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Den eigenen Weg in Freiheit gehen
Fast ihr halbes Leben lang musste Soname Yangchen um Freiheit kämpfen. Im Alter von sechs Jahren wird die Tibeterin als Sklavin in eine fremde Familie gegeben, erst zehn Jahre später gelingt ihr unter dramatischen Umständen die Flucht über den Himalaya. Heute lebt sie in Berlin und begeistert als »Stimme Tibets« mit ihrer Musik die Menschen.
Soname betrachtet unsere westliche Welt auf ganz eigene Weise und eröffnet damit einen vollkommen neuen Blick auf unser Leben. Sie lässt uns die Schönheit erkennen, die selbst in den alltäglichsten Dingen verborgen liegt. Ein Buch wie ein Moment des Glücks, der sich den Weg in unser Herz sucht …
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Seitenzahl: 238
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das Buch
Fast ihr halbes Leben lang musste Soname Yangchen um Freiheit kämpfen: Im Alter von sechs Jahren wird die Tibeterin als Sklavin in eine fremde Familie gegeben, erst zehn Jahre später kann sie sich durch eine spektakuläre Flucht befreien. Als »Stimme Tibets« begeistert sie mit ihrem Gesang seit 1998 Tausende von Menschen.
Auf dem Hintergrund ihrer buddhistisch geprägten Lebensphilosophie betrachtet Soname nun unsere westliche Welt und berichtet dabei von ihrem persönlichen Weg und ihren Erfahrungen. Ihre berührende Geschichte eröffnet uns einen vollkommen neuen Blick auf das eigene Leben: Sie lässt die Schönheit erkennen, die selbst in den alltäglichsten Dingen verborgen liegt, und zeigt, wie wir – anstatt in die Ferne zu schweifen – das Glück vor der eigenen Haustür finden können.
Die Autorin
Soname Yangchen wurde 1973 im tibetischen Yarlungtal geboren. In einer dramatischen Flucht über den Himalaja entkam sie 1989 der chinesischen Schreckensherrschaft und lebte sechs Jahre in Indien, bevor sie nach England zog, wo ein Kenner der internationalen Musikszene ihr Gesangstalent und die klare Schönheit ihrer Stimme entdeckte. Das Buch, das sie über diese ersten Stationen ihres Lebens schrieb, wurde unter dem TitelWolkenkindauch in Deutschland ein Bestseller. Soname Yangchen hat bisher fünf CDs veröffentlicht, ist beinahe überall auf der Welt aufgetreten, etwa bei Veranstaltungen mit Leonardo DiCaprio, Catherine Deneuve, Sharon Stone, Forest Whitaker, Bob Geldof, Richard Gere und anderen Hollywood-Größen. Derzeit arbeitet sie an einem weiteren Album. Seit 2010 komponiert und textet sie ihre Songs überwiegend in Berlin.
www.soname.com
SONAME YANGCHEN
Unter Mitarbeit von Karin Weingart
KLANGDER
WOLKEN
Mein Weg aus Tibet
zu mir selbst
Integral Verlag
Integral ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH.
e-ISBN978-3-641-15470-7V002
Erste Auflage 2015
Copyright © 2015 by Integral Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte sind vorbehalten.
Redaktion: Dr. Diane Zilliges
Einbandgestaltung: Guter Punkt, München
Coverfoto: © Urban Zintel
Satz: Leingärtner, Nabburg
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www.integral-verlag.de
INHALT
Es war einmal …
»Wahnsinn!«
Kapitel eins
ON THE ROAD
Kapitel zwei
PAPIERE
Kapitel drei
DAS RAD DREHT SICH WEITER
Kapitel vier
REISEGEPÄCK
Kapitel fünf
STOLZ UND DEMÜTIGUNG
Kapitel sechs
MIT ETWAS ABSTAND SIEHT MAN BESSER
Kapitel sieben
UNTERWEGS
Kapitel acht
DER GANZE FRUST
Kapitel neun
LEHREN UND GEHEIME SCHÄTZE
Kapitel zehn
ZIELE
Kapitel elf
LIEBE, BEDINGUNGSLOS
Kapitel zwölf
MÄNNER
Kapitel dreizehn
TASHI DELEK, TIBET
Kapitel vierzehn
DAS GROSSE M
Kapitel fünfzehn
WELCOME HOLINESS!
Kapitel sechzehn
WENN SIE MICH FRAGEN …
Tuja-chay, thank you, danke!
