Kleine Erzählungen und Nachgelassene Schriften 2 - Friedrich Gerstäcker - E-Book

Kleine Erzählungen und Nachgelassene Schriften 2 E-Book

Friedrich Gerstäcker

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Beschreibung

Auch im zweiten Band der nachgelassenen Schriften führt uns Friedrich Gerstäcker in exotische Gefilde - jedoch nicht nur. Neben Erzählungen aus Nord- und Südamerika sowie aus Mexiko finden sich auch Berichte aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, den der Autor als Korrespondent der beliebten Zeitschrift 'Die Gartenlaube' selbst unmittelbar an der Front erlebt hat.

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Gesammelte Schriften

von

Friedrich Gerstäcker.

Kleine Erzählungen und nachge-

lassene Schriften. II.

Volks- und Familien-Ausgabe, Zweite Serie

Band 21 der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die

Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Hinweis: Die im 19. Jahrhundert verfassten Texte Friedrich Gerstäckers enthalten Bezeichnungen, die heute nicht mehr in dieser Form verwendet werden.

In dieser unbearbeiteten Werkausgabe wurden sie unverändert übernommen.

Ausgabe letzter Hand, ungekürzt, mit den Seitenzahlen der Vorlage

Gefördert durch die Richard-Borek-Stiftung und Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. und Edition Corsar, Braunschweig, 2021

Geschäftsstelle: Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten! © 2016 / © 2022

1 . Ein einsamer Jäger.

Allgemeine Familienzeitung. Chronik der Gegenwart. Zur Unterhaltung und Belehrung.- Stuttgart: Schönlein. Nr., 27, 1872, Seiten 518-519

In meinen Streif- und Jagdzügen sowohl wie in den Regulatoren, dann in den Gesammelten Erzählungen und später, von meiner letzten Reise zurückkehrend, in den „Jayhawkers“ habe ich einen Mann geschildert und seine Schicksale erzählt, der für mich stets das größte Interesse hatte, und den ich genau so fand, wie ich mir bei Cooper’s Romanen den Hawk-eye oder Lederstrumpf gedacht. Wells war jedoch verheirathet, Hawk-eye nicht, Wells auch ein keineswegs poetischer Charakter, aber ein Jäger durch und durch. Es gab keinen Indianer, der in Allem, was Wald und Wild betraf, vertrauter mit seinem Geschäft gewesen wäre.

Er mußte auch indianisches Blut in den Adern haben, was seine lichtbronzene Gesichtsfarbe und sein schwarzes straffes Haar bezeugte, haßte aber die Rothhäute, wie es alle Rene/2/gaten mit ihrem Stamm machen, und mied ihre Gesellschaft, wo er nur irgend konnte.

Sein trauriges Ende habe ich in den Jayhawkers erzählt; er wurde alt und krank und in seinem Bett von der nichtsnutzigen Bande der Jayhawkers, dem Auswurf des Krieges, die sich damals besonders in Arkansas herumtrieb, erschossen.

Als ich im Jahre 40 oder 41 zuerst nach Arkansas kam und dort von der Jagd lebte, lernte ich ihn kennen und lieb gewinnen. Obgleich er ein thaten- und abenteuervolles Leben hinter sich hatte, erzählte er von seinen Schicksalen und Jagden fast nie, sondern war am Lagerfeuer eigentlich ein fast allzu schweigsamer Gesell. Einmal aber theilte er mir ein Abenteuer aus seinem Leben mit, als wir im Walde zusammen auslagerten.

Ich hatte an dem Tage, um einen Blick in ein Thal zu gewinnen, einen kleinen Baum erstiegen, während unmittelbar danach ein Rudel Wild, aus einem Dickicht kommend, darunter hin wechselte, so daß ich, von da oben aus, einen Hirsch erlegte. Wir befanden uns an einem Beiwasser der Mamella, unfern von dem Fourche la Fave, der in den Arkansas mündet, und in einer Gegend, in der sich damals noch gar keine Ansiedelungen befanden, wohl aber außerordentlich viel Wild, sowohl Hirsche als auch zahlreiche Völker von wilden Truthühnern standen. An Lebensunterhalt fehlte es uns da wahrlich nicht, denn was wir brauchten, erlegten wir mit leichter Mühe.

Der an jenem Tage von mir erlegte Hirsch war stark und jedenfalls sehr alt; für die virginische Race, die im Ganzen nur sechsendig ist, trug er ein vortreffliches Geweih.

Wells hatte lange am Feuer gelegen und gedankenvoll in die Gluth hineingesehen, endlich sagte er leise und fast wie mit sich selber redend: „Sonderbar, ich habe doch nun so viele tausend Hirsche in meinem Leben geschossen, aber noch nie einen von einem Baum herab, obgleich ich einmal die schönste Gelegenheit dazu gehabt hätte.“

„Und warum schoßt Ihr damals nicht, Wells?“

„Weil mir mein Scalp lieber war, als der Hirsch,“ sagte der alte Jäger trocken.

/3/ „Und wo war das? unter den Rothhäuten?“

Wells schwieg eine Weile. Er hatte einst – schon verheirathet – ganz allein einen einsamen Jagdzug nach Texas gemacht, als jenes Land noch zum großen Theil nur von Indianern bewohnt wurde, war auch so lange, ohne ein einziges Mal Nachricht zu senden, weggeblieben, daß seine Frau endlich nach Jahren wieder heirathete und er dieselbe durch seine Rückkehr sehr in Verlegenheit brachte. Beide Männer verständigten sich aber – der später Gekommene zog wieder ab und Wells in seine alte Häuslichkeit ein, als ob er nur bei einem Nachbar zum Besuch gewesen wäre. Von der Zeit an verkehrte er auch wieder mit den Nachbarn, konnte aber nie bewogen werden, eine Schilderung seiner Erlebnisse zu geben, und nur wenn Jemand in ihn drang, ihm zu sagen, wie er es in Texas gefunden, brummte er ein „Texas be damned“! zwischen den Zähnen durch, und das Gespräch war damit abgebrochen.

Er nannte überhaupt das Land nicht einmal gern, das damals freilich noch eine Wildniß war, und er mußte dort jedenfalls nicht eben angenehme Erfahrungen gemacht haben. Er bestätigte oder leugnete auch nie, daß er – wie das Gerücht in Arkansas ging – einmal von einem feindlichen Stamme der Rothhäute gefangen genommen und an den Marterpfahl gebunden worden sei. Wie er aber entkommen, wußte Niemand, und die Erinnerung schien ihm selber nicht wohlthuend genug, um sie wieder aufzufrischen. So viel war übrigens sicher, daß er eine Anzahl indianischer Scalpe mitgebracht, die er aber Niemandem zeigte. Nur seine Frau mußte sie gesehen haben, und da sie es, unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit, einer einzigen Freundin erzählte, durchlief es natürlich bald die ganze Ansiedelung – aber es wäre nicht rathsam gewesen, Wells selber deshalb zu befragen. Er schien sich doch jetzt zu schämen, damals „wie eine Rothhaut“ gehandelt zu haben – freilich mag ihm auch in jener Zeit schön mitgespielt worden sein, und die einzige Anspielung darauf, /4/ die ich je von ihm hörte, war bei der schon genannten Gelegenheit.

Er lag also noch eine ganze Weile sinnend beim Feuer, und ich glaubte schon, er ginge, wie er das so oft that, auf die Fortführung der Unterhaltung gar nicht ein. Endlich, und nach langer Pause, begann er aber plötzlich:

„Es können jetzt fünf Winter sein, und ich hatte das Leben da unten (er meinte Texas) satt. Ich war hingegangen um zu jagen, und wurde dafür in einem fort gejagt. Die rothen Bestien ließen Einem keine Ruhe Tag und Nacht, und – wie ich ihnen nur erst bewiesen, daß sie mir nicht ungestraft zu nahe kommen durften, schien es fast, als ob sie eine allgemeine Hetze auf mich anstellen wollten.“

„Und wäret Ihr denn ganz allein in dem wilden Lande?“

„Nicht einmal einen Hund hatte ich bei mir,“ sagte Wells düster, „denn ein Hund ist ein gefährlicher Gesellschafter. Zu jedem Wasserloch läuft er hin und drückt seine Fährten ein, und wenn sie die erst einmal kennen – und das ist bald genug geschehen, so bringt man sie sich nicht mehr von den Hacken. Ich mochte ungefähr noch fünfzig Meilen von der Staaten- Grenze sein und beschloß, meine versteckte Beute aufzuladen und damit heimzukehren – Pferde liefen dort genug herum, daß ich mir leicht eins verschaffen konnte. Es dauerte nicht lange, so erreichte ich meinen alten Versteckplatz wieder – aber die rothe Bande,“ setzte er mit einem wilden Fluch hinzu, „hatte richtig das Nest aufgespürt. Es war leer, und ich wieder so arm als je. – Ein paar,“ fuhr er nach längerer Pause fort, „haben es später allerdings entgelten müssen, aber das brachte mir meine schwer beschaffte Beute nicht wieder. Mein Kugelvorrath ging außerdem auf die Neige, und ich schlug jetzt eine gerade Richtung nach Osten ein. Seit sie auf meiner Spur lagen, hatte ich doch keine Ruhe mehr und „das Land da unten“ bis an den Hals satt bekommen.

