur teilweise vom Licht im Inneren des Wagens erhellt. Einzig seine extrem hellen Haare, die blasse Haut und seine eher aristokratisch geschnittenen Züge waren zu erkennen.

»Sie sind doch Ms Morgan, oder nicht?«, fragte er, als ich bloß zurückstarrte, ohne zu antworten.

Ich drehte mich gänzlich in seine Richtung. Versuchte, einen deutlicheren Blick auf ihn zu erhaschen. Niemand in der Menschenwelt kannte mich. Mir fehlten Pass, Schulbildung, einfach alles. Woher kannte er also meinen Namen? »Wer sind Sie?«, stellte ich die Gegenfrage und wich vorsorglich einen Schritt zurück.

»Ich heiße Oliver Williams und würde Ihnen gern ein Angebot unterbreiten.«

»Whoa«, kam es verwundert über meine Zunge, ehe ich mich stoppen konnte. »Sorry, aber dafür stehe ich definitiv nicht zur Verfügung«, erklärte ich, zog die Jacke enger um meinen Körper und drehte mich weg.

»Das missverstehen Sie«, warf er erbost ein, als wäre der Gedanke abstoßend – na, danke. »Steigen Sie zu mir in den Wagen und ich werde Ihnen alles Weitere erläutern, während wir Sie zu Ihrer Wohnung fahren.«

Noch immer verwundert drehte ich mich wieder zu dem Kerl um. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder wütend werden sollte angesichts solcher Dreistigkeit. »Glauben Sie ernsthaft, dass ich zu jemand Wildfremdem ins Auto steige?«, fragte ich. Hörte er sich überhaupt selbst zu?

»Hier drin ist es trocken«, argumentierte der Mann und machte eine Geste in den inneren Wagenraum.

Glaubte er wirklich, ich fiel darauf herein? »Meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich nicht in die Fahrzeuge Fremder einsteigen soll«, ratterte ich runter und drehte mich erneut weg, um schnellstmöglich aus dem verflixten Regen zu kommen. »Und Sie kenne ich nicht.«

»Aber ich kannte Ihre Mutter.«

Kapitel 2

Mina

Die Worte waren wie ein Lasso, das er um meine Hüfte warf. Meine Füße verharrten an Ort und Stelle, während ich mich langsam zu dem Mann umwandte. »Was?«

»Ich kannte Ihre Mutter. Zwar würde ich nicht so weit gehen und sagen, dass wir Freunde waren, aber, bevor sie sich dazu entschloss, den Vampiren ihrer Welt den Rücken zu kehren, verbrachten wir einige Zeit miteinander«

Stumm verharrte ich im Regen. Mein Hirn verarbeitete die neuen Informationen wie Steine, die in ein Mahlwerk geworfen wurden. Er kannte meine Mutter. Als sie noch bei den Vampiren gelebt hatte. Auf offener Straße posaunte er das V-Wort hinaus, als sei es vollkommen normal, von »Vampiren« zu sprechen. Mein Herz polterte. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber mir hatte es die Sprache verschlagen. Dieser Mann war all das, was ich mir vor wenigen Minuten noch gewünscht hatte.

»Was ist nun?«, holte er mich in die Realität.

Meine Möglichkeiten waren rar. Ich könnte gehen. Diesem Kerl, der scheinbar all das war, was ich unbedingt brauchte, den Rücken kehren und versuchen, auf dem bisherigen Weg Informationen zu bekommen. Oder ich setzte mich in dieses verfluchte Auto und gab ihm einen Vertrauensvorschuss, den ich hoffentlich nicht mit dem Leben bezahlen würde. Nervös trat ich einen Schritt zurück. Ich warf einen Blick über die Schulter, doch hinter mir hatte sich in der Zwischenzeit leider kein Fluchtweg materialisiert, der mich schleunigst nach Hause brachte.

»Wir können reden, wenn Sie in dieses Auto steigen«, lockte Oliver Williams – falls das sein richtiger Name war.

»Was ist, wenn ich nicht in den Wagen möchte?«

Er seufzte. »Das wäre bedauerlich. Ich habe absolut nichts für Regen übrig und noch weniger schätze ich es, sturen Frauen hinterherzurennen, die nicht willens sind, an ihre Zukunft zu denken, selbst wenn sie Charlotte Davies’ Töchter sind.«

»Was wollen Sie denn bitte über meine Möglichkeiten wissen?«, fuhr ich ihn an.

»Ich weiß, dass Sie niemanden mehr haben. Sie besitzen keinerlei Kontakte zu Wesen. Und die einzige menschliche Verbindung ist ihre Mitbewohnerin. Diese kann Ihnen sicherlich nicht bei Ihrem Erwachen helfen – zumindest nicht so, wie ich es könnte.« Er grinste mich an, wobei selbst im Dunkeln zu sehen war, wie sich seine spitzen und scharfen Reißzähne über seine verlockende Unterlippe schoben.

»Sie sind ein Vampir«, stellte ich wenig geistreich fest.

»Ja, genauso wie Sie bald einer werden – vorausgesetzt, Sie überleben das Erwachen.«

Bei seinen Worten wurde der Kloß in meiner Kehle erschreckend schwer. Zwar hatte ich gewusst, dass nicht alle Vampire das Erwachen überlebten, aber es ausgesprochen zu hören, machte mir erst bewusst, wie tief in der Scheiße ich steckte.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen.« Er deutete erneut in das Innere des Fahrzeugs.

Seit dem Tod meiner Eltern suchte ich verzweifelt jemanden, der mich unter die Fittiche nahm, um endlich zu lernen, was auf mich zukommen würde. Mich vorzubereiten. Etwas, das meine Eltern versäumt hatten. Lieber taten sie so, als seien sie Menschen und als existierte ihre Vergangenheit nicht. Dennoch war dieser Mann ein Fremder. Einer, der meinen und den Namen meiner Mutter wusste, obwohl ich kein einziges Wort zuvor mit ihm gewechselt hatte.

»Woher wissen Sie, wer ich bin?«

»Ich habe nach Ihnen gesucht, nachdem der Unfall Ihrer Eltern bekannt geworden ist.«

»Okay«, stieß ich lang gezogen hervor, noch immer nicht überzeugt. Meine innere Stimme riet mir, zu verschwinden. Den Mann stehen zu lassen und nach Hause zu gehen, solange ich es konnte. Aber der Drang, endlich dieses Wissen zu erhalten, war stärker. Ohne ein weiteres Wort ging ich um das Auto herum. Ich schluckte die aufkommende Angst hinunter und öffnete die Tür, um dann in den weichen, ledernen Autositz zu fallen.

