Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche - Guido Fuchs - E-Book

Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche E-Book

Guido Fuchs

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Beschreibung

In der Kirche benimmt man sich anders als im Wirtshaus oder auf dem Markt. Aber was ist angemessenes Verhalten in einem Gotteshaus? Die Frage stellt sich nicht erst, seit Kirchen mehr wegen ihrer Kunstschätze als zum Gottesdienst besucht werden. Durch die Jahrhunderte hindurch wird schlechtes Benehmen in der Kirche beklagt: lautes Schwätzen, Schlafen während der Predigt, freizügige Kleidung, Rauchen, Schnupfen, Tabak kauen, das Mitbringen von Tieren … Was sind die Hintergründe solchen Benehmens: Unwissenheit oder religiöses Desinteresse? Auflehnung gegen die (kirchliche) Obrigkeit bzw. gesellschaftliche Normen oder einfach nur menschliche Schwäche? Findet man das nur "im Volk" oder auch bei den liturgischen Diensten? Wer klärt über angemessenes Benehmen auf und wie geschieht das? Und: Inwieweit trägt die Liturgie selbst dazu bei, dass Menschen sich nicht immer der Feier gemäß verhalten?

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Liturgie & Alltag

in Zusammenarbeit mit demInstitut für Liturgie- und Alltagskultur e. V.

Guido Fuchs

Kleine Geschichte desschlechten Benehmensin der Kirche

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.liturgieundalltag.de

© 2021 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | [email protected]

ISBN 978-3-7917-3246-6

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

Umschlagbild: commons.wikimedia.org

Satz und Layout: MedienBüro Monika Fuchs, Hildesheim

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2021

eISBN 978-3-7917-6203-6 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter

www.verlag-pustet.de

Inhaltsverzeichnis

Ein Adventsgottesdienst

Einführung

1.„Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben?“

Falsches, schlechtes und störendes Benehmen

2.„Grüß Gott!“

Vom Betreten des Gotteshauses und dem Verhalten dabei

3.Nicht Zeit-gemäß

Zuspätkommen und verfrühtes Gehen

4.„Saloppes Benehmen ist unangebracht!“

Haltungen im Gottesdienst und Verhalten bei der Kommunion

5.Schleier auf, Hut ab, Strümpfe an

Von Kopfbedeckungen und angemessener Kleidung

6.„Hast du gelacht, geschwätzt und andere verstöret?“

Schwätzen, Klatschen, Fotografieren und anderes Stören

7.„Wachet auf!“

Schlafen während des Gottesdienstes und in der Kirche

8.Mit der Bratwurst in der Hand

Essen und Trinken im Gottesdienst und im Kirchenraum

9.„Wie Weihrauch steige …“

Rauchen, Schnupfen, Tabakkauen

10.„Spucken und jede andere Verunreinigung ist verboten!“

Von allerlei Ausscheidungen

11.„Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr …“

Betteln und Handeln in der Kirche

12.„Ein Hund kam in die Kirche …“

Tiere im Gottesdienst

13.„Hilfe, die Herdmanns kommen“

Die weihnachtlichen Gottesdienste und ihre Schwierigkeiten

14.Einen Jux wollen sie sich machen

Schüler und Jugendliche im Gottesdienst

15.„Wenn das schon am grünen Holze geschieht …“

Unwürdiges Verhalten der liturgischen Dienste

16.Diakon, Kirchenschweizer, Hundepeitscher

Verschiedene Ordnungsdienste im Gottesdienst

17.„Bedenke, was die Kirche ist, und in der Kirche, wo du bist!“

Die Vermittlung angemessenen Verhaltens in Wort und Bild

18.„Das kann ich nicht loben …“

Mangelnder Gemeinschaftssinn heute

„Was ist da geschehen!“

Einsichten, Fragen, Herausforderungen

Anhang

Häufiger zitierte Literatur

Verschiedene „Kirchen-Knigge“

Bildnachweis

Ein Adventsgottesdienst

Einführung

Im Prolog seines Romans „Wir in Kahlenbeck“ (2012) beschreibt Christoph Peters einen Gottesdienst in dem fiktiven Ort Henneward an der deutsch-holländischen Grenze, an dem auch die Schüler des „Collegium Gregorianum Kahlenbeck“ teilnehmen. Es ist ein katholisches Internatsgymnasium für Jungen – angelehnt an das reale „Collegium Augustinianum Gaesdonck“ (bei Goch), wo Peters selbst Schüler war. Der Roman ist zeitlich in den 1980er-Jahren angesiedelt, die Schüler, die in ihm eine wesentliche Rolle spielen, gehören den oberen Klassen an, der Protagonist Carl Pacher ist knapp 15. Er interessiert sich für Fische, aber auch für Theologie, ist fromm erzogen und leidet unter dem Verhalten seiner Mitschüler in diesem ausführlich beschriebenen adventlichen Gottesdienst, zugleich auch an seiner eigenen Unfähigkeit, dem etwas entgegenzusetzen.

Es ist eine ganze Reihe von Beispielen schlechten Verhaltens der Schüler im Gottesdienst, die in diesem Prolog geschildert werden: lautes Reden miteinander während der ganzen Zeit; Anrempeln und Treten anderer Schüler sogar beim Kommuniongang; Popeln in der Nase und Wegschnippen des Popels; Furzen und Spucken; Kaugummi-Kauen; Verunglimpfen von liturgischen Texten durch Parodieren und Zitieren anderer Lieder; Ablehnen des Mitsprechens der Gebete; lautes Lachen – insgesamt eine sich durchziehende Ehrfurchts- und Rücksichtslosigkeit.