„Zwei Tage marschirte ich so, fand aber unterwegs so viele Fährten der rothen Schufte, die dort überall herumkrochen, daß ich nicht wagte, einen Schutz zu thun. Den Knall meiner Büchse kannten sie Alle, und ich hätte die blutdürstige Meute bald wieder hinter mich hergejagt. Aber ich war /5/ schmählich hungrig geworden, und als ich an jenem Nachmittag eine der natürlichen Salzlecken, wie wir sie ja zu Hunderten in Arkansas haben, fand, kletterte ich auf einen dort einzeln stehenden Baum und war fest entschlossen, die Gefahr zu laufen. Ich mußte jetzt Nahrung haben, und es blieb sich nun gleich, ob ich verhungerte oder die Bestien mir ihre Pfeile in die Haut jagten.

„Der Platz eignete sich vortrefflich. Der Baum stand einsam in einer kleinen Waldprairie. Der Boden war dort von dem Rothwild, das hier ab und zu ging, förmlich zerstampft, und da ich rings umhersehen konnte, entdeckte ich auch bald drei Hirsche, die aus dem Walde traten und langsam äsend auf der Prairie herumspielten, dabei aber doch immer näher zur Salzlecke kamen und hier unter jeder Bedingung einmal vorsprachen.

„Der Sitz im Baum war vortrefflich, und auf die Salzlecke selber hatte ich einen ganz vollen Ueberblick, nur bei der Aussicht in die Ferne hinderte mich das lange graue Moos, das nur im südlichen Theil von Arkansas beginnt, in Texas aber überall von den Bäumen niederhängt, und das wir deshalb auch wohl „Spanischen Bart“ nennen. Mit meiner langen Büchse schob ich es aber etwas auseinander und konnte dabei deutlich das kleine Rudel im Auge behalten. Es kam näher; der jüngere Hirsch schien die Leitung zu übernehmen und mochte Appetit nach der salzigen Erde haben. Schon in bequemer Schußweite waren sie heran, und daß ich mein Ziel nicht fehlte, wußte ich. Nur aus alter Gewohnheit – und ich hielt die Büchse schußfertig an der Backe – ließ ich den Blick noch einmal rings umherstreifen, konnte aber nirgends etwas Verdächtiges erkennen, und war eben im Begriff, den Drücker zu berühren, als der eine Hirsch den Kopf rasch herumwarf und von mir fort dem Rande des Waldes zu, von wo aus er allerdings guten Wind hatte, sicherte. Jedenfalls mußte er dort etwas Außerordentliches gemerkt oder wenigstens erst gewittert haben, ich suchte also ebenfalls einen Blick dorthin zu gewinnen. Vorsichtig schob ich mit der schon gehobenen Büchse das lange bärtige Moos noch ein klein wenig mehr zur Seite, und dort drüben – auf meine Augen durfte ich mich verlassen – ragten /6/ beim Teufel die Adlerfedern eines der rothen Hunde heraus, die ihre Späher bis hierher gesandt hatten.

„Hungrig war ich, das weiß der Himmel, und ich wußte außerdem nicht, wo ich so bald wieder etwas hernehmen sollte – die Hirsche standen dabei lammfromm, und ich hätte den Finger auf den Fleck legen wollen, wo meine Kugel saß, aber ich durfte jetzt nicht wagen zu schießen, oder der Feind da drüben konnte sogar den Rauch meiner Büchse erkennen, und daß ich dann verloren war, wußte ich. Die Hirsche kamen indessen langsam näher; sie witterten allerdings eine Gefahr, hatten sie aber noch nicht genau erkannt und wußten sich in der offenen Prairie außerdem sicher. Sie zogen direct der Salzlecke zu, über der ich auf meinem Baume saß, und traten hinein, konnten aber von mir nicht die Witterung bekommen, behielten auch jene Waldspitze nur immer im Auge, und als plötzlich einzelne dunkle Gestalten daraus hervortraten, schreckte der jüngste wieder. Im Nu waren die übrigen, dicht unter mir, aus der Lecke, und die hohen weißen Wedel emporwerfend, flohen sie in flüchtigen Sprüngen der entgegengesetzten Richtung zu.

„Was half es mir nun, daß ich mit geladener Büchse unmittelbar über ihnen gesessen? Ich durfte ja nicht schießen! Aber selbst der Hunger verging mir, als ich jetzt sah, daß die Indianer, und zwar sämmtlich beritten und mit den Kriegsfarben bemalt, auf die Prairie herauskamen, und zwar ebenfalls direct auf meinen Baum zu.

„Es waren neun Krieger der Pawnees – eine blutige Bande, die mir schon manches Herzeleid angethan –, und wenn sie mich jetzt spürten, war ich verloren. Einen hätte ich niederschießen können, ja vielleicht auch zwei, und ein paar andere mit meinem Messer niedermachen, aber es blieben dann immer noch mindestens vier übrig, und kein Stamm führt einen sichereren Pfeil als diese Schufte. Ich konnte deshalb nichts in der Welt thun, als mich still verhalten, und segnete jetzt das niederhängende Moos, das mich deckte und ihrem Blick verbarg.

„Glücklicher Weise bestand der Boden unter dem Baum aus gelbem festgetrockneten Lehm, auf dem meine Moccassins /7/ keine Spur eingedrückt. Die scharfen Klauen der Hirsche zeichneten sich dafür desto deutlicher ab, und da sie auch keinen Feind in der Nähe vermuthen konnten, oder wenigstens nicht vermutheten, schienen sie die Fährten gar nicht besonders zu beachten. Unter dem Baume selber aber stiegen sie von den Pferden, um eine kurze Rast zu machen. Was ich in der Stunde ausgestanden, vermöchte ich keinem Menschen zu sagen!

„Allerdings hatte ich mich, als sie näher kamen, von dem hängenden Moos gedeckt, so hoch als möglich in den Wipfel hinaufgezogen, aber so versteckt saß ich doch nicht, daß ich nicht ihre sich bewegenden Gestalten da unten hätte erkennen können, also auch von ihnen gesehen werden mußte, sobald sie nur ihre Aufmerksamkeit hinauf richteten – und der „Blaue Panther“ war zwischen ihnen, einer ihrer ersten Häuptlinge und der schlimmste Verfolger, den ich je gehabt. Ich konnte ihn deutlich erkennen, und wenn es mich je gelüstet hat, mein Leben in die Schanze zu schlagen, indem ich jenem wenigstens eine Kugel in den Schädel sandte, so war es in dem Augenblicke. Aber es wäre Wahnsinn gewesen.

„Glücklicher Weise stand in der Lecke selber nur ein kleiner Tümpel trüben, gelben Wassers; Holz gab es ebenfalls nicht genug für ein Lagerfeuer, und da die Dämmerung jetzt anbrach, mußten die rothen Schufte sich einen andern, besseren Platz für ihr Nachtlager suchen. – Sie zogen wieder ab, und nie in meinem Leben habe ich ein so brünstiges Dankgebet zum Himmel geschickt, als in dem Augenblicke, wo sich der Schall ihrer klappernden Hufe in der Ferne verlor, denn ich fühlte mich gerettet.“

„Aber nichts zu essen?“ sagte ich.

Wells lachte. „Die Weißen sagen, daß jeder Christ einen Schutzengel mitbekommt, der ihn durch’s Leben geleitet. Meiner trieb mir an dem Abend, als ich weit drin im Walde an meinem Lagerfeuer saß, ein Opossum zu. So ruhig /8/ kam es dabei anspaziert, daß ich ihm mit meinem Bowie den Kopf abschlagen konnte. Die Opossums sind manchmal, wenn sie nicht Hunde hinter sich wissen, wie blind und taub, und ich habe schon einzelne, die ich im Walde traf, hinter den Ohrengekratzt, ohne daß sie auch nur nach mir geschnappt hätten.“

„Und seid Ihr keinen weiteren Indianern auf Eurem Rückweg begegnet?“

Wells lachte still und unheimlich vor sich hin, aber er gab mir keine Antwort mehr. „Ich denke, es wird spät,“ sagte er nur, legte sich seine Decke zurecht, rollte sich hinein und war bald sanft und fest eingeschlafen.

2. Von Todten erschlagen.

Allgemeine Familienzeitung. Chronik der Gegenwart. Zur Unterhaltung und Belehrung.- Stuttgart: Hermann Schönlein, 1872

Der Kirchhof von Valparaiso liegt unmittelbar bei, oder eigentlich besser gesagt über der Stadt auf einem steil nach der Bai zu abfallenden Berge von etwa 120 Fuß Höhe, und nur eine einzige, und noch dazu sehr beengte Straße zieht sich am Fuße des Hügels, zwischen diesem und dem Hafen hin, so daß kaum eine einzige Straße Raum darunter hat. Ja für das eine Haus hatte man sogar noch einen Meter etwa von dem Fuße des Hügels abgraben müssen, und gerade über dem Dach desselben war die dicht an den Rand gebaute niedere und gelbe Kirchhofsmauer sichtbar.

