Kleiner Mann, großer Mann, alles vertauscht - Hans Fallada - E-Book

Kleiner Mann, großer Mann, alles vertauscht E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Max Schreyvogel und seine Frau Karla wird unerwartet eine üppige Erbschaft zuteil. Max Onkel Eduard ist dahingeschieden und hat seinem Neffen beträchtliche Ländereien mit Anlagen und Park hinterlassen. Der bis dahin bescheiden lebende Kontorist wird über Nacht Schlossherr. Doch der Geldsegen bringt nicht das erhoffte Glück. Freunde wandeln sich in Neider und Bittsteller, Träume zerbersten und die Liebe droht zu zerbrechen.

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LUNATA

Kleiner Mann, Großer Mann – alles vertauscht

oder Max Schreyvogels Last und Lust des Geldes – Ein heiterer Roman

Hans Fallada

Kleiner Mann, Großer Mann – alles vertauscht

oder

Max Schreyvogels Last und Lust des Geldes

Geldes

Ein heiterer Roman

© 1940 Hans Fallada

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Zweiter Teil

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

Erster Teil

Des Geldes Last

1. Kapitel

Drei Zylinderhüte bringen Unheil – Von Eduarda wird Akt genommen – Einen steilen Berg hinauf!

Ich erinnere mich noch gut des Augenblicks, da Unheil unser Heim betrat.

Es war der erste November. Ich stand am Fenster, draußen war es naßkalt und neblig.

Wir hatten eben zu Mittag gegessen, unsere Tochter – wir riefen sie Mücke oder Mückchen – lag schon in ihrem Bett. Obersekretär Vormann vom Steueramt flötete eine Treppe tiefer, wie immer, wenn er sich rasierte. Und Karla nähte mir bei lebendigem Leibe hinten den Hosenknopf an, der am Morgen auf dem Büro abgesprungen war.

Du mußt aber stillstehen, Max! rief Karla. Sonst kann ich dir den Knopf nicht annähen. – Mücke, turne nicht in deinem Bett, du sollst schlafen!

Wer ist gestorben im Haus, Kerlchen? fragte ich.

Gestorben –? Als wie warum –?

Drei Angströhren kommen in das Haus – sicher doch vom Begräbnisinstitut.

Keine Ahnung rührte mich beim Anblick der düster durch den Nebel spiegelnden Seidenhüte an, daß sie uns gelten könnten, daß sie für eine lange Zeit alles Glück und allen Frieden aus unserm kleinen Heim zu Grabe tragen sollten!

Karla erklärte, es sei keiner im Hause gestorben, und schalt auf die Löcher im Knopf, die im Dämmern nicht zu erkennen waren ...

Und unterdes hätten wir alle Zeit gehabt, das Bett mit der turnenden Mücke in unsere Schlafstube zu schieben und so dem Unheil zu entgehen –!

Aber nichts weiß der Mensch ...

Ferne auf der Treppe klangen dumpf viele Schuhe ... Ach, warum hatten wir auch nicht wie andere bessere Leute eine Entréetür mit Klingel und Namenschild?! Warum wohnten wir auf der Mansarde, in zwei vom Dachboden abgeschlagenen Stuben, die jeder ohne Warnung und Vorbereitung betreten konnte?! Alles wäre bei Klingel und Entréetür anders gekommen!

Tuck – Tuck – Tuck – Duliöh! sang Herr Steuerobersekretär Vormann und hatte das Rasieren jetzt wohl hinter sich. Die Mücke krähte. Es klopfte an unserer Tür.

Immer rein in den deutschen Bund! rief Karla, voreilig wie stets.

Meine Jacke! flüsterte ich aufgeregt und lief schon selbst nach ihr.

Au! Du hast mich gestochen, Max! rief Karla empört.

Eins – zwei – drei – Schornsteinfeger! krähte die Mücke entzückt.

In der Tür standen drei Zylinderhüte, jetzt entblößten Hauptes. Der Vorderste, der Kleine, der Bärtige mit den spiegelnden Augengläsern hielt ein Papier in der Hand.

Einen Augenblick musterte jede Partei die andere verblüfft – weiß der Himmel, was zu sehen sie erwartet hatten! Uns kamen die drei schwarzen Männer bestimmt gänzlich unverhofft. Karla lutschte an ihrem blutenden Finger, ich angelte nach meinem Jackett, und die kleine Mücke hatte jenen großen, blauen Stauneblick, den ihre Mutter liebevoll ›gestochenes Kalbsauge‹ zu nennen pflegte.

Der Bärtige mit Papier und Brille räusperte sich: Ähemm! – Sind wir hier richtig bei Herrn Kontoristen Max Schreyvogel –?

Ja ... murmelte ich und war schrecklich verlegen, weil ich vor so vielen Bratenröcken noch immer in meinen Hemdsärmeln stand.

Und da haben wir also das kleine Töchterchen! sagte der Herr, legte schelmisch den Finger an die Nase und trat an Mückes Bett. Nun sei brav, mein Liebling, und sag dem Onkel, wie deine Mutti dich ruft –?

Er trat näher mit all jener albernen, wichtigtuerischen Kindischkeit, die alte Junggesellen im Umgang mit Kindern auszeichnet.

Mücke spürte das. Der Zylinderhut verlor allen Reiz, sie steckte den Kopf in die Kissen, stellte das Hinterteil hoch, das Nachtröckchen fiel auseinander – der alte Herr starrte und rieb mit dem Finger eifrig die Nase – es war nicht zu leugnen, dies blieb ein nackter, fünfjähriger Po ...

Karla, fast ebenso verlegen, schrie unsere Tochter empört an, wie sie noch nie geschrien: Eduarda! Benimmst du dich sofort anständig –! Und schlug zu ...

Der rosige Po verschwand, Geheul schwoll, aber lauter klang die triumphierende Stimme des Alten: Eduarda! Sie haben es gehört, meine Herren? Sie bezeugen es?

Wir bezeugen es! riefen die beiden Bratenröcke unter der Tür. Eduarda!

Nehmen Sie es zu Protokoll, Fiete! befahl der Alte. Wir haben 1 Uhr 44. Erster November. – Herr Schreyvogel, ich erwarte Sie morgen um elf Uhr auf meinem Büro, Sandgasse Nummer 11. Notar Steppe.

Sehr angenehm, höre ich mich noch halb wie im Traum flüstern. Aber wieso –?

Bitte mit der Frau Gemahlin.

Zum ersten Male hatte jemand Karla Schreyvogel ›Frau Gemahlin‹ genannt. Diese Anrede muß Kerlchens Hirn blitzartig erleuchtet haben. Ich habe es, Max! rief sie aufgeregt. Onkel Eduard ist gestorben, und wir erben!

Ich sage nichts! rief der Bärtige eilig. Erwarten Sie nichts! Also morgen früh um elf! – Kommen Sie, Fiete! Sie haben von Eduarda Akt genommen? Gut! Guten Tag, Herr Schreyvogel. Empfehle mich, gnädige Frau!

Gnädige Frau – auch das noch! Wir starrten beide atemlos, als seien wir einen steilen Berg hinaufgelaufen, die wieder geschlossene Tür an.

Wir waren einen steilen Berg hinaufgelaufen, einen Berg, den die meisten Mitmenschen nie erklimmen.

