Cursed Rose. Das Herz der Zauberin - Laura Nick - E-Book
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Cursed Rose. Das Herz der Zauberin E-Book

Laura Nick

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Beschreibung

**Brich den Fluch und entfessle die Magie**  Als Lynn, die beste Diebin der Stadt, den Auftrag erhält, einen magischen Gegenstand aus einem verlassenen Schloss zu stehlen, ist sie davon überzeugt, dass das ein Kinderspiel wird. Damit wäre endlich die Chance gekommen, sich und ihre Liebsten aus der verhassten Gilde zu befreien. Sie hat jedoch nicht damit gerechnet, dass die Ammenmärchen über das Anwesen wahr sein könnten. Bevor sie mit ihrem Diebesgut verschwinden kann, stellt sich ihr ein blutrünstiges Biest mit leuchtend blauen Augen in den Weg. Sie schafft es zu fliehen – direkt in die Arme eines geheimnisvollen Mannes, der ihr etwas über einen Fluch der Zauberin erzählt und Lynn ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ablehnen kann ...   Lass dich verzaubern von einem märchenhaften Romantasy-Spektakel voller Verrat und tiefer Gefühle.   Textauszug: »Du bist dir wirklich sicher, dass du mir nicht glaubst, ohne es zu sehen?« »Was zu sehen?« »Das Biest.« Ich lächelte. »Das kann unmöglich sein. Du bist ein Mensch.« »Am Tag, ja. Doch die Nacht macht das sichtbar, was die Blindheit der Liebe aus mir gemacht hat.«   //»Cursed Rose. Das Herz der Zauberin« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Laura Nick

Cursed Rose. Das Herz der Zauberin

**Brich den Fluch und entfessle die Magie**

Als Lynn, die beste Diebin der Stadt, den Auftrag erhält, einen magischen Gegenstand aus einem verlassenen Schloss zu stehlen, ist sie davon überzeugt, dass das ein Kinderspiel wird. Damit wäre endlich die Chance gekommen, sich und ihre Liebsten aus der verhassten Gilde zu befreien. Sie hat jedoch nicht damit gerechnet, dass die Ammenmärchen über das Anwesen wahr sein könnten. Bevor sie mit ihrem Diebesgut verschwinden kann, stellt sich ihr ein blutrünstiges Biest mit leuchtend blauen Augen in den Weg. Sie schafft es zu fliehen – direkt in die Arme eines geheimnisvollen Mannes, der ihr etwas über einen Fluch der Zauberin erzählt und Lynn ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ablehnen kann …

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Vita

Danksagung

© privat

Laura Nick wurde März 1995 inmitten des Ruhrpotts geboren. Jedem, der sie hören wollte – oder auch nicht –, erzählte sie Geschichten über fantasievolle Abenteuer und Liebe. Die allerersten eigenen Zeilen brachte sie nach ihrer Ausbildung zur Schilder- und Lichtreklameherstellerin im Laufe des Fachabiturs zu Papier. Unter dem Pseudonym Aurelia L. Night hat sie seit 2016 Fantasy- und Liebesromane veröffentlicht. Sie ist aktives Mitglied im PAN e.V. und setzt sich gemeinsam mit dem Verein für die deutsche Phantasik in der Buchbranche ein. Mittlerweile lebt, liest und arbeitet Laura Nick mit ihrem Ehemann in Niedersachsen, nahe des Meeres und der niederländischen Grenze.

Für jeden Kämpfer da draußen.

Du bist nicht ungesehen.

Nicht ungehört.

Gib nicht auf!

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Laura Nick und das Impress-Team

Prolog

Es war zu viel. Viel zu viel. Die Magie der Welt, die durch die Rose kontinuierlich in das Medaillon hineinfloss, verband sich mit der ihrer Opfer und füllte den Anhänger auf ihrer Brust.

Doch er war voll.

Sie umfasste den heißen Anhänger und zog die Luft zwischen die Zähne, als das Metall an ihrer Hand brannte. Bei der Berührung suchte die überschüssige Magie sich einen Weg in den Körper der jungen Zauberin. Nur mit Mühe konnte Evangeline sich aufrappeln. Sie stolperte über die Leichen und ging mit wackeligen Beinen nach oben.

»Nein, nein, nein«, hauchte sie bei jedem Schritt, bei dem sie sich an der Wand abstützen musste, um Halt zu finden. Sie musste ins Arbeitszimmer des Magiers. Sie brauchte mehr Platz. Mehr Raum für die Magie, die sich mit jeder Sekunde, die verging, ansammelte. Sollte Evangeline die Kontrolle verlieren, würde sie alles vernichten. Ihn eingeschlossen. Besäße sie noch ein Herz, hätte es sich vor Schmerz zusammengezogen. Er war der Einzige. Der Einzige, den sie schützen wollte.

Evangeline spürte, wie die Magie sich in ihr aufbäumte. Sie knickte unter der Macht ein. Ihre Fingernägel schabten über die edle Tapete. Nur mit Mühe konnte sie die Magie zurückhalten. Vor ihr lag der Flur, der mit einem Mal unendlich lang wirkte. Mit absoluter Klarheit wurde ihr bewusst, dass die Zeit nicht reichen würde, um ein neues, machtvolleres Gefäß zu erschaffen. Ihr Herz hatte sie bereits aufgebraucht, sie besaß nichts, das noch mehr Macht aufnehmen konnte.

Tränen brannten in ihren Augen. Mit letzter Mühe schleppte sich die junge Frau in ihr Zimmer. Ihre Finger führten sie an der Wand entlang. Der strömende Fluss der Magie hatte sich zu einem zornigen Sturm entwickelt, über den sie kaum noch Kontrolle besaß. Das gesamte Haus bebte unter der angestauten Macht, die in Evangeline wütete. Doch mit jedem Atemzug sog Eva noch mehr Magie auf.

Evangeline musste die Macht loswerden, bevor ihre Kraft die Zauberin zerriss. Bevor alles, wofür sie bisher gearbeitet hatte, nutzlos wurde. Sie presste die Handfläche an die Wand und speiste Magie in das Anwesen. Doch die Magie war zu wild. Die Macht zerriss Evangelines Innerstes, sodass ein Teil ihrer selbst in das Haus überging.

Ein schriller Schrei durchbrach die Totenstille. Schmerz durchfuhr brennend ihre Glieder, ließ sie beinahe erneut zusammensacken, aber gleichzeitig konnte die Zauberin wieder besser atmen. Doch das würde nicht reichen. Es war wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Evangeline war zu gierig gewesen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie war zu ängstlich gewesen. Der Gedanke hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Aber sie war nicht bereit aufzugeben. Abraxas würde bezahlen. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber sie würde nicht zulassen, dass er mit seinen Taten davonkam. Er und die Schwarzen Federn würden bereuen, was sie ihrer Familie angetan hatten.

Zitternd ließ sich die junge Zauberin aufs Bett sinken. »Somnum«, befahl sie mit rauer Stimme.

Sie spürte, wie die Kraft sich in ihr beruhigte, als sie Magie verbrauchte, um eine Dornenhecke um das Grundstück wachsen zu lassen. Niemand sollte ihren Schlaf stören können. Zumindest bis zu dem Moment, an dem sie sich erhob und ihre rabenschwarzen Schwingen ausbreitete, um Abraxas leiden zu lassen und zu dem Mann zurückzukehren, den sie liebte.

Eins

Gespenstisch beschien der Mond die Türme des Schlosses, die sich wie mahnende knöcherne Finger in den nächtlichen Himmel bohrten. Kein leuchtender Feuerschein durchbrach die Finsternis, die in dem Gebäude herrschte. Jedes der Dutzenden Fenster war in absolute Dunkelheit getaucht.

Eine Gänsehaut krabbelte von meinem Steißbein in den Nacken hinauf. Ich hatte das Gemurmel der Menschen im Dorf als harmlose Schauergeschichte abgetan. Hatte ihre Worte für Fantasien gehalten. Doch während ich die fürstliche Residenz so verlassen vor mir sah, konnte ich nicht umhin, dem Gerede Glauben zu schenken.

