Kleine Freuden - Hermann Hesse - E-Book

Kleine Freuden E-Book

Hermann Hesse

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unter dem Titel »Die Kunst des Müßiggangs« erschien 1973 eine erste Sammlung mit unbekannter Kurzprosa Hermann Hesses, die in den bisherigen Ausgaben seiner Gesammelten Schriften und somit auch in der Hesse-Werkausgabe von 1970 fehlt. Dieser Sammelband war rasch vergriffen und mußte seither jedes Jahr neu aufgelegt werden. Er hat ein überraschend nachhaltiges Interesse an Hesses darüber hinaus noch unveröffentlichter Kurzprosa ausgelöst und uns nahegelegt, nun, mit diesem zusätzlichen Band nahezu den gesamten »Feuilleton«-Nachlaß Hermann Hesses zu publizieren. Die Sammlung »Kleine Freuden« enthält die wichtigsten noch unbekannten autobiographischen Betrachtungen und Erinnerungen. Wie bereits »Die Kunst des Müßiggangs« wurde auch dieser Fortsetzungsband chronologisch angelegt. Von der 1899 entstandenen Titelbetrachtung bis zum Rückblick »Vierzig Jahre Montagnola« (1960) gibt es einen Querschnitt durch die Biographie Hermann Hesses. Er enthält mehr als 40, in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte Stücke, die zuvor in Buchform noch nie zusammengefaßt worden sind, und mehr als 20 in thematischen Sammelbänden verstreute Arbeiten, die sämtlich noch nicht in die Hesse-Werkausgabe aufgenommen werden konnten. Die Sammelbände »Kunst des Müßiggangs« und »Kleine Freuden« ergänzen somit diese Ausgabe um über 150 bisher kaum bekannte Kurzprosastücke Hermann Hesses.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 629

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hermann Hesse

Kleine Freuden

Verstreute und kurze Prosa aus dem Nachlaß

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Volker Michels

Suhrkamp

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich als die Funktion des Dichters immer vor allem das Erinnern gesehen, das Nichtvergessen, das Aufbewahren des Vergänglichen im Wort, das Heraufbeschwören des Vergangenen durch Anruf und liebevolle Schilderung. Doch ist wohl auch von der alten idealistischen Tradition her etwas vom Amt des Dichters als Lehrer oder Mahner und Prediger in mir hängen geblieben. Doch habe ich das stets weniger im Sinn der Belehrung gemeint als im Sinn der Mahnung zur Beseelung des Lebens.

Betrachtung ist nicht Forschung oder Kritik, sie ist nichts als Liebe. Sie ist der höchste und wünschenswerteste Zustand unserer Seele: begierdelose Liebe.

Hermann Hesse

Inhalt

Kleine Freuden

Zu einer Ausstellung moderner Drucke

Venezianisches Notizbüchlein

Vor meinem Fenster

Weinstudien

Wintertage in Graubünden

Reisebilder

Im Garten

Promenadenkonzert

Haus zum Frieden

Winterbrief

Wieder im Studierzimmer

Untersee

Umzug

Die Nikobaren

Die Nichtraucherin

Chinesen

Bern – Wien

Erinnerung an Asien

Gruß aus Bern

Zu Weihnachten

Von meiner ersten Italienreise

Aus Martins Tagebuch

Herbstabend im Studierzimmer

Einkehr

Über einige Bücher

Alemannisches Bekenntnis

Die Offizina Bodoni

Gespräch

Reisebrief

Aus Indien und über Indien

Sehnsucht nach Indien

Verbummelter Tag

Chinesisches

Sommers Ende

Moderne Versuche zu neuen Sinngebungen

Aus meiner Schülerzeit

Herbst. Natur und Literatur

Geist der Romantik

Kofferpacken

März in der Stadt

Die Schreibmaschine

Mai im Kastanienwald

Die Idee

Bilderbogen von einer kleinen Reise

Aquarellmalen

Stiller Abend

Malfreude, Malsorgen

Nachbar Mario

Spaziergang im Zimmer

Notizen im Speisesaal

Zwischen Sommer und Herbst

Eine Wandererinnerung

[

Arosa als Erlebnis

]

Über Schmetterlinge

Literarischer Alltag

Erlebnis auf einer Alp

Zwei August-Erlebnisse

Stunden am Schreibtisch

Gedenkblatt für Adele

Erinnerung an André Gide

[

Die Weite der Bücherwelt

]

Lieblingsgedichte

Für Marulla

Tagebuchblätter 1955

Dankadresse

Weihnachtsgaben

Der Trauermarsch

Erinnerungen an Ärzte

Vierzig Jahre Montagnola

Nachwort

Quellennachweise

Kleine Freuden

Große Teile des Volkes leben in unserer Zeit in freudloser und liebloser Dumpfheit dahin. Feine Geister empfinden unsere unkünstlerischen Lebensformen drückend und schmerzlich und ziehen sich vom Tage zurück. In Kunst und Dichtung ist nach der kurzen Periode des Realismus überall ein Ungenügen zu spüren, dessen deutlichste Symptome das Heimweh nach der Renaissance und die Neuromantik sind.

»Euch fehlt der Glaube!« ruft die Kirche, und »Euch fehlt die Kunst!« ruft Avenarius. Meinetwegen. Ich meine, uns fehlt es an Freude. Der Schwung eines erhöhten Lebens, die Auffassung des Lebens als eine fröhliche Sache, als ein Fest, das ist es doch im Grunde, womit uns die Renaissance so blendend anzieht. Die hohe Bewertung der Minute, die Eile, als wichtigste Ursache unserer Lebensform, ist ohne Zweifel der gefährlichste Feind der Freude. Mit sehnsüchtigem Lächeln lesen wir die Idyllen und empfindsamen Reisen vergangener Epochen. Wozu haben unsere Großväter nicht Zeit gehabt? Als ich einmal Friedrich Schlegels Ekloge auf den Müßiggang las, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren: Wie würdest du erst geseufzt haben, wenn du unsere Arbeit hättest tun müssen!

Daß diese Eiligkeit unseres heutigen Lebens uns von der frühesten Erziehung an angreifend und nachteilig beeinflußt hat, erscheint traurig, aber notwendig. Leider aber hat sich diese Hast des modernen Lebens längst auch unserer geringen Muße bemächtigt; unsere Art zu genießen, ist kaum weniger nervös und aufreibend als der Betrieb unserer Arbeit. »Möglichst viel und möglichst schnell« ist die Losung. Daraus folgt immer mehr Vergnügung und immer weniger Freude. Wer je ein großes Fest in Städten oder gar Großstädten angesehen hat, oder die Vergnügungsorte moderner Städte, dem haften diese fieberheißen, verzerrten Gesichter mit den starren Augen schmerzlich und ekelhaft im Gedächtnis. Und diese krankhafte, von ewigem Ungenügen gestachelte und dennoch ewig übersättigte Art, zu genießen, hat ihre Stätte auch in den Theatern, in den Opernhäusern, ja in den Konzertsälen und Bildergalerien. Eine moderne Kunstausstellung zu besuchen, ist gewiß selten ein Vergnügen.

Von diesen Übeln bleibt auch der Reiche nicht verschont. Er könnte wohl, aber er kann nicht. Man muß mitmachen, auf dem laufenden bleiben, sich auf der Höhe halten.

So wenig als andere weiß ich ein Universalrezept gegen diese Mißstände. Ich möchte nur ein altes, leider ganz unmodernes Privatmittel in Erinnerung bringen: Mäßiger Genuß ist doppelter Genuß. Und: Überseht doch die kleinen Freuden nicht!

Also: Maßhalten. In gewissen Kreisen gehört Mut dazu, eine Premiere zu versäumen. In weiteren Kreisen gehört Mut dazu, eine literarische Novität einige Wochen nach ihrem Erscheinen noch nicht zu kennen. In den allerweitesten Kreisen ist man blamiert, wenn man die heutige Zeitung nicht gelesen hat. Aber ich kenne einige, welche es nicht bereuen, diesen Mut gehabt zu haben.

Wer einen abonnierten Sitz im Theater hat, der glaube nicht etwas zu verlieren, wenn er nur jede zweite Woche einmal davon Gebrauch macht. Ich garantiere ihm: er wird gewinnen.

Wer gewohnt ist, Bilder in Masse zu sehen, der versuche einmal, falls er dazu noch fähig ist, eine Stunde oder mehr vor einem einzelnen Meisterwerk zu verweilen und sich damit für diesen Tag zu begnügen. Er wird dabei gewinnen.

Ebenso versuche es der Vielleser usw. Er wird sich einigemal ärgern, über etwas Neues nicht mitreden zu können. Er wird einigemal Lächeln erregen. Aber bald wird er selber lächeln und es besser wissen. Und jedermann, der zu keiner andern Beschränkung sich verstehen mag, versuche es mit der Gewohnheit, mindestens einmal in der Woche um 10 Uhr schlafen zu gehen. Er wird sich wundern, wie glänzend dieser kleine Verlust an Zeit und Genuß sich ersetzt. Mit der Gewohnheit des Maßhaltens ist die Genußfähigkeit für die »kleinen Freuden« innig verknüpft. Denn diese Fähigkeit, ursprünglich jedem Menschen eingeboren, setzt Dinge voraus, die im modernen Tagesleben vielfach verkümmert und verlorengegangen sind, nämlich ein gewisses Maß von Heiterkeit, von Liebe und von Poesie. Diese kleinen Freuden, namentlich dem Armen geschenkt, sind so unscheinbar und sind so zahlreich ins tägliche Leben gestreut, daß der dumpfe Sinn unzähliger Arbeitsmenschen kaum noch von ihnen berührt wird. Sie fallen nicht auf, sie werden nicht angepriesen, sie kosten kein Geld! (Sonderbarerweise wissen gerade auch die Armen nicht, daß die schönsten Freuden immer die sind, die kein Geld kosten.)