(Und den nicht zu erklimmen besser ist.)

2. Kapitel

Dauerlauf zum Büro – Was werden wir erben? – Ein Sack Zwiebeln und eine Kiste Zitronen

Wir werden ja nun bald erfahren, was wir damals bei unserm Sturmlauf auf das Büro der Vira noch nicht wußten, warum nämlich der Notar Steppe von unserer Tochter hatte Akt nehmen lassen, oder vielmehr von ihrem Namensaufruf. Aber zur Stunde waren wir noch gänzlich ahnungslos, starrten uns an, hatten Herzklopfen, wollten hoffen und brachten doch nicht den Mut dazu auf – um hinterher nicht zu bitter enttäuscht zu sein ...

Ich muß laufen! hatte ich schließlich gerufen, in unser erstes verwirrtes Wundern hinein. Nur noch elf Minuten bis zwei! O Gott – und Kracht hat soo schlechte Laune!

Ich laufe mit! hatte Karla gesagt und nahm schon aus dem Schrank ihren Mantel.

Aber die Mücke schläft noch nicht! – Nein, Karla, wie konntest du sie nur Eduarda rufen?! Sogar die Herren haben einen Schreck bekommen!

Karla zog die Augenbrauen hoch.

Ich weiß es nicht. Es war wie eine Eingebung – vielleicht, weil sie so unanständig war. So was, den Herren ihren Pöker zu zeigen! Pfui, Mücke, das tust du aber nie wieder, fremden Onkels deinen Pöker zeigen! Sonst wird die Mummi ganz traurig, nicht wahr? Und du wirst jetzt gleich einschlafen, ja? Mummi muß schnell mit dem Papa weg – aber sie ist gleich wieder da!

Ich schlaf nie und nie, wenn du nicht da bist, Mummi ... sagte die Mücke sehr weinerlich.

Endlose Verhandlungen, Bonbonversprechungen – sieben Minuten vor zwei liefen wir los, und wenn ich schnell gehe, brauche ich zwanzig Minuten ins Büro.

Wir liefen durch die Straßen, Karla auf ihren langen Beinen neben mir – sie sieht aus wie ein Junge, keiner glaubt ihr ein fünfjähriges Mädel (und nun erst eine gnädige Frau!). Es war noch gut, daß es neblig war, wir benahmen uns unglaublich! Wir liefen Trab und schrien uns dabei an – große, sehr erregende Fragen beschäftigten uns: Werden wir erben? Wann werden wir erben? Wieviel werden wir erben?

Das klingt sehr gemein, wenn ich es hier so nackt hinschreibe, es klingt verdammt geldgierig. Und es sieht auch häßlich aus, daß wir dem doch wahrscheinlich soeben erst verstorbenen Onkel Eduard nicht einen bedauernden oder freundlichen Gedanken gönnten.

Aber ich schreibe hier alles so, wie es wirklich war, nieder für unsere Nachkommenschaft, zu unserer Rechtfertigung. Denn wenn fünf Kinder, siebzehn Enkel und alle Urenkelei einmal erfahren, daß Karla und Max Schreyvogel vieles besessen haben, sie aber erben nichts, so könnten sie mit Zorn und Verachtung an uns denken. Das will ich schon um der Karla willen nicht haben, die sich die redlichste Mühe gegeben hat, während ich allerdings – doch das werden wir alles noch an seinem Platz erfahren!

Von Geldgier, liebe Nachkommenschaft, kann bei uns überhaupt keine Rede sein. Wer wie wir an jedem Monatsletzten bare 178 Mark ausbezahlt bekommt, von denen sofort weit über die Hälfte für Miete, Gas, Elektrisch, Zeitung und Läpperschulden abgeht, der hat von Geld überhaupt keinen Begriff. Sondern wenn Karla und ich von Erbschaft und Geld redeten, so meinten wir gar nicht Geld, sondern die Sachen, die wir uns davon kaufen wollten: einen Teppich für die Stube, etwas sehr notwendige Bettwäsche, einen Anzug für mich, der Mücke ein größeres Bettchen und für Karla einen wärmeren Mantel.

Beim kleinen Mann ist Geld etwas ganz anderes als beim großen: Es findet keine Stätte bei ihm, sondern läuft nur durch, ein viel zu eiliger Gast, um auch nur ein Zehntel seiner Wünsche zu erfüllen. Während es beim großen Mann auf dem Bankkonto ruht und er nur einen Scheck auszuschreiben braucht, wenn ihn ein Wunsch besucht – es kommt aber keiner mehr.

Ich kann davon mitreden, ich bin beides gewesen: kleiner Mann und großer Mann. Kleiner Mann bin ich jetzt, da ich dies schreibe, wieder, aber es ist nicht mehr dasselbe wie vor und an jenem Tage, da wir mit aufgeregt roten Backen durch den Nebel in das Büro der Vira liefen. Wer einmal vom Baume der Erkenntnis gegessen hat, bekam einen bitteren Gaumen; wir können alle nicht mehr in der alten herrlichen Unschuld die Spiele unserer Kindheit spielen!

Und was bedeutete uns überhaupt an jenem ersten November Erben?! Wir stellten in der Eile die ›nötigsten‹ Anschaffungen zusammen und waren zu jedem Abstrich bereit. Zwar wußte ich mehr als Karla, durfte es ihr aber nicht sagen, daß nämlich Herr Eduard Schreyvogel-Gaugarten mit der Vira eine Lebensversicherung auf hunderttausend Mark abgeschlossen hatte, denn das war Berufsgeheimnis. Trotz dieses Sonderwissens verstiegen sich meine Erwartungen aber nicht höher als auf zwei- oder dreitausend Mark. Denn ich dividierte meine Hoffnungen noch durch mindestens vierzig mir bekannte Schreyvogel. Vielleicht aber waren es gar siebzig oder achtzig – ich kannte sie bestimmt nicht alle!

Von Geldgier kann also nicht die Rede sein, das muß ich doch zu unserer Ehre sagen. Wir waren genau wie die Kinder vor der Tür vom Weihnachtszimmer am Heiligen Abend. Ist es nicht das große, goldgezierte Puppentheater aus dem Schaufenster geworden, so freut uns doch ebenso der bunte Hampelmann. Und überhaupt ist die Vorfreude auf den Lichterbaum mit dem goldenen, sich langsam drehenden Flitterstern an seiner Spitze schon Freude genug!

Was aber den armen, vermutlich soeben verblichenen Onkel Eduard anlangte, so kannten wir ihn von Person überhaupt nicht, und es wäre bare Lächerlichkeit gewesen, von uns Trauer zu verlangen. Auch brieflich hatte er sich uns nie weiter mitgeteilt, als daß er auf die Nachricht von Geburt und Taufe unserer ›Eduarda‹ einen Sack Zwiebeln und eine Kiste Zitronen gesandt hatte – mit dem höhnischen Brieflein: so könnten wir doch leichter weinen über das entgangene Patengeschenk und uns angenehmer trösten bei einem Kontoristengehalt!