Die Erwachsenen aus dem Ort, die an diesem Gottesdienst teilnehmen, benehmen sich teilweise ebenfalls schlecht: Die Männer stehen überwiegend im Vorraum unter dem Turm, einige gehen während des Gottesdienstes vor die Kirche, rauchen und unterhalten sich dort über Schweinepreise und die Schließung der Molkerei. „Was ihre Söhne tun, haben sie auch schon getan“, schreibt Peters. Selbst der Priester gibt kein gutes Bild ab, er kratzt sich, während er das Evangelium verkündet, mit ausgestrecktem Zeigefinger im Ohr. Und: Keiner der Erwachsenen schreitet bei dem störenden Verhalten der Schüler ein.

Natürlich geschieht das alles nur im Roman und nicht in der Wirklichkeit. Aber von der Wirklichkeit ist diese Beschreibung nicht allzu weit entfernt, wie ich es von meinem eigenen Erleben als Schüler im Internat und später als Präfekt in einem Seminar her weiß. Vielleicht ist es ein bisschen viel für einen Gottesdienst; Christoph Peters hat hier, wie er mir bestätigte, seine eigenen jahrelangen Erfahrungen aus verschiedenen Gottesdiensten während der Internatszeit zusammengetragen und zu dieser Szene komponiert.

Ich habe die Schilderung dieses Gottesdienstes als Einstieg in das Buch gewählt, weil in diesem Prolog nicht nur verschiedene Formen schlechten Benehmens zur Sprache kommen. Es wird vielmehr deutlich, dass die Fragen nach dem angemessenen Verhalten nicht nur die Gemeinde in den Kirchenbänken betrifft, sondern auch die liturgischen Dienste. Und es stellt sich die Frage danach, wer eigentlich zuständig ist, dass es ein dem Gottesdienst angemessenes Verhalten gibt.

Diesen und anderen Aspekten möchte ich in diesem Buch nachgehen. Es ist keine durchgängige Geschichte schlechten Benehmens, die es im Sinne einer Entwicklung nicht gibt. Vielmehr möchte ich einzelnen Phänomenen nachspüren und sie einordnen.

Dabei muss man auch den konfessionellen Kontext berücksichtigen; bisweilen kommen einem die Gebräuche in anderen Kirchen fremd, sonderbar, vielleicht auch unehrfürchtig vor, verglichen mit den eigenen Praktiken. Das ging vor allem Reisenden in früheren Jahrhunderten so, wenn sie Kirchen und Gottesdienste in anderen Ländern besuchten und sich über manche Verhaltensformen wunderten. Die jeweilige theologische Einschätzung des gottesdienstlichen Raumes spielt dabei eine wichtige Rolle und damit die Frage, was in ihm möglich und erlaubt ist und was nicht.

Weiterhin sind die Zeitumstände ein wichtiger Faktor: Ein kirchlicher Raum war allein durch seine Größe im Mittelalter und später noch von ganz anderer Bedeutung in der Lebenswelt der Menschen als heute. In Zeiten, in denen es noch keine Kirchenbänke gab, war eine größere Bewegung in den Räumen möglich, was auch zur Un-Ordnung beitragen konnte. Die katholische Messe wurde jahrhundertelang mit dem Rücken zum Volk zelebriert, was sicher nicht zu dessen Disziplinierung beitrug. Auch die Licht- und Sichtverhältnisse waren früher nicht so wie heute; es gab mehr dunkle Nischen hinter Säulen und in Seitenkapellen, die unangemessenem Verhalten Raum gaben. Schließlich wurde der katholische Gottesdienst bis Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend auf Latein gehalten, die Gläubigen waren gar nicht in der Weise beteiligt, wie das heute der Fall ist. Auch das spielte für das Verhalten eine Rolle.

Wie an dem literarischen Gottesdienst von Christoph Peters gut zu sehen ist, neigen bestimmte Gruppen und Altersstufen vielleicht eher zu schlechtem Benehmen in der Kirche. Auch werden Gottesdienste zu besonderen Anlässen oft von Menschen besucht, die keinen unmittelbaren Zugang zum liturgischen Geschehen haben und sich mit einem angemessenen Verhalten eher schwertun. Allerdings können, wie ebenfalls an dem Beispiel zu erkennen ist, auch die liturgischen Hauptakteure, die Dienste, zu schlechtem Benehmen neigen, was doppelt schwer wiegt, weil sie doch eigentlich anderen ein Vorbild sein sollen. Denn wer gibt Hinweise zum Benehmen im Gottesdienst und in der Kirche und wie werden die Gläubigen oder auch die Besucher einer Kirche denn über angemessenes Verhalten informiert und aufgeklärt? Und welche Folgen, unter Umständen Sanktionen, zieht falsches Verhalten nach sich?

Und es geht natürlich auch um die Frage nach den Hintergründen unpassenden Benehmens: Geschieht es aus Unwissenheit oder religiösem Desinteresse, steckt Auflehnung gegen die (kirchliche) Obrigkeit bzw. gesellschaftliche Normen dahinter oder einfach nur menschliche Schwäche? Inwieweit trägt auch die Liturgie selbst dazu bei, dass Menschen sich nicht der Feier entsprechend verhalten?

Über schlechtes Benehmen im Gottesdienst erfährt man nur selten etwas aus liturgiewissenschaftlicher Literatur – eher aus katechetischen, pastoraltheologischen oder religionspädagogischen Arbeiten, oft aus früherer Zeit, aber auch aus historischen und kulturanthropologischen Darstellungen. Es lässt sich indirekt aus kirchenamtlichen Äußerungen und oberhirtlichen Dekreten sowie Kirchenordnungen ablesen, es wird in Predigten und Katechismen angemahnt und in Beichtspiegeln erfragt. Frühere Verhaltensweisen lassen sich auch aus bildlichen Darstellungen von Kirchenräumen und den in ihnen agierenden Menschen ablesen. In heutiger Zeit geben oft diverse Piktogramme an Kirchentüren und Verhaltenshinweise in den Kirchen Aufschluss über ein (nicht) erwünschtes Verhalten, wie auch zahlreiche Ratgeber zum Verhalten in Kirchen und Gottesdiensten („Kirchen-Knigge“). Über unangemessenes Benehmen kann man auch immer wieder in Zeitungen und anderen Medien lesen.