Ein persönliches Anliegen zum Schluss
Es war einmal …
… in einem Wasser-Ochse-Jahr, welches in der westlichen Hemisphäre dieses Planeten als das eintausendneunhundertdreiundsiebzigste gilt, dass im unteren Yarlungtal zu Tibet, dem Land des Schneelöwen, ein Mädchen wiedergeboren wurde.
Das genaue Datum hätte niemand benennen können, doch es muss im Frühling gewesen sein und keine Wolke stand am Himmel. Als sich bei Perma Norzin, der werdenden Mutter, die Wehen einstellten, molk sie gerade eine Kuh, die bald darauf ein gesundes Kälbchen gebar. Dies zählte als gutes Omen auch für das Leben des künftigen Menschenkindes. Deshalb gaben Perma Norzin und ihr Mann Wangdu ihm den Namen Soname Yangchen – »Glücksmelodie«.
Die ersten Lebensjahre der kleinen Soname waren hart, doch ihre Heimat auf dem Dach der Welt hatte weit Schlimmeres hinter sich.
1950, im Jahr des Eisernen Tigers – die Zeichen standen auf Sturm –schickten sich die Herrscher über das Reich der Mitte an, das geheimnisumwobene Nachbarland von seiner verträumten Rückständigkeit zu befreien, wie sie sagten, und trachteten danach, es dem Land der Großen Mauer einzuverleiben.
Die Wolken hingen tief über Tibet.
Sie entluden sich in einem Strom aus Tränen im Erd-Schwein-Jahr 1959, als der Ozean des Wissens, die Reinkarnation des Buddhas des Mitgefühls, das Land verlassen musste.
Und der Himmel stürzte ein.
In einem Unterfangen, das sie Große Proletarische Kulturrevolution nannten, schickten die Herrscher über das Reich der Mitte in Unzahl junge Männer aus, um die Menschen zu knechten und ihnen das Kostbarste zu nehmen, was sie besaßen, auch die Bilder ihres geliebten Oberhaupts im fernen heißen Indien. Klöster wurden zerstört, Tempel dem Boden gleichgemacht.
Die mordenden, brandschatzenden Massen beraubten die künftigen Eltern des Mädchens Soname und seiner Geschwister ihres Wohlstandes, des Ansehens, das sie in der Dorfgemeinschaft genossen hatten, doch nicht ihrer Würde und der Traditionslinien ihrer Familien, die sich im Palast der Dalai Lamas gekreuzt hatten.
Als Soname ihre ersten Lieder in die Wolken über dem unteren Yarlungtal aufsteigen lässt, ist der Himmel grau und eine neue, dumpfe Normalität hat sich über das Land gelegt.
»Sie wird das Leben einmal singend und tanzend verbringen«, orakelt die verehrte Großmutter, nicht ahnend, wie wahrsie damit spricht – und wie lange es dauern wird, bis sich ihre Weitsicht erfüllt.
Damit das Mädchen es einmal besser haben möge als sie und aus reiner Liebe lassen die Eltern das Kind ziehen, in die ferne Großstadt, einer vermeintlich schöneren Zukunft entgegen.
Doch die Zukunft nimmt sich Zeit, viel Zeit, um Soname ihre Schönheit zu offenbaren. Nicht der erhoffte Sonnenschein, keine Schulbildung und die Perspektive eines erfüllten Lebens erwartet sie, sondern Jahr um Jahr in Sklaverei bei einer Polizistenfamilie.
Aber sie streckt sich nach den Wolken und sie greift nach den Sternen. Sie wird sie sich schon nehmen, ihre Freiheit.
»Nichts ist nur gut oder nur schlecht«, wird Soname ein Vierteljahrhundert später sagen, »alles hat zwei Seiten, birgt Unangenehmes und Erfreuliches. So ist es nun mal, das Leben im Samsara, dem Hamsterrad unserer Wahrnehmung.«
Doch auch daran lässt sie keinen Zweifel: Die düsteren Wolken, die die ersten Stationen ihres Lebensweges überschatteten, haben sich verzogen.