Unter diesen Freuden stehen diejenigen obenan, welche uns die tägliche Berührung mit der Natur erschließt. Unsere Augen vor allem, die viel mißbrauchten, überangestrengten Augen des modernen Menschen, sind, wenn man nur will, von einer ganz unerschöpflichen Genußfähigkeit. Wenn ich morgens zu meiner Arbeit gehe, eilen mit mir und mir entgegen täglich zahlreiche andere Arbeiter, eben aus dem Schlaf und Bett gekrochen, schnell und fröstelnd über die Straßen. Die meisten gehen rasch und halten die Augen auf den Weg oder höchstens auf die Kleider und Gesichter der Vorübergehenden gerichtet. Kopf hoch, liebe Freunde! Versucht es einmal – ein Baum oder mindestens ein gutes Stück Himmel ist überall zu sehen. Es muß durchaus kein blauer Himmel sein, in irgendeiner Weise läßt sich das Licht der Sonne immer fühlen. Gewöhnt euch daran, jeden Morgen einen Augenblick nach dem Himmel zu sehen, und plötzlich werdet ihr die Luft um euch her spüren, den Hauch der Morgenfrische, der euch zwischen Schlaf und Arbeit gegönnt ist. Ihr werdet finden, daß jeder Tag und jeder Dachgiebel sein eigenes Aussehen, seine besondere Beleuchtung hat. Achtet ein wenig darauf, und ihr werdet für den ganzen Tag einen Rest von Wohlgefallen und ein kleines Stück Zusammenleben mit der Natur haben. Allmählich erzieht sich das Auge ohne Mühe selber zum Vermittler vieler kleiner Reize, zum Betrachten der Natur, der Straßen, zum Erfassen der unerschöpflichen Komik des kleinen Lebens. Von da bis zum künstlerisch erzogenen Blick ist die kleinere Hälfte des Weges, die Hauptsache ist der Anfang, das Augenaufmachen.

Ein Stück Himmel, eine Gartenmauer, von grünen Zweigen überhangen, ein tüchtiges Pferd, ein schöner Hund, eine Kindergruppe, ein schöner Frauenkopf – das alles wollen wir uns nicht rauben lassen. Wer den Anfang gemacht hat, der kann innerhalb einer Straßenlänge köstliche Dinge sehen, ohne eine Minute Zeit zu verlieren. Dabei ermüdet dieses Sehen keineswegs, sondern stärkt und erfrischt, und nicht nur das Auge. Alle Dinge haben eine anschauliche Seite, auch interesselose oder häßliche; man muß nur sehen wollen.

Und mit dem Sehen kommt die Heiterkeit, die Liebe, und die Poesie. Der Mann, der zum erstenmal eine kleine Blume abbricht, um sie während der Arbeit in seiner Nähe zu haben, hat einen Fortschritt in der Lebensfreude gemacht.

Einem Hause, in welchem ich längere Zeit arbeitete, lag eine Mädchenschule gegenüber. Die Klasse der etwa Zehnjährigen hatte auf dieser Seite ihren Spielplatz. Ich hatte tüchtig zu arbeiten und litt jeweils auch unter dem Lärm der spielenden Kinder, aber wieviel Freude und Lebenslust ein einziger Blick auf diesen Spielplatz mir gewährte, ist nicht zu sagen. Diese farbigen Kleider, diese lebhaften, lustigen Augen, diese schlanken, kräftigen Bewegungen erhöhten in mir die Lust am Leben. Eine Reitschule oder ein Hühnerhof hätte mir vielleicht ähnliche Dienste getan. Wer die Wirkungen des Lichtes auf einer einfarbigen Fläche, etwa einer Hauswand, einmal beobachtet hat, der weiß, wie genügsam und genußfähig das Auge ist.

Wir wollen uns mit diesen Beispielen begnügen. Manchem Leser sind gewiß schon viele andere kleine Freuden eingefallen, etwa die besonders herrliche des Riechens an einer Blume oder an einer Frucht, des Horchens auf die eigene und auf fremde Stimmen, des Belauschens von Kindergesprächen. Auch das Summen oder Pfeifen einer Melodie gehört hieher und tausend andere Kleinigkeiten, aus denen man eine helle Kette von kleinen Genüssen in sein Leben flechten kann.

Jeden Tag so viel nur möglich von den kleinen Freuden erleben und die größeren, anstrengenden Genüsse sparsam auf Ferientage und gute Stunden verteilen, das ist, was ich jedem raten möchte, der an Zeitmangel und Unlust leidet. Zur Erholung vor allem, zur täglichen Erlösung und Entlastung sind uns die kleinen, nicht die großen Freuden gegeben.

(1899)

Zu einer Ausstellung moderner Drucke

Das vergangene Jahrhundert hat, mit Ausnahme der beiden letzten Jahrzehnte, sehr wenige hervorragend schöne Drucke und fast gar keine wirklich künstlerisch ausgestattete Bücher produziert. Dasselbe Jahrhundert aber hat die graphische Technik unendlich entwickelt und bereichert. Eben das rasche Aufeinanderfolgen neuer Erfindungen, die rastlose Konkurrenz der neuen Techniken und eine gewisse eitle Freude an den gewaltigen Fortschritten verhinderte ein ruhiges Wachstum der künstlerischen Elemente des Buchdrucks. Man häufte gern recht viele neue Herstellungsweisen in einem und demselben Buche, man druckte Prachtwerke, die den Musterkatalogen einer großen Druckerei glichen und in denen Proben von Farbdrucken, Zinkätzungen, Lithographien, Photogravüren usw. in bunter Reihe sich ablösten. Man kann heute fast alle jene stolzen Prachtbände zu stark reduzierten Preisen in jedem größeren Buchladen haben. Schlimmer aber als diese Stillosigkeiten, die einem in starken Umwälzungen begriffenen Gewerbe zu verzeihen sind, war das rasche Aufkommen der Holzpapiere, deren Billigkeit schnell jede Konkurrenz besiegte. Neben vielem, dessen Untergang kein Verlust ist, sind auch manche wichtige Werke der letzten Jahrzehnte auf dieses Papier gedruckt worden. Schon heute fehlt es nicht an Büchern dieser Periode, neben welchen gute Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts neu und unvergilbt aussehen, und eine Reihe von Büchern unserer Zeit wird in hundert, ja in fünfzig Jahren unleserlich und vermodert sein.

Es war natürlich, daß im Publikum und im Buchgewerbe selbst der Wunsch nach solider gedruckten und edler ausgestatteten Büchern erwachen mußte. Das erste Bedürfnis galt einem besseren Papiermaterial und führte zunächst zu manchen neuen Verirrungen. Man begann die Papiere so zu glätten und zu satinieren, daß sie wie Glanzkarton aussahen. Diese Papiere mit ihrem intensiven, blendenden Weiß waren kein Fortschritt – einmal sind sie Gift für die Augen, dann aber ist auch noch nicht erwiesen, ob ihre chemische Zusammensetzung fähig ist, lange Zeit auszuhalten. Es mag auffallen, daß wir so viel Wert auf die Garantie des langen Weißbleibens unserer Bücher legen. Die Frage ist aber von Wichtigkeit. Wenn zu den Drucken der früheren Jahrhunderte das Papier verwendet worden wäre, aus dem fast alle Bücher der siebziger und achtziger Jahre bestehen, so besäßen wir vermutlich nur höchstens den dritten Teil jener Literatur und all die schönen Aldinen und Elzeviere wären längst vermodert, während sie jetzt frisch und unverwüstlich auf uns gekommen sind und an Lesbarkeit viele noch ganz neue Produkte übertreffen.

Heute sind fast alle deutschen Verleger, die mehr als Fabrikanten sind, zum holzfreien Papier zurückgekehrt. Schwieriger war es, dem Bedürfnis nach künstlerischer Buchausstattung Genüge zu tun. Auf diesem Gebiete kamen die gesundesten und fruchtbarsten Anregungen und Vorbilder von England herüber. Dort hatte inzwischen die kunstgewerbliche Bewegung, die sich an die Ideen Ruskins und des rastlos fleißigen W. Morris anschloß, auch das Buchgewerbe stark und wohltätig beeinflußt. Wenn Künstler von Ruf sich mit Zeichnungen zu Möbeln, Tapeten und Hausgerät abgaben, warum sollten sie sich nicht auch der Bücher annehmen?

Wohlverstanden! - ein Buch kann künstlerisch ausgestattet sein, ohne eine einzige Zeichnung oder »Illustration« zu enthalten. Die Anordnung der Zeilen, das Verhältnis der weißen Ränder zum bedruckten Blattraum, die Fassung des Titels und namentlich die Harmonie zwischen Papierfarbe und Druckfarbe–dies alles ist für den ästhetischen Eindruck wichtiger als die »Illustration«, welche sehr künstlerisch sein und doch, da mit dem Druck nicht zusammengedacht und -gestimmt, störend wirken kann. Einem ohne Feinheit und Sorgfalt gedruckten Buch können auch Klingersche oder Böcklinsche Illustrationen nicht aushelfen, im Gegenteil wird das Mißverhältnis zwischen Buch und Bildern peinlich wirken.

Ein neues, wichtiges Element der modernen buchkünstlerischen Bestrebungen sind die Versuche, neue Typen zu schaffen, die in den letzten Jahren mehrere hervorragende Künstler stark beschäftigt haben.