Angesichts des weiten Feldes schlechten Benehmens in der Kirche und im Gottesdienst über die Jahrhunderte hinweg kann dieses Buch nur einen Streifzug bieten, Phänomene aufzeigen, Hintergründe andeuten, Anregungen geben. Auf Anmerkungen wurde verzichtet, zitierte Literatur wird im Text selbst genannt bzw. im Anhang aufgeführt.

   Im Sinne der Illustration sind nicht nur Bilder, sondern gelegentlich auch Zitate aus belletristischer Literatur eingefügt, die mit einem entsprechenden Hinweis gekennzeichnet sind.

   Gekennzeichnet sind ebenfalls Zusendungen zum Projekt „Schlechtes Benehmen im Gottesdienst“ des „Instituts für Liturgie- und Alltagskultur“, mit denen die Ausführungen des Textes durch persönliche Schilderungen konkretisiert werden. Für sie bedanke ich mich herzlich.

„Schlechtes Benehmen im Gottesdienst“ gehört zu den Themen aus dem Grenzbereich zwischen Liturgie und Alltag, mit denen ich mich an der Universität Würzburg in den letzten Jahren verschiedentlich befasst habe. Auf das Phänomen des angemessenen Verhaltens stieß ich dabei öfter: im Zusammenhang etwa mit „Heiligabend“, „Fronleichnam“ – besonders aber bei dem Thema „Essen und Trinken im Gottesdienst und in der Kirche“, bei dem es um liturgische Mahlfeiern und Mahlzusammenhänge im Laufe der Geschichte ging. Deshalb soll auch das vorliegende Buch seinen Platz in der Reihe „Liturgie & Alltag“ haben. Für einen Druckkostenzuschuss des Bistums Hildesheim möchte ich mich herzlich bedanken.

Zum Bild auf dem Cover

Das Bild zeigt einen Ausschnitt des Gemäldes von Emanuel de Witte „Das Innere der Oude Kerk in Delft“ (um 1650). Dass die Männer und Knaben Hüte tragen, ist für die Zeit und die Niederlande nicht ungewöhnlich; das war kein schlechtes Benehmen, sondern Ausdruck der anderen Einstellung gegenüber dem Kirchenraum sowie der politischen Freiheit. Auch Hunde waren damals kein seltener Anblick in Kirchen. Der das Bein hebende Hund sowie die an die Säule kritzelnden Buben sind aber womöglich bewusst ins Bild gesetzt worden, um beim Betrachter die Reaktion „So etwas macht man doch nicht!“ hervorzurufen.

1. „Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben?“

Falsches, schlechtes und störendes Benehmen

Korinth. Um das Jahr 50 n. Chr. ist die griechische Hafenstadt eine pulsierende Multikulti-Metropole fast neuzeitlichen Zuschnitts mit etwa 100 000 Einwohnern, darunter viele römische Veteranen und freigelassene Sklaven. Verschiedene Ethnien und Religionen prägen die Hauptstadt der Provinz Achaia. Seit Neuestem gehören dazu auch Menschen, die an einen jüdischen Rabbi namens Jesus glauben, der etwa 20 Jahre zuvor in Jerusalem am Kreuz hingerichtet wurde, aber nach dem Zeugnis verschiedener Frauen und Männer drei Tage später von den Toten erweckt wurde und zu Gott, den er seinen Vater nannte, zurückgekehrt ist. „Christus“ nennen ihn seine Anhänger, „Gesalbter“. Die kleine christliche Gemeinde wurde von Paulus gegründet, der auf seiner Missionierungstour von Thessalonich über Athen auch nach Korinth kam, wo er etwa anderthalb Jahre blieb. Diese Gemeinschaft der Christusgläubigen bestand ebenfalls aus vielen Angehörigen der unteren Bevölkerungsschicht, aber auch aus einigen wohlhabenden Familien. Nach seiner Abreise gab es Streitigkeiten unter der etwa zweihundert Personen umfassenden Gemeinde, die auch Paulus zu Ohren kamen und auf die er in einem Brief einging, den er um das Jahr 55 an die Korinther schrieb. Dabei geht es auch um unpassendes Verhalten im Gottesdienst:

„Das kann ich nicht loben, dass ihr nicht zu eurem Nutzen, sondern zu eurem Schaden zusammenkommt. Zunächst höre ich, dass es Spaltungen unter euch gibt, wenn ihr als Gemeinde zusammenkommt. […] Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls; denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg und dann hungert der eine, während der andere betrunken ist. Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben? Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben? In diesem Fall kann ich euch nicht loben“ (1 Kor 11,17–22).

Der Gottesdienst, den er anspricht, ist das sogenannte Herrenmahl, die Eucharistiefeier, freilich nicht wie heute in einem stilisierten Mahl mit Oblaten (Hostien) und einem Schluck Wein, sondern in Verbindung mit einem vorausgehenden Sättigungsmahl. Der von Paulus getadelte Missstand wird verständlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es bei den Festmählern in der Antike sehr oft unterschiedliche Speisen je nach dem Rang der Geladenen gab. Und: Offensichtlich konnten nicht alle zur selben Zeit schon anwesend sein. Die Begüterteren konnten sich bei dem Mahl bereits an Speisen und Getränken laben, bis die anderen eintrafen, die bis abends – das Herrenmahl fand am Abend statt – arbeiten mussten. Was schon bei einem profanen Gastmahl zu Ärgernis führen kann, ist im Zusammenhang des „Herrenmahls“ geradezu ein Skandal, weil hier das Wesen des eucharistischen Mahles, das ja Communio, Gemeinschaft mit dem Herrn und untereinander ausdrücken soll, ad absurdum geführt wird. „Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls“, sagt Paulus daher ganz direkt und fügt noch überspitzt hinzu, dass so der eine schon betrunken ist, während der andere noch hungert.