Nun ist sie selbst ein Sonnenschein …
… und begibt sich auf eine neue Reise, ihrer inneren Stimme folgend und dem Klang der Wolken …
»Wahnsinn!«
Als die Arbeiten an diesem Buch noch lange nicht abgeschlossen waren, feierte Berlin den 25. Jahrestag des Mauerfalls. Ich hielt mich an diesem Wochenende nicht in der Stadt auf, aber die Freunde, bei denen ich zu Besuch war, hatten den Fernseher an, und die Bilder der Freude, von der die Menschen in der Stadt erfasst waren, in der ich inzwischen lebe, fesselten mich sofort. Diese Begeisterung in den Gesichtern 1989, das fassungslose Staunen über die neu gefundene Freiheit waren so faszinierend, dass mir die Tränen kamen. Und was für eine fantastische Idee, den Verlauf der Mauer, von der ich heute im Stadtbild keine Spur mehr sehe, durch eine Lichterkette aus Tausenden von Heliumballons nachzubilden. Ich bekam Gänsehaut, als sie am Abend dieses 9. Novembers 2014 nach und nach in den Himmel stiegen. Zu den Klängen der Ode an die Freude, die ich noch aus Tibet in den Ohren hatte. Denn Beethovens Neunte ertönte immer, wenn in Lhasa die Wagen der Straßenreinigung unterwegs waren, als lautstarkes Signal der angestrebten Modernisierung des Landes. Was für eine Ironie. Aber immerhin: Für mich als kleines Mädchen war das der erste Kontakt mit der klassischen Musik Europas.
Das letzte Mal, dass ich die Ode an die Freude derart sinnentleert hörte, war 1989, in dem Jahr, in dem ich aus Tibet geflohen bin. Als in Berlin die Mauer fiel.
Ich weiß nicht, was aus den Menschen aus Ost- und Westberlin geworden ist, die in den Reportagen von jenem 9. November interviewt wurden, welche das Fernsehen jetzt, 2014, wieder ausstrahlte. Und um ehrlich zu sein, verstand ich sie auch kaum, so gut ist mein Deutsch leider noch nicht. Um aber dieses unbändige Glücksgefühl zu erfassen, das die Gesichter zum Strahlen brachte, brauchte es auch nicht viele Worte. Für den Moment reichte dieses eine, das offenbar jeder in den Mund nahm, weil kein anderes groß genug war: Wahnsinn!
Nein, ich weiß wirklich nicht, was aus diesen Menschen geworden ist. Welche Freuden, welches Leid haben sie seither erfahren? Sind sie zufrieden mit ihrem Leben? Wissen sie die Chancen zu schätzen, die ihnen in diesem Teil der Welt geboten werden? Wissen sie ihre Freiheit zu würdigen? Machen sie Gebrauch davon? Haben sie noch ein Gefühl für die Verbundenheit, die sie damals, vor fünfundzwanzig Jahren, empfanden? Ich würde es mir so sehr für sie wünschen. Und für uns alle.
*
Wissen Sie, in meinem heutigen Leben ist jeder Tag ein Mauerfall. Und jeden Tag aufs Neue empfinde ich dieses wahnsinnige Gefühl von Freiheit und von Glück und Zusammengehörigkeit.
Manchmal beobachte ich mich selbst dabei, wie ich, über beide Ohren grinsend oder eines meiner Lieder vor mich hin trällernd durch die Straßen schlendere und den Menschen, die mir entgegenkommen, ins Gesicht schaue. Die meisten schlagen die Augen nieder. Aber ich begegne auch oft fragenden, überraschten oder vielfach sogar befremdeten Blicken. Ein so unsinnig fröhlicher Mensch, mitten am Tag, mitten in der Stadt, womöglich noch bei Regen? Die muss grad sechs Richtige im Lotto gehabt haben. Und zwar mit Superzahl. Wie sonst wäre das zu erklären?
Doch mitunter blinzelt mir auch jemand verschmitzt, verschwörerisch, vertraut zu, oft eine Frau, die sich anstecken lässt und diesen sekundenkurzen, wortlosen Austausch von Energie und wilder Lebensfreude genauso genießt wie ich. Dann könnte ich immer ein Rad schlagen vor Glück. Und manchmal tue ich es auch. Aber eher selten. Meistens nur innerlich.
Nein, ich habe natürlich nicht im Lotto gewonnen. (Was schon allein daran liegt, dass ich nach einem ersten, einzigen Versuch nicht mehr spiele.) Aber der Hauptgewinn wurde mir trotzdem zuteil. Denn ich lebe noch und bin jetzt hier. Auf einem Kontinent, wo relativer Frieden herrscht, ein hohes Maß an Sicherheit, viel Komfort; in einem Land, in dem ich mein Leben gestalten darf, wie ich möchte, und mir keiner vorschreibt, was ich zu tun oder zu lassen habe. In dem jeder, Mann wie Frau, vor dem Gesetz gleich ist und alle dieselben Rechte genießen. In dem die Akzeptanz der Menschenwürde jedes und jeder Einzelnen täglich erlebte Wirklichkeit ist.
