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Ein Kennzeichen der Moderne ist die Selbstverantwortung des Individuums. Es sei nicht nur seines Glückes Schmied, sondern auch sein eigener Trost- und Hoffnungsspender. Das Gefühl der Überlastung scheint somit vorprogrammiert. Wolfgang Teicherts Essay beschreibt vergangene und gegenwärtig mögliche Wege und Formen der Entlastung von moralistischen und anderen Überforderungen. Dabei kommen die Gleichniserzählungen des Neuen Testaments genauso ins Spiel wie Meister Eckharts aufregende Bemerkungen zur „Gelassenheit“, Luthers Entlastungsentdeckung namens Rechtfertigung sowie Bachs Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ als Entlastung von der Herrschaft der Zeit.
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Seitenzahl: 76
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Wolfgang Teichert
Kleine Theologie der Entlastung
Präludium
Kapitel 1
Sündenbock und verwundeter Heiler: Ambivalenz von Entlastung
Kapitel 2
Sabbath: Entlastung von der Belastung der Erde
Kapitel 3
Atlas und Christophorus: Entlastung von Schicksal und Starrheit
Kapitel 4
Entlastung von Gott und Humor
Kapitel 5
Entlastung von der Herrschaft der Zeit: Bachs Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“
Kapitel 6
Takt als Entlastung von Peinlichkeit und Beschämung
Kapitel 7
Ring der Toten: Entlastung von Trost und Tod
Kapitel 8
Vergeben: Entlastung von der Vergangenheit
Postludium
„Subsidiotop“: Kirchenraum als Entlastung
Wir sind überlastet, moralisch überfordert und erschöpft. Wir sollen das gesamte Klima retten, möglichst sofort, den Frieden in allen Teilen Welt wieder herstellen, bewahren, schützen und erhalten; neuerdings gegen imperiale Überfälle mit Waffen für das überfallene Land. Wir sind wenig vorbereitet, mit Milliarden Zeitgenossen in voller Kenntnis ihrer Gegenwart zusammen zu leben. Und – auf niedrigerer Ebene – sollen wir einander und uns anders, gesünder und zukunftsfähiger ernähren, sollen die zahlreichen Geschlechter erkennen und gebührend beachten, nebenbei unsere Arbeit effizient und selbstverantwortlich bewerkstelligen, sollen uns um unsere Kinder und Kindeskinder kümmern und bedenken, dass jede heutige Entscheidung von uns Auswirkungen haben wird auf ihr Leben. Und wir sollen nicht kollektiv in den Burn-out geraten, auch dann nicht, wenn wir zwischen dreihundert Zahnpasta-Sorten „wählen“ können und müssen oder wenn uns der Schrittzähler im Mobiltelefon auf 10.000 Schritte pro Tag „verpflichten“ will.
Kein Wunder, dass der Ruf nach „Entlastung“ Konjunktur hat. Entlastungspakete werden geschnürt, Entlastungsforderungen gestellt. Die Entlastungsschlagzeilen drehen sich um Energiegeld, Billig-Euro-Tickets, Entlastung für Mieter und Rentnerinnen, für Studierende. Entlastung auch für die moderne Entzauberung der Wirklichkeit durch Ersatzverzauberung des Ästhetischen. Entlastung für die moderne Verkünstlichung unserer Lebenswelt durch Schwärmen von „unberührten Landschaft“ und für Naturerhaltung durch ökologisches Bewusstsein. Entlastung vom zunehmenden Tempo des Wandels unserer bebauten Umwelt durch Entwicklung von „Solastalgie“; jenes belastende Gefühl des Verlustes, das entsteht, wenn jemand die Veränderung oder Zerstörung der eigenen Heimat oder des eigenen Lebensraums direkt miterlebt. Damit verbunden ist – und das ist wichtig – ein intensiver Wunsch, dass dieser Ort, an dem man wohnt, als mögliche Quelle des Trostes erhalten bleibt. Solastalgie, so die Psychologin Verena Kast, ist daher auch für Menschen möglich, die die gesamte Erde als ihr Zuhause betrachten und daher auch das Beobachten der Veränderung oder Zerstörung irgendeines Ortes auf diesem Planeten als belastend erleben. Während Nostalgie auf die Vergangenheit gerichtet ist, bezieht sich Solastalgie entlastend auf die Gegenwart oder Zukunft. Haben Religion und Theologie in diesem Entlastungskonzert einen besonderen, unterscheidbaren und darum wirksamen Part? Und woran erkennen wir, dass es sich bei bestimmten Erscheinungen um Religion handelt?
Es ist, finde ich, an der Zeit, die entlastenden Traditionen der eigenen Religion und ihrer Quellen revitalisierend wieder zum „sprudeln“ zu bringen. Selbst ein religiös unverdächtiger Soziologe wie Niklas Luhmann hat das schon zeitig bestätigt: Kommunikation ist immer dann religiös, sagt er, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz – also des Überschießenden, Unverfügbaren, der Unterbrechung und Entlastung – zur Sprache bringt. Erst von der Transzendenz aus gesehen erhält das Geschehen in der Welt religiösen Sinn. Religion liegt für ihn immer dann vor, „wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gern haben möchte“.
Also machen wir uns auf ausgewählte Spurensuche und schauen nach, wo man sich vom Stress des andauernden Perfekt-Seins und zugleich der andauernden Naturzerstörung entlasten kann. Wir müssen nämlich nicht alle tragisch oder pessimistisch gestimmt sein, wie der traurige griechische Titan Atlas. Der war und ist dazu verdammt, sogar die Himmelssäulen ständig zu tragen.