Ein angenehmer hölzerner Duft hüllte mich ein, als ich die Tür schloss. Die Heizungsluft waberte in dem engen Raum und kroch sofort in meine erkaltete Haut, wodurch mir erst bewusst wurde, wie durchnässt ich war. Ein Seufzer der Erleichterung entwich mir und unwillkürlich sank ich tiefer in den Sitz.

Im Licht des Wagens erkannte ich Oliver Williams’ Züge erst richtig. Dichte Wimpern umschlossen seine tiefdunklen Augen, die mit einem intensiven Blick auf mir ruhten. Ich schaffte es nicht, mich abzuwenden. Es war, als wollte er mein Innerstes offenlegen. Als hielte er mich fest in seinen Händen, während er immer tiefer drang.

Er war der Erste, der sich abwandte. Und da merkte ich, dass ich bei der Betrachtung vergessen hatte, die dringend benötigte Luft einzuatmen.

»Fahren Sie zu ihrer Wohnung«, wies Oliver Williams den Chauffeur an.

Bemüht unauffällig fing ich wieder an zu atmen, um mein Hirn mit Sauerstoff zu versorgen. »Woher wissen Sie, wo ich wohne?«, fragte ich vorsichtig. Instinktiv presste ich mich gegen die Verkleidung der Tür.

»Ich habe doch gesagt, dass ich Sie gesucht habe«, sagte er, als würde das alles erklären.

Was es nicht tat. Für die Menschen existierte Mina Morgan nicht. In dieser Welt war ich ein Geist, genauso wie in der der Nachtwesen. Manchmal mutmaßte ich, dass meine Eltern hatten vertuschen wollen, dass es mich gab.

Statt in dem Sumpf aus Gedanken zu dümpeln, konzentrierte ich mich auf diesen unbekannten Wohltäter. Mir gelang es, seinem Blick zu begegnen und ihn ebenfalls einer Begutachtung zu unterziehen. Äußerlich betrachtet konnte er nicht viel älter als ich sein, vielleicht Mitte zwanzig. Doch er war ein Vampir und der Eindruck konnte täuschen. Seine blonden Haare waren so hell, wie ich sie bisher kaum bei irgendjemandem gesehen hatte. Sie gingen fast ins Weiße, wobei sie kein bisschen künstlich wirkten. Er trug sie ordentlich gescheitelt, nur ohne die Pomade, die in höheren Kreisen so beliebt war. Stattdessen kräuselten sie sich in leichten Locken um die Ohren, was ihn wärmer wirken ließ. Ein feiner, dunklerer Bartschatten zierte sein kantiges Gesicht und betonte die ausgeprägten Wangenknochen. Der Bart machte ihn irgendwie rau und wild; mit seinen aristokratischen Zügen eine unwiderstehliche Mischung, wie ich zu meiner Schande eingestand.

»Was für ein Angebot wollen Sie mir machen?«, fragte ich, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren.

»Sie kommen direkt zur Sache. Ein Zug, den ich zu schätzen weiß«, bemerkte er und schenkte mir ein Lächeln, das an Überheblichkeit nicht zu übertreffen war.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Also?«, bohrte ich weiter.

»Ich biete Ihnen etwas, das Ihre Eltern offensichtlich verpasst haben: Wissen.«

Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Offensichtlich?«, wiederholte ich.

»Würden Sie mehr Kenntnisse von der Gesellschaft haben, in die Sie unbedingt wollen, wüssten Sie, dass Sie nicht wie ein Troll gegen Clubtüren hämmern müssten, um sich Gehör zu verschaffen – wobei das auch nicht funktioniert hat, oder?«

»Nicht wirklich. Nein«, gab ich zähneknirschend zu und schluckte die Frage, ob Trolle existierten, hinunter.

Seine herablassende Art irritierte mich. Oliver Williams hatte einen Ton und die Ausstrahlung, die deutlich machten, dass er sich seiner Wirkung auf andere bewusst war und dies unter jeglichen Umständen zum eigenen Vorteil nutzen würde.

»Und inwiefern bieten Sie mir dieses Wissen an?«

Er zog aus seinem feinen, hellgrauen Sakko eine Broschüre, die er mir reichte. »Mit einem Vollstipendium an der Night Academy. Dort lehren wir Sie alles, was Sie im Umgang mit sich selbst, Ihrem Erbe und anderen Nachtwesen wissen müssen.«

Eher halbherzig griff ich nach der Broschüre, obwohl mich das Gefühl überfiel, als hielte er mir eins der raren Tickets für Willy Wonkas Schokoladenfabrik entgegen. Vorne prangte ein riesiges Schloss, das auf einem gepflegten Grundstück mit Ställen stand. »Warum sollten Sie das tun?«, erkundigte ich mich. Das Zittern meiner Hände, mit denen ich die Broschüre fest umklammerte, konnte ich kaum unterdrücken. Hoffentlich dachte Williams, dass es von der Kälte herrührte und nicht von der Erleichterung, die mich plötzlich ausfüllte.

Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Mann, der mir dieses verlockende Angebot machte und so mit einem Schlag all meine Sorgen in Luft auflöste.

»Ich schulde Ihrer Mutter etwas«, sagte er nach einer kurzen Bedenkzeit, als hätte er sich die Worte noch zurechtlegen müssen.

»Inwiefern kannten Sie sie?«, fragte ich und studierte seine Mimik. Er starrte die Zwischenwand vor sich an. Als wolle er meinem Blick ausweichen.

Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, was meine Aufmerksamkeit auf die verführerisch nackte Stelle zwischen dem dunkelgrünen Hemd und seinem Hals lenkte. Er holte tief Luft, und erst dann richtete er sein Augenmerk wieder auf mich. Hastig hob ich den Blick. Seine Augen waren so dunkel, dass sie in dem diffusen Licht wie Kohlestücke wirkten. Wie wogende, schwarze Löcher, die mich nicht mehr losließen. Ihre Düsternis hüllte mich ein und weckte etwas, das lang geschlummert hatte. Eine Empfindung, die ich zuvor nie hatte. Ein verdammt beunruhigendes Gefühl. Unbewusst drängte ich mich enger an die Tür, sodass ich beinahe Teil der Verkleidung wurde.