Für die junge Christengemeinde in Korinth war dieser Tadel ein Augenöffner: In ihrer Gemeinschaft kamen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zusammen – anders als in sonstigen Vereinigungen –, und doch waren sie alle gleich, sollten auch bei den Zusammenkünften gleich behandelt werden. Das war das Neue der Botschaft Jesu, das musste erst gelernt werden. Durch das überkommene Verhalten der Wohlhabenden wurden die Ärmeren auch noch als solche bloßgestellt und gedemütigt, wie Paulus schreibt. Auch das richtete sich gegen das Evangelium Jesu, der die Armen seligpries.

Schlechtes Benehmen, unhöflich, gedankenlos?

Aber wie ist dieses Verhalten zu bezeichnen? Als schlechtes Benehmen? Oder nur als Unhöflichkeit, als Gedankenlosigkeit? Man sieht an diesem Beispiel, dass es bei Klagen über das Verhalten im Gottesdienst zunächst nicht nur um Äußerlichkeiten wie das Betreten einer Kirche in unpassender Kleidung oder das Popeln in der Nase oder Schlafen während der Predigt ging. Das alles gab es in der Geschichte und gibt es auch heute noch. Manches Verhalten aber richtet sich gegen das Wesen des Gottesdienstes selbst und zugleich auch gegen die, die an ihm teilnehmen, ohne dass dies gleich negativ auffällt.

Das führt aber auch zu der Frage, was schlechtes Benehmen im Gottesdienst alles umfasst und ob es einen Unterschied zwischen Verhalten und Benehmen gibt. Im Zusammenhang des Themas begegnen beide Begriffe – Benehmen und Verhalten – oft austauschbar, sie stellen aber, genau betrachtet, Unterschiedliches dar:

„Benehmen“ im Sinne eines richtigen bzw. angemessenen Benehmens ist die Summe der Verhaltensweisen und Äußerungen, die den Wertvorstellungen einer Gemeinschaft oder Gruppe in bestimmten Situationen entsprechen. Unterschiedliche Kulturen bzw. Subkulturen definieren richtiges bzw. gutes Benehmen möglicherweise jeweils anders. Das erklärt, dass im kirchlichliturgischen Bereich konfessionell unterschiedliche Verhaltensweisen, die auch als Benehmen gewertet werden, auftreten können.

„Verhalten“ hingegen zielt im gottesdienstlichen Zusammenhang eher auf Vorgänge, Handlungen und Haltungen (im wahrsten Sinne des Wortes). Ein gutes Beispiel dafür bieten die Verhaltensregeln für den Gottesdienst, wie sie im „Orthodoxen Glaubensbuch“ von Andrej Lorgis und Michail Dudko (2001) dargelegt werden; so werden hier etwa genaue Hinweise auf das Verhalten vor der Kirche, in der Kirche, zur Verehrung der Ikonen und zum Gebetsgedenken gegeben.

Verhalten und Benehmen können auseinanderklaffen. Es kann sich jemand liturgisch richtig verhalten im Sinne der Haltungen und vorgegebenen Verhaltensweisen, sich aber schlecht benehmen, weil er oder sie dabei lacht, schwätzt, Kaugummi kaut oder Ähnliches. Oder aber jemand verhält sich falsch, weil er bzw. sie die richtigen Verhaltensweisen nicht kennt, vollzieht aber den Gottesdienst in innerer Ehrfurcht mit.

Verhalten wie Benehmen sind ein äußerer Ausdruck, der einer inneren Einstellung entsprechen sollte. Das Verhalten ist dabei auch von bestimmten Regeln und Konventionen geprägt. Das Benehmen wiederum ist unabhängig von Ort und Situation. Prinz Asfa-Wossen Asserate, der vor Jahren ein viel beachtetes Benimm-Buch verfasst hat, bringt dies so auf den Punkt: Es reicht nicht aus, irgendwelchen Benimmregeln zu folgen – es geht um die innere Haltung und die Herzensbildung.

„Schlechtes Benehmen“ ist also ein weiter Begriff – die Bandbreite dessen, was im Gottesdienst unpassend, ungebührlich, ungehörig erscheint, ist groß und reicht von falschem Verhalten bis hin zu störendem Tun mit strafrechtlicher Relevanz.

Falsches Benehmen – oder besser: Verhalten – kann man da antreffen, wo Kirchenbesucher oder Gottesdienstteilnehmer nicht wissen, wie man sich zu bestimmten Gelegenheiten verhält, sitzen bleiben, wo man knien sollte, keine Reverenz machen etc. Auch die unpassende Kleidung gehört dazu. Es ist auch die Frage: Wie lernt man das, wenn man nicht darin aufwächst und entsprechend erzogen wurde? Dafür gibt es heute vielfach Ratgeber und Hinweise in Zeitungen und im Internet für Menschen, die unsicher sind, weil sie Kirchen und den christlichen Gottesdienst nicht oder nur wenig kennen. Manchmal findet man die jeweiligen Verhaltensweisen auch in den Kirchen angezeigt oder auf einem Verlaufsblatt des Gottesdienstes notiert.