In Valparaiso herrscht die eigenthümliche und keineswegs in allen südamerikanischen Republiken eingeführte Sitte, daß die Todten aus dem Hause, in dem sie gestorben, genau um Mitternacht fort und auf den Kirchhof getragen werden. Fackel- oder Laternenträger bilden dabei den Zug, und unheimlich genug sieht es aus, wenn sich dieser in feierlicher Stille, oder von einem Leichengesang begleitet, den dunkeln Berg hinaufwindet. Selbst von den im Hafen liegenden Schiffen, auf welchen Jemand gestorben ist, stoßen die Boote mit ihrer Todtenfracht, von Laternen beleuchtet, genau um Mitternacht ab, landen unter dem Berge, und der Sarg wird dann von den Seeleuten ebenfalls hinauf auf den Kirchhof getragen.

In den fünfziger Jahren nun waren Erdbeben ziemlich /10/ häufig in Chile gewesen, und die Kordilleren bilden ja überhaupt eine fast ununterbrochene Kette von allerdings meist ausgebrannten, aber hier und da auch noch thätigen Vulkanen. Valparaiso selber hat nur in sehr seltenen Fällen ernstlich darunter gelitten, und der leichte Sinn des spanischen Volkes setzt dieses auch rasch über jede überstandene Gefahr hinweg. Fängt die Erde wirklich an zu beben, dann stürzt natürlich Alles aus den Häusern hinaus auf die offene Straße, fällt auf die Kniee, schlägt sich in Todesfurcht gegen die Brust und murmelt und stöhnt Gebete, bis sich die unterirdische geheimnißvolle Kraft beruhigt hat. Dann geht aber Jedermann seiner Arbeit oder seinem Vergnügen wieder nach, und die Gefahr ist im Handumdrehen vergessen.

In jener Zeit waren diese kurzen Stöße häufiger geworden, ohne jedoch ernstlichen Schaden anzurichten. Es hatten sich wahrscheinlich wieder eine Masse von Gasen in den unterirdischen Tiefen angesammelt, die sich wieder einmal Luft machen mußten, um nachher auf’s Neue für ein Jahrzehnt Ruhe zu bekommen.

Es war im Herbst des Jahres 1859 und ein prachtvoller Abend. Der Mond stand klar am Himmel – draußen der Hafen lag überstreut von Lichtern, und oben von der Höhe aus sandte der Leuchtthurm seinen hellen Schein hinaus in die offene See, wohl auf 14 englische Meilen weit den Schiffern den sichern Port kündend.

In der Stadt herrschte noch reges Leben, denn in Südamerika bindet man sich nicht gern an frühe Stunden. Oben vom Vortop und Maintop, wie die beiden über der Stadt liegenden und mit niederen Baracken bebauten Hügel von den Seeleuten genannt werden, auf denen sich Nachts die Matrosen zwischen liederlichem Gesindel herumtreiben, tönte noch lustige Tanzmusik herunter, und wenn die dort Passierenden auch manchmal einem dunkeln Gegenstand, der auf der Straße lag, scheu auswichen – es war die Leiche eines Ermordeten, die dort zwischen den Häusern lag, bis ihn die Polizei fortschaffte –, so störte doch das die allgemeine Fröhlichkeit nicht im Geringsten. Derartige Dinge kamen ja dort nur zu häufig vor.

/11/ In der Stadt unten wurde es ruhig – die Polizei wanderte vereinzelt in den Straßen auf und ab, und die einzelnen Wächter gaben sich gegenseitig ihre Zeichen. Wie eine schwarze Wand, von blitzenden Funken, den Lichtern, überstreut, lagen die Küstenberge hinter Valparaiso, und Licht auf Licht verlosch in den Häusern selber, bis zuletzt nur noch das „wilde Viertel“ Leben zeigte.

Jetzt schlug es zwölf Uhr, und in demselben Moment erhellte sich eins der in der Bai ankernden Schiffe. Die hellen Punkte sammelten sich auf einer Stelle, sanken zum Wasserspiegel, der sie wiederblitzte, herab, und glitten dann von einem dunkeln Körper, einem Boot, getragen dem Landungsplatz entgegen.

Auch in der Stadt hatte sich in der nämlichen Zeit in der Alameda ein langer Zug gebildet, der einem Todten das letzte Geleite gab. Der Sarg wurde von sechs Peons getragen. Die Fackel- und Laternenträger rangirten sich vorn und in der Mitte des Zuges, und langsam, aber in feierlicher Stille wand er sich nördlich an den Hügeln hin, bis der Weg links in die Berge hinein, dem Gottesacker zu, abzweigte.

Gleich darauf landete auch das Boot mit seiner Leichenfracht. Die Matrosen, die es gerudert, blieben auf ihren Riemen liegen, und die anderen trugen den todten Kameraden, sich dem aus der Stadt kommenden Sarge anschließend, den Berg hinauf.

Oben trennten sich aber die Züge; die Seeleute wandten sich dem protestantischen Gottesacker zu, der von den Fremden dort gestiftet ist und weiter zurückliegt, während die Chilenen in den Hauptplatz eintraten, den ganzen Kirchhof durchzogen und den Sarg zu dem in der äußersten Ecke dem Meere zu liegenden und schon bereiten Grabe trugen.

Der Verstorbene gehörte einer der ersten Familien der Stadt an und hatte demzufolge eine sehr zahlreiche Begleitung, die sich an der Gruft sammelte.

An der Mauer hin lagen verschiedene Familiengräber, manche mit kostbaren Marmormonumenten oder doch Marmorplatten bedeckt, denn die Chilenen geben viel auf ein „anständiges“ Begräbniß, während dagegen die Armen in keinem Lande /12/ der Erde in frivolerer Weise eingescharrt werden, als gerade in Chile. Eine offene, etwa sieben Schritt im Quadrat haltende und sehr tiefe Grube empfängt sie, dort werden sie hineingelegt – oft hineingeworfen, unten ausgestreckt, damit sie nicht mehr als den nothdürftigsten Platz einnehmen, nicht einmal vollständig mit Erde bedeckt, und erst wenn die Grube voll ist, also etwa zwanzig Leichenschichten übereinander liegen, schüttet man sie zu. Diese Grube oder Kuhle befand sich aber mehr im Mittelpunkte des Kirchhofs. Hier oben lagen nur Privatgräber – die Aristokratie der Todten, und ein armer Peon hätte da nie seinen Platz gefunden.

Die Feierlichkeit war in ihrem vollen Gange; die salbungsvolle Rede des Priesters nahte sich ihrem Ende, die Fackel- und Laternenträger traten zum Grabe heran; die mit dem Zug gekommenen, in schwarze Tücher gehüllten Damen warfen Kränze und Blumen in die Gruft, die sich unmittelbar danach schließen sollte – da störte ein schrill und angstvoll ausgestoßenes Ave Maria die Feier. Ehe aber auch nur Jemand den Kopf dorthin wenden konnte, woher der Schrei ertönte, wurde er schon von zwanzig Lippen wiederholt, und Alles stürzte auseinander, denn der Boden bebte und wich unter den Füßen der zum Tod Erschreckten.

Natürlich dachten Alle in diesem Augenblick, daß ein neuer Erdstoß, stärker als sonst, den Grund erschüttere, aber die Sache zeigte sich noch schlimmer als dies.

Im ersten Moment drängte Alles dem Mittelpunkte des Gottesackers als dem höchsten Punkt der Fläche zu, die sich hier, nach dem Meere liegend, schon etwas senkte. Der Priester besonders, der von seinem erhöhten Stand auch vielleicht einen rascheren Ueberblick gewann, war mit Einem Satz von dem Grabe herunter und, hinwegfliehend, in Sicherheit. – Andere retteten sich ebenfalls zur Seite. Das sinkende Erdreich faßte jedoch noch Fünf oder Sechs, und mit Entsetzen sahen jetzt die oben Stehenden, daß eine ganze Ecke des Kirchhofs mit der Mauer vor ihren Augen verschwand, während gleich danach und von unten erst ein wildes Gepolter und Krachen, und dann das Wehgeschrei von Menschenstimmen herauftönte.

/13/ Aber in diesem Moment dachte Niemand an etwas Anderes als an sich selber. In dem allgemeinen Unglück, für das sie den Unfall hielten, mußte nur Jeder auf seine eigene Sicherheit denken und konnte seinem Nebenmenschen nicht helfen. Sie vermutheten in dem Bergsturz noch immer die Folge eines Erdbebens; dann konnte sich aber der Stoß wiederholen, und Alles eilte deshalb dem obern und offenen Hügelrücken zu.

Niemand hatte indeß bis jetzt einen Stoß gefühlt, es wiederholte sich auch nichts Derartiges, und erst nach etwa einer Viertelstunde, in der Alles vollkommen still und ruhig geblieben, wagten es einige der Laternenträger, nach dem Ort der Zerstörung zurück zu gehen, um dort zu sehen, was eigentlich geschehen sei.

Der Anblick, der sich ihnen hier bot, war nichts weniger als tröstlich. Die ganze Ecke des Kirchhofs zeigte sich im wahren Sinne des Worts abgebrochen, und zwar gerade bis zu der Stelle, wo sie den letzten Sarg eingelassen, der ebenfalls mit in den allgemeinen Strudel hineingerissen worden war, während die Hälfte des erst ausgeworfenen Grabes noch sichtbar blieb.

Jetzt eilten die Leidtragenden, so rasch sie konnten, wieder aus dem Kirchhofe hinaus und den Berg hinunter, um dort wo möglich den Sarg wieder aufzufinden – was sich freilich in dieser Nacht als unmöglich herausstellte. Dieser, allerdings durch Untergrabung leichtsinnig herbeigeführte Bergsturz hatte noch mehr Unheil angerichtet, und als sie den Strand wieder erreichten, fanden sie Alles in größter Verwirrung und Bestürzung.