Sehen wir uns nun die ausgestellten Werke des Verlags Diederichs nach diesen Hauptgesichtspunkten an! - Wir finden vor allem ausnahmslos holzfreies, rauhes Papier und können uns davon überzeugen, daß diese Rauheit nicht nur für die anfühlenden Finger, sondern auch für das Auge erquickend und sympathisch ist. Betrachten wir die Typen (Lettern) der einzelnen Bücher, so finden wir neben den von jeher üblichen gotischen und Antiqua-Lettern mehrere Versuche neuer Schrift- und Zahlformen. Sichtlich ist das Ideal dieser neuen Typen eine Verschmelzung der strengen, klaren »lateinischen« Buchstabenbilder mit den freieren, elastischeren »deutschen«. Sichtlich auch ist dieses Ideal, welchem die als »Triumphgotisch« bezeichnete Schrift vielleicht am nächsten kommt, noch nicht erreicht. Eine moderne Type, die an Schönheit und schlichtem Adel den lateinischen Lettern der (namentlich venezianischen) Renaissance-Drucke gleichkäme, existiert nicht.

Wir verzichten darauf, über die Buchumschläge eingehender zu reden. Der Umschlag eines broschierten Buches hat mit dem Buche selbst kaum einen inneren Zusammenhang, denn das Buch ist dazu bestimmt eingebunden zu werden, – der Papierumschlag dient lediglich als provisorische Schutzdecke und seine Ausstattung kann nur den Zweck haben, das Auge zu reizen und dadurch im Schaufenster oder Laden unsere Aufmerksamkeit auf das Bach zu lenken. Auch von den Einbänden, die in einigen sehr schönen Exemplaren ausgestellt sind, genüge es zu sagen, daß sie in Material (meist rauhe Leinwand) und Farbe echt und tüchtig erscheinen, ohne durch übertriebenen Prunk sich aufzudrängen. Daß dabei einigemal sehr starke, helle Farben verwendet sind, ist vielleicht Folge der Erwägung, daß dunkle und sehr delikate Farben weniger haltbar sind und sich an den dem Lichte zugewandten Stellen leicht verändern.

Die innere Ausstattung der Diederichsschen Bücher verdient und verträgt eine sehr genaue Betrachtung. Wer die Bücherreihen auch nur flüchtig überblickt, muß den Eindruck gewinnen, daß die Herstellung dieser Drucke nicht dem Zufall und auch nicht nur dem jeweils mit der Ausstattung betrauten Künstler überlassen war, sondern das Resultat einer persönlichen, künstlerisch bewußten Arbeit des Verlegers ist. Wirklich hat Herr Diederichs nicht nur Geschmack, sondern eine durch lange liebevolle Studien erworbene Kennerschaft des guten Alten, der Drucke und Holzschnitte aus den besten Werkstätten der früheren Jahrhunderte. Wir wissen, daß die Erwägung, mit welcher Type und auf was für Papier ein neues Werk zu drucken sei, ihn jedesmal lange und ernsthaft beschäftigt. Er weiß wohl, weshalb er die Werke des Mystikers Maeterlinck mit anderen Lettern druckte als die des naturwissenschaftlichen Plauderers Bölsche usw. Er bemüht sich, etwas von der Stimmung des Textes auch im Drucke mitzuteilen. Er faßt die Seiten und Buchstaben eines Buches nicht als gleichgültige Vermittler, sondern als die Wohnung oder das Kleid des geistigen Inhaltes auf, und er sucht das Kleid dem Inhalt möglichst passend und stilverwandt zu machen. Daß er bei diesem Bestreben zuweilen zu weit geht, ist bei der noch jungen Bewegung begreiflich und verzeihlich. Bedauerlicherweise sind die Bücher sämtlich im Glaskasten ausgestellt, statt auf das Risiko einiger Entwendungen hin offen aufzuliegen. Vielleicht wird mancher beim Anblick der ausgestellten offenen Seiten den Wunsch haben, einige der Bücher zu durchblättern – ohne Zweifel wird ihm sein Buchhändler gerne ein Exemplar zum genaueren Anschauen überlassen.

Die mit dem künstlerischen Schmuck der einzelnen Bände beauftragten Künstler sind fast ohne Ausnahme Träger wohlbekannter Namen und bedürfen hier keiner Charakteristik. Neben Peter Behrens, der mit einer neuen Type vertreten ist, nennen wir B. Pankok, G. Vogeler, J. V. Cissarz, Fidus, R. Engels und Melchior Lechter. Unter ihnen ist als Illustrator Pankok der eigenartigste und kräftigste, doch nicht ohne Aufdringlichkeit, Vogeler der zarteste, duftigste und Cissarz der liebenswürdigste und glücklichste.

(1901)

Venezianisches Notizbüchlein

17. April. - Seit einigen Wochen hatte das Heimweh nach Venedig mich geplagt. So oft ich an Venedig dachte, war es wie ein mildes, warmes Lied, wie die Verheißung einer Liebesnacht, wie ein tiefer Klang voll schwelgerischer Schönheit und leiser, zart genossener Melancholie. Ich schloß dann die Augen und sah schwebend wie helle Schatten die Fassaden des großen Kanals, die stillen, schlanken Frauen mit schwarzen Schultertüchern und schwarzen Haarknoten, die nächtlichen Plätze und Promenaden und die mondversilberte Giebelkette von San Giorgio und der Giudecca.

Durch mein schmales Fenster dringt der Duft des Wassers und feuchter Steine. Ich kann von hier aus von der Stadt nichts sehen als ein Stück Kanal, zwanzig Fuß lang und sieben Fuß breit, hohe Häusermauern mit toten, unregelmäßig verteilten Fenstern, darüber zwei Schornsteine und einen schmalen, süßen Streifen Himmelsbläue.

Ich liege im Fenster und atme voll und tief, höre das leise Gleiten einer unsichtbaren Frachtbarke und das leise Plaudern von zwei unsichtbaren Ruderern, und sehe den schmalen, lichten Himmel über den harten Umrissen der flachen Dächer glänzen. Auf diese Stunde habe ich wochenlang gewartet, auf diese Stille zwischen Stein und Wasser, auf diese milde, satte Luft, auf dieses milde, schüchterne Heimatgefühl der Weltferne und des Ausruhens. Das ist Venedig.

Der schmale Kanal und diese schweigenden Häuser sind mir wohlbekannt; nicht weit von hier war das letztemal meine Wohnung. Mit 30 Schritten erreiche ich Santa Maria Zobenigo, und von dort ist alles nahe, was die Piazza und der große Kanal Ehrwürdiges und Schönes hat. Täglich viele Male werde ich nun über die kleine, weiße Brücke und durch die enge, dämmernde Winkelgasse schreiten und jedesmal an jener Ecke fröhlich zaudern, an der ein einziger Schritt mich noch vom großen Venedig trennt. Und ich werde immer wieder aus dem großen, glänzenden Venedig in diese dunkelnde Gasse und in die schweigenden Höfe und Hinterhäuser von Fenice zurückkehren, wohin das Geschrei der Märkte und das Rotwelsch der Fremden nicht mehr reicht.

20. April. - Nun bin ich hier wieder ganz zu Hause. Gestern besuchte ich Murano, Lido und die östlichen Stadtteile und heute bin ich zum erstenmal wieder ganz bei der Lagune zu Gast. Den Vormittag verbrachte ich mit Schiffsleuten in Malamocco, jetzt liege ich in der Nähe von Murano in der Barke eines Austernfischers.

Über die Blätter meines Notizbüchleins leuchtet die reine Sonne. Rechts von uns in geringer Entfernung steht die kahle Mauer der Gräberinsel aus dem blaßgrünen Wasser, links glüht eine schmale Schlammbank in rotbraunem Schimmer. Warm und köstlich liegt die Sonne des Nachmittags auf dem Wasser, auf meinen Händen und auf meinem nackten Rücken, der noch weiß und bleich vom deutschen Winter ist. Mein Freund aus Murano, der Fischer, steht mitten in der Schlammbank, bis an die Knie eingesunken. Ein seltsamer und gespenstiger Anblick, ein Mann inmitten der weiten Lagunen watend, wenige Schritte von der Kurslinie der Dampfschiffe entfernt. Zuweilen kommt er herüber oder ruft mir zu, ihm nachzurudern, und wirft ein paar Hände voll kleiner Beute in die Barke, auf deren nassem Boden die fidelen Krabben und Taschenkrebse umherhasten.

Manchmal, wenn die Sonne mir so warm und mächtig über den trägen Rücken glüht, erfaßt mich plötzlich eine Lust, laut hinauszujubeln, zu lachen, zu singen. Gott sei Dank, endlich wieder Luft, Freiheit, Sonne und weiter Horizont! Ich fühle wieder mit allen Sinnen, daß ich noch jung bin und Kräfte habe, die schöne Welt zu genießen und lieb zu haben.

Langsam dreht sich meine Barke um die Ränder der Schlammbank, deren dichte, braune Wasserpflanzen sich wirr verästeln und verstricken und den Blick in die schwärzlichdämmernde Tiefe ziehen. Meine Gedanken gehen, ohne daß ich es will, nach Deutschland zurück, sehen verlassene Städte und Menschen geisterhaft und blaß in weiter Ferne stehen und wundern sich, wie wenig Schmerz die schnelle Trennung weckte. Sie sehen auch die schöne, blonde Frau, um die ich so lange litt, und die guten Freunde und den ganzen heimischen Kreis von Arbeit, Sehnsucht und Sorge. Und der Schattenkreis verwirrt sich mit den braunen Schlingpflanzen und strebt dunkel und lautlos in die schwärzlich dämmernde Tiefe.

»Links! Noch mehr links! Hierher!« ruft der Fischer herüber. Mit dem Geräusch des schweren Ruders und dem jähen Geleucht des aufgewühlten Wassers rinnen Schatten und Gedanken in die große Flut von Sonne, Seeduft, Gegenwart und Vergessenheit hinüber, auf der ich mit fröhlichem Erstaunen einem hellen Kranz von unbekannten, neuen, glänzenden Tagen entgegentreibe.