Seit ich in Europa wohne, erst im englischen Brighton, in London und jetzt eben in Berlin, habe ich es mir als Teil meiner spirituellen Praxis zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend an die schönen Dinge zu denken, die der Tag mit sich gebracht hat. Und oft schlafe ich voll stiller Zufriedenheit ein, bevor ich auch nur annähernd alles habe an mir vorbeiziehen lassen können, was mir seit dem Aufstehen Herzerwärmendes widerfahren ist: der frische Tee am Morgen, eine E-Mail von Deckyi, meiner inzwischen erwachsenen Tochter, die jetzt in den Vereinigten Staaten lebt und schon verheiratet ist, das kurze Treppen-Schwätzchen mit dem Nachbarn in der Wohnung unter mir. Die ausgiebige Meditation am Spätnachmittag.
All diese vermeintlich kleinen Annehmlichkeiten weiß ich von ganzem Herzen zu schätzen, und die Dankbarkeit, die ich für sie empfinde, ist zu einem entscheidenden Bestandteil meines heutigen Lebensstils geworden.
Aber wie sollte ich es auch nicht würdigen, dass ich mein Auskommen habe, Krankenversicherung, ein Dach über dem Kopf, ein kuscheliges Hochbett, immer mehr als genug gesunde, abwechslungsreiche Nahrung – und dass ich aufgrund all dessen im Kopf frei genug bin, meinen Interessen und dem nachgehen zu können, was ich mittlerweile als meine Aufgabe im Leben betrachte?
Wenn ich das Leuten gegenüber, die mich nicht näher kennen, so sage, wie ich es hier schreibe, habe ich immer den Eindruck, dass sie mich etwas verständnislos anschauen. Na und, scheinen sie mir sagen zu wollen, das ist doch alles ganz selbstverständlich.
Nein, ist es nicht. Nicht für jemanden wie mich, die nach ihrer Flucht aus Tibet in Indien als Hotelangestellte auf dem Fußboden geschlafen hat und nicht wusste, wie sie ihr Kind hätte durchbringen können.
Aber sehen Sie denn nicht, was auch bei uns alles im Argen liegt?, wird mir dann häufig entgegengehalten. Doch, vielleicht, einiges schon. Aber darüber spreche ich nicht so gern. Weil ich nun zwar das Recht (und die Möglichkeit) hätte, mich öffentlichdarüber zu äußern – was zu den Dingen gehört, über die ich mich immer wieder von Herzen freuen kann –, aber nicht glaube, dass ich es mir nehmen sollte.
Jetzt bin ich hier und möchte weder jammern (wozu ich im Übrigen auch nicht den geringsten Anlass habe) noch kritisieren, sondern das bisschen Positive beitragen, das ich zu bieten habe.
Und das könnte in diesem Buch wohl vor allem sein, dass ich die unglaubliche Freude und Erfüllung zu teilen versuche, die mir das Leben in den vergangenen Jahren beschert hat. Und dass ich erzähle, wie es dazu kam.
Wer weiß, vielleicht lässt sich der eine oder die andere von Ihnen ja ein wenig von dieser Stimmung anstecken? Warum denn nicht? Man muss nicht aus Tibet kommen, um glücklich sein zu können. Von den äußeren Umständen hängt es überhaupt nicht ab. Ob für Sie die Sonne scheint, liegt an nichts anderem als an Ihnen selbst.
Kapitel eins
ON THE ROAD
Auch in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts stellte noch vieles in meinem Leben eine Premiere dar. Aber kaum etwas hat mich so umgeworfen wie die Frankfurter Buchmesse 2005.
Im Vorfeld hatte ich erfahren, dass dort pro Jahr etwa einhunderttausend Neuerscheinungen präsentiert würden. Unfassbar! Sagen wir mal, jedes Buch wäre auch nur zweieinhalb Zentimeter dick, ergäbe sich daraus aufeinandergestapelt ein Gebirge, das innerhalb von vierundzwanzig Monaten um ganze fünf Kilometer anwächst. Das muss man sich mal vorstellen. So viel Wissen, Fantasie, Information und Unterhaltung an einem Ort versammelt! Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das beeindruckt hat.
Und– kaum zu glauben! – mein Buch Wolkenkind, das am 6. Oktober erschienen war, trug nun auch zu diesem stetig anwachsenden Bücherstapel bei. Mit 3,2 Zentimetern Rückenbreite in der deutschen Ausgabe.
Die Tage in Frankfurt habe ich wie einen einzigen Rausch erlebt, als quicklebendig und laut, aber auch ein bisschen verwirrend.