Damals hatte ich getobt über das eklige Raubein und mir geschworen, ihm nie wieder eine Zeile zu schreiben – was ich auch wirklich nicht getan habe. Und ich habe gegrollt mit meiner lieben Mutter, daß sie uns in ihrer Vorsorglichkeit überredet hatte, die Mücke Eduarda zu taufen, nach dem Satz: nützt es nichts, so schadet es nichts – und das Kind bekommt es vielleicht einmal leichter!

Arme Mutter, du bist glücklich, du hast es nicht mehr erlebt, daß deine Kinder in den Genuss deiner Vorsorglichkeit kamen! Und armer, alter, ekliger Onkel Eduard – heute verstehe ich besser, daß du solch ein Raubein und Menschenfeind wurdest! Wer krank und einsam immer nur Schnorrer und Erbschleicher um sich spürt – der muß sein Herz verhärten!

3. Kapitel

Feindschaft zwischen Karla und dem Apostel Paulus – Der böse Subdirektor K. H. Kracht – Eine Haselnuß für dreiunddreißigtausend Mark

Mit Schrecken merke ich eben beim Überlesen des Geschriebenen, daß ein mir recht unangenehmer trauervoller Ton aus meinem Bericht über diesen ersten November klingt.

Das ist mir aber gar nicht recht. Trauer und Wehmut empfinde ich wohl heute, rückschauend, beim Niederschreiben. Aber an jenem Tage waren wir noch ganz ahnungslos glücklich, ich habe es ja schon gesagt: wie Kinder vor der Weihnachtsstube!

Betrübt bin ich heute, daß so selig Begonnenes so unselig ausging, aber damals hatten wir beide Herz und Hirn voll der schönsten Träume, voll unglaublicher Erwartungen – bis zu einem Markwert von Dreitausend. Und beide einen nicht zu stillenden Lebensappetit. Unser Vitaminhaushalt war sicher nicht völlig in Ordnung, aber wir hatten trotz spärlicher Vitamine die allerschönsten roten Backen – auch Hoffnungen sind Vitamine, unerläßlich einem jeden Leben –!

Ich komme nun auf den Apostel Paulus.

Neun Minuten nach zwei! rief ich vor der Tür der Vira. Kracht wird krachen!

Maxe! rief Karla dagegen. Die Mücke schläft jetzt bestimmt! Ich laufe schnell noch einmal in die Sandgasse und sehe mir das Haus an! Welches Haus –?

Ach! Aber du, Maxe! Das vom Notar Steppe natürlich! Zu denken, daß er da vielleicht oben sitzt und vielleicht schon weiß, was wir vielleicht erben werden –! Also, ich lauf ganz schnell, in zwanzig Minuten spätestens bin ich wieder bei der Mücke! – Tjüs, Maxe!

Tjüs, Kerlchen!

Sie lief schon, ihre Absätze tanzten klipp-klapp über das Pflaster. Sie drehte sich noch einmal um, sie rief: Und daß du mir dem Apostel Paulus noch nichts erzählst! Der verdirbt uns doch bloß allen Spaß mit seinem Unken!

Knapp entging sie dem Anprall gegen einen älteren Herrn, denn sie hatte von mir fortlaufend zu mir hingeredet. Sie winkte, sie wehte um die Ecke.

Ich betrat das Büro.

Fräulein Wenzel und Fräulein Wendel – diese beiden ähnlichen Namen und unähnlichen jungen Damen haben sich erst auf unserm Büro kennengelernt – saßen schon schmetternd hinter ihren Maschinen. Paulus Hagenkötter sah von seiner Kartothek hoch, nickte mir mit seinem langen weißen Gesicht ernst zu und fragte: Wieder mal das Essen nicht rechtzeitig fertig gewesen? Herr Kracht hat schon zweimal nach dir gefragt!

Doch, das Essen war rechtzeitig fertig, Paulus, antwortete ich, ärgerte mich aber und setzte mich also stumm ihm gegenüber an meine Mahnbriefe wegen rückständiger Versicherungsprämien. Paulus Hagenkötter ist mein bester Freund, ja, er ist der einzige Freund, der mir aus meiner Junggesellenzeit verblieben ist – allen Widerständen zum Trotz. Wer verheiratet ist, dem brauche ich nicht zu sagen, woher diese Widerstände kamen, nämlich von der jungen, nämlich von Frau Karla.

Ein Jüngling, wenn er jung heiratet, wie zum Beispiel ich, erlebt staunend, wie seine junge Frau ihm einen ganzen Heerbann Freundinnen in die Ehe einbringt, seine paar eigenen Freunde aber werden ihm erbarmungslos ausgetrieben. Sie verräuchern mit ihren Zigaretten die Stube, erzählen unpassende Geschichten, haben nur ihren Skat im Kopfe und eine ganz unverantwortliche Vorliebe für Gastwirtschaften und Bier. Unerbittlich werden sie hinausgeekelt. Der junge Ehemann braucht kein Wort zu sagen, von selbst kommen sie immer seltener, bleiben schließlich ganz fort. Verlegen sagt man bei zufälligem Treffen auf der Straße einander grade noch guten Tag – beide haben ein schlechtes Gewissen: der Junggeselle, daß er sich, der Ehemann, daß er ihn austreiben ließ.

Paulus Hagenkötter ist mein, richtiger Freund: er hat alle Widerstände und Prüfungen überdauert. Ich gebe zu, er hat eine etwas essigsaure, trübe Art an sich, aber die ist bloß äußerlich. Sicher ist es für Karla und ihre Freundinnen nicht angenehm, wenn Paulus mit seinen dünnen, immer blassen Lippen haarscharf flüstert: Weiber! – Komm, Max, wir setzen uns allein und unterhalten uns ein bißchen wie – Menschen!

Wir gehen dann in unsere Schlafmansarde, er setzt sich auf mein Bett – immer nur auf meines! –, ich mich auf das von Karla, und er erzählt mir dann von den Erfindungen, die er machen möchte: dem knopflosen Anzug, den man mit einem Griff an- und auszieht; dem Wasser- und Landautomobil; und dem Schönsten, was er sich ausgedacht hat: der Lampe, die man am Tage anknipst, und die das Zimmer dunkel macht!

Sicher, es ist peinlich für Karla und ihre Freundinnen, daß er sie von all diesen Gesprächen ausschließt, daß er sie ein wenig wie Wesen niederer Geisteskraft behandelt. Aber Karla müßte auch nicht so viel über ihn spotten, über seine langen, knochigen, immer ein wenig kalten Hände, seine messerscharfen Bügelfalten, seine Vorliebe für spitzes Flüstern, und vor allem über seine Hartnäckigkeit, mit der er darauf besteht, Paulus, nicht Paul genannt zu werden.

Ich bin so ein Mensch, der es in seiner Umgebung am liebsten friedlich hat, und ich habe schon die wildesten Streitereien mit Karla durchgefochten – wir zanken uns manchmal schrecklich –, weil sie ewig über Paulus spottet. Schließlich wäre mein Freund vielleicht ein großer, weltberühmter Erfinder geworden, hätte er nicht seit der Volksschule am Pulte der Vira sitzen müssen. Jedenfalls ist es nicht richtig von ihr, alle Erfindungen von Paulus als Quatsch oder überspönig zu bezeichnen. So eine Nachtsonne, wie sie Hagenkötter genannt hat, wäre eine herrliche Sache. Ich wäre nie auf so eine Idee gekommen, aber Karla hat gar keinen Respekt vor Ideen, sie fragt ihn einfach: Wann wirst du eigentlich Abteilungsvorsteher, Paulchen? Du bist doch schon bald dreißig –?