Mein Blick glitt über die Landschaft, die sich zwischen mir und dem Haupttor des Schlosses ausbreitete. Es war zu still. Keine Waldtiere oder gar Fledermäuse waren zu hören. In dem Moment schob sich eine Wolke vor den Mond und jegliches Leuchten wurde verschluckt. Einzig ein geisterhafter Schein blieb übrig, der kaum Kraft hatte, das Gelände zu erhellen.

Laut der Dorfbewohner war der junge Fürst mitsamt seinem Gefolge vor zehn Jahren verschollen. Es waren keinerlei Worte des Abschieds gekommen, nicht mal die ausstehenden Löhne hatten die Familien erreicht. Einfach nichts. Als sei der Hofstaat wie vom Erdboden verschluckt worden.

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte etwas durch dieses diffuse Licht zu erkennen. Angeblich sollte nun ein Monster in den Gärten des Schlosses hausen. Niemand hatte es bisher zu Gesicht bekommen – zumindest niemand, der darüber berichten konnte –, nur das verzweifelte Brüllen war gehört worden, das einem angeblich ins Mark der Knochen biss. Allein diese Geschichten reichten, um bis heute jeden Eindringling fernzuhalten.

Nur mich nicht.

Ich gab es auf, durch die Dunkelheit irgendwas erkennen zu wollen, und griff nach dem Messer, das immer an meiner Hüfte befestigt war. Die Klinge blitzte kurz im armseligen Schein des Mondes auf, während ich mir in den Daumen schnitt. Ich steckte das Messer wieder weg und drückte den Finger auf die Rune, die direkt über meinem Handgelenk eingebrannt war. Ich kniff die Augen zusammen, als meine Lebensenergie durch die wulstige Brandnarbe raste und dabei einen stechenden Schmerz durch meinen Körper hinauf zu den Augen jagte. Ein Zischen kam über meine Lippen. Der Anfang war immer am schlimmsten, die Wucht des Schmerzes riss mich mit, ehe er abflachte und ich das übrige dumpfe Pochen zur Seite schieben konnte. Die Dunkelheit war noch immer undurchdringbar, aber ich konnte dank meiner eigenen Magie jetzt besser sehen. Die Konturen der einzelnen Gegenstände waren geschärft und der Schein des Mondes war intensiver.

Die Kälte drang bereits durch meine Kleidung. Wenn ich die Dunkelheit ausnutzen und nicht demnächst erfrieren wollte, sollte ich mich auf den Weg machen. Langsam richtete ich mich auf und huschte gebückt zu den sicherlich ehemals gepflegten Büschen, um mich in ihrem Schatten dem Schloss zu nähern. Nichts begegnete mir auf dem Weg.

Der Schnee knirschte leise unter meinen leichten Schritten. Ich warf einen Blick über die Schulter. Hinter mir war ebenfalls nichts zu sehen. Das nächste Dorf war eine halbe Tagesreise von hier entfernt. Umgeben von Wald lag das Schloss still da. Efeu rankte sich an den marode wirkenden Mauern entlang und gab dem ganzen Anwesen einen verwunschenen Hauch. Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus und wurde zu einem stetigen Begleiter.

Mein Blick huschte durch die Umgebung. Ich hatte das Gefühl, dass bei jedem meiner Schritte stechende Augen auf mir lagen und beobachteten, wie ich mich dem verlassenen Anwesen näherte. Eine Unruhe befiel mich, die mich zur Eile antrieb.

Dieser eine Diebstahl noch, dann wären Linus, Orion und ich frei. Frei zu gehen, wohin wir wollten. Frei, uns ein eigenes Leben aufzubauen, ohne auf jemandes Erlaubnis zu warten, die niemals kommen würde. Mir durfte kein Fehler passieren, aber sobald ich mich selbst zu drängen begann, würde das unweigerlich folgen. Also holte ich tief Luft und stieß die Unruhe aus meinem Körper – so gut es eben ging. Das kribbelnde Gefühl des Beobachtetwerdens blieb hartnäckig an mir haften wie Spinnenweben.

Das Schloss ragte direkt vor mir in den Himmel. Um an die oberste Zinne zu schauen, musste ich den Kopf in den Nacken legen. Weiterhin erkannte ich keinerlei Regungen hinter den dunklen Fenstern. Selbst auf dem Schnee waren keine Abdrücke zu sehen, abgesehen von meinen eigenen.

Ich rieb über die Ärmel meines Mantels, dabei schob ich den Stoff nach oben und spürte die Erhebung meiner Narben. Ich mied den Blick auf die verschandelte dunkle Haut und konzentrierte mich auf das Schloss. Niemals hatte ein Gebäude eine solche Wirkung auf mich gehabt wie dieses alte Gemäuer. Ich wollte umkehren, es weit hinter mir lassen. Wenn nicht so viel an diesem Diebstahl hängen würde, könnte ich ohne Beute in die Gilde zurückkehren.

Die Gefühle, die mich hier heimsuchten, gefielen mir ganz und gar nicht und waren mit Sicherheit nur den Schauermärchen der Dorfbewohner geschuldet. Ein Rascheln ging durch den Busch, hinter dem ich gebückt hockte. Ich schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte mich, um das Objekt von Abraxas’ Begierde zu erspüren. Das machte mich so kostbar für den Anführer der Schwarzen Federn: Ich spürte die Magie. Ich war in der Lage, obwohl das Land so gut wie magietot war, die kribbelnde Kraft in Empfang zu nehmen und zu nutzen.

Ein sanftes Pulsieren war bemerkbar, aber nicht genug, um von Abraxas’ magischem Objekt herzurühren.

Ich huschte weiter und kundschaftete aus, ob eines der unteren Fenster geöffnet war. Bei einem verlassenen Schloss hatte ich damit gerechnet, dass Vandalen sich über das Gebäude hergemacht hatten – oder Obdachlose auf der Suche nach einem warmen, trockenen Plätzchen für die Nacht.

Ich ging die gesamte Front ab, die aus sechzehn Fenstern bestand – alle verriegelt. Teilweise sogar mit Brettern vernagelt. Ich verzog die Lippen.

Entweder ging ich um das ganze Schloss herum – auf der Suche nach einem möglichen Eingang – oder ich schlug eins der Fenster ein. Auf Zehenspitzen lugte ich in den Raum hinein, der sich hinter dem schützenden Glas verbarg. Den ganzen Tag und einen Teil der Nacht hatte ich das Schloss im Auge behalten. Mir war nichts aufgefallen. Niemand hatte das Gebäude betreten oder verlassen. Nichts hatte sich hinter den Fenstern geregt. Kein einziges Licht geflackert. Es würde mich zwar überraschen, wenn sich jemand in den Räumen aufhalten würde, aber ich durfte mir keinerlei Unaufmerksamkeit erlauben. Zeit war mein kostbarstes Gut und jede Minute, die ich einsparen konnte, musste ich auch einsparen. Sträubend ließ ich meinen Blick durch das Zimmer gleiten. Es musste früher als Salon gedient haben. Der Stoff der Möbel war zerrissen, als hätte ihn ein großes Tier mit seinen Krallen zerfetzt.

Mein Instinkt riet mir umzukehren. Zu vergessen, welchen Auftrag mir Abraxas gegeben hatte, und seine Wut in Empfang zu nehmen. Wenn auch nur ein Mensch diese Zerstörung gesehen hatte, verstand ich, wieso sie die Märchen von dem Monster kundtaten, und warum keiner von ihnen den Mut hatte, seine Familienangehörigen – oder deren Leichen – in diesem Gemäuer zu suchen. Beschwerlich schluckte ich den harten Kloß hinunter, der sich in meiner Kehle breitgemacht hatte, und sah noch einmal an der ganzen Front entlang, ob ich vielleicht irgendetwas übersehen hatte. Doch das hatte ich nicht.