Als Stars der Messe gelten die Autoren, auch wenn nicht alle, wie ich, die Ehre haben, von ihren Verlagen zu diesem Großereignis eingeladen zu werden. Doch im Laufe der Wochen und Monate vor Erscheinen meines Buches, der Geschichte meines bisherigen Lebens, ist mir klar geworden, dass nicht ihnen allein der Ruhm gebührt. Wir hatten – sowohl in England als auch in Deutschland – zahllose Gespräche, an denen ganz verschiedene Menschen und Abteilungen beteiligt waren. Dabei konnte ich mir einen Eindruck davon verschaffen, wie viele Personen am Entstehen und erfolgreichen Lancieren eines Buches beteiligt sind: Lektorat, Presse, Werbung, Vertrieb, die Herstellung und auch die engagierten Buchhändlerinnen nicht zu vergessen. In meinem Fall kam noch die wunderbare Vicki Mackenzie hinzu, ohne die ichWolkenkindnie hätte schreiben können. Und ein Team des ZDF war extra zu mir nach Brighton gereist, um mich zu interviewen und einen Bericht über mich zu filmen.
Wir, deren Namen auf den Covern stehen, haben also allen Grund zur Bescheidenheit, gerade wenn wir so hofiert werden wie etwa ich auf der Messe 2005.
*
Für mich war Frankfurt nur der Anfang – ein weiterer Grund, meinem damaligen Verlag dankbar zu sein. Denn er hat eine Lese-Sing-Signier-Tour durch Deutschland und die deutsch sprechenden Nachbarländer für mich organisiert, um den Verkauf meines Buches zu promoten. Angesichts des Mount Everests von Neuerscheinungen, die ich auf der Messe gesehen hatte, wurde das bestimmt nicht für jede Autorin oder jeden Autor getan.
Wieder kümmerte man sich rührend um mich. Doch ohne einen ganz speziellen Menschen wäre mir dieser Marathon durch Theater, Konzertsäle und größere Buchhandlungen nicht möglich gewesen: Alfred Röver, ein früherer Unternehmer, ein ausgewiesener Asienkenner und passionierter Förderer junger Wissenschaftler, war mir auf der gesamten Tour in jeder Hinsicht der perfekte Begleiter. Er kutschierte mich von einem Ort zum nächsten, las bei den Veranstaltungen aus meinem Buch und zeigte einige der Dias, die er während seiner zahlreichen Aufenthalte in Tibet gemacht hatte. Seltene Aufnahmen, von denen mich besonders die des Geburtshauses Seiner Heiligkeit des Dalai Lama bei jedem unserer Auftritte tief bewegte und beinahe zu Tränen rührte.
Ich war Alfred Röver schon zehn Jahre zuvor, also 1995, in Indien begegnet, als ich mit jedem Westler ins Gespräch zu kommen versuchte, dem ich über den Weg lief, und der Kontakt zu ihm und seiner Frau Barbara war nie abgerissen. Auch heute noch behandeln sie mich wie ihr eigenes Kind, und ich fühle mich ihnen so eng verbunden wie meinen nächsten Verwandten.
Wochenlang waren wir in Alfreds Pkw unterwegs – von Stadt zu Stadt, von Konzertsaal zu Mehrzweckhalle, zunächst in Deutschland, später auch in Österreich und der Schweiz.
Da der Wagen damals noch über kein Navigationssystem verfügte, fiel mir, jedenfalls abseits der gut ausgeschilderten Autobahnen, die Rolle der Fährtensucherin zu – eine Aufgabe, an der ich allerdings regelmäßig scheiterte, weil ich einfach nicht in der Lage war, die Landkarte zu lesen. Allzu oft hatte ich sie falsch herum auf dem Schoß liegen, sodass Alfred immer wieder anhalten, sich den Plan richtig zurechtlegen und irgendwie zusehen musste, dass wir unser Ziel erreichten. Und wenn auch er nicht weiterwusste, haben wir angehalten, sind ausgestiegen und haben unschuldige Passanten nach dem Weg gefragt. Also eher Alfred als ich fragte – mir fiel es schon schwer, im mir ungewohnten Rechtsverkehr mein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Zudem unterschied sich die deutsche Variante des Englischen schon sehr von meinem Tinglish, der einzigartigen Mischung mit dem Tibetischen. Und was nützt es einem, eine Frage richtig zu stellen, wenn man die Antwort nicht versteht?