»Sie stellen viele Fragen.«

»Sie haben selbst gesagt, dass ich offensichtlich nicht viel weiß«, entgegnete ich. »Ich versuche bloß, meine Defizite auszugleichen.«

Er hob eine seiner markanten Augenbrauen, die im Gegensatz zu seinen Haaren eher dunkel waren und denen seines Bartes glichen. Sein Blick lag auf mir. Als würde er abzuschätzen versuchen, wie ernst ich die Worte meinte. Er griff in sein Jackett und förderte ein weiteres Blatt zutage, das er mir reichte.

Auf dem Foto erkannte ich meine Mutter sofort. Ihre hellen, braunen Locken, um die ich sie so oft beneidet hatte. Die großen, blauen Augen. Doch statt der Liebe und Wärme, die ich darin immer gesehen hatte, wirkten sie wie zwei Eisklumpen. Kühl. Abweisend. Obwohl es äußerlich nicht abzustreiten war, dass dies die Frau war, die mich großgezogen hatte, erschien sie mir wie eine Fremde. Dann musterte ich den Mann, der sie in seinen Armen hielt und im Gegensatz zu ihr ein Lächeln auf den Lippen hatte, das echt aussah. Selbst ich bemerkte die Ähnlichkeiten, die er mit meinem Gegenüber besaß. Genauso helle Haare und dasselbe kantige Gesicht. Doch seine Ausstrahlung wirkte auf dem Foto nicht annähernd so kühl und distanziert.

»Ihre Mutter war mit meinem Bruder verlobt.«

Überrascht sah ich von der Fotografie auf. »Wie bitte?«

Das Foto wirkte nicht sonderlich alt. Zwar nicht von gestern, aber auch nicht, als könnte es vor Jahrhunderten entstanden sein. Mein Hals wurde trocken.

»In einer anderen Welt wäre ich Ihr Onkel gewesen, daher kannte ich Charlotte.«

Ich biss mir auf die Lippe. Das Leben meiner Eltern vor deren Hochzeit war ein großes Fragezeichen. Ich hatte gewusst, dass Mutter in einer Familie aufgewachsen war, die ihr Rang und Namen gegeben hatte und dass sie froh war, den strengen Regeln entfliehen zu können. Aber das war es. Und selbst diese Informationen hatte ich nur in einem schwachen Moment von ihr bekommen. Nach diesem Gespräch hatte sie ihre Familie nie wieder erwähnt – egal, wie sehr ich nachbohrte.

»Es muss wohl etwas dazwischengekommen sein«, bemerkte ich und beobachtete die Reaktion von Oliver Williams.

»Mein Bruder ist gestorben.«

Seine Wangenknochen schienen weiter hervorzustehen, als bemühte er sich, seine Gefühle zu verbergen. Ich kniff die Augen zusammen. »Und Sie sind meiner Mutter etwas schuldig, weswegen Sie mir helfen wollen?«, fragte ich.

»Exakt. Das Vollstipendium gibt Ihnen ein Dach über dem Kopf, die Möglichkeit, mehr über sich herauszufinden, und einen sicheren Hafen für Ihr Erwachen.«

»Dieses Stipendium ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht billig. Was bringt es Ihnen, mir das anzubieten, obwohl ich eine Fremde für Sie bin?«

»Sie sind ein Teil der … Familie. Auf die ein oder andere Weise.«

Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Seine Worte machten mich stutzig. Hinzu kam, dass ich ihm nicht über den Weg traute. Irgendwas riet mir, dieses unglaublich verlockende Angebot auszuschlagen. »Und dort werde ich alles lernen, was ich wissen muss, damit ich mein Erwachen überlebe?«

»Das ist zumindest der Plan. Garantien gibt es in dieser Welt nicht, Ms Morgan.«

Ich biss mir auf die Lippe, betrachtete dabei das Foto. »Ich …« Mir fehlten die Worte. Ich war wie zweigeteilt. Seit Wochen versuchte ich etwas über mein Erbe, meine Familie und die anderen Nachtwesen herauszufinden, und plötzlich stieg ich zu einem fremden Mann ins Auto, der mir all dies auf einem Silbertablett servierte. Warum sagte ich nicht freudestrahlend zu? »Sie haben mir nicht erzählt, was Sie davon haben«, stellte ich fest.

»Meine offene Schuld bei Ihrer Mutter wäre getilgt«, antwortete er, ohne zu zögern.

»Weswegen sind Sie ihr etwas schuldig?« Unruhig spielte ich mit den Papieren in meiner Hand.

Oliver Williams schien ungeduldig zu werden, um seine Lippen hatte sich ein harter Zug geschlichen. »Das geht Sie nichts an.«

»Wir sind beinahe am Ziel, Master Williams.«

Er nickte als Reaktion auf die Worte seines Fahrers. »Sehr gut.« Wieder wandte er sich mir zu. »Überlegen Sie es sich. Bis morgen bleibe ich in der Stadt, danach erlischt das Angebot.«

Ich starrte auf die Broschüre und das Foto in meinen Händen. »Denken Sie, dass ich einen anderen Weg finde, um mehr zu erfahren?«

»Nicht, wenn Sie beim bisherigen Weg bleiben«, antwortete Oliver Williams und zum ersten Mal glaubte ich ihm.

Er nahm mir die Broschüre mit dem Foto ab, holte einen Stift und kritzelte etwas auf das Papier des Flyers. »Melden Sie sich«, sagte er und reichte ihn mir wieder. Das Bild von meiner Mutter und seinem Bruder steckte er ein.

Der Wagen hielt direkt vor dem Haus, in dem sich mein billiges Apartment befand. Ich zögerte, ehe ich die Tür öffnete. »Vielen Dank, dass Sie nach mir gesucht haben, Mr Williams«, verabschiedete ich mich, presste die Broschüre mit seiner Nummer drauf an mich und stieg aus dem Fahrzeug.

»Wir hören voneinander, Ms Morgan.«

Über die Schulter sah ich zu ihm und nickte, ehe ich die Fahrzeugtür hinter mir schloss. Mit einem elektrischen Surren des Motors verschwanden die Rücklichter um die Kurve.

Regentropfen liefen mir den Nacken hinunter. Es fühlte sich so surreal an. Als wäre dies nur ein Traum, der meine größten Sehnsüchte vereinte. Ich sah auf die Broschüre, die sich vom Regen wellte. Hastig kramte ich in der Tasche nach dem Schlüssel, um endlich im Inneren zu verschwinden und dem Regen zu entkommen.