Mein einziger Weg war, ein Fenster zu zerbrechen und damit höchstwahrscheinlich Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Kurzerhand zog ich den Ärmel meines gefütterten Baumwollhemdes über die Hand und schlug auf die Scheibe ein. Mit einem Klirren zerbrach das Fenster. Kurz horchte ich, ob jemand aufgeschreckt worden war. Als nichts an mein Gehör drang, griff ich nach dem Messer, ritzte in meinen Finger und fuhr mit dem Blut über die narbige Rune des Hörens. Der tobende Schmerz raste hoch bis zu meinen Ohren. Ich stützte mich am Fensterbrett ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Ich hasste die Runen. Sie hatten mich oft aus Situationen gerettet, die ich ohne sie nicht überlebt hätte, aber ich verabscheute sie mit derselben Intensität, wie ich Abraxas verachtete.

Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, schob ich den Riegel des Fensters beiseite und drückte es nach oben. Ich stützte mein Gewicht auf den Sims und bugsierte mich in den Salon hinein. Die Scherben knirschten unter meinen Lederstiefeln. Mein Herzschlag setzte einen Moment aus, als ich das ganze Ausmaß der Zerstörung im Inneren erkannte. Es waren nicht nur die Sitzmöbel, auch die Tapete hing in Fetzen gerissen von den Wänden. Bilder waren im Raum verteilt. Die Rahmen hingen gebrochen über den Gemälden. Eines davon zeigte mehrere Menschen, deren Gesichter jedoch zur Unkenntlichkeit zerschunden waren.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat ich tiefer in den Raum hinein. Die Schauermärchen über das Monster klangen plötzlich viel realer, als ich es mir eingestehen wollte.

Ich konzentrierte mich auf die Rune des Hörens und jagte noch etwas mehr meiner eigenen Magie hinein. Meine Knie zitterten bedrohlich, als der Schmerz durch mich hindurchfuhr und sich die Wirkung der Rune langsam entfaltete.

Vor zehn Jahren war die Luft noch mit Magie durchtränkt gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Kräfte ohne Blut und Runen nutzen können. Doch plötzlich war die Magie in unserem Land immer weiter verschwunden, bis sie komplett fort gewesen war. Die einzigen Methoden, um sich der Magie bedienen zu können, waren verzauberte Artefakte, die man anzapfen konnte – und Blutmagie. Besäße ich mehr Kraft, hätte es gereicht, wenn ich mich geschnitten und danach meinem Blut den Willen aufgezwungen hätte, aber so mächtig war ich bei Weitem nicht. Deswegen brauchte ich zu meinem Blut die Runen, die meine Gedanken verstärkten und meinen Körper dazu zwangen, dem Befehl zu folgen.

Im Schloss vernahm ich keinen einzigen Laut. In weiter Ferne hörte ich das Rufen eines Uhus. Doch alles schien einen weiten Bogen um das angeblich verfluchte Gebäude zu machen.

Mein Blick flog über die Zerstörung. Was auch immer seine Wut in diesem Raum ausgelassen hatte, war groß gewesen und hatte verdammt lange Krallen gehabt. Hauchzart strich ich über die Tapete, die in Streifen von den Wänden hing. Sie fühlte sich hart an meiner Haut an. Sie musste schon länger so hängen, wenn der Zahn der Zeit an ihr genagt hatte. Nichts an diesem Raum war noch heil. Alles war mit Gewalt zerstört worden.

Auf leisen Sohlen schlich ich durch den Salon, hinein in den Flur, der zur Eingangshalle des Schlosses führte. Ich konnte keinerlei Farben erkennen, alles war in Schwarz-Weiß getüncht. Die Halle war dennoch imposant. Es war eine Galerie; jeder, der eintrat, konnte das gläserne Dach der Residenz sehen und das atemberaubende Buntglasgemälde bestaunen, das das Licht des Mondes hineinließ und den Schein brach. In dem Glas war die Szene eines Engels abgebildet, der die Hand aufhielt und symbolisierte, dass er dieses Haus schützte. Ich kräuselte die Lippen. Hatte wohl nicht ganz so funktioniert mit dem Segen … Irgendjemand musste einen immensen Hass auf dieses Anwesen gehabt haben.

Ich schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte mich darauf, die Magie zu spüren, die angeblich hier wirken sollte, in einem Objekt, das Abraxas so dringend besitzen wollte.

Ein Stoß fuhr durch meine Glieder, als ich eine Kraft fand, die auf meine Anwesenheit reagierte. Ich öffnete die Augen und sah an der Treppe hinauf. Dort oben musste der aufgeladene Gegenstand sein. Die Magie pulsierte in meinen Adern. Es konnte nicht weit entfernt sein. Wie von einer Schnur gezogen trat ich auf die Treppe und lief nach oben.

Um mein Herz zog sich eine Dornenranke, die bei jedem Schritt enger wurde und mir das Atmen erschwerte. Ich fühlte mich in diesem Schloss nicht wohl und wollte nur noch schnell fort von hier.

Ein Knirschen ließ mich herumfahren. Das Herz in meiner Brust schlug mir bis zum Hals. Doch nach wie vor befand sich nichts und niemand hinter mir. In dem Flur gab es zwar kleine Nischen, die von Vorhängen abgetrennt waren, aber selbst diese rührten sich nicht.

Ich schluckte schwer und schlich weiter.

Die Steinmauer im Flur wies Löcher auf, als hätte jemand seine riesige Faust gegen die Wand gerammt – immer und immer wieder. Ich wollte nicht wissen, was für ein Kraftaufwand dahintersteckte. Wie viel Wut dazu nötig war, um solch eine Zerstörung zu hinterlassen und sich selbst Schmerzen zuzufügen.

Der Nachhall in meinem Körper wurde intensiver. Das Objekt musste in nächster Nähe sein.

Meine Schritte waren kaum auf dem Teppichboden zu hören. Nur das Knirschen des Schutts unter meinen Sohlen verriet meine Anwesenheit. Eisig kalter Atem schien mir in den Nacken zu pusten und bescherte mir einen Schauder nach dem nächsten.

Ich konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Die Narben auf meinem Rücken brannten bereits, wenn ich mir nur vorstellte, wie wütend Abraxas auf mich sein würde, falls ich versagen sollte.

Der Sog der Magie wurde intensiver. Ich blieb an Ort und Stelle stehen. Sah mich in dem Schloss um. Genau hier sollte das Objekt sein. Ich seufzte und untersuchte die Zimmer, die vom Flur abgingen. Doch in keinem von ihnen war etwas zu finden.

Ich presste die Zähne aufeinander und schlich eine weitere Treppe nach oben. Das wunderschöne Fenster der Galerie kam näher und für einen Moment betrachtete ich das Bild darin. Für die Schwarze Federn gab es keinerlei Glauben. Als die Magie verschwunden war, schien die gesamte Welt nicht mehr auf einen Gott vertrauen zu wollen. Warum hätte er uns die Kraft der Magie einfach nehmen sollen, nachdem er sie uns hatte kosten lassen?

Doch die Arbeit des Künstlers war atemberaubend. Mit meinen Augen fuhr ich die gelöteten Buntgläser nach und nahm das Antlitz des Engels in mich auf. Ich wünschte mir manchmal, einen starken Glauben zu haben. Mit Sicherheit sagen zu können, dass alles, was geschah, einen Sinn und Zweck besaß. Aber wir waren unsere eigenen Schmiede des Schicksals und seitdem die Magie verschollen war, sah das eines jeden Menschen eher düster aus.

Ich wandte mich von dem Fenster ab und glitt über die restlichen Stufen zur letzten Etage. Der Flur hier oben sah genauso aus wie der darunterliegende. Das Ziehen wurde mehr und ich hatte das Gefühl, dass ich jeden Moment nach dem Objekt greifen könnte. Doch in dem Flur gab es keinerlei Hinweise auf solch einen Gegenstand.

Für den Notfall besaß ich eine Rune, die mir den Weg zu der magischen Quelle zeigen konnte. Sie würde mich leiten, aber diese Rune brauchte Kraft – Unmengen an Kraft. Ich würde sie nicht lang aufrecht halten und danach mit großer Wahrscheinlichkeit auch keine anderen Runen mehr aktivieren können. Nachdenklich biss ich mir auf die Zunge und spielte meine Möglichkeiten durch. Das Schloss war dunkel und furchteinflößend. Es wollte mich nicht hier haben. Das spürte ich bei jedem Atemzug. Ich schloss die Augen. Um am schnellsten verschwinden zu können, war die Rune der Aufspürung also die beste Möglichkeit.