Im rollenden Verkehr zeigte sich Alfred als ein hervorragender Reiseführer. Er wies mich auf landschaftlich besonders reizvolle Streckenabschnitte hin oder berichtete von der Geschichte der Ortschaften, durch die wir fuhren. Aber viel hängen geblieben ist bei mir davon nicht, muss ich gestehen. Das tägliche lange Sitzen empfand ich nicht gerade als angenehm, und eigentlich wollte ich immer nur schnell ankommen und raus aus dem Auto.
Im Kopf ging ich ständig das Programm des Abends durch, quälte mich stets aufs Neue mit der Frage, ob überhaupt Leute kommen würden, die mich singen und Alfred aus meinem Buch vorlesen hören wollten. Was, wenn sie es hinterher bereuten, das Eintrittsgeld bezahlt zu haben? Eine unbegründete Befürchtung, wie sich immer wieder herausstellte.
Immer häufiger kam mir der Verdacht, dass wir genau an dieser Straßenkreuzung vor Tagen schon einmal gestanden, in genau diesem Supermarkt schon einmal Proviant eingekauft hatten. Waren wir etwa nur im Kreis gefahren? Doch als ich Alfred abends im Hotel darauf ansprach, zeichneteer mit dem Finger gezackte und geschlängelte Linien in den Straßenatlas, um mir zu beweisen, dass schon alles seine Ordnung hatte. Doch Ortschaften, Verkehrsschilder, Brücken, Berge, Getreidefelder, Baumärkte und Videotheken, alles begann in meinem Kopf Purzelbäume zu schlagen. Und obwohl ich, wenn ich mich auf meinen eigenen Füßen vorwärtsbewege, über einen recht guten Orientierungssinn verfüge, kam ich mir jetzt ziemlich verloren vor.
So hatte ich zwar nie eine genauere Vorstellung, wohin wir auf unseren täglich drei- bis vierstündigen Fahrten unterwegs waren, konnte mich aber immer darauf verlassen, am Nachmittag in einem Hotel anzukommen, das alles bot, was ich brauchte, und oft weit mehr.
Auf ein Schwimmbad zum Beispiel hätte ich gut verzichten können. Alfred jedoch genoss seine morgendlichen Runden im lauwarmen Wasser – denn Schwimmen sei gesund. Und da ich ihm das gern glaubte, wagte ich mich auch das eine oder andere Mal mit hinein. Leider immer mit demselben Ergebnis: Ein paar Sekunden lang gelang es mir irgendwie, den Kopf über Wasser zu halten, aber dann musste ich so lachen, dass alles zu spät war. Und ich es wirklich mit der Angst zu tun bekam.
Es gab damals noch vieles, von dem ich überzeugt war, dass ich es in diesem Leben würde nie und nimmer lernen können, und dazu gehörte auch das Schwimmen.
Nun, inzwischen habe ich es doch gelernt, in einem See im Berliner Umland. Aber seinerzeit hatte ich noch die Haltung: Ich bin kein Fisch, sondern ein Mädchen aus den Bergen, und was die Leute dazu bewegt, sich freiwillig dem Element Wasser anzuvertrauen, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.
Vor ein Rätsel sah ich mich auch in manchen Badezimmern gestellt, insbesondere in den großen, schicken Cityhotels, in die wir manchmal eingebucht waren. Wie schmutzig sollte ich mich denn machen, um all die Handtücher verschiedener Größe zu benutzen, die dort fein säuberlich übereinandergestapelt in den Regalen lagen?
Da stand ich nun also, in Flensburg, Wolfenbüttel oder Paderborn, ließ die Finger über den herrlich flauschigen Frottee gleiten und wunderte mich.
Unwillkürlich musste ich an das Kind Soname denken, das über Jahre die gesamte Wäsche eines Vierpersonenhaushalts sauber halten musste. An die Waschfrauenhände, wund gescheuert im eiskalten Wasser.
Natürlich wusste ich, dass in diesen Hotels wahrscheinlich hochmoderne Industriewaschmaschinen benutzt wurden und kein kleines Mädchen im Keller stand, über einen Bottich gebückt, und jedes Teil einzeln schrubbte, auswrung, in klarem Wasser spülte, auf die Leine hängte. Und mir war ebenfalls bekannt, dass die Benutzung der Handtücher im Zimmerpreis enthalten war (den zumal der Verlag entrichtete). Aber sollte das ein Grund sein, mich ohne Sinn und Verstand an den Handtüchern zu bedienen und so dazu beizutragen, dass völlig sinnlos Ressourcen verschwendet wurden? Wasser ist doch so kostbar, wir sollten achtsam damit umgehen.