Wie schon vorerwähnt, stand nämlich ein ziemlich massiv gebautes Haus gerade an der Unglücksstätte, wo die Kirchhofecke mit der sie umgebenden Mauer niedergebrochen war. Hatte auch die Mauer selber das Haus nicht erreicht und nur ein Theil derselben die eine Ecke eingeschlagen, das nachstürzende Erdreich war mit den darin befindlichen Särgen desto voller auf das Dach gestürzt, hatte dieses ineinander gebrochen und die ganze obere Etage nach unten hineingedrückt. Dabei mußten Menschen verschüttet worden sein – aber es /14/ kostete sehr viel Arbeit, zu ihnen zu gelangen, denn Hunderte von Fudern Erde füllten das ganze Haus, wie ebenfalls die Treppe. Außerordentlich schwierig zeigte es sich außerdem, von unten den Schutt wegzuarbeiten, da er von oben immer wieder nachstürzte. Grauenhaft wurde die Arbeit, als Sargtrümmer und halbverweste menschliche Körper, wie auch Theile von Gerippen zum Vorschein kamen, die noch unheimlicher bei dem matten Schein der Laternen aussahen. – So verging die Nacht; mit anbrechendem Tage hatte man wenigstens die Freude, noch drei lebende menschliche Wesen ausgegraben zu haben.

Ein trauriger Anblick aber bot sich in der einen Schlafstube des Hauses; dort hatte ein niedergestürzter großer und mit schweren Zinkverzierungen geschmückter Sarg einen unglücklichen Schläfer gerade auf die Brust getroffen und zermalmt, während die nachrollende Erde die übrigen Familienglieder, zwei Kinder und die Mutter, erstickt hatte.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde davon in der ganzen Stadt. In der Folge wurde jener Theil des Kirchhofs, so weit es nöthig schien, abgegraben und mit einer neuen Mauer umgeben, um ferneren Unglücksfällen vorzubeugen; gefährlich blieb die Sache freilich noch immer. Läßt sich jedoch das Menschengeschlecht wohl je warnen? Wo der Lavastrom eines Vulkans die Hütten der armen Bergbewohner erreicht und vernichtet hat, siedeln sich, sobald die Lava abgekühlt ist, wieder Andere an. Der von einer Ueberschwemmung heimgesuchte Boden wird nicht verlassen. Auch der Eigenthümer des von Todten zerstörten Hauses in Valparaiso, der in jener Nacht gerade nicht daheim gewesen, ließ sich durch das Vorgefallene nicht abschrecken, seine Wohnung an der alten Stelle wieder herzustellen und auf’s Neue zu beziehen. /15/

3. Ein Pampero in La Plata.

Allgemeine Familienzeitung. Chronik der Gegenwart zur Unterhaltung und Belehrung.- Stuttgart: Schönlein, 1872

Die Stürme in den verschiedenen Welttheilen und Meeren haben auch meistentheils ihre verschiedenen Namen, obgleich sie sich in ihren Wirkungen ziemlich gleich bleiben. Im Chinesischen Meere und bei Ostindien heißen sie Typhoons, bei uns und in Westindien Orkan, in Nordamerika Hurricane, im Adriatischen Meere Bora, an der Küste der Argentinischen Republik bis weit nach Brasilien hinaus Pampero, an der chilenischen Küste einfach Norder, da dort die gewöhnliche Passatbrise nur von Süden herauskommt und erst ausartet, wenn sie sich nach Norden wendet.

Im Ganzen bleibt sich die Sache gleich. Es sind furchtbare Stürme, die schon manches Menschenleben gekostet haben und selbst auf dem Lande, wie die Hurricanes in Nordamerika oder die Orkane in Westindien, zu Zeiten furchtbare Verheerungen anrichten.

Ich lagerte selber einmal, im Jahre 1841, in Arkansas im Walde, als ein solcher Hurricane dicht an mir vorbeibrauste. In einer Breite von etwa achthundert Schritt – und ich weiß nicht auf wie viel Meilen Länge, hatte er sämmtliche riesige Waldbäume der Niederung, und zwar alle nach einer Richtung, so zu Boden geworfen, wie der Schnitter das Feld mäht, und etwa hundert Schritt von dieser Bahn entfernt, wo ich selber lagerte, brachen einzelne Zweige von den Bäumen /16/ nieder und zwangen mich, Schutz an einer mächtigen Eiche zu suchen. Die Stadt Natchez in Mississippi wurde damals fast vollständig zerstört, einer Anzahl von Dampfbooten rasirte es den obern Theil förmlich ab, hundertzwölf Flatboote – schwerfällige Dinger, die fünf Fuß über dem Wasser liegen und fast eben so tief gehen, wurden umgedreht, Boote, die sich gerade im Fluß befanden, mit Gewalt an’s Ufer geworfen, und der riesige Mississippi selber stieg, von der von Süden kommenden Windsbraut gestemmt, wohl zehn Fuß in kaum einer Viertelstunde.

Die Pamperos an der La Plata-Küste, die vom Cap Frio in Brasilien bis hinunter zum Rio Negro reichen, sind von den Schiffern gefürchtet genug. Sie haben allerdings gewisse Kennzeichen, in denen sie ihr Nahen kündigen, treten aber dann nicht selten mit so furchtbarer Schnelle und Gewalt auf, daß ihnen selbst gute Schiffe nur mit dichtgereeften Segeln die Stirn bieten können, und erfordern in jenen Breiten – besonders in der meergleichen Mündung des La Plata selber – die ganze Aufmerksamkeit des Capitains, um sein Fahrzeug glücklich und ohne Schaden hindurch zu führen.

Im Juni des Jahres 1849, einem der schlimmsten Monate für diese Stürme, segelte ich in einer kleinen holländischen Kuff, jetzt freilich unter argentinischer Flagge und mit einem deutschen Capitain (Hauschild mit Namen und ein Hamburger) von Rio de Janeiro nach Buenos Ayres, um von dieser Stadt aus den Ritt durch die Pampas zu wagen, in Valparaiso dann mein in Rio de Janeiro verlassenes Schiff wieder zu treffen und die Reise nach Californien fortzusetzen. Schon an der Grenze von Brasilien bekamen wir den ersten Pampero, etwa drei Grad südlicher den zweiten, und erst gutes und vollkommen sonnenklares Wetter, als wir in die Mündung des La Plata – an der sich aber weder rechts noch links ein Ufer erkennen ließ, – einliefen. Eine leichte Brise führte uns langsam stromauf, und erst in Sicht der Insel Lobos schlief der Wind vollkommen ein. Der sonst so be/17/wegte Strom wurde spiegelglatt, und da wir hier noch unter Einfluß von Ebbe und Fluth lagen, trieben wir wohl anfangs ein Stück zurück, glitten aber, mit einsetzender Fluth, auch eben so viel wieder stromauf.

Verschiedene Seehunde tauchten rings um uns her auf, kamen oft ziemlich nahe zu unserem Fahrzeug und schienen sich überhaupt an der Oberfläche des ruhigen und schönen Wetters zu freuen. Ich hatte auch den Capitain schon mehrmals gebeten, ein Boot auszusetzen, um einige der Burschen einzubringen, er meinte aber, er hätte schon verschiedene Passagiere an Bord gehabt, die er zum Jagen hinausgelassen, Niemand habe ihm aber noch einen Seehund an Bord gebracht – wir könnten eben nichts treffen.

Ich hatte eine ausgezeichnete Büchsflinte mit mir, holte sie herauf, lud sie und schoß gleich darauf einen der etwa 120 Schritt von Bord auftauchenden Seehunde durch den Hals, daß er aufbäumte und, während wir deutlich den ausströmenden Schweiß erkennen konnten, ein paar Mal im Wasser auf- und abschlug und dann versank.

Jetzt wurde mein kleiner Capitain selber eifrig, ließ das Boot aussetzen, und bald darauf schwamm ich mit meiner guten Büchse draußen, gewissermaßen auf offener See, und bekam verschiedene Thiere nach und nach zum Schuß – aber keinen an Bord.

Ich hatte zu gut gezielt und alle gleich tödtlich getroffen, wonach sie allerdings die Oberfläche ein paar Secunden peitschten, dann aber auch eben so regelmäßig sanken und nicht wieder zum Vorschein kamen. Da und dort tauchten aber neue Gruppen auf, und da der Steuermann, der mit im Boot saß, selber Feuer und Flamme für die Jagd wurde, folgten wir den Thieren und entfernten uns dadurch immer weiter von dem Schiffe.

Endlich gelang es mir, einen mächtigen Burschen, der sich etwa hundert Schritt vor uns zeigte, derart in den Hals zu schießen, daß er nicht gleich todt war, sondern auf dem Wasser umherschlug. Das Boot schoß hinan, ich stand schon vorn im Bug, und eine halbe Minute später griffen wir ihn beim Fell und zogen ihn herein.