Zum schlechten Benehmen gehört das, was in dem in der Einführung zitierten Prolog aus dem Roman „Wir in Kahlenbeck“ genannt wird; Dinge, die man macht, obwohl man weiß, dass sie sich (nicht nur in der Kirche) nicht gehören: lautes Reden, Kaugummi kauen, Handy und Smartphone nutzen, rauchen u. a. Meist werden sie auch auf Schildern und durch Piktogramme als verboten angezeigt, weil sie andere stören.

Störendes Verhalten umfasst all das, wodurch andere Gottesdienstteilnehmer oder Kirchenbesucher sich in ihrer Andacht gestört fühlen; das ist mehr als zum Beispiel lautes Reden. Die Störung des Gottesdienstes kann sogar ein strafrechtliches Tun sein und ist, wie auch beschimpfender Unfug, im Strafgesetzbuch (StGB) aufgeführt (vgl. S. 53).

Das Verhalten der Gemeinde in Korinth war ihrer Erfahrung nach nicht falsch oder schlecht – es passte nur nicht mehr zur Feier einer christlichen Gemeinschaft, weil sich nach dem Evangelium Jesu neue und andere Wertvorstellungen herausgebildet hatten, die auch das Verhalten untereinander regeln. Zu Veränderungen im Verhalten ist es in der Geschichte des Gottesdienstes und der Kirchen immer gekommen. Das Benehmen im Kirchenraum ist über die Jahrhunderte hinweg und auch in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. Was uns heute nicht vorstellbar erscheint, war in früheren Zeiten nicht ungewöhnlich, umgekehrt hätte manches, was heute bei uns selbstverständlich ist, früher für Unverständnis gesorgt.

Beginnen wir nun unseren Gang durch Raum und Zeit des schlechten Benehmens mit dem Betreten der Kirche.

2. „Grüß Gott!“

Vom Betreten des Gotteshauses und dem Verhalten dabei

Ein unappetitliches Vorkommnis wurde einige Jahrzehnte zurück vor dem Landgericht Essen verhandelt: Da hatte ein Mann im Windfang einer Kirche onaniert, „als Kirchenbesucherinnen in seiner Nähe weilten“. Nicht nur eine Frage des schlechten Benehmens, sondern bereits eine Strafsache nach § 167 StGB. So weit schien alles klar. Doch nun begannen die juristischen Spitzfindigkeiten: Es wurde die Frage gestellt, ob der Windfang bereits Kirche im eigentlichen Sinne ist. Antwort: Der Windfang sei zwar kein Teil der zum Gottesdienst bestimmten Räume, aber „nach Rechtsgefühl und Volksauffassung befindet man sich nach Durchschreiten der äußeren Tür bereits in der Kirche. Dieses Empfinden pflegen die männlichen Kirchenbesucher z. B. dadurch zu bezeugen, dass sie meist schon beim Betreten solcher Eingangsräume den Hut abnehmen“, schreibt Heinrich Stader in seiner „Einführung in den Juristenhumor“ von 1996. Ob der Mann bei seinem abseitigen Tun im Windfang den Hut aufbehalten hatte, wurde allerdings nicht weiter erörtert …

Die Frage nach dem rechten Benehmen im Gottesdienst bzw. in einer Kirche beginnt bereits mit deren Betreten. Das betrifft nicht nur die entsprechende Kleidung, auch der Zweck des Kirchenbesuchs spielt dabei eine Rolle: Betritt man die Kirche für einen Gottesdienst oder zum Besichtigen, will man ein kurzes Gebet sprechen und eine Kerze anzünden oder eine Abkürzung nach dem Einkauf nehmen? Die Kirche ist ein öffentlicher Raum, aber keineswegs kann man sich in ihr verhalten, wie man es in der Öffentlichkeit tun kann (oder nicht einmal da). Weil zunehmend mehr Menschen nicht mehr kirchlich sozialisiert sind, gibt es Hinweise auf das richtige Verhalten beim Betreten („Verhalten in der Kirche. Regeln für Besucher“) auch in Internet-Ratgebern, Zeitungen und Lifestyle-Magazinen: „Beim Betreten einer Kirche müssen Männer unbedingt ihre Kopfbedeckung abnehmen und Frauen sollten nicht zu freizügig gekleidet sein. Katholiken benetzen sich beim Betreten der Kirche mit Weihwasser und bekreuzigen sich vor dem Altar.“ Dies sind Hinweise auf die auffälligsten Riten, die zumeist nur für einen kurzen touristischen Besuch wichtig sind.

Das Betreten der Kirche zum Gottesdienst ist aber ein weitaus vielschichtigeres Ritual, quasi Teil eines Sich-Bereitens, einer „Liturgie vor der Liturgie“, wie es im evangelischen „Handbuch der Liturgik“ (1995) ausgedrückt wird, und ein sehr bewusstes.

Das besondere Verhalten hängt auch mit dem Ort zusammen: „die Pforte“ umschreibt ihn Romano Guardini in seinem berühmten Büchlein „Von heiligen Zeichen“ (1922), „die Schwelle“ Egon Kapellari in dem Buch „Heilige Zeichen“ (1987). Beide verweisen auf den Übergang, den Eintritt in das Heilige: „Wir sollten nicht eilfertig durch die Pforte laufen! Ganz langsam sollten wir hindurchschreiten und unser Herz auftun, damit wir vernehmen, was sie spricht. Wir sollten sogar vorher ein wenig innehalten, damit unser Durchgang ein Schreiten der Läuterung und der Sammlung sei.“ – „Die Kirche hält nach wie vor Schwellen bereit. Wer als Glaubender über die Kirchenschwelle tritt, der ist eingeladen, dies bewusst zu tun.“