So eine Tour wie die von Alfred Röver und mir ist ein eigener Kosmos und unterliegt besonderen Gesetzen. Nichts läuft wie sonst. Man ist »on the road«, mehr oder weniger weit von zu Hause entfernt, hat die Menschen, mit denen man das Leben teilt, nicht in seiner Nähe, ist darauf angewiesen, auswärts zu essen, schläft in fremden Betten. Und trotzdem entsteht in dieser Zeit des Umherziehens auch schnell so etwas wie ein neuer Alltag.
Ich stand pünktlich jeden Morgen um sieben Uhr dreißig auf und machte mich fertig, um eine halbe Stunde später zum Frühstücken zu gehen.
Haben Sie schon einmal ein deutsches Frühstücksbüffet in einem Hotel gesehen? Mich jedenfalls hat es vollkommen überwältigt, obwohl ich inzwischen ja schon einiges gewohnt war. Aber was da alles aufgetischt wurde! Allein die verschiedenen Brot- und Brötchensorten. Käse aus aller Welt, in allen möglichen Aggregatszuständen. Aber dann erst die Wurstauswahl, einfach unglaublich. In Wurst müssen die Deutschen Weltmeister sein. Wobei ich sagen möchte, dass mir das Konzept »Wurst« auch heute noch etwas fremd ist, selbst nach fünf Jahren in Deutschland. Aber niemand hat mir je genau erklären können, was da alles drin ist … Und Bezeichnungen wie Jagd- oder Blutwurst sind auch nicht gerade dazu angetan, meine Experimentierfreude anzuregen.
Ich hätte stundenlang vor dem Überangebot an mir großenteils unbekannten süßen und salzigen Speisen stehen bleiben können, mit dem Teller in der Hand; doch ich wollte die Geduld derer, die hinter mir in der Schlange standen, auch nicht über Gebühr strapazieren. Deshalb beschränkte ich mich im Allgemeinen auf Tee und etwas Müsli mit frischem Obst.
Nach dem Frühstück blieben mir vor dem Auschecken mitunter noch einige Minuten, um mich einer Herausforderung zu stellen, die wie so viele andere mit der Lesereise neu in mein Leben getreten war: Manchmal sollte ich nach unserer Vorstellung noch Bücher signieren. Vor dem Tischchen, an das ich gesetzt wurde, bildete sich dann eine wirklich lange Schlange von Menschen, darunter auffallend viele Frauen, die Wolkenkind erworben hatten, was schon gereicht hätte, mich in Verlegenheit zu bringen. Denn gern hätte ich jede(n) persönlich begrüßt, mich für sein oder ihr Kommen und den Kauf des Buches bedankt und mich nach dem Wohlbefinden erkundigt. Aufgrund des großen Andrangs ging das jedoch nicht, und diese unwillentliche Unhöflichkeit empfand ich als unangenehm und respektlos von mir. Doch bald kam eine weitere Peinlichkeit hinzu: Die Schlange erwartete eine Unterschrift der Autorin (wie mir erklärt wurde, gibt es in Büchern dafür eigens die sogenannte Dedikationsseite), und zwar keine in lateinischen Buchstaben. Eine solche hätte ich problemlos leisten können, die hatte ich mir schon vor Jahren angeeignet und verwende sie zum Unterzeichnen offizieller Dokumente und Verträge. Aber eine tibetische Unterschrift? Darauf war ich nicht vorbereitet. In Tibet hatte ich nie gehört, dass es so etwas überhaupt gab. Also nutzte ich jede freie Minute, um so lange »Soname Yangchen« zu üben, bis der Namenszug jedes Mal in etwa gleich aussah. Wie eben zum Beispiel, wenn vor dem Verlassen des Hotels noch etwas Zeit blieb, bis wir das nächste Ziel unserer Reise ansteuerten, Köln oder München oder Hanau.
Waren wir am frühen Nachmittag immer noch auf der Straße, wurde ich allmählich unruhig, denn für Viertel nach vier hatte ich montags bis freitags eine feste Verabredung. Und zwar mit Julia, der blonden Schönheit.
Wie wir alle war auch Julia auf der Suche nach dem Glück, und an den Wegen, die sie einschlug, um es zu erreichen, ließ sie mich teilhaben, äußerst verlässlich an allen Werktagen bis um fünf.