Und nun rudern wir nach Murano zurück, ich bewirte den Fischer mit Kaffee und begleite ihn zu seiner Wohnung. Sie liegt bei Sankt Peter, nahe dem ältesten Hause von Murano. Mein Freund machte mich darauf aufmerksam, daß es »sehr alt« sei und erstaunte ungläubig, als ich ihm sagte, es sei tausendjährig und älter als Paläste von Venedig. Zum Abschied versprach er mir, mich nächstens mit seinem Freunde Pietro bekannt zu machen, der als Glasbläser bei Testolini arbeitet und in seiner Jugend Wien und Dresden gesehen hat. Bei seiner Erzählung empfand ich eine Art von Ehrfurcht für diesen Pietro, welcher – vielleicht unbewußt – Erbe von uralten Traditionen ist und einer seit Jahrhunderten weltberühmten Zunft angehört.

Dann die Rückfahrt im Omnibusdampfer nach Venedig. Die Stadt lag blaß wie eine Silhouette aus transparentem Stoff gegen den gelbroten Abendhimmel. Murano verschwand leise in der kühlen Dämmerung, und der Anblick beschwor in mir das sehnliche Gedächtnis jener Glanzzeit, da die Rosengärten dieser Insel alle frohen Geister der üppigen Stadt beherbergten und da der geistreiche Bembo, der gütige Trifone Gabriello, der bissig witzige Aretino sich hier im Schatten von Zedern und Lorbeerbäumen unterhielten, von denen kein einziger übrig geblieben ist. Ich sah den Aretino vor mir, wie Tizian ihn gemalt hat, rüstig, bärtig, hochmütig und rätselhaft, und hinter ihm die blanke Seefläche und den unbegrenzten Horizont mit der golden dämmernden Lagunenluft. Es gibt über jene Gärten von Murano ein lateinisches Gedicht aus damaliger Zeit, dessen Verfasser ich vergessen habe. Farbiger und schöner müßte das Gedicht eines Heutigen über diese Gärten sein, denn alles Gewesene, unwiederbringlich Untergegangene glänzt goldener in den Versen der Dichter als die herrlichste Gegenwart. Wieviel lateinische Hexameter und griechische Oden, wieviel flotte, galante Novellen in der Sprache des Boccaccio und kecke, glatte Fazetien im venetianischen Dialekt haben jene Zedern und Lorbeeren gehört! Und Edeldamen aus den gotischen Palästen des Canale grande haben jenen Unterhaltungen beigewohnt, oder schöne und begünstigte Buhlerinnen und Musikantinnen wie jene zarte, träumerische Blonde, die auf Bonifazios Bilde sich so duftig und kindlich über die elegant geformte Laute bückt. Ihre Kostüme glänzten von heimischer Seide, von Filigran und Brokatstoffen aus Byzanz, und auf den polierten Tischen schimmerte gelber griechischer Wein in schlanken, geschliffenen Karaffen.

22. April. - Ich hörte manchmal sagen, jene berühmten, schönen Damen der Renaissance hätten sich nur selten die Hände gewaschen. Zwar gibt es Nachrichten, die wenigstens für Venedig das Gegenteil zu beweisen scheinen; dennoch lasse ich die Historiker gern recht haben. Denn die schönen Frauen und Mädchen des heutigen Venedig haben ja auch niemals gewaschene Hände und sind doch hübsch genug. Ich betrachtete sie heute wieder, wie sie über die Riva promenierten mit ihrem weichen, lässig koketten Feierabendschritt, den man in keiner anderen Stadt so wiedersieht. Von den Ärmeren tragen manche grüne Röcke und rote Blusen, moosgrün und kirschrot, eine kräftig schöne Kombination, die schon Palma Vecchio gern hatte.

Unterwegs kaufte ich mir für 10 Soldi Brot, Käse und Orangen, um zu Hause zu essen. Dort lag ich dann den ganzen Abend im Fenster, über dem schweigenden, schwarzen Wasser, bis vom schmalen, bläulich schwarzen Himmelsstreifen zwischen den hohen Dächern die lichten Sterne wie goldene Tropfen hervorquollen. Und sonderbar, beim Anblick dieser Sterne überkam mich das alte Leid, daß ich an den Blumengarten meines Vaters denken mußte, an Heimat und Kindheit und an meine Mutter. Ich träumte lange von ihr und vom Garten mit den sommerlichen, bunten Beeten und Rabatten und wurde erst vom Rufe eines späten Gondoliere erweckt, dessen Fahrzeug den stillen, nächtlichen Kanal mit müdem Plätschern durchschnitt.

24. April. - Gestern war ein scharfer Abend. Ich sitze gegen 6 Uhr auf den Treppenstufen der Loggetta, lockte eine vereinsamte Taube mit Brosamen und fühle mich merkwürdig lustig gestimmt. Kommt ein junger Herr im Touristenanzug, Operngucker am Riemen, Schirmstock unter dem Arm, Reisebuch in der Hand, und umkreist mich eine Weile mit verdächtigem Seitenblick. Ich hatte die Situation bald begriffen, darum stand ich auf und wollte fortgehen. Da trat er eilig heran und zog den Hut.

»Entschuldigen Sie gütigst.«

» Ja?«

»Also doch! Ich sah Sie gleich für einen Landsmann an.«

»So. Was wünschen Sie denn?«

Und nun die alte Leier! Er kann »nicht gut« Italienisch. Er fragt, ob die Kirche San Giorgio Maggiore noch offen sei. Er hat vom Gondoliere ein paar Francs falsches Geld erhalten. Übrigens heiße er Karl Schneider und wolle, wenn ich erlaube, noch seine Freunde herbeiholen, die drüben im Palasthof warten. Meinetwegen.

Nun kommen sie alle drei. Ich erkläre ihnen, es sei längst zu spät für San Giorgio, dagegen esse man nicht weit von hier im Cavaletto vorzüglich zu Abend und wir könnten ja ihre falschen Frankenstücke fröhlich miteinander vertun.

Also ins Cavaletto. Wir essen Bohnensuppe und gebratenen Thunfisch und trinken Chianti. Man vermutet, ich sei Kunsthistoriker. Oder Maler?

»Beides ein wenig.«

Um 10 Uhr wird das Wirtshaus geschlossen. Wir nehmen einen Korb voll Weinflaschen in der Gondel mit und zechen, teils im Freien, teils in meiner Bude, weiter. Gegen 11 Uhr wird das Gespräch tiefsinnig und pathetisch – venetianischer Madonnentypus, Kultur der Renaissance, Nietzsche, Jakob Burckhardt, Ruskin.

Die Kerle soffen den Asti wie Bier hinunter, und um Mitternacht mußte ich sie an die Luft setzen. Ich wäre ums Haar zum Schluß noch grob geworden, so schämte ich mich für die drei germanischen Jünglinge, die bezecht und lärmend durch die schönen nächtlichen Gassen Venedigs nach ihrem Hotel stolperten.

25. April. - Ich habe die schnöden Erinnerungen abgeschüttelt. Heute liegt ein zart blaßblauer, streifig gewölkter Himmel von delikatester Stimmung über der Stadt. Da gegen Mittag der hohe Himmel dunstfrei und das Sonnenlicht von klarster Reinheit war, bestieg ich den Turm von San Giorgio Maggiore, um die Lagune zu sehen.

Ich fand heute die fernen Schlammbänke von einem sehr tiefen Rotbraun, die westlichen Wasser stahlblau mit rötlichem Anhauch, den Kanal gegen Fusina perlartig matt schillernd. Auf diesem wunderbaren Stück Wasser kann man fabelhaftere und reichere Tönungen, Übergänge und Auflösungen irisierender Farbenflächen studieren, als in einer Glasbläserei. Einen Augenblick glaubte ich denn auch, die eigentümliche venezianische Glaskunst auf diesem Wege verstehen zu können. Es war ein Irrtum, doch mag man immerhin auch hierin ein Beispiel der Verklärung des Natürlichen ins Kulturschöne sehen.

26. April. - Vor Mittag war ich noch eine Stunde in San Marco. Mit den Mosaiken war ich jetzt nahezu versöhnt, da mir immer mehr einleuchtet, wie glücklich es für die Kunst Venedigs war, daß sie die Mosaiktechnik erst in später, schon korrumpierter Form überkam. Nun wurde zwar noch Kraft und Talent genug daran vergeudet, aber die stärkeren Talente entzogen sich doch bald der undankbaren Arbeit. Außer den beiden frühesten Zyklen der Vorhalle sind die hiesigen Mosaiken minderwertig, ohne Seele und ohne Verständnis für das Wesen des Mosaikstils. Wer in Rom und Ravenna den unbeschreiblichen Anblick der älteren Mosaiken genoß, deren großartig schlichte, herbe Sprache so gewaltig zu Herzen geht, dem ist in San Marco nie recht heimisch zumute.

28. April. - Venedig ist nur halb italienisch. Man muß mit den Fischern der Inseln verkehren und die Mädchen vom Commaregio abends ihre Lieder im Dialekt singen hören, um unwiderruflich von der Eigenart dieses Wesens überzeugt zu werden. Dann empfindet man die Abgeschlossenheit der Inselstadt und fühlt, wie der Schwerpunkt ihrer Entwicklung gegen das Meer, gegen Osten neigte.