»Verdammt«, raunte ich und griff nach dem Messer, das ich für meine Schnitte nutzte. Ich schob meinen Ärmel nach oben und betrachtete für einen Augenblick die hell leuchtenden Narben auf meiner dunklen Haut und wischte das getrocknete Blut von den anderen Runen, ehe ich mich meinen Händen widmete. Die Spuren auf meinen Handflächen erzählten von den Aufträgen, die ich bisher hatte erfüllen müssen. Meine Handfläche war ein einziges Wirrwarr aus hellen Strichen. Die Rune der Aufspürung brauchte mehr Blut, als ich durch einen leichten Schnitt in den Daumen oder einen anderen Finger erbringen konnte. Schnell ließ ich die Klinge über meine Haut gleiten. Ein Zischen kam durch meine zusammengebissenen Zähne und ich schob die gestärkte Corsage sowie das Hemd hoch, um das Blut auf der Rune zu verteilen, die an meiner Hüfte eingebrannt war.

Schmerz machte sich hinter meinen Lidern breit und fuhr wie ein Rammbock durch meinen Kopf. Ein gepresstes Stöhnen kam über meine verschlossenen Lippen. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand. Mörtel löste sich von der Mauer und fiel auf die Erde. Als ich die Augen wieder öffnete und der Schmerz zu einem Klopfen abgeklungen war, befand sich vor mir auf dem Boden eine leuchtende Linie. Sie verschwand in dem letzten Zimmer des Flures.

Ich folgte der Spur. Die Tür des Raumes, in dem die Spur verschwand, baumelte schief in den Angeln. Die Vorhänge hingen zerrissen an den Stangen und aus der Matratze quollen Stroh und Stoff, mit der man sie einst gefüttert hatte. Federn lagen im Zimmer verteilt. Das Pulsieren wurde mit jedem Schritt stärker. Es fühlte sich wie ein zweiter Herzschlag an, der unter meine Haut kroch und meine Knochen zum Schwingen brachte.

Die Spur zog in Richtung Balkon. Ich runzelte die Stirn. Erneut erklang ein Knirschen, als würde sich jemand dem Zimmer nähern. Ruckartig drehte ich mich um, aber der Flur schien verlassen dazuliegen. Hier war jemand, dessen war ich mir sicher. Ich beruhigte meinen Atem. Mein Blick landete wieder auf der Linie. Hastig folgte ich dem Wegweiser und stieg auf den Balkon.

Die Aussicht verschlug mir für einen Moment den Atem. Im Mondschein lag ein riesengroßes verschneites Rosenlabyrinth vor mir. Wild und ungezähmt rankten sich die Rosenbüsche um die Bögen und die Wände. Es erstreckte sich wie ein Teppich unter meinen Füßen. Der Mond konnte es nur ungenügend erhellen. Nebel war vom Boden aufgestiegen und verlieh dem Irrgarten einen mystischen Hauch. Hätte ich nur die Zeit gehabt, mir das Schauspiel bei Tageslicht anzusehen.

Der Schmerz hinter meiner Stirn wurde penetranter. Eine kleine Erinnerung daran, dass meine Kraft beinahe aufgebraucht war. Ich zog die Augenbrauen zusammen und widmete mich wieder dem Wegweiser. Die leuchtende Linie rankte sich an der Mauer hinauf und verschwand auf dem Dach.

»Na wunderbar«, brummte ich leise. Mein Blick suchte die Mauer nach einem geschickten Platz zum Klettern ab. Ich fand eine Stelle, an der ein paar Löcher zu sehen waren. Es sah so aus, als hätte jemand Krallen ins Mauerwerk geschlagen – und das so oft, bis eine geeignete Kletterstelle geschaffen worden war. Ein Kloß setzte sich in meinem Hals fest. Nachdem, was ich innerhalb des Gebäudes gesehen hatte … und nun hier … Ich verdrängte die Angst, um mich auf den Auftrag zu konzentrieren. In dem Schloss hatte ich niemanden bemerkt. Keiner außer mir hatte das Gebäude betreten. Das Knirschen im Flur war sicherlich meiner Fantasie zu verdanken und der düsteren Atmosphäre, die das Haus versprühte. Ich rieb Zeigefinger und Daumen aneinander und schob die bedrückenden Gedanken von mir fort, ehe ich mich kletternd auf den Weg machte. Bevor ich mich aufs Dach hinaufziehen konnte, wurde ich ruckartig nach vorn auf die Ziegel gerissen, als ein Sog mich erfasste.

Es fühlte sich an, als würde jemand an meinem Blut ziehen, an der Magie, die sich darin befand. »Mist«, flüsterte ich und wischte hastig das Blut von der Rune. Die leuchtende Spur verschwand und damit die Magie. Doch der Sog blieb vorhanden. Hastig nutzte ich das Blut und rieb es auf die Heilrune, damit sich meine Wunden schlossen. Die Magie raubte mir weitere Kraft und ich spürte, wie sich die Schwäche in meinen Knochen ausbreitete. Doch das Ziehen verschwand und ich konnte mich endlich aufrichten.

Verwundert blieb ich an Ort und Stelle stehen. Auf dem Dach des Schlosses befand sich ein kleines Haus. Es war mit korinthischen Säulen verziert und ein sanfter roter, pulsierender Schein drang aus seinem Inneren. Rosenbüsche schlängelten sich an den Säulen hinauf und gaben dem ganzen einen märchenhaften Charakter. Ich warf einen Blick über die Schulter. Mir gefiel das alles nicht.

Vorsichtig trat ich auf den brüchigen Dachziegeln näher an das kleine Häuschen. Das rote Licht pulsierte zwischen den Säulen und besaß eine hypnotisierende Wirkung. Ich umkreiste das Häuschen, bis ich zum Eingang gelangte, von dem ich einen optimalen Blick ins Innere besaß. Ich erkannte einen einzelnen Tisch – und darüber schwebte eine Rose. Von ihr ging das rote Pulsieren aus. Ehrfürchtig stieg ich die Treppe hinauf. Mein Blick lag bei jedem Schritt wie gebannt auf der Rose. Sie stand in voller Blüte. Das pulsierende Rot wirkte wie ein Herzschlag.

Ich trat näher an das Objekt heran. Es war mein Schlüssel zur Freiheit.

»Freiheit.« Ich schmeckte das Wort mit meiner Zunge. Es fühlte sich fremd an, aber gleichzeitig war das Aroma dieser Buchstaben getränkt von einer köstlichen Süße. Nach all den Jahren wären wir endlich wieder frei. Wir wären nicht mehr gezwungen Diebe zu sein. Wir konnten uns ein neues Leben aufbauen. Nie mehr wären wir Abraxas Rechenschaft schuldig.

Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu den Narben schweifte, die sich unter meinem Mantel befanden und die mir der Gildenanführer zugefügt hatte, als die Magie verschwunden war. Sie würden mich begleiten … mein ganzes restliches Leben. Jeden einzelnen Tag würden sie mich daran erinnern, wer ich gewesen war. Doch nach diesem Auftrag war ich in der Lage, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich war nicht mehr der Güte eines Mannes ausgesetzt, für den dieses Wort vollkommen fremd war. Ich konnte Lunis etwas Besseres bieten als das, was ihm die Gilde aufzwang. Ihn beschützen vor dem, was Abraxas ihm antun würde, sollte sein Geheimnis jemals ans Tageslicht kommen.

Und Orion … Ein Lächeln breitete sich auf meinen vollen Lippen aus. Die letzte Nacht, bevor ich zu dem Auftrag aufgebrochen war, hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt: Dieser eine Auftrag noch … und dann wirst du meine Frau sein, Lynn. Für immer. Nichts und niemand wird uns dann noch trennen können.

Orions Stimme hallte in meinem Inneren wieder und ich griff mir an die Brust, wo hinter der schwarzen Feder, die mich als Gildenmitglied auszeichnete, ein Ring hing. Unser Versprechen.