Dann kneift Paulus seine dünnen Lippen fest zusammen, weil er sich nämlich sehr ärgert, und sagt dann flüsternd: Liebe Karla, nimm drei Eiweiß, schlage sie zu Schaum, tue sie deiner Freundin Sigrid in den Verstandeskasten statt des Hirns – und nicht einmal Sigrids Freund wird die geringste Veränderung an ihr bemerken.

Sigrid hat gar keinen Freund! hatte Karla zornig gerufen. Oh, was bist du gemein, Paul, mit deinen Verdächtigungen!

Diesen Streit zwischen den beiden hatte es grade am Abend zuvor gegeben. Aber ich war natürlich auch nicht still gewesen und hatte es mit Schimpfen und Zureden dahin gebracht, daß die beiden sich wieder ausgesöhnt und versprochen hatten, von nun an Frieden zu halten – weil sie mich doch beide gerne mochten. Darum ärgerte ich mich ja auch so über Paulus, daß er nun gleich Karla verdächtigte, wieder einmal mit dem Essen unpünktlich gewesen zu sein.

Eine Weile arbeiteten wir schweigend einander gegenüber. Dann fühlte ich, daß Paulus mich ansah. Ich sah sofort zu ihm hoch, denn ich bin kein Muckscher. Seine Augen glänzten, wie immer, wenn ihn eine schöne Idee überkommt.

Er streckte mir die Hand über unsern Tisch hin – ich ergriff sie natürlich gleich – und sagte: Du, Max, was mir eben eingefallen ist. Man müßte einen fahrbaren Staubsauger konstruieren, mit einem Saugmundstück genauso breit wie die Fahrbahn der Straßen. Dann brauchte man nur einmal die Straßen lang zu fahren und hätte sie blitzblank. – Wäre das nicht schön?

Großartig! rief ich. Und flüsterte: Du, Paulus ... Es ist aber noch tiefes Geheimnis ... Du sollst es eigentlich noch gar nicht wissen ... Ich glaube, wir erben ...

Paulus ließ meine Hand los, kniff die Lippen zusammen, sah mich prüfend an und flüsterte: Dein Onkel Eduard? Gestorben –?

Ich weiß noch nichts ... Nur ... Herr Notar Steppe war heute bei uns ...

Steppe? Justizrat Steppe aus der Sandgasse? Den kenn ich vom Sehen! Einen bösen Blick hat der Mann ... Trau ihm nicht, Maxe, laß dich nicht mit dem ein, der zieht dir bestimmt das Fell über die Ohren! Geh lieber zu Rechtsanwalt Mehltau ...

Aber Paulus! Herr Steppe hat doch nur gesagt ...

Nun, meine Herren? Eine kleine Privatunterhaltung, wie? Wir kommen zwar nicht rechtzeitig auf das Büro, kürzen uns aber immerhin gerne die verhaßte Arbeitszeit durch muntere Gespräche, ja?

Auf Gummisohlen herangeschlichen stand der Subdirektor der Vira, Herr K. H. Kracht, neben uns. Sein rundes Mondgesicht glänzte ölig.

Ja, mein lieber Schreyvogel, was haben wir denn diesmal zu unserer Entschuldigung vorzubringen?

In Kürze sollte ich Gelegenheit haben, Herrn Direktor Kracht privat kennenzulernen, und ich muß sagen, in seiner Villa beim Radebuscher Plänterwald gab er einen reizenden Ehemann – eine Spur unter dem Pantoffel – und den liebevollsten Vater ab. Doch im Büro war Herr Kracht einfach ein Albdruck mit seinen süffisanten, höhnischen Reden, er jagte mir wahre Angstschauer ein, wenn er mich mal ›erwischte‹. Wahrscheinlich meinte er es gar nicht so schlimm, zog bewußt dies Stachelkleid an, um seine Gutmütigkeit, die ein Chef nun einmal nicht haben darf, zu verbergen, und übertrieb es dabei, wie alle Gutmütigen. Ich habe mich als sein Angestellter nie von dem Gedanken freimachen können, daß die Gehaltszahlungen des Herrn K. H. Kracht genau 100 Prozent der Schreyvogelschen Einkünfte ausmachten – solch ein wichtiger Mann hat es leicht, Angst zu machen.

Ich verlor denn auch diesmal auf der Stelle den Kopf und stammelte irgendwelch zusammenhangloses, törichtes Zeug von einem geschäftlichen Besuch, dringender Abhaltung ...

Geschäftsbesuch –? Wir treiben wohl so kleine, unerlaubte Nebengeschäfte, Herr Schreyvogel –?

Ich protestierte kläglich: Nein, Herr Notar Steppe –

Und biß mich auf die Lippe.

Steppe – was haben Sie denn mit Herrn Notar Steppe zu tun? Er zieht wohl Erkundigungen bei Ihnen ein über –?

Es scheint eine fixe Idee vieler Chefs zu sein, daß ihre Angestellten leichtsinnig mit dem Geschäftsgeheimnis umgehen und daß alle Welt zu erfahren lechzt, nach welchen Prinzipien auf dem Büro der Vira die Korrespondenz abgelegt wird.

Herr Kracht war jetzt ganz blaß, keine Spur von Lächeln lag mehr auf seinem Vollmondgesicht. Fräulein Wendel und Fräulein Wenzel hatten aufgehört zu tippen und waren bestimmt ganz Ohr. – Nur Hagenkötter sah nicht auf; er setzte, als höre er gar nichts, den Kartothekkasten mit einem ›Bumm‹ in sein Fach.

Nein, bestimmt nicht, Herr Direktor, sagte ich ängstlich. Es war ein ganz privater Besuch von Herrn Steppe, das heißt, ich meine, ich darf noch nicht darüber reden ...

Es ist Ihnen also von Herrn Justizrat Steppe Schweigegebot auferlegt worden? Sehr eigentümlich!

Nein, nicht vom Herrn Justizrat, sondern von meiner Frau –. Das heißt, wir wissen noch gar nicht ...

Ich gebe zu, ich benahm mich wie ein Idiot. Karla hatte nur verboten, dem Apostel Paulus etwas zu erzählen. Dem Paulus erzählte ich sofort alles, aber den Direktor jagte ich mit sturer Verschwiegenheit in die schwärzesten Verdächte ...

Herr Kracht betrachtete mich finster aus seinen schwarzen, runden Augen. Zwar ist heute schon der Erste, Herr Schreyvogel, sagte er abgerissen. Wenn mir recht ist, arbeiten Sie bereits seit sechs Jahren bei mir ... Aber wenn Sie sich zu verändern wünschen, jeder Termin ... Da hohe Justizpersonen Sie sogar in Ihrem Heim aufsuchen ... Ich habe nie in meinem Leben auf Dankbarkeit gerechnet, Herr Schreyvogel ... Aber immerhin, ich werde Sie nicht flehend in Ihrer Wohnung aufsuchen ... Ich werde mich nicht um Sie bemühen ...