/18/ Wir Alle hatten uns indessen, mit unserer Jagd eifrig be¬schäftigt, gar nicht mehr um das Fahrzeug bekümmert, der Steuermann es aber doch wenigstens von Zeit zu Zeit im Auge behalten, und sein schriller Ruf jetzt: „An Eure Riemen, Boys!“ machte uns Alle aufsehen. Dort war aber eine Veränderung vorgegangen, die jetzt erst gesetzte argen¬tinische Flagge wurde hastig auf- und niedergezogen: ein ganz bestimmtes Zeichen, daß uns „der Alte“ so rasch als möglich an Bord haben wollte, und die Matrosen folgten auch dem Befehl unbedingt. Im Nu sprangen die Leute auf ihre Sitze, griffen ihre Riemen oder Ruder auf, und während der Bug herumflog, schäumte das kleine Boot schon durch die noch immer spiegelglatte See.

Wir fanden jetzt auch, daß sich eine leichte, wenn auch völlig unstete Brise erhoben hatte, dachten aber gar nicht an irgend welche Gefahr und hielten nur, dem Befehl gehorsam, auf die immer näher rückende Kuff zu. Nur der Steuer¬mann war unruhig geworden, warf den Blick bald da bald dort hinüber, und trieb die Matrosen verschiedene Male an, sich fester in die Riemen zu legen. Mir selber fiel auf, daß die schwache Brise manchmal ganz wegstarb und dann wieder kam – aber jetzt schrie uns auch schon der Capitain durch das Sprachrohr zu, zu eilen, und nun wußten die Seeleute, daß es Ernst sei.

„Hol’ mich Dieser und Jener – ein Pampero!“ brummte der Steuermann zwischen den Zähnen durch. „Der Baro¬meter wird den Alten auf Deck gejagt haben – scharf in die Riemen, Jungens – es geht hart an Mann!“

Das Boot flog nun, von den vier kräftigen Leuten ge¬trieben, unserem Fahrzeug entgegen, die wenigen Mann, die zurückgeblieben, standen schon bereit und warfen uns Taue zu, im nächsten Moment war das Boot angehangen und wir kletterten an Bord, – das Boot folgte, während sich Alle an die Falle legten, um es aufzuwinden – der Seehund blieb vor der Hand darin liegen, und jetzt folgte Befehl auf Befehl – die leichteren Segel kamen herunter, das Marssegel wurde dicht gereeft und jede andere Vorsicht noch gebraucht, /19/ als es schon von Norden her zu wehen anfing, während im Westen eine dunkle Wolkenschicht aufstieg.

Bessere und untrüglichere Zeichen gab es nicht – Alles wurde an Segeln geborgen, was nicht unbedingt nöthig war, um das Fahrzeug in Gang zu halten, und dann ging der Tanz los. Kaum fünfzehn Minuten später schlug der Wind nach Nordwesten, jetzt nach Westen herum, und wie er den Punkt erreicht hatte, nahm er die Backen voll. Die Wolken¬wand war indessen mit rasender Schnelle höher und höher ge¬stiegen, und ein Regen strömte plötzlich herab, der selbst unter den Tropen nicht heftiger hätte auftreten können. Aber das verminderte die Kraft des Sturmes nicht. Die Mündung des gewaltigen Stromes hatte bis dahin spiegelglatt gelegen, jetzt kräuselten sich die Wogen, aber wuchsen mit rasender Schnelle, und mit Dunkelwerden stand schon eine See, die weit draußen im Ocean nicht massenhafter auftreten könnte, während der Sturm von den sich überstürzenden Wellen die weißschäumenden Kronen blitzesschnell fortriß.

Der Pampero unterscheidet sich übrigens scharf von allen übrigen Stürmen, welche fast sämmtlich, den neueren Ent¬deckungen nach, einen riesigen Wirbel beschreiben. An der Stelle aber, wo gerade ein Fahrzeug in ihren Bereich kommt, wehen sie nur immer aus ein und derselben Richtung, oder wechseln wenigstens nur einen oder zwei Striche, während inmitten dieses Kreises vollkommen ruhige See und selbst Windstille herrschen kann. Bei dem Pampero dagegen rast dieser wohl ebenfalls um den ganzen Compaß, aber schleudert seine Windmassen in den innern Kreis, und hat zwischen den vollständig flachen Ufern und zahlreichen seichten Sandbänken des La Plata schon manches Menschenleben dort gekostet.

Gewöhnlich endet der Pampero damit, daß er, nachdem er, vierundzwanzig Stunden, ja oft auch länger geweht, nach Süden herumgeht, dann schwächer und schwächer wird und zuletzt in eine Windstille ausläuft. Das geschieht aber nicht regelmäßig, denn dieser Pampero fand uns, darauf bauend, er werde auf die erwähnte Art verlaufen, südlich von dem Punto del Indio, am rechten Ufer des La Plata, wo er dann, von Süden nach Norden wieder hinaufgehend, auslief, so daß /20/ wir mit der nördlichen Brise nicht von der Stelle konnten und noch eine Zeit lang liegen bleiben mußten.

Die Mündung des La Plata wimmelt dabei von See¬vögeln, unter denen die riesigen Albatrosse mit den kleinen zierlichen Captauben (einer Mövenart, die im Fluge der Taube ähnelt und nur etwas größer ist) die entschiedene Mehrzahl bilden.

Wunderbar sah es jetzt aus, wie das lustige gefiederte Volk, in hellen unruhigen Schwärmen zwischen den hoch auf¬schlagenden Wogen, mitten zwischen dem spritzenden Schaum umherspielte und oft dem tosenden Orkan gerade in die Zähne hinein und mit kaum verminderter Flugschnelle das Fahrzeug umkreiste. Die Albatrosse besonders, während die scharfen Wogen zu ihnen aufbäumten, legten oft die Spitzen ihrer Flügel auf die obere bewegliche Kante und schienen sich da¬mit aufzuschnellen. Das webte und lebte nur so über dem weiten Meere, und wie um auch noch etwas zu der allge¬meinen Geselligkeit beizutragen, kam jetzt plötzlich ein langer Zug der dunkelbraunen Tümmler oder Sprungfische an die Oberfläche gesprungen, schnellte sich oft mit dem ganzen Körper heraus, und versank dann wieder in der gelbgrünen Fluth. Wie spielend stießen dabei die breitbeschwingten Albatrosse nach ihnen hinunter, aber die Fische kümmerten sich gar nicht um sie, erreichten unser Fahrzeug, trieben sich eine Weile vor dem Bug desselben herum, und zogen dann ihre Bahn weiter.

Die Seefahrer glauben, wie alle Leute, die viel oder aus¬schließlich in der freien Natur leben, wie z. B. Jäger, Schäfer, Fischer – an eine Menge von abergläubischen Sprüchen und Wetter-Regeln. Ich weiß mich aber nicht zu erinnern, daß auch nur eine von allen diesen eingetroffen wäre. Kein Capitain – und ich habe vierunddreißig größere Seereisen gemacht – mit dem ich je zusammenkam, konnte genau das Wetter selbst auf den nächsten Tag bestimmen, obgleich es Anzeichen giebt, die aber auch wieder von vielen unberechen¬baren Umständen abhängen. Es zeugt deshalb für die Dummheit unseres Volkes, daß sich noch in den Kalendern die albernen Wetterprophezeiungen auf das ganze Jahr nicht allein erhalten, nein sogar von den Bauern noch immer be¬sonders verlangt werden.

/21/ Hier bei uns z. B. soll es regnen, wenn einem Hunde schlecht im Magen ist und er Gras frißt. Die Seefahrer haben in ähnlicher Weise ein Zeichen mit diesen Sprungfischen oder Tümmlern – sie behaupten nämlich, daß ihr Zug oder vielmehr die Richtung ihres Zuges den kommenden Wind an¬zeige. Schade nur, daß sie noch nicht darüber einig sind, ob der Wind daher kommen wird, wohin sie ziehen, oder wo¬her sie kommen. Es herrschen darüber wenigstens ver¬schiedene Meinungen.

So viel bleibt gewiß, daß diese Fische auf ihren Zügen ihrer Nahrung nachgehen – wo sie die finden, dahin ziehen sie und kümmern sich dabei verwünscht wenig um den über die Oberfläche der See hinbrausenden Wind.

Dieser Pampero dauerte drei volle Tage – eine außer¬gewöhnlich lange Zeit, und wenn ich je eine stürmische, hä߬liche See gesehen habe, so war es in der Mündung des La Plata-Stromes. Ich bin von eben so starken Stürmen am Cap Horn, am Cap der guten Hoffnung und draußen im Atlantischen Ocean herumgeschüttelt worden, aber das waren derbe, ehrliche Wogen, die dort die See aufwühlten, das kam in Massen und hob sich bergehoch, hatte seinen bestimmten Gang, und besonders unmittelbar unter dem Afrika¬nischen Cap und selbst in Sicht von der Küste, wo ich die höchsten Wogen von einer wunderbaren Flaschengrün-Farbe antraf, hatte der Sturm etwas Großartiges, Bewältigendes – hier war es ein Knuffen von allen Seiten, ein boshaftes Aufschwellen und Stürzen, ein heimtückischer Angriff auf das Fahrzeug, bald an dem, bald an jenem Bord, und die kurzen und doch so hoch aufspringenden Wogen ließen uns auch keinen Augenblick Ruhe.