Kapitel 3

Mina

Nach einer eiskalten Dusche – offensichtlich hatte meine Mitbewohnerin alles an heißem Wasser aufgebraucht – kuschelte ich mich mit Decke und einer Tasse Tee auf das durchgesessene Sofa. Der Prospekt ruhte auf meinen Knien. Nachdenklich betrachtete ich ihn und die daraufgekritzelte Nummer, ohne ihn in die Finger zu nehmen.

Geheuer war mir die Sache nicht. Wenn Mutter mir auch nicht viel über Vampire erzählt hatte, hatte sie mich stets gewarnt, dass diese Wesen nichts aus reiner Gefälligkeit taten. Falls Oliver Williams meiner Mutter etwas schuldig war, musste es so schwerwiegend sein, dass ihr Tod ihn nicht davon befreit hatte … Ich kaute auf der Unterlippe. Rhythmisch klopfte ich gegen die warme Tasse. Es machte keinen Sinn. So naiv zu glauben, dass für Williams nichts dabei heraussprang, wenn er mich an diese Akademie holte, war ich nicht – nur was hatte er davon?

Ich fuhr mir mit einer Hand müde durchs Gesicht. Das Angebot war verführerisch. So verlockend, dass ich ernsthaft überlegte, all meine Vernunft in den Wind zu schießen, und dem fremden Schönling zuzusagen. Doch was war, wenn Williams im Hinterkopf einen anderen Plan hatte? Einen, den ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht durchschaute, da mir Informationen fehlten?

In diesem Moment verfluchte ich meine Eltern. Meine Finger pressten sich fester gegen die warme Tasse. Ihr Tod hatte mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Schlagartig hatte ich mir die Wohnung nicht mehr leisten können. Mit dem wenigen Hab und Gut, das ich besaß, stand ich dank ihnen auf der Straße. Ich wusste nur eines: dass ich erwachen würde. Dass diese blutsaugende Seite in mir schlummerte und mit einem Knall über mich herfallen würde. Wann, wusste ich nicht. Mit 22 Jahren war ich erwachsen. Und wenn ich mir die Gesichter meiner Eltern in Erinnerung rief, waren sie äußerlich nicht älter als dreißig, vielleicht vierzig gewesen. Aber Vater war alt. Seine Geschichten über Piraterie, Schlachten, in denen er gekämpft hatte, machten das nur allzu deutlich.

Ich schüttelte mich, um die Gedanken loszuwerden. Sie halfen nicht, diese Entscheidung zu treffen. Nachdenklich strich ich über die Broschüre der Akademie. Es lockte, mehr als ich zugeben sollte. Dort wartete all das Wissen, nach dem ich mich verzehrte. Gleichzeitig würde ich in eine neue Abhängigkeit rutschen. Und ich wusste nicht, was sich Oliver Williams davon versprach. Wollte er mich in der Hand haben? War er Mutter wirklich etwas schuldig? Und wenn ja, was? Meine Zukunft, mein Leben würde an seine Launen geknüpft sein und ich war nicht unbedingt scharf darauf.

Hinter mir ging die Zimmertür von Cassidy auf. »Warum zum Teufel bist du noch wach?«, murmelte sie.

Über die Schulter sah ich zu ihr, beobachtete, wie sie sich die Lider rieb. Als sie mich ins Visier nahm, schnaubte sie. »Ich kann dich bis in mein Zimmer denken hören.«

Sie schlurfte mit ihren Stoffpantoffeln ins Wohnzimmer, das Flur, Küche und Essbereich in einem war.

Hastig versteckte ich den Prospekt hinter meinem Rücken. »Ich bin erst vor einer Stunde heimgekommen.«

»Immer noch kein Erfolg bei deiner Suche nach Antworten?«

Sie wusste nichts Genaues, nur dass meine Eltern mir ein Geheimnis hinterlassen hatten, das ich zu lösen versuchte. Wir waren nicht direkt Freundinnen. Aber in den letzten Wochen hatte sie mich unterstützt, wo sie nur konnte. Ich war ihr dankbar. Ohne sie … Trotz allem, war unsere Wohnsituation eine Zweckgemeinschaft. Selbst, dass wir uns in den vier Monaten gegen eine Monsterratte im Badezimmer verbündet hatten, änderte daran nichts. Ich mochte ihre lockere Art und ihre Sicht auf die Dinge, aber auch, dass sie mir meinen Freiraum ließ.

Missmutig sah ich zu Cassidy. »Nein. Leider nicht.« Hinter mir spielte ich mit dem Prospekt. Es war eine verdammte Sucht. Diese Broschüre war mein Ticket zu all dem, was ich die ganze Zeit haben wollte. Und dennoch fühlte es sich an, als wäre es in unerreichbare Nähe gerutscht.

Sie musterte mich. »Womit hantierst du denn da?«

»Mit nichts«, murmelte ich und umfasste krampfhaft die Tasse.

»Natürlich. Das ist genauso nichts, wie mein Ex nur bei unserer Nachbarin ausgerutscht und im falschen Loch gelandet ist.«

Ich verzog die Lippen bei dem Vergleich. »Autsch.«

»Also?« Sie ging an den Kühlschrank und holte sich eine Milch daraus, die sie auf der Arbeitsplatte abstellte.

Mit einem Seufzen zog ich das Papier wieder hervor. Zumindest war ich vorher sichergegangen, dass in keinem Satz das Wort »Nachtwesen« auftauchte, ehe ich mich damit aufs Sofa gesetzt hatte.

Cassidy nahm es mir ab und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Nette Bude.«

»Ja.«

Sie schlug den Prospekt zu und wedelte damit in der Luft. »Für mich sieht das aus wie eine Debütantinnenschule – Wie lerne ich, einen Lord um den Finger zu wickeln?«

Ein Lächeln zupfte an meinen Lippen. »Fast«, stimmte ich ihr zu. »Es ist keine Benimmschule, sondern eher eine Akademie. Ich könnte mir dort einen Berufszweig aussuchen«, murmelte ich nachdenklich und zog den Prospekt aus ihren Fingern. Zumindest hatte ich das herausgelesen. Die Night Academy wollte ihre Schülerinnen und Schüler auf das Leben in der Menschenwelt vorbereiten, weswegen sie nicht nur den Umgang mit ihresgleichen lernten, sondern ebenfalls Kontrolle im Umgang mit Menschen.