30. April. - Gestern ein Abend voll Eichendorff-Melodie. Eine Frühlingsmondnacht, warm und hell. Über der scharfen Silhouette der Giudecca hing still und rein der Mond. Unregelmäßige, mild leuchtende, silberne Lichter umglänzten jeden Ruderschlag. Weit hinten bei den Zattere fuhr ein Festschiff und ließ zuweilen Takte einer flott gestrichenen Geigenmusik herüberflattern. Ich fuhr allein in einer Gondel vom Rialto her, der Große Kanal war still und dunkel, darüber glänzte an der Kuppel der Salute das Mondlicht. Sogar der Gondoliere, der sonst weder sentimental noch gesprächig war, empfand die besondere Schönheit dieses Abends und winkte mir zu: »Che bella serata!« Auf der vom Mond beglänzten linken Kanalseite standen blaß und schweigend die Paläste, die gotischen Palazzi Bembo, Dandolo, Cavallini, Falier, Barbaro, Contarini-Fasan, dazwischen die massigen Renaissancebauten Cornier dell Cà Grande, Grimani und Manin. Langsam und glücklich fuhr ich dahin.

Plötzlich hörte mein Gondoliere ohne Befehl zu rudern auf und reckte seinen alten, klugen Kopf mit dem scharfen Habichtsprofil in die Luft. Eben wollte ich ihm zurufen und ihn weitertreiben, da hörte auch ich den Laut, der ihn angezogen hatte. Aus einem matt erleuchteten offenen Fenster des kleinen Palazzo, vor dem wir eben lagen, klang Gitarrespiel. Es klang probend, spielerisch, präludierend, und in dem Augenblick, da wir Halt machten, verstummte es und statt seiner drang ein Lied in die Nacht zu uns stillen Horchern heraus. Ein altes, schlichtes Lied, dessen Text ich nicht verstehen konnte, von einer tiefen, süßen Frauenstimme gesungen, flutete mit weichem Wohllaut durch die milde Luft und über den dunklen, toten Kanal. Wir hielten uns beide regungslos still und horchten beglückt und hingerissen auf den wundervollen Gesang. Eine fremde Gondel kam leise näher und dann noch eine und warteten lauschend das Ende des Liedes ab. Und während im Banne der schönen Frauenstimme die drei schlanken Gondeln auf dem beschatteten Wasser stillestanden, dachte ich an die Sage von dem griechischen Sänger, dessen Liedern die Menschen, Tiere und leblosen Dinge gehorchten und nachfolgten.

3. Mai. - Seit vorgestern bade ich jeden Nachmittag am Lido. Ich gehe nicht abends, sondern in den heißesten Stunden, da ich mich nachgerade meiner weißen Haut schäme. Sie beginnt nun auch schon lichtbraun zu werden. Am Lido fesselt mich auch jedesmal das Adriatische Meer, der Seehorizont und das Wellenspiel. Es ist ein im ganzen unwirtliches Meer und seine nordwestliche Küste ist nicht von besonderer Schönheit. Aber jenseits liegt Griechenland und Byzanz, über diesem Wasser spielte die wichtigste Geschichte Venedigs.

Das eigentliche Wunder dieser kleinen Welt ist aber doch nicht das Meer, sondern die Lagune, diese stille, durch einen langgestreckten Inselkranz vom Meer getrennte See, mit welchem Venedig allmählich zu einem Zusammenhang verwuchs, wie keine andere Großstadt und Kunststadt sie mit ihrer Umgebung hat.

4. Mai. - Es ist im Laufe der Zeiten viel Köstliches verloren gegangen, namentlich an Fresken; dafür nahmen die alten Fassaden, von der Sonne gebleicht und vom Wasserdunst angegriffen, allmählich hellbräunliche Wetterfarben an und scheinen, wo sie unberührt geblieben sind, fast aus dem Wasser gewachsen zu sein, so zart und innig sind ihre Farben zu Wasser und Himmel gestimmt. Dennoch empfindet man den Untergang vieles Schönen zuweilen schmerzlich, und nicht nur am Fondaca dei Tedeschi. Heute zum Beispiel stand ich im Kreuzgang von Santo Stefano und sah mit Trauer das kahle Wändeviereck an, das ehemals mit Fresken von Pordenone bedeckt war. Und so wunderlich ist der Mensch, daß er sich solche gänzlich untergegangene Kunstwerke unwillkürlich ganz besonders schön und reich und farbig vorstellt.

6. Mai. - Heute ist mir das süßeste und lieblichste Wunder begegnet. Ich sah jene entzückende Blonde, die Bonifazio vor 400 Jahren als Lautenspielerin gemalt hat. Sie stand an einer Kanaltreppe nicht weit von Colleoni und schien ungeduldig zu warten. Ich konnte nicht widerstehen, ich mußte Halt machen und sie anreden. Es zeigte sich, daß sie auf einen Gondoliere wartete, der ihr versprochen hatte, sie bis zum Canneregio mitzunehmen, nun aber ausgeblieben war. Sie ging nach einigem Zögern darauf ein, meine Gondel zu benützen und fuhr nun mit mir fast eine halbe Stunde weit, denn sie ist bei San Giobbe zu Hause. So hatte ich am hellen Tage ein schönes Mädchen mir gegenüber sitzen und kam mir auf der warmen, allzu raschen Fahrt wie verzaubert vor.

Sie war es vollkommen: der zarte Hals, das kindliche und träumerische Gesicht, die feinen Schultern, das schwere hochgebundene Blondhaar. Sie heißt Gina Salistri, ist armer Leute Kind und wohnt bei San Giobbe. Mehr erfuhr ich nicht. Auch nicht die genauere Bezeichnung ihres Hauses. In Wirklichkeit aber ist sie eine Traumschöpfung des Malers Bonifazio, nach 400 Jahren zu Leben und körperlichem Dasein erwacht. Ob ich sie je wiedersehen werde?

(1902)

Vor meinem Fenster

Kürzlich schrieb mir ein Freund aus der Stadt und wollte mich davon überzeugen, daß es unklug von mir sei, den Winter auf dem Lande zu verbleiben. Der Mangel an Verkehr und Abwechslung, meinte er, würde mich umbringen. »Denke dagegen an den Winter in der Stadt«, fuhr er fort, »da brauchst du, wenn du Langeweile hast, nur zum Fenster hinauszusehen und hast gleich ein ganzes unerschöpfliches Bilderbuch vor dir.« Ach ja, ich erinnere mich wohl an dies Bilderbuch. Nein danke.

Auf diese Mahnung hin achtete ich gestern mehr als sonst auf alles, was ich so in beschaulichen Pausen vom Fenster aus zu Gesicht bekam, und das hat meine Lust, auch den Winter hierzubleiben, nicht vermindert. Was ich sah, war folgendes:

Morgens kurz vor acht Uhr erschrak ich über einen mächtigen, drohend düsteren Feuerschein am Himmel, direkt über Berlingen, und lief ans Fenster. Es war der Sonnenaufgang, um diese Jahreszeit bei uns ein seltener Anblick, da wir jetzt morgens fast täglich dichte Nebel haben, hinter denen die Sonne bis gegen Mittag unsichtbar oder blaß wie ein Mond bleibt. Jetzt aber war die Landschaft weithin unverhüllt, man konnte bis Konstanz sehen, und die Luft war weich und fast warm, wie bei Föhn, doch wenig Wind. Und über den Berlinger Hügeln flackerte brandrotes, glühend flüssiges Gewölk, aus dem erst in einiger Höhe sich langsam die rote große Sonne hervorwälzte. Der See nahm nun dieselbe blutig-düstere Röte an, und in unzähligen Dachziegeln, in Fensterscheiben und Brunnentrögen flammte sie mit, bis die Sonne endlich klar und weiß am Himmel stand.

Ich blieb eine Weile zuschauend stehen und freute mich, wie schon oft, meines schönen Fensters. Es ist niedrig, fast quadratisch, und kann nur mit großen Mühen geöffnet und geschlossen werden. Dafür ist sein alter Sims mit schönem Moos bewachsen, ein Rastort für Spatzen, Schwalben und Tauben, denn das weit überragende Dach schützt sie dort vor Sturm und Regen. Von dort aus sehe ich den See von Konstanz bis Berlingen, die Reichenau und ein Stück Hegau, ferner meinem Hause gegenüber die alte, winzige Kapelle und den grob gepflasterten, sehr reinlichen Kirchplatz, den Brunnen, ein paar Dächer, eine Menge naher und ferner Pappelwipfel, drei Pflaumenbäume und ein ganz kurzes weißes Stückchen Landstraße. Und eben, wie ich noch dastehe, fährt unten der Postwagen vorüber. Es sitzt niemand darin als ein feister Herr mit roten Backen, den ich leider kenne, denn er ist Kaufmann in Zell, und ich bin ihm Geld schuldig. Da man vom übernächsten Garten aus die Haltestelle sehen kann, ging ich sofort hinüber und nahm mit Vergnügen wahr, daß der Zeller sitzenblieb und weiterreiste.

Dann setzte ich mich zur Arbeit hin. Viel lieber wäre ich bei dem laufeuchten Wetter auf Fischfang gegangen, aber ein Rest von Pflichtgefühl, den ich schon öfter peinlich empfand, hielt mich bei Briefen, Korrekturen und Rechnereien fest. Desto lieber ließ ich mich vom nächsten Geräusch ans Fenster locken. Da war Schulpause, und die Buben und Mädchen kamen zum Spielen auf den Platz. Die Buben kamen in atemlosem Galopp, die Mädchen in friedlich-stillen Zügen, fast alle hellblond, mit steif gewässerten Zöpfen. Es ging ein Versteck- und Fangspiel um die Kapelle herum los, mit dröhnendem Laufen und Stampfen und gewaltigem Gebrüll. Der Sieger wurde von zwei anderen durchgehauen. Auch manche Mädchen machten eifrig mit, die meisten aber verzehrten plaudernd ihr Stück Brot, gingen auf und ab oder saßen an die Mauer gelehnt auf dem Boden. Eine ganz Kleine saß neben diesen und weinte schmerzlich, während sie mit vollen Backen ihr großes Brot verzehrte, auf das die Tränen herunterliefen. Drei Knaben hockten unten am Brunnentrog und steckten die Köpfe zusammen; der eine von ihnen, ein Rothaariger, zeigte auf seiner flachen Hand den anderen eine tote Fledermaus. Daneben wuschen im Trog zwei andere ihre farbigen Sacktücher aus; eines davon hatte ein ungeheures Loch, und sein Besitzer tat mir leid, denn seine Mutter ist die schneidigste und strengste Frau im ganzen Dorf.