Ich bin nie im Leben seekrank gewesen, habe mich auch an Bord im La Plata vollkommen wohl befunden und mit dem größten Appetit die Leber des erlegen Seehundes mitten im tollsten Sturm verzehrt, aber trotzdem auch nie mit solchem Behagen wieder festes Land betreten, als damals, wie ich nach dieser Fahrt endlich wieder Fuß auf argentinischen Boden setzte. /22/

4. Eine Lleva

Bislang kein Nachweis des Erstabdrucks

1. Das unterbrochene Fest.

Mexiko! Wenn es ein Land der Erde giebt, auf das Gott der Herr alle seine schönsten Gaben mit vollen Händen aus¬gestreut, so ist es dies, und es liegt ein Grund in der alten mexikanischen Sage, nach der jener große Geist, den wir unter Hunderten von Namen anbeten, als er das mexikanische Land erschaffen, ein Fenster im Himmel offen ließ, um immer auf sein größtes Kunstwerk herabschauen zu können und es im Auge zu behalten.

Kein Land der Erde bietet auch fast, in so rascher Reihenfolge, aber immer gleich schön und großartig, den Wechsel zwischen kalter, starrer Eisregion, gemäßigtem Klima und glühender Tropenzone. – Die hohen, mächtigen Schneegebirge, mit Feuer im Leibe, das noch oft die Nachbarschaft durchschüttelt, werfen Morgens und Abends ihre langen Schatten über Palmenwälder, und prachtvolle Strecken, mit mildem gemäßigten Klima, ziehen sich dabei über die weiten Hoch¬ebenen des schönen Landes.

Nähert man sich, aus dem Mexikanischen Golf kommend, der Hafenstadt Vera Cruz, ganz in deren Nähe auch damals der Pirat Cortez landete, so streckt schon von Weitem, hoch in die Wolken hinein, der spitze, schneebedeckte Krater Orizaba seine pyramidenartige Kuppe gegen den blauen Himmel empor, /23/ als ob er fast dicht hinter den Küstenhügeln stände. Aber trotzdem liegt er doch weit drinnen im Lande und hebt sich aus einem der schönsten Theile des schönen Reiches, den frucht¬barsten Boden zu seinen Füßen überblickend.

Die ganze Umgegend des Orizaba ist ein Paradies, und wenn man in kälteren Zonen wohl mit Recht sagt, daß, je schöner und großartiger die Scenerie, desto dürftiger auch dagegen der Boden sei, so findet das wahrlich keine Anwendung auf diesen Theil der Erde.

Charakteristisch für Mexiko ist, daß fast sämmtliche Städte, ja selbst auch befestigte Plätze, nicht auf Höhen, sondern in die Thäler hineingebaut sind, und dabei rings von, meist be¬waldeten, Hügelzügen umschlossen werden. In den zahllosen revolutionären Kämpfen, die das unglückliche Land schon durchgemacht, hat das auch die betreffenden Ortschaften schon oft geschädigt und sie sehr häufig widerstandslos in die Hände der Banden gegeben, die oben die Höhen besetzten und von allen Seiten einbrachen. Aber dafür gewährten diese Plätze auch wieder im Frieden einen desto freundlicheren Anblick, und während im Thal alle Producte der Tropen in Pracht und Fülle gediehen, und schattige Waldbäume das Bild von blühenden Gärten und Feldern einrahmten, hob sich hoch darüber hinaus der mit ewigem Schnee bedeckte Krater, der Orizaba, und sandte, selbst im heißesten Sommer, seinen kühlen Luftzug über die darunter hingedehnten Höhen und Thäler.

Es war, für kurze Zeit wenigstens, Frieden gewesen in dem weiten Reiche, und wenn es auch im Süden vielleicht schon wieder gährte und sich in den nordischen Gebirgen auch noch einige Banden herumtrieben, die unter dem Namen eines politischen pronunciamiento kleine gemeine Raubanfälle aus¬führten, so wurde das immer mehr oder weniger als „wildes Land“ angesehen und kam nicht so sehr in Betracht. Der arme Kaiser Maximilian von Mexiko war mehr der französischen Verrätherei als den mexikanischen Waffen erlegen, der Indianer Juarez, der mit zäher Ausdauer und fast ohne Mittel weit eher einen Guerillakampf als wirklichen Krieg gegen die Re¬gierung der Fremden geführt, hatte eben durch seine Zähig¬keit gesiegt und war wieder zum Präsidenten gewählt worden, /24/ und allen menschlichen Berechnungen nach mußte das Volk endlich einmal selber dieser unausgesetzten Kämpfe müde sein und sich nach Ruhe und Ordnung sehnen. Das eigentliche Volk that das auch wohl, aber es gab zu viel faules, müßiges Gesindel im Lande – es existirten zu viele Generale, deren gefährliche Zahl schon Maximilian hatte verringern wollen, und dadurch eben so viele Feinde für sich schuf, und diese fanden sich im Frieden natürlich außer Cours gesetzt, also brauchten sie Krieg.

Trotzdem dauerte es eine gute Weile, ehe man in den Hauptprovinzen wieder etwas von Aufständen hörte, bis eine große Geldconducta von der Hauptstadt Mexiko über Puebla nach Vera Cruz gehen sollte und der Kriegsminister Negrete selber, der bis dahin und in trüber Zeit standhaft bei Juarez aus¬gehalten, den kecken Entschluß faßte, sich die anderthalb Millionen, die sie etwa enthielt, anzueignen und damit nach irgend einem andern Lande durchzubrennen. Durch die Wach¬samkeit der Behörden in Puebla wurde das allerdings ver¬eitelt; sein kecker Plan war zu früh verrathen worden, und man ergriff sogar einen Theil seiner Helfershelfer; er selber aber entkam in die Berge, und es hieß, daß er dort wieder eine Truppe sammeln wollte, um die Unzufriedenen, von denen es in Mexiko jeder Zeit eine bedeutende Zahl gab, um sich zu sammeln und sich gegen die Regierung zu erklären. Juarez sandte auch augenblicklich verschiedene Streifcorps gegen ihn aus, um die Sache gleich im Entstehen zu ersticken; aber das Land ist zu weit und zu unwegsam, mit seinen Tausenden von Bergschluchten und Höhen, und was den Mexikanern damals half, sich der fremden Eroberer zu erwehren und ihnen, wenn auch hundertmal besiegt, doch immer wieder zu entgehen, das verhinderte auch jede Regierung, so gut sie es mit dem Lande meinen mochte, die Ordnung darin aufrecht zu erhalten. Unregelmäßigkeiten kamen unausgesetzt vor, und diese soge¬nannten pronunciamientos, die anzustiften jeder bestrafte oder seiner Meinung nach zurückgesetzte Officier die Macht hatte, nahmen kein Ende. Sobald es einem solchen Menschen nur erst einmal gelang, fünfzehn oder zwanzig Herumstreicher, von denen es Tausende im Lande gab, um sich zu schaaren, so /25/ wuchs die Bande wie eine Lawine an und wurde zu einer Plage der Bevölkerung – ja, hielt in manchen Districten oft Jahre lang jede Industrie und Arbeit nieder.

Alle diese Bewegungen waren aber in jetziger Zeit auf den mehr abgelegenen Norden zurückgedrängt. In den Provinzen Zacatecas, Luis Potosi und Sierra Gorda – zu welchem letzteren Staat sich auch der flüchtige General Negrete zurück¬gezogen haben sollte, kam es fast stets vor, selbst im Süden von Oaxaca sollte es ebenfalls wieder gähren, und das Gerücht sprach sogar davon, daß der tüchtigste General Mexikos und ein anerkannter Ehrenmann, Porfirio Diaz, dem jetzigen Präsidenten die oberste Regierungsgewalt streitig machen wolle. Aber das blieben vor der Hand nur Gerüchte, wie sie ja auch in Mexiko nie aufhörten, und kein Mensch kümmerte sich darum – am wenigsten aber die Bewohner eines kleinen reizenden pueblitos oder kleinen Städtchens am Fuße des Orizaba, Namens San Juan, das wie hineingeschmiegt in einen Wald von Blüthen lag und zu seinen Füßen von fruchtbaren Feldern begrenzt wurde.

Es gab kaum einen traulicheren Platz in ganz Mexiko, als diesen kleinen, allerdings etwas aus dem Wege gelegenen Ort, der aber auch deshalb von den politischen Stürmen nur in höchst seltenen Fällen berührt wurde und eigentlich das zeigte, was Mexiko sein könnte, wenn es von einem andern Stamme, als der durchweg faulen romanischen Race be¬wohnt wäre.

Die Wege dorthin, die aber nur von Norden und Süden liefen und allein von Maulthieren oder Reitern begangen werden konnten, schlängelten sich durch dichten, nur selten von kleinen Ansiedelungen unterbrochenen Wald, bis sich das Thal plötzlich öffnete und der kleine freundliche Ort wie ein mit äußerster Kunst gemaltes Miniaturbild vor dem Wanderer lag, nur daß kein Künstler der Erde im Stande gewesen wäre, seinem Gemälde jenen wunderbaren Farbenschmelz zu geben, der wie ein Hauch der Gottheit über dem Ganzen ruhte.

Hoch darüber thürmten sich die in der Sonne blitzenden Schneeflächen des Orizaba, Schluchten und Thäler füllend mit ihren Massen, wie eine fremde, feenhafte Welt, und wunder/26/bar fast sah es aus, wie gegen den tiefblauen Himmel hin lange, wehende Nebelschleier diese Kuppen umzogen und un¬ablässig ihre Gestalten und Formen wechselten. Wie riesige Gespenster mit langen, fliegenden Gewändern kreisen sie um die scharfabgezeichnete Kuppe, jetzt wie zu einem Reihen vereint, jetzt auseinander fließend und immer gleich schön, gleich gro߬artig.

