Kleine Theologie des Als ob - Sebastian KLeinschmidt - E-Book

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Sebastian KLeinschmidt

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Beschreibung

Sebastian Kleinschmidt, Jahrgang 1948, studierte Philosophie und Ästhetik und war von 1991 bis 2013 Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form. Heute ist er als Essayist und Herausgeber tätig und hat diverse Buch- und Zeitschriftenaufsätze über Literatur, Philosophie, Theologie sowie bildende Kunst veröffentlicht.

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Sebastian Kleinschmidt

Kleine Theologie des Als ob

Wo Bewusstsein nicht gebraucht wird, zieht es sich zurück.

William James

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 1

Wer vom Theologischen reden will, muss auch vom Religiösen sprechen. Und wer von Religion spricht, kommt nicht umhin, die Rede auf das Göttliche zu bringen. Und auf das divinatorische Empfinden der Wirklichkeit des Unsichtbaren, auf die Glaubensfreude als eine Form geistlicher Empfänglichkeit.

Nur wie vom Höchsten sprechen? Von Gott, den niemand sehen kann und niemand sehen darf und niemand je gesehen hat? Auch Moses nicht, auch Jesaja nicht. Moses vernahm nur Gottes Stimme, Jesaja sah nur Gottes Füße. Der auferstandene Christus sagt zu Thomas, dem zweifelnden Jünger: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“

Auf dreierlei Weise kann sich der Mensch auf Gott beziehen. In Gestalt seiner Realitätsbejahung, in Gestalt seiner Realitätsverneinung, im Exempel seiner Realitätsvermutung. Als These oder Antithese oder Hypothese. Im Modus des „Er ist“ oder des „Er ist nicht“ oder des „Als ob er ist“. Im Zustand des Glaubens, im Zustand des Unglaubens, im Status der Annahme.

Welche Art Gottesbezug beim je einzelnen Menschen vorherrscht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und, wenn ja, wie es in seiner Kindheit zu Berührungen mit den Gegenständen des religiösen Bewusstseins gekommen ist.

Ich stamme aus Schwerin, der ältesten Stadt Mecklenburgs. Hier am Dom, dem 850 Jahre alten Wahrzeichen der Stadt, war mein Vater Prediger. Hier wurde ich 1948 getauft, anderthalb Dezennien später konfirmiert und – längst hatte ich meiner Heimatstadt Ade gesagt – ein gutes Jahr vor Ende der DDR auch getraut. In der Bischofstraße 6, im Schatten der mächtigen Dommauern mit ihren riesigen Stützpfeilern habe ich die ersten drei Jahre meines Lebens verbracht. Das tägliche Läuten der Glocken war die Musik meiner frühen Kindheit. Und wenn in den Sommermonaten Gottesdienst war, konnte man von den geöffneten Fenstern der großen Pfarrwohnung aus in gedämpften Tönen die Orgel hören.

Als wir später in ein eigenes Haus an den Stadtrand zogen, inzwischen war ich vier, setzte sich meine Mutter jeden Abend vorm Schlafengehen wie unter einen Baldachin auf den unteren Rand meines Doppelstockbettes, um mit mir zu beten. Sie zeigte mir, wie man andächtig die Hände faltet, sprach leise die Worte vor, und ich sprach sie leise nach. Es waren einfache, kindliche Verse, mal ein kurzes, mal ein längeres Gebet. Das kurze hieß: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Und das längere lautete: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“

Bevor es ein Reden von Gott gab, gab es ein Sprechen zu Gott, ein kleines Ritual, dessen Inhalt ich nicht verstand. Was Frommsein bedeutete, was Reinsein war, sagte meine Mutter nicht. Aber es gab von nun an eine neue Adresse zum Bitten und Wünschen.

War das Beten mit meiner Mutter eine religiöse Initiation? Nein, das war sie nicht. Etwas Entscheidendes fehlte.

Die Kindergebete waren übrigens mühelos zu merken, und gut war, dass sie ein Metrum hatten und eine Melodie. Wie das Schlagen und Läuten der Domglocken. Wie das Spiel der Orgel. Alles vibrierte ein wenig, mal durch Töne, mal durch Worte. Und die zum Himmel gerichteten Worte ertönten mit der warmen Stimme meiner Mutter, auf die ich, das behütete Kind, mit meiner Kinderstimme nachfolgte. Ein Stimmenbund im Einschlafraum der Nacht.

Apropos Raum, apropos Stimme. Ein großes Wunder ist für jedes Kind das Echo. Man lernt es kennen im Wald oder an Bergseen, aber auch in endlos weiten Lagerhallen. Wenn ich außerhalb des Gottesdienstes den Dom betrat und in den menschenleeren Raum hineinrief, gab es zwar kein Echo, doch einen rätselhaften Nachhall. Und wenn ich meine Stimme vor den hohen Mauern ausprobierte, begann sie zu wachsen. Sie wuchs förmlich über mich hinaus, stieg auf zur Empore im Westen, hoch zum Pfeifenwerk der Orgel, als wollte sie sagen, hier ist ein neuer Ton, den habt ihr noch nicht in eurem Stimmenschiff.

War hier Religiöses im Spiel? Eher nicht, aber ein Vorspiel könnte das akustische Erleben der Höhe schon gewesen sein. Angelus Silesius, der schlesische Mystiker, schrieb einmal:

Gott ist ein Organist, wir sind sein Orgelwerk,

sein Geist bläst jedem ein und gibt zum Ton die Stärk.