Tränen der Freude traten in meine Augen und ich näherte mich weiter der Rose. Nur noch wenige Schritte trennten mich von der Freiheit, die mich magisch anzog. Langsam hob ich die Hand, wollte den dornenfreien Stiel umfassen, doch ehe ich meine Finger darum schließen konnte, wurde ich am Kragen gepackt und nach hinten gerissen.

Die Luft wurde mir beim Aufschlag aus der Lunge gedrückt. Schwarze Punkte flimmerten vor meinem Gesichtsfeld.

»Was zum …?«, fluchte ich, doch die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich das Monster entdeckte.

Zerrissene Anziehsachen, die mit Sicherheit einmal edel angemutet hatten, hingen in Fetzen an seinem behaarten Leib. Blaue Augen leuchteten in der Dunkelheit in einem schummerigen Schein. Eine lange Schnauze ragte aus dem Gesicht, aus dem bedrohliche Reißzähne hervorblitzten. Geifer tropfte von ihnen hinunter. Hörner bohrten sich von seinem Schädel aus in die Luft. Es sah aus wie der Teufel höchstselbst.

Wie erstarrt lag ich auf dem Boden, die Hände auf das Holz gestützt. Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen. Nicht einmal von solchen Scheusalen gehört.

Das Monster hatte sich der Rose zugewandt, als wollte es sichergehen, dass ihr nichts fehlte. Seine langen tierartigen Arme lagen schützend auf dem Tisch.

Das Monster löste den Blick von der Rose und widmete sich wieder mir. Es näherte sich langsam. Aus jedem schweren Schritt sprach die Bedrohung. Sein Nackenfell hatte sich aufgerichtet. Erst jetzt, wo dieses … Ding die Pranken nach mir ausstreckte, erkannte ich die langen scharfen Krallen, die im pulsierenden Licht der Rose unheilvoll schimmerten.

Das Herz in meiner Brust war das Einzige, das sich bewegte, und es klopfte heftig gegen den Brustkorb. Mein Instinkt schrie mich an, endlich aufzustehen und fortzurennen, so weit mich die Beine tragen konnten. Doch ich war wie versteinert. Mein Blick war mit dem des Monsters verflochten. Ich traute mich nicht, das Vieh aus den Augen zu lassen, aus Angst, dass mein letztes Stündlein geschlagen hätte, wenn ich mich rührte.

Ein Knurren kam aus dem Rachen des Monstrums. Ein Schwall fauliger Luft traf mein Gesicht. Mit einem Mal wusste ich, wie sich ein Reh im Angesicht eines Bären fühlte. Ich konnte nichts ausrichten, außer zu rennen. Innerlich schrie ich meine Beine an sich endlich zu bewegen. Zu flüchten. Angst raste durch meinen Körper und ließ eiskalten Schweiß aus meinen Poren treten.

Ich war mir sicher, dass dieses Wesen der Wächter der Rose war. Und es hatte gerade einen Eindringling entdeckt. Mich.

Das Monster holte mit seiner Pranke aus. Die Krallen kamen pfeilschnell auf mich zu. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits, wie ich jämmerlich auf diesem Dach starb, bevor ich überhaupt ein Leben gehabt hatte.

Doch bevor die Klauen mich trafen, befolgte mein Körper endlich meine Befehle. Ich stieß mich mit den Armen ab, machte eine Rolle und brachte Abstand zwischen mich und die scharfen Klauen.

Mit geübtem Griff schnappte ich mir das Messer und schnitt mir in den Finger, um mit dem Blut über die Rune der Schnelligkeit zu fahren. Ich versuchte, an dem Wesen vorbeizuschlittern – hin zur Blume –, aber das bullige Monster stellte sich mir in den Weg. Ein Brüllen kam aus seiner Kehle. Das ganze Dach bebte unter meinen Füßen.

Kraftvoll sprang ich gegen die Wand des Gebäudes, um das Biest zu umrunden, und schnappte mir die Rose vom Tisch. Ich wandte mich in die Richtung, aus der ich gekommen war. Nur fort von dem Vieh.

Meine Beine bewegten sich ohne mein Zutun. Alles in mir war darauf ausgerichtet zu überleben. Das Donnern des Monsters, als es auf den verschneiten Ziegeln Pranke für Pranke aufschlug, trieb mich an. Die Kante des Daches wurde sichtbar. Ich warf einen Blick über die Schulter. Mein schwarzes Haar legte sich wie ein dunkler Vorhang über meine Augen, aber zwischen den Strähnen erkannte ich, dass das Vieh mir verdammt nah war. Ich richtete meinen Blick wieder nach vorn und wäre beinahe über die Kante gefallen. Nur mit allergrößter Mühe konnte ich mich vor dem Absturz in die Tiefe bewahren.

»Teufelsdreck!«, fluchte ich.

Die Zeit, an der Mauer hinunter zum Balkon und danach durchs Schloss zu fliehen, hatte ich nicht. Die Rune der Aufspürung hatte sich an meiner Kraft bedient und ich spürte bereits, wie ich schwächer wurde. Lange konnte ich die Schnelligkeit nicht mehr aufrechterhalten. Mein Blick wanderte in die Tiefe und ich aktivierte die Rune der Stärke.

»Bitte, bitte, lass es funktionieren«, murmelte ich und sprang.

Schmerzhaft wie ein rasender Stein fuhr die Magie durch meinen Körper und verstärkte meine Knochen. Der Aufprall auf dem Boden fühlte sich an, als würde sich ein Pfahl durch meine Innereien bohren. Zum Glück brach ich mir tatsächlich nichts – immerhin ein Lichtblick. Erleichtert stieß ich den Atem aus. Mein Blick wanderte nach oben.

Das Monstrum stand an der Kante und brüllte. Es fuhr mir durch Mark und Bein. Für einen Moment konnte ich das Biest einfach nur anstarren. Ich war wie gebannt, konnte nicht glauben, was ich in diesem Moment sah. Selbst als die Magie in unserer Welt noch so natürlich wie die Luft zum Atmen gewesen war, hatte ich niemals von solchen Scheusalen gehört.

Seine Krallen bohrten sich in die Dachrinne und zerquetschten das Metall augenscheinlich mühelos. Schweiß brach mir aus. Panik schnürte mir den Hals zu. Das Monster sprang auf den Balkon. Seine blau glühenden Augen fixierten mich.

Ich sah geradeaus und entdeckte den Rosenirrgarten. Ohne lange nachzudenken, rannte ich hinein. In diesem Labyrinth würde ich das Monster hoffentlich abhängen können. Mir vielleicht sogar ein Versteck suchen, das mich vor den Augen und der Spürnase des Scheusals verbarg. Lange würde ich die Kraft der Runen nicht mehr nutzen können. Sie raubten mir mit jedem Schritt, mit jedem Herzschlag mehr meiner Energie. Ich hasste es und doch war ich darauf angewiesen. Ohne sie wäre ich ein Niemand.

Fest presste ich die Rose an meinen Körper. Ihr steter Magieimpuls fühlte sich an, als würde ein zweites Herz in meiner Brust schlagen. Ein Sog fuhr durch meinen Körper und ich hatte das Gefühl, dass die Magie schneller als sonst aus meinem Körper wich. Doch wahrscheinlich lag das nur an dem Adrenalin, das durch mich hindurchgepumpt wurde, das mich dazu antrieb zu überleben, damit ich endlich die Freiheit genießen konnte, die Lunis, Orion und mir zustand … die ich ihnen versprochen hatte.

Ein tiefes Brüllen ließ mich zusammenzucken. Beinahe wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. Ich unterdrückte einen Fluch und rannte um die nächste Ecke, schlitterte dabei über den Schnee, weil ich die Geschwindigkeit unterschätzt hatte, und fiel fast in die Büsche. Die Dornen zogen an meinem Mantel und zerrissen ihn. Doch das war mir egal. Das Herz in meiner Brust rannte wie ein wildes Pferd auf der Flucht. Schweiß lief meine Stirn hinab und mir ins Auge. Hastig wischte ich ihn weg.