Bestürzt hörte ich dies bittere, zusammenhanglose Gerede an. Aber ich war so verwirrt, daß ich trotz eines mahnenden Blickes von Freund Paulus wieder im Unsinn ertrunken wäre, wenn Hagenkötter nicht eingegriffen hätte.

Herr Schreyvogel-Gaugarten ist gestorben, sagte er halblaut. Es scheint, unser Schreyvogel hier gehört zu den Erben.

Das heißt, ich weiß noch nichts! rief ich beschwörend.

Herr Direktor Kracht wippte elastisch auf den Zehenspitzen. Selbst ich in meiner Verwirrung sah, wie erleichtert mein Brotgeber war, einem bösen Verdacht Valet sagen zu können.

Aber da muß man ja gratulieren! rief er in einem ganz anderen Ton. Das heißt – und er zog sein Gesicht in ernste Falten –, vor allem ist es meine Pflicht, Ihnen zu dem Ableben Ihres Herrn Onkels zu kondolieren. Mein herzlichstes Beileid, Herr Schreyvogel –!

Herr Direktor, ich danke Ihnen sehr –!

Zum erstenmal lag es mir ob, mit ernstem Nachdruck eine dargereichte Hand zu schütteln und meinem Gegenüber gehalten trauervoll ins gehalten trauervolle Auge zu blicken. Ein Akt, den ich in den nächsten Tagen noch oft wiederholen sollte; bei dem ich mich immer gefragt habe, ob meinem Gegenüber auch so töricht zumute war wie mir.

Und was erben wir denn, mein Lieber? fragte Herr Kracht in ganz anderem, fast fröhlichem Ton. Wir werden doch nicht gar Rittergutsbesitzer? Gaugarten soll ja eine Musterwirtschaft sein. Ich glaube, meine Frau bezieht ihre Winterkartoffeln von dort.

Ein veränderter Kracht, ein menschlicher Kracht. Bis dato hatte er noch nie seine Familie auf dem Büro erwähnt. Wie von einem Zauberstabe angerührt.

Ich weiß noch nichts, sagte ich eilig. Herr Justizrat hat mir nichts gesagt.

Selbstverständlich! Natürlich!! lachte Herr Kracht. Ich habe ja auch nur einen Witz gemacht. Sie haben sich wohl schon als Rittergutsbesitzer gefühlt –? Hähähä –!

Er lachte, die Wendel und die Wenzel lachten natürlich pflichtschuldig mit, und auch ich verzog pflichtschuldig mein Gesicht. Nur Paulus Hagenkötter blieb sterbensernst.

Hier in Radebusch gibt es ja Schreyvögel, wohin man spuckt! fuhr der verwandelte Kracht eifrig fort. Ebenso in den umliegenden Dörfern. Das Erbe wird sich sehr zersplittern. Landbesitz läßt sich zur Zeit schlecht verkaufen, und ob Barvermögen da ist ...

Er stand plötzlich lauschend, als behorche er einen tief in seinem Innern wachwerdenden Gedanken.

Paulus Hagenkötter wußte schon wieder Bescheid. Jawohl, Herr Direktor, flüsterte er. Herr Eduard Schreyvogel hat eine Lebensversicherung bei uns laufen ...

Hunderttausend Mark! rief Herr Kracht klagend. Und ich freue mich noch für Sie, Herr Schreyvogel! Sicher sind Prämien noch nicht zur Hälfte der Versicherungssumme eingezahlt! Solche Leute sterben immer früh. Laufen Sie doch, Schreyvogel, holen Sie den Prämienberechnungsbogen! Wir wollen sehen ... Aber wenn die letzte Prämie nicht auf die Stunde pünktlich bezahlt ist – wir weigern uns! Wir prozessieren mit der Erbmasse! Und ich kondoliere Ihnen noch, Schreyvogel, mir selbst hätte ich kondolieren sollen! Das ist ein Schlag! Und ich habe gedacht, wir bekämen mal einen guten Jahresabschluss! Hunderttausend Mark Auszahlung, für Ihren Onkel, Herr Schreyvogel! – Wer hat die Versicherung gebracht? Unser Agent Bouterweck! Ich sage ja, Bouterweck ist ein Unglückshuhn; die Sterblichkeit unter den Fällen, die er bringt, ist katastrophal! Wieviel sind also eingezahlt?

Siebenundsechzigtausend mit Zins und Zinseszins.

Es ist ja etwas besser, als ich gedacht habe, aber immerhin, wir legen dreiunddreißigtausend Mark drauf! Dreiunddreißigtausend, Herr Schreyvogel – für Ihren Onkel! Warum sind wir nicht rückversichert? Ja, ich weiß, Fräulein Wendel, Sie brauchen mir nichts zu erzählen, ich kenne meine Policen! Ich habe mich damals erkundigt: Junggeselle, gönnt sich nichts, nie krank gewesen – hundert Jahre hätte der Mann alt werden müssen! Aber natürlich, kaum versichern wir den Mann, stirbt er schon nach zwölf Jahren! – Bouterweck, natürlich, da sind Sie endlich, Sie Unglückshuhn! Jetzt, wo es zu spät ist, kommen Sie! Haben Sie schon gehört, Schreyvogel-Gaugarten ist gestorben, und mein Kontorist hier ist lachender Erbe ...?

Jawohl, tief bedauerlich – das heißt, also mein herzlichstes Beileid, Herr Schreyvogel!

Wieder nahm ich eine Hand, wieder sah ich in ein gehalten trauervolles Auge.

Dann sagte Bouterweck: Es war ein unberechenbarer Unglücksfall, Herr Kracht. Ich kann wirklich nichts dafür ...

Das sagen Sie immer, Bouterweck!

Also, der Mann hat eine Nuss geknackt, mit den Zähnen, verstehen Sie, Herr Kracht! Mit den Zähnen! Der Zahn bricht ab, er verschluckt ihn, der Zahn setzt sich im Blinddarm fest, Entzündung, Nimsdorf will noch operieren, Patient weigert sich hartnäckig. Schließlich doch Operation, zu spät, völlige Vereiterung, exitus letalis!

Exitus letalis! wiederholt Herr K. H. Kracht. Ich sage es meinen Kindern auch immer! Merken Sie es sich für Ihr Leben, meine Damen und Herren: nie Nüsse mit den Zähnen knacken! Dreiunddreißigtausend Mark kostet uns diese mit den Zähnen geknackte Haselnuss!

4. Kapitel

Streit um einen Nußknacker – Erbschafts-Phantasien – Karla fordert Verfügung über ›unser‹ Geld

Der gegen Abend dichter gewordene Nebel hatte die Freundinnen Karlas unserm Heim ferngehalten, zum Segen unserer inneren Ruhe. Es wäre nicht abzusehen gewesen, wohin drei oder vier junge Mädchen und Frauen unser Erbschifflein mit dem Wellenschlag ihrer Zungen getrieben hätten!

In der Kammer murmelte sich die kleine Mücke stets leiser und undeutlicher in den Schlaf – sie hatte die drei Seidenhüte schon wieder vergessen über der Oma Böök, unserer Mansardennachbarin, die bei ihr mit Märchen eingehütet hatte.