»Sieht teuer aus.«

Langsam nickte ich. »Wenn mir nicht jemand ein Stipendium angeboten hätte, würde ich nicht einmal daran denken, dorthin zu gehen.«

Überrascht weiteten sich Cassidys Augen. »Was?«

Ich zog meine Unterlippe zwischen die Zähne.

»Ein Vollstipendium?«, hakte Cassidy nach.

Wieder nickte ich. Ich wusste, was sie sagen würde. Wir waren aus unterschiedlichen Gründen in dieser Absteige gelandet. Sie hatte den falschen Menschen vertraut und bezahlte nun bitter dafür. Ich existierte offiziell nicht und konnte mir mit dem mageren Gehalt, das ich verdiente, nichts anderes leisten.

»Warum bist du noch nicht am Packen? Das ist dein Ticket hier raus!«

»Der Kerl ist ein Wildfremder. Ich kenne ihn nicht.«

Sie zuckte mit den Schultern und hob die Arme. »Ist das nicht egal? Selbst wenn er dein Sugardaddy werden will. Scheiß drauf! Das ist eine krasse Möglichkeit.«

Missbilligend zog ich meine Augenbrauen zusammen. »So alt war er nicht.« Zumindest hatte er nicht danach ausgesehen. Anderseits war er ein Vampir, die können selbst mit vierhundert Jahren Werbung für eine Jungbrunnenkur machen.

Nachdenklich rieb ich mir über die Stirn.

»Sah er gut aus?« Cassidy hatte die Milch von der Theke genommen, setzte sich neben mich, und trank direkt aus der Verpackung.

»Ich wollte auch noch von der Milch trinken.«

»Du lenkst vom Thema ab. Sah er gut aus?«

Ich erwiderte ihren Blick. Sie hatte ungewöhnlich grüne Augen, die amüsiert blitzten. Doch anstatt mich auf sie zu konzentrieren, versank ich erneut in Oliver Williams dunklen Kohlebecken. Unwillkürlich biss ich mir auf die Lippe.

»Ohhh«, seufzte Cassidy. »So gut? Und schon wird meine Frage, warum du hier sitzt und nicht packst, wieder aktuell.«

»Er sah sogar verdammt gut aus«, gab ich endlich zu. »So sehr, dass er einen Harem an Frauen bezirzen könnte.«

Cassidy schloss sinnlich die Augen. »Gott! Ich kann mich nur wiederholen, Mina: Was treibst du noch hier?«

»Selbst wenn er gut aussieht, will ich ungern mein Leben in die Hände eines Fremden legen.«

Für ein paar wenige Atemzüge herrschte Stille zwischen uns. »Deine Eltern, die du dein ganzes Leben lang kanntest, waren da definitiv die bessere Alternative«, stichelte sie.

Sie bohrte ihre Nadel zielsicher in die Wunde. Ich verschloss die Lippen und wandte mich von ihrem eindringlichen Blick ab. Sie hatte recht. Meine Eltern hätten nicht glauben dürfen, dass sie, nur weil sie Vampire waren, nicht sterben konnten. Und es war passiert – viel zu früh. Selbst für menschliche Verhältnisse.

Sie seufzte. »Sorry, das war nicht fair. Die Eltern zu verlieren ist scheiße. Tut mir leid.«

»Du hast ja recht. Keiner sollte davon ausgehen, ewig zu leben«, murmelte ich leise.

Cassidy legte ihren Arm um meine Schultern. Ich lehnte mich in ihre Umarmung. »Was hindert dich daran, die Koffer zu packen?«, fragte sie. »Wenn in diesem Märchenschloss all deine Antworten liegen, solltest du es wagen.«

»Ich kenne den Mann nicht. Er sagt, er ist meiner Mutter etwas schuldig.« Dass sie mit seinem Bruder verlobt war und dieser gestorben war, behielt ich für mich.

»Wir spielen jetzt etwas.« Sie löste sich von mir und nahm Abstand.

Verwundert sah ich meine Mitbewohnerin an. »Was?«

»Mach einfach mit. Denk nicht über die Antworten nach, sondern antworte spontan, okay?«

Skeptisch betrachtete ich sie. »Okay?«

Ihr Grinsen wurde breiter, wodurch ihre strahlend weißen Zähne hinter den dunklen Lippen hervorblitzten. »Gut. Cola oder Fanta?«

»Fanta.«

»Regen oder Sonne?«

»Definitiv Sonne.«

»Ashton Kutcher oder Kit Harrington?«

»Äh …«

»Aus dem Bauch heraus!«

»Kit.«

»Versteh ich. Versteh ich wirklich. Diese Locken göttlich …« Cassidy nickte anerkennend. »Kaffee oder Tee?«

»Tee.«

»Akademie oder Unwissen?«

»Akademie.« Die Antwort purzelte mir förmlich über die Lippen.

»Siehst du? Also pack deine Koffer und begleite den Sugardaddy in diese Akademie!« Sie nahm mir den Flyer ab und faltete ihn auf. »Und vielleicht fragst du, ob er nicht ein paar Polokumpel hat, die er mir vorstellen will.«

»Geht das für dich klar?«, fragte ich. »Ich meine, ein Teil der Miete wird wegfallen und …«

Sie hob die Hand und lächelte. »Es gibt genügend verzweifelte Frauen da draußen in der Innenstadt Londons, die sich die Finger nach dieser Bruchbude lecken werden. Ich komme schon klar.«

Erleichtert zog ich einen Mundwinkel in die Höhe. Ich würde die Night Academy besuchen. Es war ein gutes, zugleich aber Angst einflößendes Gefühl. Es würde ein komplett neuer Abschnitt in meinem Leben werden.

Ich holte tief Luft und nahm mein Handy in die Hand, das stumm neben mir gelegen hatte. Mit zittrigen Fingern tippte ich die Nummer ab, die Oliver Williams aufgeschrieben hatte.

Mina: 01:47

Deal.

Vor Aufregung kribbelte mein gesamter Körper. Ich tat es. Ich gab die kürzlich erworbene Unabhängigkeit auf, die mit Sicherheit in meinem Tod enden würde, um mit einem fremden Kerl in eine Akademie zu gehen. Mir wurde bei dem Gedanken schlecht. Gleichzeitig fühlte ich eine Erleichterung in mir, dass ich endlich Antworten bekommen würde.

Mit zwei Reisetaschen und einem Rucksack bewaffnet, stand ich am nächsten Mittag vor der Haustür und wartete auf Williams.