Im Hintergrund klatschte der Lehrer in die Hände und im Augenblick war der Platz leer und wieder so totenstill wie immer. Aber zugleich war auch das vorher übertönte Rauschen des Brunnens wieder laut, das Tag und Nacht in meine stille Stube dringt und ohne das ich nimmer sein möchte. Und während ich ihm noch eine Minute lausche, geht drunten im Hauskleid meine Frau vorbei, hat in der Rechten einen Wasserkrug und in der Linken eine angebissene Winterbirne und füllt den Krug am Rohr. Sie schaut nicht herauf, und ich rufe ihr nicht, ich sehe nur zu und freue mich, und nachher steig’ ich leise auf den Speicher und hole auch für mich so eine Birne. Aber dann wurde fleißig gearbeitet. Wenigstens so lange, bis von der Schifflände her das Schnauben des Dampfschiffes hörbar wurde. Dann sah ich zu, wie es langsam, hell und fröhlich über die bläuliche Wasserfläche davonfuhr. »Der Dampf« wird es von den Leuten hier genannt. Und heute kann ich nimmer verreisen und keinen Besuch mehr bekommen, denn im Winterhalbjahr fährt nur dies eine Schiff im Tag. Man verfehlt es aber auch nie, denn Verspätungen bis zu Stunden sind das Gewöhnliche.

Gegen elf Uhr hörte ich den raschen Schritt der Briefträgerin, die meine Postsachen brachte. Wie gewöhnlich knüpften wir, ehe sie in das Haus trat, ein Gespräch durchs Fenster an. Die Frau sprach wieder mit fröhlichem Erstaunen über das zunehmende Gedeihen des Post- und Verkehrswesens; neulich hatten sie an einem Tage mehr als zwanzig Postkarten verkauft. Und wir berieten wieder, wie schon oft, eifrig über die Abfassung einer Eingabe »an den Staat«, deren Zweck die Errichtung einer eigenen Postagentur im Dorfe ist. Die Eingabe soll von mir und dem Postboten abgefaßt, dann vom Lehrer begutachtet und vom Bürgermeister sanktioniert werden. Und das wäre auch schon längst geschehen, wenn nicht leider der Postmann seit einiger Zeit krank läge. Ich fragte nach ihm; er hatte Rheumatismus und konnte nicht gut schlafen, und ich ließ ihn grüßen und ihm Geduld wünschen. Dann erhielt ich meine Briefe und begann zu lesen. Aber in der Stunde vor Mittag konnte freilich kaum mehr von Arbeit die Rede sein, denn um diese Zeit ist großer Cercle am Brunnen. Da kommt aus dem ganzen Dorfe, von Bauern, Weibern und Burschen begleitet, das Vieh zur Tränke.

Ochsen, Kühe, Rinder und Kälber kamen daher, die meisten homerisch schwer hinwandelnd, manche aber auch voll Mutwille oder Tücke, bald störrisch rückwärts strebend, bald feurig springend und tanzend. Da wurde ein weißbärtiger alter Mann von zwei starken Rindern böswillig hin und her gezerrt und konnte kaum vorwärtskommen, während aus einer anderen Gasse her eine schwere trächtige Kuh sich sanftmütig von einem sechsjährigen Mädchen führen ließ. Um den Brunnen her sammelten sich Vieh und Menschen, und es wurde in der Reihenfolge streng auf Ordnung gehalten. Die zuletzt gekommen waren, mußten am längsten Geduld haben, denn bis an sie die Reihe kam, war der Trog bis zum Boden leergetrunken und man mußte das Wasser sich erst wieder ein wenig sammeln lassen. Schon fürs oberflächliche Zuschauen ist diese Tränke schön und merkwürdig, wenn man aber erst auf die einzelnen Tiere achtet, sie kennenlernen will und miteinander vergleicht, den Viehstand der verschiedenen Bauern beobachtet und daraus auf ihre Wohlhabenheit oder Armut, auf die Sorgfalt der Pflege, die Güte der Ställe, des Futters usw. zu schließen beginnt, dann wird die Tränke zum Mittelpunkt und zugleich zur Chronik des Lebens der Gemeinde, dann sieht man Tiere wie Leute mit anderen Augen an und erstaunt darüber, wie eng sie zusammenhängen und wie unentbehrlich eins dem andern ist.

Darüber war es Essenszeit geworden und ich ging zu Tisch, in die Wohnstube hinunter. Während der Mahlzeit beobachteten wir zwei Männer, die an den Brunnen kamen und sich wuschen und kämmten, bis sie glänzten. Es waren Brüder, und sie mußten am Nachmittag zu einer Beerdigung nach Weiler hinüber. Bald nachdem die Wäsche beendet war, kamen sie denn auch schon in schwarzen Röcken einhergeschritten, und der jüngere trug sogar einen Zylinderhut von treuherzig breiter Form, wie jetzt keine mehr gemacht werden.

Nach Tisch, in den stillen Stunden des Frühmittags, hoffte ich alsdann recht ungestört zu arbeiten. Eine Stunde lang saß ich auch fleißig am Tisch und warf nur selten vom Stuhl aus einen Erholungsblick ins Freie und zu den Thurgauer Bergen hinüber, wo die Farben der Herbstwälder sich nun mählich auflösen und aus den schwarz gewordenen Weinbergen nur noch kleine Inseln von leuchtend goldgelbem Reblaub schimmern. Aber nach einer Stunde zog mich ein durchdringend leidenschaftliches Vogelgeschrei wieder ans Fenster und ich sah zwei schöne weiße Möwen in den Lüften kämpfen oder spielen. Zugleich entdeckte ich auf dem Kapellendach meinen Kater Gattamelata in träger Mittagsruhe sitzen. Ich rief ihm zu und lockte ihn, er drehte jedoch nur den Kopf herüber und blinzelte mich ironisch an. Er ist die schönste Katze im Dorf und war stets gehorsam und trefflich erzogen, aber seitdem ich neulich einen ganzen Regennachmittag neben ihm auf der Strohmatte lag und Unsinn mit ihm trieb, ist sein Respekt erloschen und er führt sich jetzt auf wie ein Pascha. Bedauernd zog ich mich zurück und wollte das Fenster schließen; aber ehe mir das gelungen war, ertönte von der nächsten Gasse her ein wohlbekanntes helltöniges Glöcklein. Das war der bucklige Uhrmächerle vom Nachbardorf, der einzige Vertreter seines Gewerbes in der Gegend; von Zeit zu Zeit, wenn es an Arbeit fehlen will, zieht er mit seinem Glöcklein durch die Dörfer und sammelt Uhren zum Reparieren ein. Er ist ein durchtriebener Kunde, versteht sein Geschäft, säuft aber zuweilen. Doch schadet das seinem Ansehen wenig, denn wenn er zuviel getrunken hat, redet er nur noch französisch, und das entrückt ihn in bewunderte Höhen. Einmal war in meiner Taschenuhr die Feder gesprungen und ich gab sie ihm zu machen. Die Uhr, als er sie wiederbrachte, lief auch wieder, aber bald merkte ich, daß der Uhrmächerle keine neue Feder hineingemacht, sondern die alte abgezwickt und wieder verwendet, jedoch den Preis für eine neue gefordert hatte. Also ging ich zu ihm und wurde von dem Schlaumeier sehr höflich empfangen, aber er sprach hartnäckig nur französisch, und ich mußte wieder abziehen. Denn zwar redete auch ich welsch mit ihm, aber wir verstanden einander durchaus nicht; vermutlich hatten wir unser Französisch in allzu verschiedenen Gegenden gelernt. Ich mußte eben nun meine Uhr zweimal am Tag aufziehen, die Mühe ist ja nicht so groß.

Nun ging er unterm Fenster vorbei, mit seinem schlauen Kopf und dem verwachsenen Körperchen, ein Felleisen umgeschnallt und in der Hand ein Glöcklein. Er zwinkerte mir einen halben Gruß herauf und ging weiter. Den leeren Kirchplatz herauf trat nun stolz und aufgeblasen ein schöner, vielfarbiger Hahn, der aber beim Anblick meiner Katze plötzlich alle Würde fahren ließ und entsetzt die Flucht ergriff. Mehrere Stunden saß ich nun wirklich still beschäftigt am Tisch. Um fünf Uhr lief der von Horn kommende Landbote, der Geld und Wertstücke austrägt, vorbei.

»Nix für mich?« rief ich hinunter.

»Nein. Was möchten Sie denn haben?«

»Alleweil Geld am liebsten.«

»Ich glaub’s schon. Es wird wohl auch wieder einmal so kommen, wenn Sie warten können.«

»Gut denn, so wart’ ich halt.«

Seine prächtige Uniform glänzte durch die Gasse und verschwand um die Ecke. Er hatte noch drei Dörfer vor sich. Ich aber hatte durch seinen Anblick Lust zum Marschieren bekommen und lief noch eine Stunde bergan in den Wald, sah Himmel und See rosenrot und blaß werden und fand, als ich heimkam, das Dorf schon in tiefer Dämmerung. Die Abendtränke hatte ich versäumt, ich sah nur noch die letzten Kühe im Halbdunkel wegziehen.