Unser einziger Gast an diesem friedvollen Abend war Paulus Hagenkötter, und er sorgte dafür, daß wir uns nicht in Erbschaftsphantasien verloren; seine Phantasie ging andere Wege.

Wenn ihr von eurem Erbteil über das Notwendigste fünfhundert Mark erübrigen könntet, sagte er und rieb sich langsam zwischen den Knien seine knochigen Hände, so wüßte ich eine Idee für euch, die so vieles einbrächte, daß ihr die ganze Erbschaft entbehren könnt. Ja, sie machte uns alle drei bestimmt zu reichen Leuten!

Erzähle, Paulus! bat ich.

Karla schoß über ihre Häkelei fort einen schnellen, scharfen Blick auf Paulus, aber sie schwieg, wie meistens, wenn sie ohne weiblichen Beistand zwischen uns Männern saß.

Die Idee ist mir gekommen, sagte Paulus nachdenklich, als Bouterweck von der Todesursache deines Onkels erzählte. Alle Menschen knacken Nüsse gerne mit den Zähnen, wenn sie auch hundertmal wissen, es tut nicht gut. Ich habe mir einen kleinen Apparat überlegt, billig in der Herstellung, zwei Stahlblechplatten, mit Scharnier und Feder schräg zueinander gestellt und auf die Zähne aufzusetzen – damit knackt jeder Mensch sich seine Nüsse im Munde und schadet seinen Zähnen doch nicht. Warte, ich zeichne es dir auf ...

Er skizzierte eifrig. Ein wenig besorgt sah ich nach Karla hin, die unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rückte.

Siehst du, Max, zeigte mir Paulus das Bildchen. Es ist gewissermaßen ein aufgesetztes Gebiss mit zwei stählernen Gaumenplatten. Hinten zwischen den Platten ist die Feder eingebaut, von der die Platten wieder auseinandergedrückt werden, wenn die Nuss geknackt ist.

Er sah die Zeichnung noch einmal nachdenklich an. Ich glaube, es ist eine patentfähige Lösung, sagte er. Dein Onkel Eduard lebte noch, wenn er diesen Apparat für fünfzig Pfennige gekauft hätte. – Leuchtet es dir ein, Max? Gefällt es dir?

Ganz großartig, Paulus! rief ich. Du hast einen Kopf für Erfindungen –! Wie gesagt, Kerlchen und ich, wir haben uns schon überschlagen, daß wir gerne für vielleicht tausend Mark Anschaffungen machten. Aber wenn wir mehr erben, dann nehmen wir fünfhundert Mark ...

Nichts werden wir nehmen, gar nichts! rief Karla empört und sprang mit zornroten Backen von ihrem Stuhl auf. Wie kannst du dir bloß solchen Quatsch ausdenken, Paul, und du, Maxe, bist auch so ein Schaf und sagst zu allem ja, was von deinem Freund kommt!

Aber, bitte, Kerlchen, fang doch nicht wieder Streit an!

Willst du mir vielleicht erklären, Karla, wieso meine Erfindung Quatsch ist –?

Das will ich dir liebend gern erklären, Paulchen, wenn es euch großen Männern mit euren großen männlichen Gehirnen – hundert Gramm schwerer als die leichten weiblichen, ich hab's behalten, Paulecken! nicht von selber einfällt! Das Blechdings knackt vielleicht, ja, aber dann ist die Nuss zermatscht im Mund, mit allen Schalen! Die sucht man sich dann aus dem Mund heraus, wie –?!

Erlaube, Karla, die Schalen hat man auch im Mund, wenn man mit den Zähnen knackt! Und –

Erlaube, Paulchen, dann schiebt man sie mit der Zunge heraus – und wo läßt du die Zunge bei deinem Apparat? Und was macht man hinterher mit dem feinen Dings? Trocknet es mit dem Taschentuch ab und steckt es bis zum nächsten Gebrauch in eine eurer Männertaschen voller Peek und Tabak?!

Ein Etui ...

Alles für fünfzig Pfennig!

Der Streit war im allerschönsten Gange und ich wieder einmal hin- und hergerissen zwischen Frau und Freund. Kerlchen sah, von Wut und Verachtung sprühend, prachtvoll aus, sie ist das temperamentvollste Frauenzimmer, das ich kenne! Ich wundere mich immer, daß sie es an meiner Seite aushält, ich bin eher ein bißchen langsam. Aber Paulus war ihr völlig gewachsen, er wurde immer schärfer und essigsaurer. Sie brachte sein Blut in Wallung, ich wette, jetzt hatte er keine kalten Hände mehr!

Du hast eben nichts gelernt, Karla! Du weißt nicht, daß alle großen Erfindungen zuerst verlacht worden sind. Das Automobil ...

Ja, bau noch einen Motor in deinen Nussknacker ein, mit verschiedenen Gängen für Hasel- und Walnüsse! Aber von uns wird kein Pfennig für solchen Quatsch –

Wieder ein Irrtum. Der Ehemann hat die Bestimmung über die Gelder –

So siehst du aus! Deine Frau möchte ich mal kennenlernen! In deiner Ehe kaufst du wohl die Mohrrüben und die Schmierseife ein, Paulchen –?

Die Verteilung der einlaufenden Gelder, meine ich!

Meinst du –!

Meine ich –!

Aber wir haben ja gar keine einlaufenden Gelder! schrie nun ich. Hört doch endlich auf, ihr Kindsköpfe, mit eurer Streiterei! Oma Böök wird gleich an die Wand klopfen, weil sie nicht schlafen kann ...

Allmählich beruhigten sie sich. Wie gesagt, es war ein ganz friedvoll-freundschaftlicher Abend, unser letzter für lange Zeit. Eine Streiterei zwischen Karla und Paulus kann man nicht zum Unfrieden rechnen, die gibt es immer, die gehört dazu. Manchmal denke ich, sie sind meinetwegen einfach eifersüchtig aufeinander, aber das heißt die eigene Person wohl zu wichtig genommen.

Nun in ruhigerem Gespräch, erfuhr Karla auch von dem Zwischenfall heute nachmittag mit Direktor Kracht. Wie meist war sie recht unzufrieden mit meinem Verhalten. Sie sprach noch in der Nacht davon, als wir schon im Bett lagen.

Kannst du denn nicht ein ganz klein bißchen schlagfertiger sein, Maxe? Mir wären hundert Entschuldigungen eingefallen, wenn der eklige Kracht mich wegen Zuspätkommen gefragt hätte!

Ja dir, Kerlchen! Aber ich weiß nicht, wie es kommt, mir fällt immer erst drei Stunden später ein, was ich hätte antworten sollen.

Und mir fällt drei Stunden später ein, daß ich lieber nicht hätte sagen sollen, was ich gesagt habe. Daß ich wieder mal jemanden schrecklich beleidigt habe.

Sie lachte leise und sehr glücklich in sich hinein. Ich höre es immer so gerne, wenn sie ganz still zufrieden über sich, mich und die ganze Welt lacht. Wir sind ja doch bloß alles kleine Männerken und nehmen uns schrecklich wichtig.

Ich war schon beim Hinübergleiten in den Schlaf, so schön entspannt in der Wärme, als Karla plötzlich ganz wach rief: Du, Maxe! Schläfst du schon –?

Beinahe ...