Wieder ein Brüllen.

Es klang so verdammt nah. Mein Geruch hing sicherlich für ihn in der Luft wie ein verfluchtes Signalfeuer. Ich sah mich nach einem Ausweg, einer Möglichkeit um, wie ich das Vieh verwirren konnte.

Es gab keine Wände, an denen die Rosen hochwuchsen. Es waren bloß Dornen. Ich hasste mich selbst für den Entschluss. Es war jedoch besser, Schmerzen zu erleiden, als bei diesem Auftrag mein Leben zu lassen. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte ich in die Hecke hinein und kämpfte mich durch die Dornen. Sie rissen an meiner Haut. Ich fühlte, wie warmes Blut an Gesicht und Armen entlanglief, ließ mich davon aber nicht beirren und rannte weiter. Die Magie zerrte an meiner Lebensenergie. Ich fühlte mich, als würde ich bei jedem Schritt, den ich tat, um Jahrhunderte altern. Erneut rannte ich durch eine Rosenwand, in der Hoffnung, dass das Monster dabei meine Spur verlor.

Ein frustriertes Knurren erklang weiter entfernt. Erleichterung machte sich in mir breit. Ich spurtete weiter, auf der Suche nach einem Versteck. Meine Kraft schwand zusehends aus mir. Wenn ich nicht bald einen Platz fand, an dem ich sicher war, brachte mich nicht das Monster um, sondern meine eigene Magie.

Ich durchbrach eine weitere Hecke. Offensichtlich war ich in der Mitte des Labyrinths angekommen. Ein angelegter Teich tat sich vor mir auf, an dessen Seite ein Pavillon stand. Das Gebäude war auf einer seichten Anhöhe erbaut worden. Meine Sicht verschwamm leicht. Ich wusste, das war das Zeichen, dass ich die Verbindung zwischen den Runen und mir kappen musste. Hastig warf ich einen Blick über die Schulter. Nichts war zu sehen. Nur das schwere Atmen und die lauten Schritte des Monsters waren zu hören – viel zu nah. Ich umkreiste den Pavillon und entdeckte ein Loch, in das ich mit Mühe hineinkriechen konnte. Hastig steckte ich die Rose in meine Tasche und wankte dabei, ehe ich endlich in den hoffentlich schützenden Spalt krabbelte.

Der Wunsch, dass dieses Monster bei Tagesanbruch verschwand, hielt mich am Leben, während mein Sichtfeld sich weiter von Schwärze einnehmen ließ. Hastig wischte ich das Blut von den Runen, doch die Erschöpfung ließ mich direkt in den Schlaf fallen.

Zwei

Das Licht der Sonne drang durch meine Lider. Ich zog die Stirn kraus. In meinem Kopf hämmerte es unablässig. Am liebsten wollte ich zurück in die Dunkelheit schwinden, aber die Erinnerungen an die gestrige Nacht ließen mich erschrocken zusammenzucken. Ich riss die Augen auf, was mit einem penetranten Hämmern hinter meinen Schläfen quittiert wurde, und sah mich um.

Noch immer befand ich mich liegend unter dem Pavillon. Für einen einzigen Herzschlag erlaubte ich mir die Erleichterung zu fühlen, die mich bei der Erkenntnis durchfuhr. Die Strahlen der Sonne schienen mir durch die Bodendielen des Pavillons direkt ins Gesicht. Dreck und Spinnenweben hatten sich auf meiner Kleidung breitgemacht. Ich linste zum Durchgang, durch den ich mich die letzte Nacht gequetscht hatte. Keine glühenden Augen oder dolchscharfe Krallen waren zu sehen, was ich als gutes Zeichen wertete. Vorsichtig robbte ich etwas näher zum Ausgang.

Erst jetzt fielen mir die Spuren der Pranken ins Auge, als hätte das Monster versucht, sich zu mir durchzugraben. Eine eisige Hand quetschte meine Eingeweide. Irgendwas musste das Biest verscheucht haben, aber was? Es hatte sicherlich nicht das Interesse an mir oder der Rose verloren.

Es war kein Geheimnis, dass magische Artefakte wie diese Blume auf dem Schwarzmarkt verdammt viel wert waren. Die Adeligen hatten untereinander mittlerweile ein irrsinniges Spiel entwickelt, in dem sie immer wieder Diebe aussandten, um magische Gegenstände von anderen Anwesen zu entwenden. Gut für uns, wenn wir bei einem dieser Aufträge nicht gerade unser Leben verloren. Ein schaler Geschmack breitete sich in meinem Mund aus.

Mein Blick richtete sich wieder auf den Ausgang. Das Biest war mit Sicherheit nicht ohne einen guten Grund verschwunden. Zwar wusste ich halbwegs, was mich außerhalb meines kleinen Schutzraumes erwartete, und meine Kräfte waren zu einem kleinen Teil wiederhergestellt, aber die Erschöpfung steckte noch in meinen Knochen und ließ ein Zittern durch meinen Körper rieseln. Ich musste mir eingestehen, dass ich nur ungern mein Glück von gestern Nacht erneut herausfordern wollte. Eine Armee an Schutzengeln musste über mich gewacht haben. Erschöpft rieb ich mir über die Stirn. Wieder sah ich zu dem Spalt hoch. Vielleicht war da draußen etwas noch Schlimmeres erschienen, vor dem das Monster geflüchtet war. Ein Kloß setzte sich bei dem Gedanken in meinem Hals fest.

»Verflucht«, murmelte ich und zog mich hinaus. Doch bevor ich mich aus dem Spalt drängte, sondierte ich erst meine Umgebung. Nichts verriet die Anwesenheit von irgendetwas Lebendigem in meiner Nähe.

Ich holte tief Luft an und stieß sie zischend aus. Ich quetschte mich unter dem Pavillon heraus, richtete mich auf und klopfte den Dreck von meiner Hose.

»Guten Morgen – beziehungsweise schon beinahe Mittag.«

Mit einem spitzen Schrei zuckte ich zusammen und drehte mich zu der Stimme um. Ein junger Mann saß im Pavillon und musterte mich aus seinen stechend blauen Augen. Mir rieselte eine Gänsehaut über den Körper. Wieso hatte ich ihn nicht gespürt? Die braunen Haare hingen ihm verspielt ins Gesicht und betonten seine hellen Augen und die blasse Haut. Ein leichter Bartschatten hatte sich auf den feinen Zügen ausgebreitet. Die Kleidung wirkte edel, wenn auch etwas in die Jahre gekommen. Er hatte seine Beine überkreuzt und das Kinn auf die Hand gestützt.

Gestern hatte ich niemanden im Schloss oder außerhalb der Mauern entdecken können. Woher kam der Mann so plötzlich? Hatte er das Monster verscheucht?

»Hallo?«, erwiderte ich unsicher. Vorsichtshalber wich ich einen Schritt zurück und presste die Tasche unauffällig an meinen Körper, während ich mich nach einem Fluchtweg umsah.

»Du wirst keinen Weg finden, der dich vor mir rettet.«

Ich war verwirrt. Ein amüsierter Zug hatte sich auf seine Lippen gelegt. Er wirkte nicht bedrohlich. Im Gegenteil, er sandte eine beinahe lästige Gelassenheit aus, die mich nur noch unruhiger machte. Wer war der Kerl?

»Du hast etwas, das mir gehört«, redete er in einer ruhigen Tonlage weiter.

»Was sollte das sein?«, fragte ich herausfordernd und reckte das Kinn vor. Mein Blick glitt durch die Umgebung, aber das Monster war nirgends zu sehen. Schlagartig kehrte mein Mut zurück. Mit einem Menschen kam ich zurecht. Selbst wenn er sich für noch so schnell hielt, wenn ich meine Rune benutzte, würde er mich nicht aufhalten können. Zu oft war ich schon vor irgendwelchen dümmlichen Wachen weggerannt, die nur noch den Staub schlucken konnten, den ich hinter mir aufgewirbelt hatte.