Kurz nachdem ich gestern meine Nachricht losgeschickt hatte, schrieb er zurück, dass mich um ein Uhr der Wagen abholen würde. Seitdem hatte ich kein Auge zugetan, geschweige denn etwas essen können. Obwohl ich wusste, dass dies die beste Chance war, alle Antworten zu erhalten, hatte der Kloß in meinem Hals sich mittlerweile in einen Hinkelstein verwandelt.

Nervös tippte ich mit der Fußspitze gegen den feuchten Bordstein. Fünf Minuten war ich zu früh nach unten gekommen. Nervosität flatterte wie Schmetterlinge durch meine Innereien. Ich sah zurück zur Wohnung, die Cassidy nun allein bewohnte. Ein Ziehen breitete sich in meinem Bauch aus. Diese Bleibe war ein Graus. Eine absolute Vollkatastrophe, aber gemeinsam mit ihr hatte sie mir einen Weg in ein neues Leben gezeigt. Hinaus aus dem Strudel von Wut und Trauer; aus der Starre, in die ich nach dem Tod meiner Eltern verfallen war. Und jetzt war es so weit: Ein neuer Abschnitt wartete auf mich.

Mein Blick richtete sich auf die Straße, die vor mir lag. Trotz meiner Aufregung legte sich die Angst ein wenig. Ich wusste, dass das der richtige Weg war. Dass ich diesen gehen musste, um mehr über mich und das Erbe herauszufinden, das mich unweigerlich einholen würde. Und dann wollte ich gewappnet sein.

Ich atmete tief ein, straffte die Schultern und ließ den Blick die Straße hoch und runter wandern, in der Hoffnung, das Auto von gestern Abend wieder zu entdecken.

Auf der Broschüre hatte kein Ort gestanden, der nur im Ansatz beschrieben hätte, wo sich die Night Academy befand. Der einzige Anhaltspunkt war die Formulierung, dass die Akademie in einer idyllischen Lage war. Was alles bedeuten konnte. Aufgeregt zog ich die Unterlippe zwischen die Zähne. Genau in diesem Moment bog das Fahrzeug von gestern Abend in die Straße ein. Es war so weit.

Ich packte die Riemen der Taschen fester, als der Wagen direkt vor mir hielt. Der Fahrer ließ den Motor laufen, während er ausstieg und zum Kofferraum ging.

»Darf ich?«, fragte er.

Mit kribbelnden Nervenenden nickte ich und reichte ihm mein Gepäck. »Danke.«

Ich wandte mich der Fahrzeugseite zu und öffnete die Tür zum überraschend leeren Wageninneren. »Holen wir Mr Williams noch ab?«

»Nein, Master Williams ist bereits vorgefahren.«

»Oh. Wie lang werden wir denn unterwegs sein?«

»Sechs Stunden, Ms.«

»Okaaay«, meinte ich und stieg mit widersprüchlichen Gefühlen ein.

Erneut umhüllte mich der appetitliche Duft. Doch dieses Mal schwächer als noch am Abend zuvor. Ich ließ mich in die Ledersitze sinken, begleitet von dem merkwürdigen Gefühl, dass ein Fremder mich in eine ungewisse Zukunft irgendwo in eine abgelegene Gegend bringen würde.

Der Fahrer stieg ein. »Bereit, Ms Morgan?«

Meine Kehle schnürte sich zu. Der erste Reflex war ein Nein. Doch ich schluckte die Zweifel hinunter. Ich musste das tun. Für meine Zukunft. »Ja«, brachte ich erstickt hervor.

Schuldbewusst verschränkte ich die Finger ineinander und starrte aus dem Fenster. Beobachtete, wie die heruntergekommenen Häuser an uns vorbeizogen. Seit ich denken konnte, hatte meine Mutter mir eingetrichtert, Vampiren nicht zu vertrauen. Es waren selbstsüchtige Wesen, die nur in ihrem eigenen Interesse handelten und dabei selbst vor der schlimmsten Manipulation nicht zurückschreckten. Sie würde sich im Grab umdrehen, wenn sie mich jetzt sehen könnte — wenn sie denn eines hätte. Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Stütze in meinem Nacken.

Oliver Williams hatte mir nicht vorgaukeln müssen, dass ich ihn brauchte. Es war Fakt, dass ich ohne das Wissen, das er mir anbot, aufgeschmissen war. Mein Leben lang hatten meine Eltern verpasst, mir die wichtigen Dinge beizubringen. Immer wieder hatten sie behauptet, dass noch Zeit war, ehe ich erwachte. Sie hatten darüber geredet, als dauerte es eine Ewigkeit, bis es so weit sein würde. Doch schlussendlich hatten wir kein bisschen mehr davon.

Zeit war ein trügerisches Ding. Wir glaubten, dass das Leben unendlich war. Doch egal, wie krampfhaft wir versuchten, uns daran zu klammern, wie Sand lief es unaufhörlich weiter durch die Finger. Und irgendwann war es zu spät. Das letzte Sandkorn fiel und wir hatten keinerlei Möglichkeit, die verpassten Chancen aufzuholen.

Mein Herz pochte mit dumpfem Schmerz. Ich vermisste sie. Mutters Lachen, wenn Vater ihr wieder spanische Sätze ins Ohr raunte, von denen ich gar nicht wissen wollte, was sie bedeuteten. Oder die raue Stimme meines Vaters, und seine Umarmungen, in denen ich mich so geborgen gefühlt hatte.

Mit jedem Gedanken fühlte es sich an, als würde mein Herz ein Stück mehr aufreißen. Als würden all die Erinnerungen den Schmerz nur verdreifachen.

Ich öffnete die Augen und starrte in den tristen Londoner Himmel. Es war leichter, wenn ich mich daran erinnerte, was sie mir vorenthalten hatten. Ich wusste, dass meine Ma mich hatte schützen wollen. Das hatte sie mir oft genug erzählt, aber nie, wovor. Sie hatte immer nur die bösen Vampire erwähnt, die das Leben anderer glaubten bestimmen zu können, um ihre Machtgier zu stillen.

Noch nie hatte ich mich selbst als Vampirin betitelt. Doch jetzt schritt ich geradewegs in die Höhle des Löwen. Auch wenn Williams behauptete, dass er mir dieses Angebot machte, um eine Schuld zu begleichen, glaubte ich nicht, dass er aus reiner Nächstenliebe handelte, so naiv war ich nicht.

Es war Zeit, dass ich mich auf die Suche nach meinen Wurzeln begab. Vielleicht bedeutete dies, dass ich mehr zu dem werden musste, vor dem Mutter mich immer gewarnt hatte, damit ich in dieser Welt überlebte.