Unterschiedliche „Grußriten“

Der Liturgiewissenschaftler Franz Kohlschein hat sich 1991 in einem Artikel damit befasst, „wie die Gemeinde zusammenkommt“, und das Verhalten der Gläubigen beim Betreten der Kirche in den Blick genommen – auch in den verschiedenen Konfessionen. Es wird aus seiner Darstellung deutlich, dass das Betreten der Kirche zum Gottesdienst mehr ist als ein Hereinkommen. Das Verhalten der Gläubigen wird durch ein ausgeprägtes Brauchtum bestimmt, das sich aus einer Folge von Handlungen zusammensetzt, die vom Betreten der Kirche bis zum Einnehmen des Platzes reicht. „Man kann sie als ‚Grußritus‘ verstehen, der eine doppelte Richtung aufweist. Er wendet sich auf der vertikalen Ebene des Betens Gott zu, auf der horizontalen Ebene des Miteinanders den Anwesenden.“ Zu den überkommenen Formen, die vor allem auf die Verehrung des Heiligen ausgerichtet waren (z. B. Mütze abnehmen, Weihwasser nehmen, sich bekreuzigen, Kniebeuge, Hinknien, stilles Gebet am Platz), kommen heute neue hinzu, die eher kommunikativ sind (Grüßen der Bekannten, Gespräch auch in der Bank, Lesen des Pfarrbriefes o. Ä.). Manche der älteren Verhaltensformen sind nach Kohlscheins Beobachtung im Schwinden begriffen oder haben sich in Richtung der horizontalen Kommunikation verändert. Diese Beobachtung macht auch ein Pfarrer, der in einer E-Mail schrieb:

   Nichts dagegen, wenn sich Nachbarn, Freundinnen usw. begrüßen, aber muss man wirklich lautstark den Ratsch, der eigentlich vor der Kirchentüre seinen Platz hätte, bis zum Glockenzeichen ausdehnen? Übrigens: Dass der Herr im Tabernakel von den Hereinkommenden gegrüßt würde (durch eine Kniebeuge und ein kurzes Gebet), ist mehr und mehr rückläufig. […] Setzen Sie sich mal 20 Minuten vor einer Sonntagsmesse an die Emporenbrüstung und schauen Sie den Hereinkommenden zu: Sie werden den Mund nicht mehr zubringen! Was ist da seit den 50er Jahren katechetisch falsch gelaufen? (A. W. – 18. 8. 2019)

Eine Änderung der „Grußriten“ beim Betreten des Gottesdienstraumes konstatiert der Pastoralliturgiker Michael Meyer-Blanck auch für die evangelische Kirche (Inszenierung des Evangeliums, 1997). Das Nehmen von Weihwasser und Sich-Bekreuzigen ist hier ohnehin nicht üblich; hingegen findet man die stille Sammlung im Stehen, bevor man den Platz in der Bank einnimmt. Aber auch das sieht er im Schwinden begriffen, das stille Gebet am Bankplatz (vor dem Hinsetzen) ist nicht mehr selbstverständlich. „Alles Äußere steht im Verdacht, nur äußerlich zu sein, und in der religiösen Erziehung werden äußere Formen vernachlässigt.“ Dies wird auch von anderer Seite her bestätigt; der Verhaltenswissenschaftler Parvis H. Falaturi schreibt über den Gruß in Richtung Altar vor dem evangelischen Gottesdienst: „In manchen Kirchen fällt er ganz weg, und die Gottesdienstbesucher gehen in ihre Bankreihe, setzen sich in die Bank und harren der Dinge, die da kommen“ (Das Geschehen am Altar, 2014).

Tendenziell scheint die Ausrichtung auf das Heilige nicht mehr so sehr im Vordergrund zu stehen, wie es früher noch üblich war und wie es kirchlicherseits gewünscht wird. „Der sündige Mensch, der sich Gott nähert“, wie es Meyer-Blanck zusammenfasst: In diesem Bewusstsein gehen heute viele Menschen nicht mehr zum Gottesdienst. Man nimmt ihn eher als eine fromme Veranstaltung wahr, oder eben, wie es Falaturi ausdrückt: Man harrt der Dinge, die da kommen – ähnlich wie im Theater.

Im orthodoxen Gottesdienst steht ebenfalls die Ausrichtung auf das Heilige im Vordergrund, wie es das genannte „Orthodoxe Glaubensbuch“ in Bezug auf das Verhalten in der Kirche beschreibt: Kreuzzeichen und Verehrung der Ikonen, evtl. auch das Aufstellen und Entzünden einer Kerze gehören dazu. Die Hinwendung zu anderen Menschen ist dennoch nicht ausgeschlossen: „Nachdem Sie die heiligen Ikonen verehrt haben, können Sie Bekannte begrüßen und ihnen zum Festtag gratulieren, wenn gerade kein Gottesdienst stattfindet.“ Nichtorthodoxen Gästen und Gläubigen, die mit den Riten nicht vertraut sind (und dadurch auffallen), wird gern geholfen, wobei man ihnen auch die „korrekte“ Bekreuzigung und Verneigung zeigt.

Beiläufiges, gedankenloses oder ungehöriges Tun

Trotz der graduellen Unterschiede in den einzelnen Konfessionen gehört es zum angemessenen Verhalten beim Betreten einer Kirche, eine Reverenz gegenüber Gott zu machen, um damit die Besonderheit des Ortes anzuerkennen. Durch die allgemeine Veränderung der „Grußriten“ kann man im Unterlassen des einen oder anderen Tuns dabei nicht grundsätzlich von einem schlechten Benehmen ausgehen. Möglicherweise kann die rituell reduzierte Form des Betretens einer Kirche im evangelischen Bereich kaum mehr als ein religiöses Tun wahrgenommen werden. Es kann „beiläufig“ wirken. Doch nicht alles, was unterlassen wird, ist schlechtem Benehmen zuzuordnen, und wiederum ist manches, was nach Andacht aussieht, nur äußerlich oder – wie es Guardini forderte – langsam.