Das Imposanteste am Schweriner Dom ist sein Turm. Er ist der ganze Stolz der Stadt, mit seinen 117,5 m Höhe. Mit zwölf bin ich zum ersten Mal mit einem Freund hinaufgestiegen, und zwar weit höher, als es Normalsterblichen erlaubt ist. Nicht nur die steinerne Wendeltreppe hoch und am Geläut vorbei bis zur Aussichtsplattform, sondern über steile Leitern und schmale Bohlen an der Rückseite der vier Turmuhren vorbei bis hinein in die letzte Enge des Dachstuhls. Drinnen unter uns schwindelerregende Tiefen, und draußen über uns nur noch das vier Meter hohe Kreuz. Es gab damals an der Stelle, bis zu der wir hochklettern konnten, noch vier verglaste Fensterluken, vor die vier Fliegerwarnlampen montiert waren. Als ich von dort oben Richtung Osten auf das gewaltige Dach des Langschiffes schaute, staunte ich, wie gekrümmt der First war, fast eine Schlangenlinie. Die Krähen und Möwen, die ich sonst von unten ansah, da sie über mir kreisten, kreisten auf einmal unter mir. Vom Wasser aus, das für mich als Segler und Kanute ein befreundetes Element war, hatte ich immer und von überallher den backsteinroten Dom sehen können – Schwerin ist ja die Stadt der sieben Seen –, und nun sah ich vom Dom aus überall das Wasser. Wie es schimmerte und glänzte und wie sich die Baumreihen und Häuserzeilen am Ufer darin spiegelten. Wie bevölkert es war von Schleppern und Kähnen, von Flößen, Jollen und Yachten. Vom näher gerückten Himmel hier oben waren die elementaren Proportionen zu sehen: Altstadt, Feldstadt, Paulsstadt, Weststadt, Schelfstadt, Werdervorstadt; Seen und Wälder, Inseln und Buchten, Gräben, Kanäle und Brücken, Straßen und Chausseen, Äcker, Wiesen und Parks. Alles das, was man von unten nicht in den Blick bekommt.

Es war ein gewaltiges Erlebnis von Raum und Tiefe, von Weite und Höhe. Ich begegnete zum ersten Mal dem vertikalen Schauer, dem, was die Philosophen das Erhabene nennen.

Doch wie stand es mit dem, zu dessen Ehre solche Kathedralen gebaut wurden? Daran dachte ich nicht. Heute, sechzig Jahre später, denke ich daran. Wie rief Jakob im 1. Buch Mose, Kapitel 28, Vers 17 aus: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“

Das war gerufen, als Jakob auf dem Weg von Beerscheba nach Haran war und unter freiem Himmel Rast machte, um die Nacht zu bleiben und zu schlafen. Und von einer Himmelsleiter träumte, einer Leiter, die auf Erden stand und mit der Spitze an den Himmel rührte. Und auf der die Engel Gottes auf und nieder stiegen. Ganz oben auf der Leiter stand Gott der Herr. Und er sprach zu Jakob, dass er ihm und seinen Nachkommen das Land geben will, auf dem er liegt, und dass durch ihn und seine Nachkommen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.

An vielen deutschen Kirchen steht als Inschrift über dem Portal: „Hier ist nichts, denn Gottes Haus“.

Drei Jahre nach der Turmbesteigung, einem Abenteuer der Lebenshelle, machte ich Bekanntschaft mit der dunklen Seite der Existenz. Ich war gerade fünfzehn, als mein Bruder, mit dem ich aufgewachsen war, Selbstmord beging. Es war ein warmer Sommertag, und ich war von früh an auf dem Wasser gewesen. Als ich vom Bootshaus am späten Nachmittag nach Hause kam, erfuhr ich es von meiner Mutter. Es war im Keller geschehen, mit Gas, das ganze Haus roch noch danach. Mein Bruder Stefan lag unten. Oben im Zimmer die ganze Familie versammelt. Alle waren stumm. Stunden darauf sagte meine Schwägerin zu mir, wenn du willst, gehen wir zusammen hinunter zu ihm. Er lag auf den Steinen. Neben sich eine geöffnete Schachtel Salem oval und seine Brille. Als ich seinen Arm berührte, war er kalt.

Die Nacht, die kam, war meine erste Nacht, die ich allein im Kinderzimmer schlief. Ich hatte den Boden unter den Füßen verloren. Ich wurde hineingedrängt in die Tiefe der Dunkelheit, und wurde hineingedrängt in die Tiefe der Isolation. Und da kam sie hervor, die Angst, die ganze Nacht. Ich hatte große Angst zu sterben. Ich fühlte, wenn ich einschliefe, würde ich sterben. Der mit mir da im Zimmer war, das war der Tod. Der Tod als Angst, die Angst als Tod. Ich habe viel gebettelt zu Gott in dieser Nacht. Dass er mich leben lässt. Dass er vom Todesschrecken mich erlöst. War das naiv? Das war es nicht. Es geschah ja etwas, und es war etwas mit mir geschehen. Eine Öffnung, ein Hineinfallen zur Tiefe, nicht zur Tiefe außen, wie beim Domturm, sondern zur Tiefe innen, zum Unbewussten. In der Notlage, in der ich war, öffnete sich eine Tür zu einem unsichtbaren Raum der Rettung. Ich war mit einem Male in der Welt und aus der Welt zugleich, geängstigt in der einen, geborgen in der anderen. Ich hatte geglaubt, und der Glaube hatte mir geholfen. Das war die Urszene meiner Religiosität. Was vorher gefehlt hatte, war das Ergriffensein, die metaphysische Erschütterung.