Kapitel 4

Mina

»Ms?«

Nachdem wir zwei Stunden außerhalb von London waren, hatte ich die Zeit genutzt, um etwas Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen. Das gleichmäßige elektrische Surren des Fahrzeugs hatte mich zusätzlich beruhigt, sodass ich überraschend schnell eingeschlafen war. »Ja?«, fragte ich, noch schlaftrunken, und streckte die Glieder.

»Wir sind gleich da.«

Überrascht verharrte ich in der gestreckten Position. Für einen Augenblick schien die Welt die Luft anzuhalten. Ich konnte es nicht glauben. Stolpernd schlug mein Herz weiter. Ich schluckte schwer. Neugierde, Angst und Hoffnung keimten gleichzeitig in mir. Ich rutschte ans Fenster. So vorsichtig und langsam, als würde mich die Innenverkleidung beißen, wenn ich mich ihr zu schnell näherte.

Der Blick nach draußen war … enttäuschend. Grüne Hügel zogen an uns vorbei, die vom Licht der untergehenden Sonne angestrahlt wurden. Es war wunderschön, rau und wild, aber nicht, was ich erwartet hatte. Nirgends war auch nur eine Menschenseele zu entdecken.

Misstrauisch sah ich mich auf den hinteren Sitzen um. »Sie sind sicher, dass wir gleich da sind?«

War das doch eine List von diesem Oliver Williams gewesen? Und er hatte nur vor, mich zu entführen und umzubringen? Ich biss mir auf die Lippe, strich über das weiche Leder der Sitze und glitt mit den Fingern durch die Ritzen auf der Suche nach etwas, das ich notfalls als Waffe nutzen könnte.

»Ja. Sehen Sie.« Er deutete nach vorn.

Mit gerunzelter Stirn folgte ich dem Finger des Fahrers und wurde sofort erschlagen von dem Anblick, der sich mir bot. »Ver. Dammt«, stammelte ich.

Auf der Broschüre war das Gebäude der Night Academy abgebildet. Ich hatte erkannt, dass es ein Schloss war. Eines aus massivem Stein, mit Türmen, die den grauen Himmel kitzelten und auf dessen Dächern Gargoyles wie steinerne Wächter thronten. Doch die Wirklichkeit übertraf jedes Foto. Als hätte die Broschüre nur an der Oberfläche gekratzt, wohingegen die Realität alles offenlegte. Noch nie zuvor hatte ich solch ein Gebäude aus dieser Nähe betrachtet. Je näher wir kamen, desto größer wurde es, bis die Dachzinnen aus meinem Sichtfeld verschwanden.

»Die Night Academy wurde vor einigen Jahrhunderten vom Rat der Nachtwesen gegründet«, erklärte der Fahrer.

»Rat der Nachtwesen?«

Er nickte, ohne weiter auszuholen.

Die Neugierde kribbelte unter meinen Fingernägeln. Genau deswegen war ich hergekommen. Um alles über die Welt zu erfahren, zu der ich gehörte, selbst wenn meine Eltern mich mein Leben lang davon ferngehalten hatten. Und obwohl sich meine Beine wie Wackelpudding anfühlten, hüpfte mein Herz aufgeregt in der Brust.

Wir durchquerten einen hochgeschlossenen Eisenzaun, dessen obere Enden in gefährlich blitzenden Spitzen ausliefen. Kies knirschte unter den Reifen. Ein Springbrunnen stand in der Mitte des Rondells, an dem Fahrzeuge problemlos wenden konnten. Der Fahrer hielt geradewegs auf die imposante Eingangspforte der Akademie zu. Drei Stufen führten hinauf zu der massiven Eichenflügeltür, die mit verschiedensten Schnitzereien verziert war. Neben dem Weg wuchsen Wildblumen, die ihren Kopf der untergehenden Sonne entgegenstreckten. In einiger Entfernung entdeckte ich Pferdeställe und eine Koppel, auf der Tiere grasten. Gemütlich schwenkten sie ihre Schweife im Wind. Der Fahrer hielt direkt vor der Eingangstür und stellte den Motor ab.

Mein Herzschlag dröhnte in den Ohren. Durch die Stille im Fahrzeug befürchtete ich, dass er ihn ebenfalls hörte. Regungslos starrte ich durch die Fensterscheibe die Tür an. Das Schloss war aus dunklen Steinen erbaut worden. Schmiedeeiserne Fensterrahmen glänzten in dem rosafarbenen Licht. Es war Ehrfurcht gebietend. Es fühlte sich kein Stück an, als ob ich das hier nur im Ansatz verdient hätte. Ich besaß nicht das Geld, um mir diese Ausbildung zu leisten.

»Wollen Sie vielleicht aussteigen?«, erkundigte der Fahrer sich, als ich keinerlei Anstalten machte, mich von meinem Platz zu lösen.

Nirgendwo entdeckte ich Leben. Die Akademie lag da wie ein verlassenes Anwesen, in dem es spukte. »Das ist sicher die Night Academy?«, fragte ich mit kratziger Stimme. Ich war eingeschüchtert. Der Anblick des Schlosses. Die Atmosphäre, die durch die Ritzen des Fahrzeugs sickerte, drängten sich auf und erstickten mich. Alles jagte mir eine Scheißangst ein.

»Ja.«

»Wo sind dann alle?«

»Es ist eine Akademie der Nachtwesen, Ms. Was denken Sie, wo die Studierenden sein werden?«

Mein Blick glitt gen Himmel. Die Sonne war kurz davor, unterzugehen, weswegen alles einen sanften, roten Ton angenommen hatte und die Szenerie beinahe romantisch erstrahlen ließ. »Ich schätze, sie machen sich für den Unterricht fertig«, murmelte ich eher gedankenverloren.

»Exakt. Master Williams erwartet Sie.« Der Fahrer stieg als Erstes aus und ließ mich allein im Wageninneren zurück.

Am liebsten hätte ich ihn aufgehalten, ihn gezwungen, wieder zurückzufahren. Heimwärts zu Cassidy, der Ratte und dem lausigen Job, den selbst ein Affe besser machen könnte. Doch mein Körper war wie erstarrt. Ich konnte mich nicht rühren. Egal, wie ich es auch versuchte. Angst, Panik … all die unliebsamen Gefühle, die ich nur zu gern fortstieß, rührten gewaltvoll in mir.