Hingegen taugt der in Legende, Kirche und in der Kunst häufig anzutreffende Christophorus besser zum heutigen Leitbild als der tragische Atlas. Wenn wir ständig hören müssen, „die Zeit drängt“, und wenn fast jedes Theaterstück und mancher Film suggerieren, es sei „fünf vor zwölf“ oder „H – 100 Seconds to Midnight“, sodass man ganz atemlos und unfroh wird, dann lohnt es sich zum Beispiel, über den „Umweg“ einer Bachkantate zu verabschieden von der Chronokratie (Herrschaft der Zeit). Schließlich kann man sich auch auf eine weitere Kostbarkeit von Entlastung konzentrieren, die – selten geübt oder geschenkt – in der Lage ist, Vergangenes eben doch, wenn nicht ungeschehen, so doch seiner destruktiven Wirkung unschädlich zu machen. Dem entspricht dann der eher zarte Hinweis auf eine Lebenshaltung, die peinliche Situationen entschärft, aufhebt, einrenkt. Ich meine das Taktgefühl.
Zu beginnen ist allerdings mit einer eher schwergewichtigen, häufig unverstandenen, immer wieder geschmähten Tradition von Entlastung, die in der hebräischen Bibel (dem Alten Testament) deutliche Kontur gewinnt und dann in der griechischen Bibel (dem Neuen Testament) in der Situation des Mordes an Christus wieder-holt, wiedergeholt wird. Sie zeigt, dass Entlastung – bis heute – nicht immer entlastend und positiv wirkt, wenn sie nämlich als Sündenbocksuche daherkommt.
Für eine kleine Theologie der Entlastung muss man manche Umwege oder sogar Abwege gehen, denn die jüdisch-christlichen Erzählungen orientieren sich eher erzählend als definierend an Entlastung. Beginnen muss man denn auch mit einer ebenso typischen wie rätselhaften Figur beider Bibeln (der hebräischen ebenso wie der griechischen): dem verwundeten Heiler oder dem „Gottesknecht“. Man hat früh die Besonderheit des Buches Jesaja bemerkt. Spricht der Prophet in den ersten 39 Kapiteln selbst, so kommt in den Kapiteln 40 bis 55 mit jener rätselhaften Figur des „leidenden Gottesknechts“ ein anderer Autor zu Wort. Auch die historische Situation der damaligen Hörerschaft ist gegenüber den ersten Kapiteln verändert: Es ist die Zeit der Katastrophe! Der Jerusalemer Tempel wurde 587/586 v. Chr. zerstört und Israel, vor allem seine Oberschicht, ins Exil nach Babylon verschleppt. Leid und Unterdrückung in „babylonischer Gefangenschaft“ lösten Resignation und Verzweiflung aus. In dieser Situation taucht jene Gestalt auf, von der es wörtlich heißt: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“
Wir halten fest: Diese unbekannte, umstrittene und kaum historisch fassbare Gestalt taucht auf im Moment der Gefahr und Katastrophe, dann nämlich, wenn ein gesamtes Volk ins Exil verschleppt wird, wie ja Geschichte immer dann bedeutsam wird, wenn sie im Moment der Gefahr sozusagen rettend aufblitzt (Walter Benjamin).
Sprung: Was lag da 600 Jahre später in jesuanischer Zeit näher als sich eben dieser eigenen Tradition in der hebräischen Bibel zu erinnern, dann nämlich, als die messianischen Juden (später Christen genannt) selber in die lebensbedrohliche Katastrophe geraten waren mit dem Mord an ihrem geliebten „Messias“?
Wie kann man diese furchtbare Verletzung und Enttäuschung aushalten? Die ersten Christen versuchten es damit, dass sie ihre furchtbare und katastrophale Gegenwart „überblendeten“ und transparent machten auf eine Gestalt hin ihrer eigenen Tradition; einer Gestalt, deren erinnertes Geschick ihnen ihre eigene furchtbare Lage aushaltbar, deutbar und sogar verwandelbar erscheinen ließ. Ein rettendes Entlastungsgeschehen!
Hier – das scheint mir wichtig gegenüber der traditionell belastenden Lesart der Kirche, die mit dem „Neuen Testament“ meint „erfüllt“ zu haben, was das „Alte Testament“ nur verheißen hat – findet sich eben nicht das so lange konstruierte Schema von Verheißung und Erfüllung. (Die Propheten verheißen und der „Messias-Christus“ erfüllt.) Solche kirchlich-theologisch populäre Sicht nämlich machte die jüdische Religion zu einer Vorläuferreligion und enteignete sie ihrer Besonderheit. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im Moment der erlebten Katastrophe greift man zurück auf diese entlastende Gestalt des leidenden „Gottesknechtes“ der eigenen Tradition!
So schreibt, um nur ein Beispiel zu nennen, Matthäus (8,17): „Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.“ Hier identifiziert der Evangelist den Gottesknecht aus Jesaja 53 ganz deutlich mit Jesus. Und auch Paulus hatte zurückgegriffen auf die entlastende Gestalt bei Jesaja, um den Justizmord an Jesus und dessen „Auferstehung“ zu verstehen: „der um unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt ist“. Die von Paulus verwendeten Begriffe wie „dahingegeben“ oder „unsere Übertretungen“ und auch „wegen bzw. um“ zeigen eine enge Anbindung an Jesaja 53. Seine gesamten Entlastungsbemühungen (die man früher einmal Rechtfertigungslehre genannt hat) beruhen auf diesem Rückgriff auf den „Gottesknecht“ – und zwar im Moment der eigenen Katastrophe.
Das könnte bedeuten, um hier gleich einen kühnen Sprung in gegenwärtige Existenzlagen zu wagen: Man muss eben nicht total verzweifeln oder aufgeben, wenn man sich selber als katastrophal verletzlich oder als verletzt erkennt.