Wir hatten zur Nacht gegessen und etwas gelesen und ein paar Lieder gesungen und Nüsse geknackt, da war’s zehn Uhr, und meine Frau ging schlafen. Ich sitze dann gerne noch eine Viertelstunde allein und lausche der tiefen, tiefen Stille und fühle den Nachtfrieden über die schlafenden Häuser und Felder gehen. Ehe ich die Ampel ausblies, schaute ich noch einmal zum Fenster hinaus. Da dämmerte der mächtige Platz und stand dunkel die Kapelle gegen den mattglänzenden See, am Himmel hing hinter Wolken der halbe Mond, und durch die Dunkelheit und Stille klang das Brunnenrauschen schön und einfach wie ein Volkslied.

Kurz vor elf Uhr, ich lag längst im Bett, hörte ich mit Erstaunen noch Schritte auf der Gasse. Neugierig stand ich auf und sah hinaus. Es waren die zwei Brüder, die von der Leiche heimkehrten. Der Jüngere war stark angeheitert und nahm den Weg im Zickzack. Der andere schritt ruhig und langsam nebenher und trug in der Hand vorsichtig den Zylinderhut des Bruders. Er hatte recht mit seiner Vorsicht; auch mir hätte es um das schöne Erbstück leid getan, wenn es so bei Nacht auf der Landstraße hätte untergehen müssen.

(1904)

Weinstudien

Ungebildete Leute hört man oft schlechthin von »Waadtländer« reden, wie sie auch von »Rheinwein« oder von »Champagner« sprechen. Als ob es beim Weine auf die Nationalität und nicht auf die Persönlichkeit ankäme!

In der trügerischen Hoffnung, dies Vorurteil literarisch widerlegen zu können, beschloß mein Freund Konrad Pfeuffer, ein schweizerisches Weinbüchlein zu schreiben. Es sollte ein zuverlässiger Baedeker für die schweizerischen Weingegenden sein und Konrad hatte mehrere Notizbücher voll wertvoller Studien gesammelt. Er lebte als Angestellter im Laboratorium einer chemischen Fabrik in behaglichen Verhältnissen, nichtsdestoweniger hatten ihn jene Studien in bedeutende Schulden gebracht, so daß er jetzt vor der bitteren Notwendigkeit stand, seine önologische Arbeit einstellen und damit das schon gesammelte Material verlorengeben zu müssen. Denn obwohl Chemiker, war er doch ein harmloser und kindlich ehrlicher Mensch. Und so kam er eines Tages zu mir, klagte mir sein Leid und fragte mich, ob ich nicht einen Geldmann wisse, der für die Sache zu gewinnen wäre.

Seine Einfalt rührte mich und ich beschloß, ihm und mir selber nach Möglichkeit zu einem uneingeschränkten Weinstudium zu verhelfen. Er gab mir Vollmacht, und bald war die Sache schön im Gange. Von einem angesehenen Verlagsbuchhändler ließ ich mir schriftlich bestätigen, daß das von Pfeuffer und mir zu bearbeitende Bach sein volles Interesse habe und nach Vollendung des Manuskripts wohlausgestattet in seinem Verlage erscheinen und in Vertrieb gebracht werden solle. Alsdann verschaffte ich mir durch einen befreundeten Kaufmann die Adressen aller nennenswerten Weinbauern und Winzervereine. Diese wurden durch hektographierte Briefe von unserem dankenswerten Unternehmen unterrichtet und zur Einsendung von Proben sowie zur Erlaubnis einer fachmännischen Kellerprobe aufgefordert. In dem Prospekt waren Pfeuffers sämtliche wissenschaftliche Examina und Atteste, Ruf und Einfluß des Verlegers und meine eigenen literarischen Verdienste in sachlich ruhigem Tone erwähnt, und der hübsch stilisierte Brief machte wirklich einen wohltuend schlichten, vertrauenerweckenden Eindruck.

Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Manche von den Eingeladenen gaben keine Antwort, andere schickten lächerlich winzige Musterfläschchen, sehr viele aber gingen verständnisvoll auf die diskrete Anregung ein und sendeten uns Kistchen voll großer Flaschen, einige auch kleine Fäßchen. An Vollständigkeit war zunächst nicht zu denken, aber der Fortgang unserer Studien war einstweilen gesichert.

Wir begannen damit, daß wir die eingegangenen Vorräte in sachgemäßer Ordnung auf Lager brachten. Konrad Pfeuffer machte von den ihm noch unbekannten Marken sorgfältige Analysen, während ich mich daran machte, zehnfarbig auszuführende Karten der einzelnen Kantone als Grundlage einer zuverlässigen Weingeographie vorzubereiten. Ich sage vorzubereiten, denn bis heute ist leider noch keine von diesen Karten fertig geworden. Sie sind im Maßstabe von 1: 75 000 angelegt und haben mich nicht wenig Zeit und Mühe gekostet.

Und nun begannen die Schwierigkeiten. Zum Glück war ich mit Konrad wenigstens darin einig, daß wir beide die chemische Analyse nur als ein notdürftiges Fundament betrachteten. Mein Freund war ein zu guter Trinker, als daß er an die Möglichkeit einer rein wissenschaftlichen Bestimmung der Geschmacksunterschiede geglaubt hätte. Die feineren Nuancen konnten nur auf künstlerischem Wege, nur impressionistisch erfaßt und ausgedrückt werden.

Und da zeigten sich sogleich Differenzen. Es gab Weine, die auf Pfeuffer wesentlich anders wirkten als auf mich, außerdem gaben auch bei ähnlicher Geschmacksauffassung sich die Sinneseindrücke ihm unter ganz anderen Formen zu erkennen als mir.

Konrad Pfeuffer sah Farben, wenn er trank. Es gab Weine, die ihm den Eindruck von Rot, von Rosa, von Ultramarin, von Opalblau, von Grün oder Gelb erweckten, bis in alle erdenklichen Nuancen von Lila, Braun und Violett. An gewissen Lieblingsweinen, deren koloristischer Eindruck ihm untrüglich feststand, besaß er eine zuverlässige Stimmgabel, so daß er jede Weinliste fehlerlos in Farben hätte charakterisieren können. Aber wer sollte das verstehen? Das war nicht schlechter und nicht besser als eine Spektralanalyse.

Bei mir hingegen löste der Wein nicht Farben, sondern Erinnerungen aus. Es gab Weinsorten, die mich in früheste Kinderzeiten zurückversetzten, andere weckten Gymnasial- und Studienerinnerungen oder ließen das Andenken von Reisen, Liebeserlebnissen, Freundschaften usw. aufleben. Sorgfältige Vergleiche ergaben, daß zwischen Pfeuffers Farben und meinen Erinnerungsgruppen ein unleugbarer Parallelismus bestand; doch war uns damit nur wenig gedient. Es galt, zwischen seiner koloristischen und meiner mnemonischen Tonleiter eine allgemein verständliche Skala zu finden. Ich machte den Vorschlag, mein Freund möge zu jedem Wein eine möglichst exakte Realbeschreibung geben, während ich eine Art Gedicht in Prosa dazu liefern wollte. Aber als er zwei von diesen Dichtungen angehört hatte, lehnte er mit höflicher Entschiedenheit ab. Und als ich einige mir besonders sympathische Marken ausgetrunken hatte, noch ehe er dazu gekommen war, sie zu analysieren, da hätte es um ein Haar Händel zwischen uns gegeben.

Schließlich kamen wir überein, einander in Ruhe zu lassen und zunächst jeder für sich zu arbeiten. Ein halbes Jahr reichte unser Probenvorrat aus, und ich werde die heitere, friedlich arbeitsame Stimmung jener schönen Monate nie vergessen. Namentlich ein kleines Fäßchen milden Weißweines aus der Nähe von Villeneuve schenkte mir reiche, stillbeglückte Abende, deren tiefen Märchenzauber ich noch einmal erleben möchte. Dieser Wein weckte in mir die Erinnerung an einen verliebten Frühsommer meiner ersten, längst in Asche verwehten Gedichte. Auf Konrad wirkte er als ein weiches, ins Orangerote spielendes Gelb.

Könnte ich doch länger bei diesen teuren Erinnerungen verweilen! - Leider dauerte diese schöne Zeit, wie alle schönen Zeiten, nicht lange. Es kam der Tag, an dem ich die letzte Flasche (es war ein vorzüglicher Grumella) öffnete und trank und ihren Heimatort auf meiner Karte hellrot bezeichnete.

Da wir nun einmal im Zug waren, konnte von einem plötzlichen Aufhören keine Rede sein. Wir besuchten noch einige Weinberge und Kellereien in der Westschweiz, deren Besitzer uns eingeladen hatten. Dann hatte auch das ein Ende. Wir waren wieder auf die Kneipen angewiesen und hatten bald im »Schlüssel«, im »Helm«, im »Scharfen Eck«, in der »Reblaube« und im »Wilden Mann« unseren Kredit erschöpft. Keiner von uns konnte mehr, wie früher, naiv draufloszechen oder gar nötigenfalls für einige Tage den Wein entbehren. Es kamen Tage, an denen mein Mittagessen aus einem Stück Brot oder aus zwei Kartoffeln bestand, aber abends mußte ich an einer guten Quelle sitzen und solide, reine, nicht billige Weine trinken. Meinem armen Freunde ging es nicht anders, wir kamen mehr und mehr zurück, und ich mußte allmählich wertvolle Stücke aus meiner sorgfältig geschonten Büchersammlung preisgeben. Mit Wehmut vertrank ich eine Erstausgabe des Tasso, dann einen Vergil des 16. Jahrhunderts mit Holzschnitten, und so einen Schatz um den anderen.

Schmerzlich war der Tag, an welchem Konrad Pfeuffer wegen üblen Leumundes und verminderter Brauchbarkeit seinen Abschied erhielt und in seine Heimat am Unterrhein zurückreiste. Ich selber erhielt mich noch ein Jahr lang auf schwankendem Grunde. Schließlich konnte ich mir nicht mehr verhehlen, daß ich mich hoffnungslos auf einer schiefen Ebene bewege. Da packte ich den Rest meiner Garderobe in eine alte Handtasche und den Rest meiner Bibliothek in eine Kiste und fuhr davon.