Er lachte leise. »Wir wissen beide, was du in deiner Tasche hast, kleine Diebin.«

Ich versuchte den herablassenden Spitznamen zu ignorieren, selbst wenn es mir schwerfiel. Langsam machte ich noch einen Schritt nach hinten.

Der Mann stand auf. Seine Schritte waren geschmeidig wie die eines Raubtieres auf Beutejagd.

»Du solltest mir nicht zu nahe kommen«, sagte ich drohend und griff an mein Messer.

Wieder lachte er.

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte Ruhe zu bewahren. »Du magst gefährlich sein, aber glaub mir: Ich bin gefährlicher. Gib sie mir.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Er zog seine Augenbrauen in die Höhe und musterte mich abschätzig. »Nicht nur eine Diebin, sondern auch eine Lügnerin.«

Vor mir blieb er stehen. Mit zusammengepressten Zähnen legte ich den Kopf in den Nacken, um den Augenkontakt mit ihm zu halten. Keinen einzigen Schritt wich ich zurück. Sicherlich würde ich mich nicht von einem einfachen Menschen einschüchtern lassen.

Der Mann beugte sich weiter vor, sodass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. Ein Prickeln glitt über meine Haut. »Gib die Rose zurück, kleine Diebin.«

Seine Stimme war rau und ließ mein Inneres vibrieren.

In mir sträubte sich alles gegen den abfälligen Namen, den ich für meinen Geschmack viel zu häufig hörte. Unauffällig schob ich meine Tasche auf den Rücken. »Es tut mir leid, aber du täuschst dich. Vielleicht eine einfache Verwechslung«, versuchte ich mich herauszureden und hob entschuldigend die Schultern. »Ich bin bloß auf der Durchreise.«

Er grinste mich überheblich an. »Meinst du wirklich, dass ich jemanden verwechsle, der mir die Rose vom Dach stiehlt und sich dann feige unter dem Pavillon versteckt? Zudem hast du einen unverwechselbaren Geruch.« Er schloss die Augen und sog die Luft demonstrativ tief durch seine Nase ein. »Du wärst ein wundervolles Mitternachtsmahl.«

Ich erstarrte. Mitternachtsmahl? Hilfe suchend sah ich mich in dem Rosengarten um. Nur ein einziger Gang führte aus der Mitte des Labyrinths, der genau hinter dem Mann war. Ich bezweifelte, dass er mich gehen lassen würde – vor allem, wenn ich ihm die Rose nicht gab.

»Du wirst keine Rettung finden, kleine Diebin«, raunte er mir zu.

Er war mir so nah, dass sein Atem meine Haut berührte. Meine Nervenenden kribbelten aufgrund seiner Nähe und eine Gänsehaut erwachte in meinem Nacken. »Rück die Rose aus und ich lasse dich von hier verschwinden.«

»Ich habe nichts, das dir gehört«, erklärte ich mit Nachdruck. Mein Blick kreuzte seinen. Das Lügen gelang mir viel zu leicht. Ich hasste es, dass mir die Worte so galant über die Zunge tanzten, und gleichzeitig war ich dankbar über die Gabe, die mir jahrelanges hartes Training eingebracht hatte.

Er schüttelte den Kopf und griff nach meiner Tasche. Ich drehte mich, um aus seiner Nähe fliehen zu können, sodass die Tasche aus seinen Fingern schlüpfte, und rannte an ihm vorbei in den Gang, der mich nach draußen führen würde. Immer schneller bewegte ich meine Beine, um den Rosengarten hinter mir lassen zu können. Schlitternd bog ich um die erste Ecke, dann um die zweite und landete in einer Sackgasse.

»Mist!«, fluchte ich und sah mich um. Doch es gab keinen Anhaltspunkt, der mir irgendwie den Ausgang wies.

Mein Körper brannte noch von den Verletzungen der gestrigen Nacht. Doch ich glaubte nicht, dass ich einen anderen Ausweg finden würde als mitten durch die Hecke. Ich schluckte schwer.

»Du wirst nicht rausfinden. Als du den Irrgarten als Schutz wähltest, hast du dein Urteil unterschrieben.« Seine Stimme hallte durch die Hecken.

Erschrocken riss ich die Augen auf. Er konnte Magie wirken? Ich hatte nichts gespürt. Kein Prickeln, das mir verriet, dass die Magie in ihm schlummerte. Ich musste von hier fort – schnellstmöglich! Erst ein Monster und jetzt ein Magier … Wie viel Pech konnte ich bitte schön haben?

Hastig warf ich einen Blick über die Schulter, konnte den Mann nicht entdecken und quetschte mich danach durch die Hecke.

Ich hatte das Gefühl, dass die Dornen dieses Mal noch schärfer waren und mir mehr und mehr meiner Haut aufrissen. Auf der anderen Seite der Hecke gab es eine Abzweigung. Ich wählte den rechten Weg und rannte los.

Ich wagte es noch nicht, die Runen zu benutzen. Zwar hatte ich wieder Kraft aufbauen können, während ich geschlafen hatte, aber noch war ich nicht wieder vollends hergestellt.

»Du entkommst mir nicht …«, hallte die Stimme des Mannes durch die Büsche.

Mein Puls flackerte heftig gegen die Haut. Ich wollte mich nicht von meinen Gefühlen beeinflussen lassen, versuchte zu verdrängen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, und rannte weiter. Wie konnte er die Macht haben, seine Stimme durch die Hecken hallen zu lassen? Wie stark musste er sein?

Meine Beine wurden schwer. Schweiß lief mir über den Nacken, hinein in mein zerrissenes Hemd. Ich wollte es mir nicht eingestehen. Doch es schien, als würden die Wände immer näher kommen und das Labyrinth sich in unendliche Weiten ausbreiten. Ich hatte mich verirrt.

»Verflixt«, raunte ich.

Es sah alles gleich aus. Selbst das Schloss konnte ich von meinem Standpunkt aus nicht mehr sehen, weil die Hecken zu hoch waren.

»Du kommst nicht weiter, nicht wahr? Gib mir die Rose und ich lasse dich gehen. Du musst dein Leben nicht hier verlieren, kleine Diebin.« Wieder drang die Stimme des Mannes durch den Garten, als wäre er direkt hinter mir – was er jedoch nicht war. »Gib auf!«

Ich schüttelte den Kopf. Meine Lippen blieben versiegelt. Ich konnte nicht aufgeben. In dieser Tasche befand sich nicht nur mein eigenes Leben, sondern das derer, die ich liebte. Ich durfte jetzt nicht versagen!

Mein Blick glitt über die Büsche. Irgendwie musste ich doch rauskommen, ohne dass mich die Dornen zerrissen.

Ich rannte weiter in Richtung Norden. Eigentlich müsste dort das Schloss liegen. Eigentlich …

Ich bog um die nächste Ecke und blieb wieder in einer Sackgasse stecken. Meine Beine zitterten unter meinem Gewicht. Der Atem kam nur noch schwer über meine Lippen. Ich keuchte. Steckte fest. Die Rose war unser Ausweg. Ich hatte Lunis und Orion versprochen, dass ich sie rausholte. Rüde wischte ich mir über die Wangen, über die eine verräterische Nässe geglitten war. Ich würde einen Weg finden. Irgendeinen. Aufgeben war keine Option.

Es raschelte neben mir. Instinktiv presste ich mich in die Hecke und hielt den Atem an. Doch es schien nicht der Mann zu sein, der das Geräusch verursacht hatte. Ein Druck wurde in meinem Rücken bemerkbar, der mich stetig vorwärtsschob. Ich begann wieder zu atmen und sah hinter mich. Niemand stand dort. Ich wurde weitergedrängt, stolperte. Langsam, aber stetig wuchs das Gestrüpp nach vorn.

»Das darf doch nicht wahr sein«, raunte ich mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen. Mein Blick raste die ganze Gasse entlang. Es sah nicht so aus, als würde nur die eine Hecke wachsen. Der ganze Weg wurde schmaler. Das Rascheln wurde lauter.

Hastig rappelte ich mich auf und rannte los. Mir war es egal, wohin ich lief – solange es mich aus dem Irrgarten brachte.