   Was tat man zum Beispiel, wenn man die Vorhalle glücklich betreten und weiter durch eine Tür im hohen Gitter ins Hauptschiff wollte? Man ging vorsichtig und langsam, die Mütze in der Hand, hindurch und näherte sich dem Weihwasserbecken ganz rechts am großen ersten Pfeiler im Hauptschiff. Dann streckte man Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand aus und führte sie (wieder: vorsichtig und laaang-saam) in das geweihte Wasser. Das geschah nicht zu tief, sondern so, dass man das Wasser höchstens streifte und die beiden Finger damit benetzte. Danach führte man sie zunächst an die Stirn und machte dann mit ihnen das Kreuzzeichen, indem man sie gegen die Brust und die Schultern rechts und links führte. Nicht zu schnell das alles, laaang-saam (in einem Gotteshaus gingen auch die Uhren anders, sie tickten nicht, sondern standen still)! Und danach nicht gleich weitergegangen oder gar forsch durch das Hauptschiff, nein, jetzt ging es darum, sich andächtig zu zeigen. Die Andacht bestand in einem längeren Verweilen, still, auf der Stelle. Ich konnte dazu auch eine Bank aufsuchen und mich niederknien (auf keinen Fall hätte ich mich jedoch sofort auf die Bank setzen dürfen, als wäre ich zu matt oder zu lustlos, den Parcours fortzusetzen). Hätte ich eine Bank aufgesucht und niedergekniet, hätte das die Andacht um einige Minuten verlängert, denn schließlich kniete man sich nicht in eine Bank, um sie nach kurzem Niederknien rasch wieder zu verlassen.

(Hanns-Josef Ortheil, Was ich liebe – und was nicht, 2018)

Neben der Verflachung bzw. Verkürzung der Riten gibt es aber auch Fehlformen. Der Eingangsbereich ist gerade in katholischen Kirchen ein besonderer Ort, weil sich dort auch das Weihwasserbecken befindet, von dem nicht jede(r) weiß, was es damit auf sich hat. So kann man in katholischen Kirchen durchaus erleben, dass Gläubige sich mit dem Weihwasser bekreuzigen, danach etwas Weihwasser auf den Boden spritzen: für die armen Seelen – möglicherweise das Relikt aus dem antiken Brauch einer Libatio, bei der man u. a. im Totenkult etwas Wein aus dem Becher vor dem Trinken auf den Boden goss (für die Götter). Ein Tun, das mehr oder weniger gedankenlos vollzogen wird (leider auch bei der Kommunion zu erleben – vgl. S. 35).

Da kann man aber auch lesen, dass Kinder, die vor der Kirche gespielt haben, sich danach im Weihwasserbecken die Hände gewaschen hätten oder jemand gar seinen Hund daraus saufen ließ (S. 111). Sogar von Urinieren in das Weihwasserbecken ist die Rede – und dass ein trockenes Weihwasserbecken als großer Aschenbecher benutzt wurde und ausgedrückte Kippen enthielt, konnte ich selbst einmal sehen.

   Die beiden hatten Andreas nicht bemerkt. Er folgte ihnen in einigem Abstand in die Kapelle. In der Hand hielt er immer noch die Zigarettenkippe. Beinahe hätte er sie in das Weihwasserbecken neben dem Eingang geworfen.

(Peter Stamm, An einem Tag wie diesem, 2010)

Nicht zuletzt um bei solchem Tun rechtzeitig einschreiten zu können, ist in größeren und viel besuchten Kirchen das Aufsichtspersonal gleich am Eingang postiert.

Geordnetes Betreten

„Was ist da katechetisch falsch gelaufen?“, fragte der Pfarrer in seiner oben zitierten E-Mail. Tatsächlich wurde früher auch dem Betreten des Gotteshauses besondere Aufmerksamkeit gewidmet, vor allem in der katechetischen Unterweisung von Kindern. In einer Schulzeitschrift von 1874 heißt es: „Wie Alles, was zum Dienste Gottes gehört, groß ist, und es Nichts dabei gibt, was keiner besonderen Beachtung verdiente, so auch das ganze Benehmen der Kinder, nachdem sie in die hl. Räume des Gotteshauses eingetreten sind. Es soll mit allem Eifer und Nachdrucke darauf gesehen und hingearbeitet werden, daß die Kinder von der dem Hause Gottes gebührenden Ehrfurcht durchdrungen werden. Daß sie dieses sind, soll schon ihr Eintreten in die Kirche wie ihr Hinausgehen, ihr ganzes Benehmen und ihre Haltung während des Gottesdienstes beurkunden.“

Hinweis in der Kirche St. Peter und Paul, Würzburg

Das Betreten und Verlassen der Kirche erscheint so als ein problematischer Vorgang, der bei Kindern und Jugendlichen eines besonderen Augenmerks bedarf – das Verhalten der Schüler während des Gottesdienstes aber nicht weniger, wie an anderer Stelle ausführlicher dargestellt wird (Kapitel 14).