Hör mal, Maxe! Also für tausend Mark schaffen wir uns alles an, was ausgemacht ist. Aber wenn wir nun mehr erben, sagen wir mal dreitausend Mark, und du kriegtest tausend Mark, mit denen du machen könntest, was du wolltest, und ich auch – was würdest du dann mit deinen tausend Mark anfangen –?

Ach, Kerlchen, wir erben doch nie dreitausend Mark!

Ich sage ja bloß, wenn ...

Aber es wird doch nichts!

Du solltest es dir doch auch nur wünschen!

Ja, so in der Eile weiß ich wirklich nicht ... Was würdest du denn mit deinem Geld tun –?

Ich würde mir ein Motorrad kaufen, Maxe! Unbedingt –!!!

Karla ...!

Und eine schicke Hose und eine Lederkappe und eine Lederjacke – und dann würde ich alle freie Zeit im Lande herumrasen, dich oder die Mücke auf dem Sozius!

Aber, Karla –!

Was denn? Das ist mein allerschönster Traum, schon seit ich ein kleines Mädchen bin!

Aber, Kerlchen, wo du doch weißt, wie sehr ich die Biester hasse! Sie stinken immer und machen solchen Krach, und dann die Raserei ... Nie würde ich mich auf so ein Dings setzen!

Erst einmal stinken sie überhaupt nicht, erlaube mal! Das ist genau so, wie wenn du deinen Hund nicht putzt, dann stinkt er auch. Wenn du aber dein Motorrad putzt, stinkt es überhaupt nicht. Und Krach macht es auch nur bei Fahrern, die nicht fahren können. Wenn die natürlich gleich Vollgas abhauen, ehe der Motor warm geworden ist –! Nein, ein Motorrad kaufe ich mir unbedingt, du kannst schimpfen, so viel du willst!

Dann ist es ja gut, daß wir nie und nie dreitausend erben. Im Büro haben wir über hundert Schreyvögel zusammengerechnet, alle Kinder natürlich mitgezählt.

Und was würdest du mit deinen tausend Mark machen, Maxe?

Aber, Karla, ich habe dir doch eben erklärt, wir können gar nicht so viel erben!

Nun sag schon, Maxe! Wünschen kostet doch nichts, und du hast es dir bestimmt auch schon überlegt!

Ich wollte, dieser Steppe wäre nie in unser Zimmer gekommen! Nun kann man nicht einmal mehr in Ruhe schlafen!

Sag schon, Maxe! Ich lasse dich dann auch bestimmt schlafen – großes Ehrenwort!

Natürlich hatte sie recht, natürlich hatte ich mir schon überlegt, was ich mit ›meinen‹ tausend Mark anfangen wollte.

Fünfhundertzehn Mark würde ich für die Mücke auf ein Sparbuch einzahlen ...

Warum denn grade fünfhundertzehn –?

Weil sie viereinviertel Jahr alt ist. Das macht genau einundfünfzig Monate zu zehn Mark! Und wenn dann so ein Anfang da ist, könnte man immer weiter alle Monate zehn Mark für sie zurücklegen, dann hätte sie später genug, um etwas Richtiges zu lernen, oder für eine schöne Aussteuer ...

Na schön, sagte Karla, aber ich hörte ihr an, daß sie nicht recht einverstanden war. Und was würdest du mit dem andern Geld machen?

Ja, weißt du, Karla – aber du wirst nicht zufrieden sein. Wir haben doch ausgemacht, daß jeder mit seinem Geld machen kann, was er will? Du kaufst dir ja auch ein Motorrad ...

Nun mach schon! Und was kaufst du dir also?

Ich würde die andern fünfhundert doch dem Paulus geben. Ich gebe ja zu, seine Erfindung ist noch nicht ganz durchkonstruiert, und vielleicht ist sie auch nicht notwendig. Aber er hat doch nie eine Ermutigung gehabt, und das Erfinden macht ihn doch so glücklich, und überhaupt ist er mein Freund ...

Ich wußte nicht mehr weiter, sie lag so still in meinem Arm.

Du, Kerlchen, du bist doch nicht böse, ich meine, weil ich Paulus ...?

Da hatte sie mich schon umgefaßt, riß mich an den Haaren und sagte: O du Schaf, du! Du grundgutmütiges Schaf du! Nun soll ich dir auch noch böse sein?! Nicht die Spur! Aber das schwöre ich dir: wenn wir etwas erben, und wenn es nur hundert Mark sind, du kriegst nicht einen Pfennig in die Hände, dein Freund Paul mag über das Gattenrecht sagen, was er will! Nicht über zehn Mark darfst du bestimmen, alles würden sie dir ja abschwatzen! Aber darin gebe ich dir jetzt ganz recht: wenn morgen Herr Steppe auf seinem Büro sagt: Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, es war ein falscher Irrtum – so weine ich nicht eine Träne, sondern sage: wer weiß, wozu's gut ist. – Und nun schlaf schön, Maxe, und träum auch was Schönes!

5. Kapitel

Eine Predigt vor tauben Ohren – Das Schuleschwänzen – Millionäre! – Ahnungslose Hühner mit guten Vorsätzen

Ich würde die Testamentseröffnung am nächsten Vormittag Punkt elf Uhr fünfzehn auf dem Amtsgericht unter der Obhut von Herrn Justizrat Steppe gerne ganz übergehen, aber ich kann unmöglich den alten Richter Schneidewind auslassen, trotzdem wir ihn nur eine Viertelstunde sahen und er überhaupt keine weitere Rolle in diesen Aufzeichnungen spielt.

Liebe Kinder, sagte der alte weißhaarige Mann und sah in dem trüben, dunklen, häßlichen Amtszimmer von seinen trüben, häßlichen Papieren hoch. – Liebe Kinder – als Richter und Jurist habe ich meine Pflicht getan, euch mit Testament und Erbteil bekanntgemacht und auf die einschlägigen Bestimmungen gebührend hingewiesen. (Den Brief Ihres verstorbenen Onkels haben Sie doch gut und sicher in Ihrer Tasche, Herr Schreyvogel?) Aber als alter Mensch möchte ich euch doch noch ein paar Worte sagen, da ich euch jetzt so ahnungslos jung und blühend vor mir stehen sehe ...

Er sah uns freundlich an durch seine Brille, freundlich und ein wenig traurig. Ich hätte ihm gerne die Hand gegeben, er meinte es sicher herzensgut. Aber ich hatte es so eilig, noch kein richtiges Wort hatte ich mit Kerlchen über diesen unfaßlichen Glücksfall reden können. Auch Justizrat Steppe räusperte sich ungeduldig.

Ich weiß, ich weiß! sagte der alte Mann. Ihr möchtet hinaus und euch erzählen, wie man sich fühlt, wenn man grade ein Millionär geworden ist! Ihr denkt, ihr seid noch dieselben, als die ihr heute früh aufwachtet: sehr jung und ohne große Ansprüche. Ihr denkt und werdet's noch die ersten Tag weiter denken, man kann ein Millionär sein und derselbe Mensch weiter bleiben. Liebe Kinder – wenn ihr nur Kinder bliebet! Aber nichts macht so schnell satt – und satt heißt alt – wie das Geld. Ihr werdet nun nicht nur erkennen, was die Menschen sind – nämlich nichts Gutes, sondern auch, was ihr seid – nämlich auch nichts Gutes.