Als würden die Hecken bemerken, dass ich hinauswollte, begannen sie schneller zu wachsen. Ich musste schräg laufen, um noch weiterzukommen.

Die Äste drückten mir auf Rücken und Bauch. Der Druck wurde mehr und mehr. »Nein!«, rief ich und wehrte mich gegen die Pflanzen.

Sie schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben. Mein Herz schlug so hektisch wie ein Kolibri mit seinen Flügeln. Angst krallte sich in mein Innerstes. Panik fuhr eiskalt durch meine Venen. So wollte ich nicht sterben – ich wollte noch gar nicht sterben!

Ich zog an den Ästen und versuchte, mich an ihnen vorbeizudrängen. »Verzieht euch!«, schrie ich und kämpfte gegen die dornenbesetzten Ranken.

Wurzeln schlangen sich um meine Handgelenke. Ich fühlte Druck an meinen Knöcheln. Ein Ast zwang sich um meine Taille. Schluchzer stiegen meinen Hals empor und hallten schrecklich laut in meinen Ohren.

Der Ast um meine Taille begann mich einzuquetschen. Es kamen noch mehr Schlingen dazu. Ich wehrte mich mit allerletzter Kraft gegen die Hecken, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Immer wenn ich gerade einen Ast beiseiteschob, tauchten zwei neue auf.

Dunkelheit bildete sich um mein Sichtfeld. »Lasst mich los …«, keuchte ich ermattet. Doch es wurde bereits alles tiefschwarz.

Drei

Kälte war das Erste, das ich bemerkte. Eisige Kälte, die an meinem Körper hochkroch. Dafür dass ich äußerlich kalt war, raste Schmerz glühend heiß durch mein Innerstes. Ich stöhnte und versuchte mich aufzurichten. Meine Hände fanden auf einem steinigen Untergrund Halt und ich schob mich in eine sitzende Position. Mit geschlossenen Lidern ließ ich mich in den Schneidersitz sacken.

»Verfluchter Mist«, raunte ich.

»Du fluchst viel.«

Erschrocken öffnete ich die Augen. Der Mann saß vor mir. Nur die eisernen Stangen, die meine Zelle abgrenzten, trennten uns voneinander.

»Es gibt hier auch eine Menge zu verfluchen«, gab ich zurück. Mein Blick glitt über die nassen Wände. Ich saß auf schimmeligem Stroh. Meine Lippen verzogen sich. Ich hatte schon schlimmere Übernachtungen gehabt. Ich suchte die Umgebung weiter ab, um meine Tasche ausfindig zu machen.

»Suchst du die hier?« Der Mann hielt meinen Beutel hoch und damit in greifbare Nähe.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und unterdrückte den Drang, darauf zuzustürzen.

Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus, als wüsste er ganz genau, was er dort in der Hand hielt. »Du hast dich besser unter Kontrolle, als ich gedacht hatte.«

»Ich bin kein Tier«, zischte ich ihn warnend an.

Das Lächeln vertiefte sich, sodass ein Grübchen an seiner Wange sichtbar wurde. »Nein, in diesem Gefängnis gibt es nur ein einziges Tier.«

Ein Schauer rann durch meine Glieder, der nicht von der Kälte herrührte. »Du hast, was du wolltest. Lass mich frei«, verlangte ich.

Er schenkte mir ein trauriges Lächeln. »Hättest du von dir aus die Rose rausgerückt, hätte ich vielleicht Wort gehalten und dich gehen gelassen. Aber so? Wieso sollte ich riskieren, dass du erneut versuchst, sie zu stehlen?«

Ich biss mir auf die Lippe. Natürlich würde ich es erneut versuchen. Dafür war sie zu wichtig.

»Was erhoffst du dir von der Rose?«

»Das geht dich nichts an.«

Er schnaubte belustigt. »Diese Rose ist durch einen Fluch meinem Schutz unterstellt. Ich glaube schon, dass ich ein Recht habe zu erfahren, was du mit meinem Eigentum zu tun gedenkst.«

Ich knirschte mit den Zähnen. »Seit die Magie aus unserer Welt verschwunden ist, kann kein Fluch mehr aufrechterhalten werden. Glückwunsch, du bist frei.«

Ein trauriger Zug glitt über die attraktiven Züge des Mannes, der so schnell wieder verschwand, dass ich beinahe glaubte, es mir nur eingebildet zu haben.

»Mein Fluch kann nicht gebrochen werden – zumindest nicht, solange die, die den Fluch einst aussprach, noch lebt.«

»Die Magie ist fort. Es gibt nur noch verdammt wenige Magier, die in der Lage sind, das letzte bisschen Kraft zu nutzen.«

Der Mann schwenkte den Kopf nach rechts und links. »Das mag für dich stimmen. Ein ungeübter Magier wird dieselben Probleme haben, wie du sie hast.« Er nickte mir zu und ich wusste, dass er meine Runen gesehen hatte.

Ich zog die Mantelärmel weiter nach unten, in der Hoffnung meine Narben zu verbergen. »Dann solltest du jetzt dennoch frei sein, es sei denn, diejenige, die den Fluch gewirkt hat, ist verdammt mächtig.«

Ein leichtes Lächeln kräuselte sich auf seinen attraktiven Lippen. »Oder einfach kein normaler Magier«, wandte er ein.

Ich runzelte die Stirn.

Er betrachtete mich nachdenklich. »Du bist gut als Diebin«, wechselte er schlagartig das Thema.

»Wohl nicht gut genug.« Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust und mein Blick richtete sich wieder auf meine Tasche. Ich musste sie wieder in die Finger kriegen.

»Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.«

Ein spöttisches Lachen perlte über meine Lippen. Ich sah in das Gesicht des Mannes. Er erwiderte meinen Blick vollkommen nüchtern und mein Lachen verstummte. »Ist das dein Ernst?«

»Sonst hätte ich es nicht angesprochen, oder?«

Ich betrachtete ihn. Er schien etwas älter zu sein als ich – etwa so wie der verschollene Fürst. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Eine Überlegung wuchs in mir, je länger ich den Mann vor mir studierte. Sein Verhalten und seine Art zu sprechen waren nicht die eines gewöhnlichen Menschen. Wieso hatte ich den Dorfbewohnenden nicht besser zugehört, als sie mir Geschichten über ihren Fürsten erzählt hatten? »Wobei sollte ich dir schon helfen?«, fragte ich nun doch nach, um mir Zeit zu verschaffen.

»Würdest du mir meine Geschichte glauben, wenn ich sie dir erzähle?«, wollte er wissen.

»Warum sollte ich?« Meine Augen wanderten über die Eisenstangen – auf der Suche nach einer Schwäche, die ich zu meinem Vorteil ausnutzen könnte.

»Weil ich keinen Grund habe, dich anzulügen.«

»Und wieso hältst du mich dann gefangen?«

»Weil du eine Diebin bist und ich dich auf frischer Tat ertappt habe. Nach dem Gesetz darf ich alles mit dir machen, wonach mir der Sinn steht, um Gerechtigkeit zu erlangen.«

Ich schürzte die Lippen. Dem konnte ich nicht widersprechen.

»Du hast nichts zu verlieren, wenn du mir zuhörst, oder?«

Ich schnaufte. Die heiße Verzweiflung mischte sich mit meiner Wut. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? »Du hast keine Ahnung!«, fuhr ich ihn an. Sofort presste ich wieder die Lippen aufeinander. In meinem Kopf hörte ich das Ticken von Abraxas’ Taschenuhr, die jede Minute zählte, die ich fortblieb. Wenn ich noch mehr Zeit vertrödelte, würde der Herr der Gilde jemanden hinter mir herschicken und das würde wieder Kosten verursachen, für die ich aufkommen musste … Ich brauchte diese Rose und musste schnellstens von hier verschwinden.

Mühsam rappelte ich mich auf. Schwindel befiel mich und ließ mich an der glitschigen Wand Halt suchen. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken?

»Und du glaubst, du hast mehr Ahnung?«

»Was faselst du denn da?«, fragte ich ihn genervt.

»Ich spreche davon, dass du mir nützlich sein könntest«, wiederholte er.