Und darunter der herrliche, dunkle Wald, der erst gegen das Thal zu in hellgrüne Zuckerrohrfelder und düstere Kaffeepflanzungen auslief, und dazwischen die freundlichen, lichten Häuser von fruchttragenden Orangenbäumen und Granaten, von breitblättrigen Bananen und dichtbuschigen Laubbäumen umgeben, aus denen in langen Reihen die Palmenschäfte der Palma real mit ihren Federkronen gerade und majestätisch emporstiegen.

Hier herrschte auch in gewöhnlichen Zeiten reges Leben und geschäftiges Treiben, denn in dem ganzen letzten Jahr hatte der Krieg diesen abgeschiedenen Winkel verschont und den Leuten Muße gegeben, sich ihren Arbeiten und Beschäftigungen ungestört zu widmen. Sie erfuhren auch in der That wenig von dem, was im übrigen Land vorging, denn eine directe Post führte gar nicht hierher oder hindurch, und was einzelne Maul¬thiertreiber berichteten, kam doch auch nicht direct von der Quelle und beruhte meistens nur auf Hörensagen. Aber mehr verlangten die Bewohner von San Juan auch gar nicht – ihr ganzes Streben ging dahin, ruhig und ungestört ihren eigenen friedlichen Beschäftigungen obzuliegen; wer dann da draußen das große, weite Reich regierte, blieb sich vollkommen gleich und übte keinen Einfluß auf San Juan.

Heute schien aber trotzdem ein besonderer Tag und der ganze kleine Ort auf dem offenen Platz versammelt zu sein, der sich thalwärts an San Juan herumzog und von frucht¬bedeckten Orangen, blühenden Akazien und einzelnen dort angepflanzten Cocospalmen umgeben lag. Es war das eine Art von Paseo oder Spaziergang für die Bewohner und diente ihnen deshalb auch an Festtagen zur Erlustigung – und heute war ein Festtag.

Der Sohn eines der reichsten Hacendados in der Nach/27/barschaft hatte ein armes Mädchen, die Tochter eines Maul¬thiertreibers, lieb gewonnen und zur Frau begehrt. Die Eltern waren natürlich nicht damit einverstanden, und alle Intriguen, wie man sie sich sonst nur im Bereich von großen Städten denkt, wie sie aber eben so gut auf jedem Dorfe in unserer eigenen Heimath vorkommen, waren gespielt worden, um die Verlobung rückgängig zu machen – umsonst. José Arguilez blieb seinem Mädchen treu, und da die Eltern end¬lich sahen, daß alle Einsprüche nichts halfen, fügten sie sich dem Unvermeidlichen.

Heute war der Hochzeitstag und (da die reichen Arguilez der Stadt wenigstens zeigen wollten, was sie konnten – wenn sie eben wollten) ein großes Fest angeordnet worden, das die ganze Nachbarschaft herbeizog und einen vollen Tag, von frühem Morgen bis späten Abend, ausfüllte.

Morgens früh fand natürlich die Feierlichkeit in der Kirche statt – zuerst wurde Messe gelesen, dann kam die Trauung, nachher ein Festspiel der jungen Leute, nachher das Hochzeitsmahl, das mit wahrhaft üppiger Pracht – für diesen abgelegenen Theil des Reiches wenigstens – ausgestat¬tet wurde; dann ein Pferderennen und zum Schluß natürlich ein allgemeiner Ball, auf den sich das junge Volk schon Tage lang gefreut und vorbereitete. Und was für ein prachtvoller Tanzplatz war es, den man dazu ausgewählt!

An der einen Seite des Paseo lag ein eingemauerter, etwas erhöhter Platz, von einer niedern Mauer umgeben, die ringsum steinerne Bänke trug und von den Bewohnern San Juans gewöhnlich nach heftigen Regen benutzt wurde, um sich dort, auch im Freien, aber auf trockenem Boden zu ergehen. Eine ganze Reihe von hochstämmigen Königs¬palmen war aber ringsumher dort angepflanzt; jeden Sitz umgaben entweder Blüthenbüsche oder kurzgehaltene Orangen¬bäume, und für den Abend bestimmt, hingen schon zahllose bunte Papierlaternen ringsumher, während eine Anzahl von Leuten sich damit beschäftigte, aus dem vor diesem Paseo liegenden Plan ein Feuerwerk vorzubereiten, das einen wür¬digen Schluß des Festes bieten sollte.

Schon über Tag hatten sich Massen von Gästen einge/28/funden, von denen der männliche Theil hauptsächlich dem Wettrennen zu Liebe kam – aber der Zuzug hörte nicht auf, und jetzt langten auch ganze Cavalcaden von jungen Mädchen an, die, alle keck im Sattel, auf ihren munteren Thieren heransprengten und nur noch rechtzeitig für den Tanz einzutreffen wünschten.

Ein Tanz in Mexiko – es giebt kaum etwas Graziöseres und Lieblicheres, als diese spanischen Tänze – nicht etwa wie wir sie hier bei uns im Ballet sehen, sondern wie sie in Wirklichkeit von den bezaubernd schönen Mädchen des Südens ausgeführt werden, bei deren Bewegungen die männ¬lichen Zuschauer oft in Extase gerathen.

Der Südländer ist nicht prüde, aber mit faulen Orangen würde eine Tänzerin beworfen werden, die es wagen sollte, ähnlich wie unsere Balletdamen ihnen einen Fandango aufzuführen. Er hat keine Ahnung davon, daß bei uns die Kunstfertigkeit im Tanze nur darin besteht, die Beine so hoch und unanständig wie möglich zu werfen. Jede Bewegung der Habanera oder der Fandangos ist keusch und züchtig, und nur in der Grazie sucht die Tänzerin ihren Erfolg, findet ihn aber auch darin vollkommen, denn es giebt kein dank¬bareres Publikum in der weiten Welt für einen solchen Tanz, als eben den Südamerikaner.

Militär lag gar nicht in dem kleinen, etwas aus dem Wege gesetzten Orte, da derselbe mit keiner der größeren Städte in directer Verbindung stand. Die breite, durch das Thal führende Straße lief an dem Hang des gegen¬über liegenden Bergrückens hin, und durch den tiefen Einschnitt, der beide Höhen von einander trennte, wälzte sich ein ziemlich reißender Bergstrom, der nur bei niedrigstem Wasser¬stand passierbar wurde, oft aber nach heftigen Gewitterregen so plötzlich anschwellen konnte, daß er selbst große Felsstücke aushob und mit fortrollte. Hier herüber kam deshalb auch kein Fremder, der San Juan nicht als directes Ziel ge¬nommen, und selbst die Producte, welche die Einwohner zu Markte schafften, mußten auf Maulthieren, und mit beträcht¬lichem Umwege, in die nächste größere Ortschaft gebracht werden. Dadurch bildete die Bevölkerung des Städtchens /29/ oder Dörfchens, wie man es besser nennen könnte, mit seiner nächsten Nachbarschaft von Estancien und Ranchos aber auch eine mehr geschlossene Gemeinschaft, wie man es sonst wohl nicht so häufig findet. Die Leute kannten sich alle und waren befreundet mit einander und hätten ein sehr stilles und zu-friedenes Leben führen können – wenn der reizende kleine Ort eben in einem andern Lande, als einer südamerikanischen Republik gelegen gewesen wäre.

Heute dachte aber kein Mensch in San Juan an Politik oder Revolution; es war überhaupt schon einige Zeit ver¬flossen, seit sie von den letzten einzelnen, aber immer rasch unterdrückten oder gar nicht zum Ausbruch gekommenen Auf¬ständen gehört – sie interessierten sich auch nicht besonders dafür und gaben sich ganz dem Genusse des freundlichen Festes hin.

Das Wettrennen war vorüber und in harmloser Fröhlich¬keit verlaufen, der Sieger von den jungen Mädchen mit Blumen bekränzt worden, während sich die Besiegten mit einem nächst zu erwartenden Erfolg trösteten, und das junge Volk sam¬melte sich jetzt auf dem Plan unter den Palmen, wo schon die Musici, ein paar alte Burschen mit ihren Guitarren, ein¬trafen, um den Tanz zu begleiten. Der innere Raum des eingeschlossenen Paseo eignete sich auch ganz vortrefflich dazu, er war mit Steinplatten belegt, und die beiden alten Mexi¬kaner mit ihren Guitarren saßen an einem für sie hingestellten Tische nahe am Eingang.

Bei dem Tanz durfte Niemand fehlen, und das kleine Städtchen lag indessen wie verödet; die Sonne malte mit ihren Abendtinten die Welt umher mit der herrlichsten Farbenpracht, der Wald duftete, und leise nur rauschten die gefiederten Blätter der Palma real in der leichten Brise – aber wer achtete jetzt darauf, wo die jungen hübschen Señoritas antraten und die beiden alten Mexikaner indessen, mit kun¬diger Hand die Saiten ihrer Instrumente berührend, eine Art Wettgesang begonnen hatten, um damit die Feierlichkeit zu eröffnen.