»Scheiße«, wisperte ich. Mein Herz schlug hastig gegen den Brustkorb, als wollte es ebenso wie ich fliehen. Ich bekam keine Luft. Meine Lunge verweigerte ihren Dienst und ließ mich wie einen Fisch nach Sauerstoff schnappen – doch von außen betrachtet bewegte ich mich keinen einzigen Zentimeter. Wie erstarrt verharrte ich auf dem Sitz. Ich grub die Fingernägel in die Knie. Versuchte, der wirren Gefühle Herr zu werden.

Ich hörte, wie der Fahrer den Kofferraum aufmachte, meine Taschen auf den Weg stellte und die Klappe wieder zuschlug. Das Gefühl zu ersticken nahm nicht ab. Seine Schritte waren auf dem Kies zu hören, die Steine drängten sich unter seinem Gewicht auseinander und verursachten dabei ein kratzendes Geräusch.

Die Tür, hinter der ich mich verbarrikadiert hatte, wurde aufgezogen. »Ms?«

Ich hob den Kopf. Der Fahrer hatte ein freundliches Gesicht mit einem Schnauzbart. Seine Lippen waren zu einem unverbindlichen Lächeln verzogen. Braune Augen musterten mich eingehend.

»Sie müssen aussteigen.«

Ich wusste, dass er recht hatte. Mit einem mentalen Schubs zwang ich meine Glieder endlich, sich zu bewegen. Ich stieg aus dem Auto und streckte die Muskeln, die nach der langen Fahrt steif waren. Dabei ließ ich den Blick an der Fassade des Schlosses hinaufwandern. Sog jeden Zentimeter des beeindruckenden Gebäudes in mich auf.

Fünf Türme bohrten sich in den Himmel. Hinter den Rundbogenfenstern schien Licht, vor denen Schatten zu erkennen waren. »Wo sind wir?«, fragte ich den Fahrer.

»An der Night Academy«, antwortete er.

Ich verdrehte die Augen. Das war mir klar gewesen. »Aber wo genau?«

»Master Williams wird Ihnen alles erzählen. Mein Job war es, Sie herzubringen. Damit ist meine Aufgabe erledigt, Ms Morgan.«

Ich beugte mich hinunter, um die Taschen mit festem Griff zu nehmen. »Danke Ihnen.«

»Das ist mein Job, Ms. Alles Gute.« Er drehte sich weg, ging um das Auto herum und fuhr über den Kiesweg zurück.

Mit heftig klopfendem Herzen und den Taschen in den Händen stand ich vor dem Schloss und rang mit mir. Ich biss auf die Innenseite meiner Lippe. Das hier war ab jetzt mein Leben. Es gab kein Zurück. Hier würde ich all die Antworten finden, die ich seit Monaten – und wenn ich ehrlich war, sogar seit Jahren – suchte. Mit wackeligen Knien, als hätte ich eben erst Laufen gelernt, trat ich auf das Portal zu. Doch je mehr Schritte ich zurücklegte, desto sicherer wurden sie.

Ich drückte die gebogene Klinke der Eingangstür nach unten und schob das wuchtige Holz mit meinem ganzen Gewicht nach innen. Vor mir breitete sich eine riesige Eingangshalle aus. Feines Fischgrätenparkett zierte den Boden. Am Ende des Raums führten zwei Treppen in den nächsten Stock. Zwischen den Aufgängen drängte sich ein Tresen, der im Licht des beeindruckenden Kronleuchters glänzte. Auf dem Kirschbaumholz prangte edel aus dunklem Metall das Wappen der Academy. Ein riesiger Halbmond, in dessen Zentrum die Sonne strahlte, als würde der Mond sie umarmen – oder verschlingen.

Hinter dem Tresen saß eine Frau, deren grauen Haare zu einem strengen Zopf gebunden waren. Durch die Nickelbrille sahen mich ihre dunklen Augen abwartend an. Staunend durchquerte ich die Halle. »Hallo«, warf ich in den Raum und schenkte der Frau ein Lächeln, in der Hoffnung, dass es nicht annähernd so nervös aussah, wie ich mich fühlte. Ameisen schienen unter meiner Haut zu kribbeln.

Ihre Nase zuckte, als wittere sie etwas in der Luft. »Wie kann ich helfen?« Ihre Stimme klang kräftig, tief und gleichzeitig kratzig. Als hätte diese ihre besten Jahre hinter sich.

»Mein Name ist Mina …«

»Das war nicht die Frage, Ms Morgan. Sondern wie ich Ihnen helfen kann«, unterbrach sie mich streng.

Überrascht starrte ich die Frau an. »Ähm … ich …«

»Ja?«

Tief atmete ich ein. Zwang mich endlich, ruhig zu bleiben, und begegnete ihrem dunklen Blick, der abschätzig auf mir ruhte. Ich streckte die Schultern durch. »Ich bin wegen Mr Williams’ Einladung hier.«

»Ich weiß.«

Ich versuchte, die Unsicherheit, die ihr Verhalten in mir weckte, hinunterzuschlucken. »Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde? Oder … ähm … wo ich meine Sachen hinbringen kann?«

Langsam setzte sich die Frau in Bewegung. »Er hat einen Schlüssel und einen Brief für Sie hinterlegt«, teilte sie mir mit.

Erst jetzt bemerkte ich hinter ihr die zwei in die Wand eingelassenen Regale, an denen, wie bei einem Hotel, Haken für die Schlüssel waren. Unter diesen standen in golden glänzenden Lettern die Zimmernummern. Sie schnappte sich den Letzten, der übrig war, und überreichte ihn mir. »In der vierten Etage im Westflügel finden Sie Ihr Zimmer. Wenn Sie vorhaben, die Akademie zu verlassen, lassen Sie den Schlüssel bitte hier.«

Bevor ich mich zurückziehen konnte, umklammerten ihre Finger meine mit einem harten Griff, den ich ihrer zierlichen, zerbrechlich wirkenden Statur nicht zugetraut hätte. Erschrocken starrte ich in ihr Gesicht, wo mir mit einem Mal hellweiße Augen entgegensahen. »Sie sollten wachsam bleiben«, riet sie wispernd und ließ mich dann so ruckartig los, dass ich beinahe nach hinten gestolpert wäre.

Sofort waren ihre Augen wieder dunkel.

Mein Herzschlag polterte. Panik schnürte mir den Hals zu. »Wie …«

»Wie bitte?«, erkundigte sie sich, als wäre nichts gewesen.