Ich verstand zwar kein Wort von dem, was mir Julia, die ungefähr in meinem Alter zu sein schien, sagen wollte, was sie hauchte oder stammelte, aber das war auch nicht nötig. Ihre Gesten, ihr unschuldiger Augenaufschlag verrieten genug. Und wenn ich in ihrem hübschen Gesichtchen mal nichts lesen konnte, dann half mir die Musik. Sekunden vor jeder Wendung des Schicksals schwoll sie dramatisch an (sobald Julia von irgendwoher Gefahr drohte, was mir vor allem montags, mittwochs und freitags der Fall zu sein schien). Wähnte sich meine derzeit engste Freundin dagegen dem Glück oder dem, was sie dafür hielt, mal wieder ganz nah (irrtümlich wahrscheinlich, alles andere wäre das Ende des Liedes gewesen), merkte ich es daran, dass die Töne melodiös angeschlichen kamen und sich an einer Attacke auf mein Herz versuchten.
Pass doch auf!, hätte ich Julia jeden Nachmittag mindestens einmal zurufen wollen. Oder besser: Denk doch mal nach! Und überleg auch mal, ob die Wege, auf denen du da entlangstolperst, dich tatsächlich ins Glück führen können.
Aber dann kam auch schon immer der Abspann und ich musste zusehen, dass ich das Hotel verließ, um am Veranstaltungsort des Tages zu überprüfen, ob der Diaprojektor richtig funktionierte, genügend Exemplare meines Buches vorlagen und auch sonst alles die Ordnung hatte, die sein musste, um einen reibungslosen Ablauf des Abendprogramms zu gewährleisten.
Kapitel zwei
PAPIERE
Auf unserer Lesereise hätte ich eigentlich rundum glück lich sein müssen, aber ich war es nicht, und das hatte nichts damit zu tun, dass Michael, mein etwa zwanzig Jahre älterer Ehemann, und ich uns auseinandergelebt und schließlich getrennt hatten. Er war nach Goa gezogen und hatte sich damit einen lange gehegten Traum erfüllt.
Für mich wäre es undenkbar gewesen, ihm nach Indien zu folgen. Allein die Vorstellung kam mir wie die Aufgabe all dessen vor, wofür ich so lange und so hart gekämpft hatte. Und zu präsent waren mir noch all die Jahre, in denen ich mit einem Flüchtlingspass dort gelebt hatte, der alle zwölf Monate persönlich in Dharamsala verlängert werden musste, damit ich wenigstens diesen Status nicht verliere. Außerdem stand ich in England 2004 unmittelbar vor der Einbürgerung. Endlich. Und selbst wenn ich so kurz vor Erreichen dieses Ziels darauf verzichtet hätte: Wovon hätte ich denn in Indien leben sollen? Meine finanzielle Unabhängigkeit, kaum errungen, wieder aufzugeben, kam für mich genauso wenig infrage wie der Verzicht auf die britische Staatsbürgerschaft.
Es gab auch einen neuen Mann in meinem Leben: Jan. Kennengelernt hatte ich ihn, nachdem sich Michael von mir als seiner Frau abgewendet und unsere Beziehung damit in meinen Augen beendet hatte. Ich war mir sicher, in Jan den passenden Partner für den Rest dieses Lebens gefunden zu haben. Wir vertrauten einander und waren bereit, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen.
Dieses Gefühl der Sicherheit, das mir Jan vermittelte, hatte ich auch während der Lesereise 2005 mit im Gepäck. Wir waren örtlich weit und zeitlich lange voneinander getrennt und telefonierten nur selten – Auslandsgespräche waren damals ja noch sehr teuer –, und doch musste ich keinen Moment an Jans Treue und Zuneigung zweifeln.
Beruflich und privat lief in meinem Leben also eigentlich alles glatt. Einen Wermutstropfen aber gab es doch. Und wann immer mich Alfred Röver auf unserer Fahrt von einer Abendveranstaltung zur nächsten prüfend von der Seite ansah, und zwar nicht etwa, weil ich uns mal wieder mit dem Finger auf der Landkarte in die falsche Richtung dirigierte, wusste ich, dass auch er an meine Tochter dachte. Und in seinen Augen konnte ich die unausgesprochene Frage lesen: Wann kommt Deckyi denn nun endlich?
Was mein Kind betraf, empfand ich eine besondere Verbundenheit mit Alfred. Schließlich war er es Jahre zuvor gewesen, der mir von einer seiner Indienreisen das erste Foto von ihr mitgebracht hatte, das ich lange im Portemonnaie mit mir herumtrug. Was ich nicht gewusst hatte: Alfred gehörte seit Langem zu den engagiertesten Förderern ausgerechnet der Schule in Masuri im indischen Bundesstaat Uttarakhand, die Deckyi besuchte. Und als ich ihm am Telefon ganz aufgeregt erzählte, dass ich ihren Aufenthaltsort end