Wir finden diese Art von Improvisatoren in allen spanischen Colonien, und mit scharfem Witz und Humor /30/ geißeln sie oft die Schwächen der Anwesenden oder preisen mit wirklich poetischen Worten ihr Vaterland und besingen die tapferen Thaten seiner Söhne, wobei ja die ganze ro¬manische Race den Mund gern etwas voll nimmt. Heute blieben aber auch diese patriotischen Auslassungen weg; es hatte sich schon ein zu reichlicher Flor von jungen, hübschen Mädchen eingefunden, die schon ungeduldig der Zeit des Beginnens entgegen sahen, und die Versuchung lag zu nahe, auf deren Kosten einen Wettkampf zwischen den beiden Sängern zu veranlassen.

Der eine begann einzelne der Erschienenen, die er mit irgend welchem Putz oder Schmuck deutlich genug bezeichnete, zu preisen und machte dadurch die Wangen der betreffenden jungen Damen hoch erglühen, während der Gegner, der in¬dessen mit scharfem Blick die übrigen gemustert, andere heraus¬griff und zu deren Gunsten die ersten verspottete. Das junge Volk fing untereinander an zu kichern und zu lachen, bis eins der jungen Mädchen, ein bildschönes Ding von kaum siebzehn Jahren, diesen neckischen Weisen dadurch ein Ende machte, daß sie, nach dem Tact der eben gespielten Me¬lodie, in den Ring sprang und mit ihren kleinen, zierlichen Füßen, die ihr wahrscheinlich schon lange gezuckt, den Tact so rasch und meisterhaft angab, daß selbst die Sänger ihren Spott vergaßen und ihr in dem Begonnenen folgten. Sie waren zu große Kunst-Enthusiasten und Kenner, um solchem Liebreiz länger zu widerstehen.

Und das gab das Zeichen zum Beginn, denn jetzt waren auch die meisten der jungen Leute herbeigekommen, die bis dahin noch durch ihre Rennpferde aufgehalten wurden oder ihre Wetten zu ordnen hatten. Drei, vier Paare sprangen zugleich in den Ring, nur dann und wann einer einzelnen, besonders gefeierten Tänzerin Raum gebend, und mehr und mehr der Zuschauer drängten sich herbei, um Theil an dem schönsten Anblick zu nehmen, den sich ein Mexikaner denken kann.

Trotzdem gab es doch auch genügend verstockte Exem¬plare, die selbst von diesem Genuß nicht angezogen werden konnten, und das waren die alten abgehärteten Spieler, die /31/ eben kein anderes Vergnügen kannten, als die bunten Karten¬blätter und das rollende Gold. Was kümmerte die der Tanz, was der Klang der Guitarren – auf den Rasen hingestreckt, zwischen sich eine der bunten Zarapes ausge¬breitet, auf der die Karten aufgelegt werden, liegen die Leute, setzen, verlieren oder gewinnen und verwenden kein Auge von den verführerischen Blättern.

Zuschauer stehen auch darum her, die Interesse an dem Spiel nehmen, auch zuweilen setzen, dann aber auch wieder einmal nach dem Tanzplatz hinaufsteigen und dort eine Weile zuschauen.

Das jüngste Volk, die Jungen wenigstens, für die der Tanz gar keine Anziehungskraft besaß, tummelten sich auf dem freien Plan umher, spielten das Wettrennen nach und trieben tollen Muthwillen, während sich die kleinen Mädchen dagegen auf dem Paseo unter die Zuschauer drängten und mit großer Andacht die älteren Mädchen bewunderten, ja manchmal auch wohl zu zwei oder drei zur Seite sprangen, um selber, mit dem größten Ernst und nach dem Tact der oben gespielten Musik, eine der eben beobachteten Habaneras auszuführen. Es steckt einmal im Blute und will heraus.

Das harmloseste Leben herrschte überall, und der Braut¬vater, der alte Arguilez, hatte außerdem dafür gesorgt, daß seine Gäste, zu denen er heute die ganze Ortschaft zählte, weder an Essen noch Trinken Mangel leiden durften. Sogar das Lieblingsgetränk der Mexikaner, Pulque – aus dem Saft einer Agavenart, der Maguey, gewonnen – war in Dutzenden von Ziegenschläuchen herbeigeschafft worden, aber ebenso auch spanischer Wein, Catalan und vino seco, und Tortillas wie kalte Fleischspeisen lagen noch in Masse, und zum gemeinschaftlichen Gebrauch bereit, aufgeschichtet. Es herrschte eben Ueberfluß an allen Dingen, und der Jubel oben auf dem Tanzplatz erreichte jetzt seinen Höhepunkt, als die Braut – eine der besten Tänzerinnen in San Juan und ein wahr¬haft bildschönes Mädchen – mit dem Bräutigam, dem jungen Arguilez, antrat. Da hatten die beiden alten Burschen mit ihren Guitarren, so scharf sie vorher in ihren Improvisationen einzelne Paare oder Tänzerinnen mitgenommen, nur freund/32/liche und huldigende Verse; da quoll ihnen der Lobgesang von den tüchtig mit Wein befeuchteten Lippen, und selbst die kleinen Mädchen klatschten in die Hände, als Marequita, wie die Braut hieß, den Tanz beendet, und laute Jubel¬rufe ertönten aus dem dichtgedrängten Kreise.

Erstaunt schauten die Spieler, die noch drüben auf dem Rasen um die bunten Karten lagen, empor, als Pferde¬gestampf ihr Ohr traf, und gleich darauf, durch den fast verödeten Ort – ein Zug Bewaffneter dem Festplatz zu¬sprengte und dort zerstreut seine Pferde einzügelte.

Es war ein wilder Schwarm jener Lanceros, die sich gewöhnlich in den Gebirgen zusammen finden und noch in gar keiner Uniform, auch nur mangelhaft mit Schießwaffen versehen, von einzelnen Unruhestiftern aufgelesen werden. Später stoßen sie dann zu größeren Truppenkörpern und heißen ein mexikanisches „Heer“, wenn das auch kaum je aus mehr als zwei- bis dreitausend Mann besteht. Woher sie kamen, wohin sie wollten, Niemand wußte es, nur daß sie da waren blieb ihre schlimmste Eigenschaft, und je früher man sie wieder los werden konnte, desto besser.

Die Schaar, die etwa aus vierzig Mann bestehen mochte, hatte auch einen Officier, d. h. einen Burschen, der seinen ganzen Rock mit goldenen, wahrscheinlich gestohlenen Tressen besetzt trug und von seinen Leuten „General“ genannt wurde. Diese schienen sich aber an ein besonderes Commando nicht viel zu kehren, sondern sprangen, kaum auf dem Plane angelangt, aus den Sätteln und wandten sich ordentlich gierig den Stellen zu, wo eben die Lebensmittel aufgespeichert standen und noch immer ein Haufen mit Pulque gefüllter Ziegenschläuche lag. Die guten Dinge waren allerdings nicht für sie hierhergeschafft, sie selber aber gewohnt, wohin sie kamen, sich als zu Hause zu betrachten, und hätte man ihnen den Mitgenuß verweigern wollen, so würde die rohe Bande eben mit Gewalt zugegriffen haben, und das schöne Fest wäre dann jedenfalls gestört gewesen. Schon jetzt hörten die beiden Musici oben auf zu spielen und schauten nach dem neuen, unwillkommenen Besuch hinab, und die Tänzer wandten sich erschreckt diesem kriegerischen Zwischenspiel zu, das in ihr /33/ harmloses Treiben nicht paßte und all’ die Schrecken der letzt¬verlebten Zeit ihnen nur um so schärfer in’s Gedächtniß zurück¬rief. Die Neugekommenen schienen sich aber um nichts weiter zu kümmern, als nur eben eine Stärkung zu sich zu nehmen, denn der lange Ritt hatte sie hungrig gemacht, und wie sie unter den Lebensmitteln und Getränken aufräumten, läßt sich denken. Señor Arguilez war aber selber auf dem Platze und sorgte dafür, daß sie nicht gestört wurden. Sie mochten nehmen, was sie fanden, und der kleine Ort konnte dann noch sehr zufrieden sein, wenn er damit abkam.

Indessen hatte der alte Herr aber doch ein Gespräch mit dem Führer der Truppe angeknüpft, um von diesem wenigstens zu erfragen, wohin sie gingen. Von einer neuen Revolution war in San Juan mindestens nichts bekannt geworden, und in Friedenszeiten gehörten doch solche bewaffnete Schwärme zu den Seltenheiten.

„General“ Urquiza, wie er sich nannte, hielt übrigens mit seinen Plänen nicht hinter dem Berge. Er hatte, als ersten Ansatz, gleich eine Flasche Catalanwein hinabgegossen und sich eben ein kaltes Huhn gelangt, das er, mit fast gierigem Appetit – sämmtliche Tortillas dabei verschmähend, ver¬zehrte, und schien sich auch jetzt zum Reden aufgelegt zu fühlen: General Negrete, ein weißer Mann und nicht ein „Hombre sin razon“ , wie der Indianer Juarez, habe das Joch, unter dem ihn dieser bisher gehalten, abgeschüttelt, das Volk sich für ihn erklärt, und sie zögen jetzt nach der Hauptstadt Mexiko, um ihren General zum Präsidenten einzusetzen und dem Lande endlich den Frieden zu geben, den es so noth¬wendig brauchte.