Für kirchlich nicht sozialisierte Besucher sind – wie oben dargestellt – äußerliche Dinge maßgeblich, wie etwa das Abnehmen der Kopfbekleidung (bei Männern) oder die entsprechende Bekleidung, wie sie auch auf Piktogramm-Hinweisen dargestellt werden. Da Kirchen inzwischen auf viele Menschen den Eindruck eines musealen Raumes machen, ändert sich auch das Verhalten beim Betreten und Verweilen in ihnen. Das hat den Schriftsteller Alois Brandstetter auf einen – wohl nicht ganz ernst gemeinten – Gedanken gebracht:

   Es gibt viele religiöse und auch praktische Gründe für gutes Benehmen in der Kirche! Das gälte meiner Ansicht nach nicht nur für das Kirchenbesuchen, sondern auch für das Kirchebesichtigen. Ich würde, wäre ich Rektor einer wertvollen Kirche, von den Besuchern weniger Eintrittsgeld verlangen, als vielmehr eine Aufnahme- oder Einlaßprüfung. Wer die Kirche betritt, müßte etwa bei einem Ostiarier die Kenntnis jener fünf Gebete der Christenheit, die im Weißenburger Katechismus aus dem 9. Jahrhundert zusammengefaßt sind, nachweisen. Ob einer nun das Athanasianische, das Apostolische oder das Niceno-Constantinopolitanische Credo oder Symbolum aufsagen oder beten möchte, würde ich dahingestellt sein lassen. Aber so ganz ohne Anstrengung sollte man ein Gotteshaus nicht betreten dürfen. (Alois Brandstetter, Schönschreiben, 1997)

3. Nicht Zeit-gemäß

Zuspätkommen und verfrühtes Gehen

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dieser berühmte Satz, den Michail Gorbatschow tatsächlich wohl nie gesagt hat, hätte im 5. Jahrhundert in Syrien möglicherweise so gelautet: Wer zu spät kommt, den bestraft der Diakon! Denn hier gab es – und das belegt eine Kirchenordnung aus ebendieser Zeit und Region – den Brauch, die Kirche nach Beginn des Gottesdienstes zu schließen. Wer zu spät kam, musste warten, ähnlich wie heute im Theater, wenn der erste Akt bereits begonnen hat. Erst zum Allgemeinen Gebet, den Fürbitten, wurde die Kirche geöffnet, und der Diakon „strafte“ die Zuspätkommenden auf subtile Weise, indem er eine Fürbitte für sie einschob, in der er vor aller Ohren um Besserung für diese Sünder bat …

Zu den ältesten Verstößen gegen das angemessene Benehmen im Gottesdienst zählen das Zuspätkommen und das vorzeitige Verlassen des Kirchenraumes. In der Zeit der frühen Kirche, da der „Gottesdienstbesuch“ noch nicht vom persönlichen Ermessen des Einzelnen geprägt, sondern selbstverständlicher Ausdruck des Glaubens und der Gemeindezugehörigkeit war, betraf dieses Verhalten auch die Gemeinschaft der Gläubigen. Diese Selbstverständlichkeit der Teilnahme am Gottesdienst änderte sich freilich in den folgenden Jahrhunderten, wie Adolf von Harnack schrieb: „Wo das Christsein zur Gewohnheit geworden war, zeigten sich schon im 3. Jahrhundert Überdruss am Kirchengehen, daher Versäumnis des Gottesdienstes, Entweihung des Gottesdienstes durch Allotria und Geschwätz, vorzeitiges Verlassen der Versammlung, Kirchenbesuch nur an Festtagen u. ä.“ (Die Mission und Ausbreitung des Christentums, 1915).

In späteren Jahrhunderten mag auf katholischer Seite die Betonung der Wandlung als des Höhepunktes der Messe mit ein Grund für späteres Kommen und früheres Weggehen gewesen sein. Der heute „Wortgottesdienst“ genannte erste Teil der Messe konnte, als „Vormesse“ bezeichnet, auch den Eindruck des nicht so wichtigen Teils des Gottesdienstes erwecken. Bei Wallfahrtsgottesdiensten konnte oft noch bis zum Evangelium gebeichtet werden.

Zuspätkommen

Das Zuspätkommen zum Gottesdienst wird durchgängig als Unart gesehen. Es sind mehrere Aspekte, die dabei eine Rolle spielen. Die Vorstellung, dass die Gottesdienstgemeinschaft erst durch das Zusammenkommen aller zustande kommt, wird in jüngerer Zeit wieder in den Blick genommen; das Zuspätkommen konterkariert dieses Verständnis. Es kommt auch vor, dass manche Menschen gern später kommen, um aufzufallen und sich dadurch bewusst außerhalb der Gemeinschaft oder über die anderen zu stellen. Schließlich richtet es sich gegen die Pünktlichkeit, die wiederum in vielen Gesellschaften ein Ausdruck der allgemeinen Ordnung ist – wie es schon in der Benediktsregel dargestellt wird, wo sich das 43. Kapitel ausführlich mit dem Zuspätkommen beim Gottesdienst und bei Tisch befasst. Zuspätkommen gehört sich also aus verschiedenen Gründen nicht.

„Die Gemeinde versammelt sich. Darauf tritt der Priester an den Altar.“ So lautet der erste Satz der „Feier der Gemeindemesse“ im Deutschen Messbuch von 1975. Das Zusammenkommen konstituiert die Gemeinschaft als Trägerin des Gottesdienstes. Es passt, dass in der Folge des II. Vatikanischen Konzils unter diesem Aspekt auch die Versammlung zum Gottesdienst neu gesehen wurde, als eine Begegnung mit dem Herrn, eine Begegnung mit der Gemeinschaft der Gläubigen, ohne die man auf Dauer nicht Christ sein kann. „Komm her, freu dich mit uns, tritt ein … an des Herrn Gemeinschaft nimm teil“, heißt es in einem Lied im katholischen Gesangbuch. Das Zuspätkommen zum Gottesdienst verstößt gegen dieses Verständnis und ist nicht nur eine schlechte Angewohnheit oder die berühmte „katholische Krankheit“, wie man früher sagte. Mit dem Zuspätkommen bringt man sich vielmehr um die Frucht des Gottesdienstes.