Seither habe ich mich von experimentalwissenschaftlichen Studien jeder Art sorgfältig ferngehalten und es ist mir in mühsamen Jahren gelungen, die ersten Stufen zum Rufe eines moralisch und ökonomisch achtbaren Mannes zu erklimmen. Wenn ich aber abends einmal in meinen Notizen von damals blättere und die großen Kartenskizzen betrachte, kann ich mich des wehmütigen Gefühles nicht erwehren, es seien doch schöne Zeiten gewesen – damals.

(1905)

Wintertage in Graubünden

Von Klosters aus stieg ich an einem sonnenklaren, kalten Morgen die verschneiten Gassen und Matten hinan. Die Gipfel sprangen, einer nach dem anderen, ins milde Goldlicht des aufsteigenden Tages und lachten rosig in der milchigsanften Himmelsbläue. Im Dorfe war wenig Leben, die Engländer schliefen noch im Grand Hotel, die Kinder waren in der Schule; man sah nur da und dort einen Bauern mit Schlitten und Kuhgespann bergaufwärts fahren, um aus den hochgelegenen braunen Holzschuppen Heu zu holen, oder einen anderen, der ins Holz ging und seinen schweren Handschlitten an den hohen Hörnern nachschleppte. Sonst kein Leben und kein Ton als das Knirschen meiner Sohlen auf dem gefrorenen Schnee und weit unten im Tal das kaum hörbare, entfernte Schnauben der Davos-Landquartier-Eisenbahn.

Langsam kam ich empor, über das Dorf hinaus und der Sonnengrenze näher, die mir unmerklich entgegenkam und nach der ich allmählich sehnlich begehrte, da mir Ohren und Hände steif und rot gefroren waren und weh taten. Der Weg war, obwohl nicht gepfadet, angenehm und wenig anstrengend, da der harte Schnee mich bequem trug und doch so viel nachgab, daß ich sicher und ohne Gleiten direkt aufwärts steigen konnte. Zwei Raubvögel, vermutlich Turmfalken, kreisten hoch und feierlich umeinander, sonst war außer mir nichts Lebendiges mehr am Berge sichtbar.

Aufatmend erreichte ich die höheren, von der Sonne beschienenen Schneematten. Hier herrschte kein Frost mehr, während ich noch vor einer Stunde in einer Kälte von zwölf Grad gegangen war. Aber nach kurzer Zeit war die Blendung so stark, daß ich die Schneebrille aufsetzen mußte. Über die steil geneigten, von der leuchtenden Schneedecke weich abgerundeten Hänge flutete das Licht des jungen Tages diamanten und festlich, spielte in jähen Irisfarben, lachte eisig und unerträglich auf glatten Flächen, füllte Mulden und Hangränder mit zarten, schön blauen Schatten. Reif und Eis schmolzen mir vom Schnurrbart, die Luft begann sich leise zu erwarmen, und ich hielt eine erste kurze Rast, um diese Herrlichkeit zu begrüßen und die beginnenden Freuden der Wintersonne vorauszukosten.

Denn es gibt in der weiten Welt nichts Wunderbareres, Edleres und Schöneres als die Hochgebirgssonne im Winter. Von Schnee und Eis und Stein zurückgeworfen, spielt Licht und Wärme schwelgerisch in den unbeschreiblich durchsichtigen winterklaren Lüften – ein Licht und ein Strahlen feiner, zarter, trockener Wärme, von dem das Tiefland auch an den glänzendsten Tagen keine Ahnung hat.

Der lichte Himmel nahm allmählich tiefe Farben an, von Gipfel zu Gipfel gespannt, ruhte er tief und strahlend ohne jeden kleinsten Dunst, blau bis zur Farbe der Veilchen. Zugleich nahm die Wärme zu und ich rastete oft auf dem Schnee, um nicht in Schweiß zu kommen. Den Rock trug ich längst überm Arm und die Handschuhe in der Tasche.

Hinter den obersten einsamen Heuhütten begann Tannenwald und hinter dem Tannenwald stiegen unzugänglich senkrechte Steinwände in den Himmel mit fast gewaltsam scharfen, grellen Umrissen. Rückwärts übersah ich nun das tiefe und weite Tal, ungezählte Gipfel, berühmte und namenlose, und im Schnee verlorne winzige Dörfer, ganz unten die dunkel fließende Landquart. Inzwischen hatte ich die Mütze abgelegt und das Hemd aufgeknöpft. Dann suchte ich mir zwischen Wald und Felsen einen geschützten Ort, wo verdorrtes Moos und Heidekraut schneefrei und trocken in der Sonne brannte. Dort legte ich mich hin, aß ein Stück Schokolade und ruhte gründlich aus.

Ich lag wie im Sommer, fühlte die Dezembersonne auf Nacken und Arme brennen und dachte mit Behagen an meine Heimat am Bodensee, wo jetzt feuchte Kühle und Nebel herrschten. Dann begann ich mir Hände und Arme mit Schnee zu waschen. Und da dies köstlich wohltat, warf ich eilig Schuhe und Strümpfe und alle Kleider ab, tat einen Freudenschrei und badete mich erschauernd im körnigen Schnee. Als ich wieder in den Kleidern war und in der Sonne lag, fühlte ich unter der erfrischten Haut mein Blut wohliger und wärmer und lebendiger kreisen als je nach dem raffiniertesten Dampfbad.

Einen Teil des Rückweges konnte ich, auf meiner Lodenjacke sitzend, über den Schnee abrutschen, den Rest legte ich zu Fuß zurück und kam gerade zur rechten Zeit nach Klosters, um bei einem guten Mittagessen meinen inzwischen scharf gewordenen Hunger zu stillen.

Im Hotel waren außer mir nur Engländer, und die Ruhestunden und langen Winterabende wurden mir einigermaßen zur Qual. Ich hatte zum Glück ein gutes Buch mit; es heißt »Maria-Himmelfahrt« und ist von einem Arzt in Bozen geschrieben und erlebt. Aber immer konnte ich nicht lesen, und die Unterhaltung mit den Engländern hatte Schwierigkeiten, da sie wenig mehr Deutsch und Französisch konnten, als ich Englisch. Überdies ließ man mich fühlen, daß ich nur ein Einheimischer war und daß ich im Touristenkleid zu den feierlichen Mahlzeiten kam.

So blieb mir nichts übrig, als zu lesen, mich zu mopsen und die Gäste zu beobachten. Sie fühlten sich offenbar im Hause schon ganz heimisch und trieben es nach ihrer Art fröhlich, laut und rücksichtslos. Der eine pfiff mit ausdauerndem Atem schöne Lieder, der andere knackte im Salon Haselnüsse mit den Stiefelabsätzen auf, ein Mädchen spielte auf dem Billard mit der weißen Hauskatze. Wer von schüchterner Gemütsart ist, hat es so zwischendrin nicht leicht, er muß verzweifeln oder sich an den Wein halten, und das tat notgedrungen auch ich. Graubünden ist ja erstaunlich reich an guten Weinen, und im obersten Rheintal wachsen einige Trauben, die sich vor denen des mittleren Rheines nicht zu schämen brauchen.

Ein merkwürdig gesegnetes Weinnest ist Malans, ein schönes Dorf zuunterst im Landquarttale, an dessen oberem Ende ich jetzt sitze. Neben vorzüglichen, pikanten, leicht prickelnden Rotweinen wächst dort ein vor Zeiten von den Spaniern angepflanzter, goldener und schwerer Weißwein. Er heißt Completer und ist nur in seiner Heimat erhältlich, da er die schnurrige Eigenschaft hat, blau zu werden, wenn er in der Flasche geschüttelt wird. Es wäre besser, die Weinhändler würden blau, die sich bemühen, diesem »Übelstande« abzuhelfen.

Zu meinem Glück kam abends manchmal der hiesige Arzt ins Hotel zu einem Billard. Er spielte so schlecht wie ich und erzählte mir von seiner Landpraxis, der er auf Schneeschuhen nachgeht.

Die Straße von hier nach Davos führt über Laret und Wolfgang in großen Kehren und Schlingen bergauf, zum Teil durch Tannenwald. Oben im Davoser Tal ist es noch sonniger, aber nachts und bei trübem Wetter auch viel kälter als in Klosters; Nachttemperaturen von dreißig Grad und mehr sind dort nicht selten. Die beiden Orte Davos-Dorf und Davos-Platz sind als Hoteldörfer das Grauenhafteste, was es in den Alpen gibt, aber das Tal ist wunderbar, überall der Sonne geöffnet und von reichgezackten herrlichen Bergen umgeben. Für Schlitteln, Skisport und Eislauf kann man sich nichts Verlockenderes denken, und es ist auch eine Menge englischer und anderer Sportleute dort. Ich begreife das, ohne mitzumachen; mir ist beim Anblick der vielen Riesenhotels und Sanatorien und beim Anblick der bis weit in die Landschaft hinaus aufgestellten Tafeln, die den Schwindsüchtigen das Ausspucken verbieten, die Lust an Davos so ziemlich vergangen.

Die Art, wie in Davos der Wintersport betrieben wird, ist flott und imponierend. Man sieht prächtige Menschen jeden Alters mit geübten Gliedern sich bewegen. Die Schlittschuhplätze sind groß und glashart, ringsum ist das Land für Skitouren wie geschaffen und die Schlittenbahnen sind die besten, die ich gesehen habe. Immerhin ist der Ton solcher internationaler Sportplätze für empfindsame Reisende nicht lange erträglich und auch ich nahm nach einigen Stunden gern wieder Abschied, um auf meinem Bergschlitten nach Klosters zurückzukehren.