Herr Justizrat Steppe räusperte sich mahnend, fast ein bißchen drohend. Ich fand diese Ansprache ja sehr nett gemeint, aber doch nicht ganz den richtigen Auftakt für unser neues Leben in Glück und Glanz. Die Karla neben mir hatte genau das Gesicht wie damals in der Matthäikirche, als uns Pastor Lenz traute: feierlich, aber bestimmt hörte sie kein Wort, sondern dachte an Einkäufe, Motorrad, Wünsche ...

Der alte Nachlassrichter Schneidewind lächelte, als er uns drei so sah: gedankenlos, ungeduldig, verlegen.

Ich predige tauben Ohren, sagte er. Aber, junger Mann, Sie haben ein ganz offenes Gesicht: bedenken Sie bei allen Enttäuschungen, die Sie an andern und an sich werden erleben müssen, daß der Mensch doch gut ist – Sie und die andern auch. Nur dem Gelde zeigt er seine schlechteste Seite. Vergessen Sie nicht ganz, an was Sie bis jetzt geglaubt haben, Gutes und Tatkräftiges, und verlieren Sie vor allem Ihre Jugend nicht –!

Er sah so rührend aus, als er mir seine Hand entgegenstreckte, als bitte er mich um eine Gunst. Ich nahm die Hand und schüttelte sie, ich glaube, ich murmelte etwas. Ich war auch gerührt, fest entschlossen, ein ›guter‹ Mensch zu sein, ohne doch genau zu wissen, in was dieses ›Gute‹ eigentlich bestehen sollte.

Also gehen wir, sagte der Justizrat energisch. Es muß vielerlei erledigt werden!

Was muß denn alles erledigt werden? fragte Karla und sah zögernd-sehnsüchtig die Straße entlang, auf die wir nun endlich gekommen waren.

Tausenderlei! sagte der kleine Justizrat energisch. Sie müssen immer bedenken, gnädige Frau, es ist ein großes Vermögen, ein sehr großes Vermögen! Ihr Herr Gemahl muß Akteneinsicht nehmen, Unterschriften sind zu leisten, die Erbschaftssteuer muß besprochen werden, wir müssen einen Erbschein beantragen ...

Aber das kann ja Stunden dauern! sagte Karla unentschlossen.

Stunden –? Tage! Liebe gnädige Frau, Sie werden sich daran gewöhnen müssen, ein so großes Vermögen (schon wieder!) bringt auch Pflichten mit sich, viele Pflichten. Wenn auch nur kurze Zeit seit dem Tode Ihres Herrn Onkels verflossen ist, liegt doch schon vieles vor, das entschieden werden muß ...

Und ich muß jetzt meinen Mann allein für mich haben! rief Karla. Wir müssen uns erst aussprechen. Herr Justizrat, wir müssen ...

Justizrat Steppe sah uns einen Augenblick unentschlossen an. Aber dann lachte er. Über sein kleines, dürres, bärtiges Aktengesicht ging ein Glänzen, etwas Trockenes, eigentlich – er verzeiht mir nie den Vergleich! –, als gähne eine Ziege.

Hähä –! Die Jugend, die goldene Jugend! Also wir wollen die Schule schwänzen, einen freien Tag haben? Bitte, meine Herrschaften, bitte!

Er lachte noch einmal sein Hähä, wurde jedoch sofort wieder ernst.

Aber morgen früh, um neun Uhr spätestens, komme ich zu Ihnen –!

Ich muß doch aufs Büro! In die Vira! Ich habe doch nicht gekündigt! rief nun ich.

Ins Büro –? Hähä! Herr Rittergutsbesitzer Schreyvogel geht aufs Büro – hähä –, der Millionenerbe als Kontorist – das wäre so ein Bild für die Illustrierten Blätter – hähä!!!

Ich war fast empört über seine alberne Lacherei, ich fand gar nichts Lächerliches dabei, wenn ich meine Kündigungsfrist einhielt. Die Mahnungen mußten pünktlich heraus, und so schnell fand Herr Kracht bestimmt keinen Ersatz.

Nein, nein, beruhigte mich Herr Justizrat, machen Sie sich gar keine Gedanken. Ich bringe das mit Ihrem Chef in Ordnung. Er wird sich ein Vergnügen daraus machen, Ihnen gefällig zu sein ...

Ich war dessen nicht so sicher, aber Karla sagte eilig: Also morgen früh um neun! Und jetzt dürfen wir wohl gehen, Herr Justizrat?

Ja ... sagte der Justizrat nachdenklich. Und plötzlich lebhaft: Aber, Sie können doch nicht da in Ihrer Mansarde wohnen bleiben, wo jeder hereinlaufen kann?! Wie sollen wir da arbeiten? Mein lieber Herr Schreyvogel, verehrte gnädige Frau, tun Sie mir einen Gefallen: ziehen Sie sofort um ...

Aber wir können doch nicht ...!

Wir waren aus allen Himmeln gefallen.

Unsere Sachen ...

Woher kriegen wir denn so schnell eine andere Wohnung?

Keine Möbel ...

Die Packerei ...

Das ist doch alles ganz einfach! sagte der Justizrat überredend. Später ziehen Sie natürlich nach Gaugarten ins Schloss ...

Ins Schloss ... wiederholte Karla gedankenvoll.

Jawohl, dreißig oder vierzig Zimmer! bestätigte der Justizrat stolz, als sei er der Besitzer dieser Zimmerfluchten. Aber in der ersten Zeit, wo noch so viel Geschäftliches vorliegt, wäre es besser, Sie blieben in meiner Nähe.

Unsere Wohnung, sagte Karla schwach.

Also das beste ist, Sie ziehen vorläufig in das Palast-Hotel. Ich werde dort anrufen und Zimmer für Sie bestellen. Eduarda ist Ihre einzige Tochter –? Ihr einziges Kind –? Gut ... Er zählte an den Fingern: Fünf, sechs, sieben Räume werden erstmal genügen. Wir müssen ein Arbeitszimmer für Sie haben, Herr Schreyvogel. Dann ein Konferenzzimmer. Ein Zimmer für Ihren Sekretär ...

Meinen Sekretär ... murmelte ich benommen. In meinem Kopf drehte sich ein Mühlrad. (Es sollte in den nächsten Wochen nicht wieder zum Stillstand kommen.)

Natürlich, einen Sekretär müssen Sie sofort haben, auch zwei, drei Stenotypistinnen ...

Stenotypistinnen für meinen Mann –? fragte Karla mit einem Drohen in der Stimme.

Selbstverständlich! Sie werden Briefe über Briefe bekommen, Sie werden sich vor Arbeit nicht retten können ... Aber wir stehen noch immer auf der Straße. All das bespricht sich viel besser auf meinem Büro. Verehrte gnädige Frau, Ihre Idee mit dem schulfreien Nachmittag (Hähä!) ist ganz reizend, aber Sie sehen selbst: tausend Dinge ...

Wir wollen unsern freien Tag haben! sagte Karla mit aller Energie. Morgen, was Sie wollen, Herr Justizrat, aber heute, der Tag gehört noch uns, nicht wahr, Maxe –?

Ich würde ja auch denken ... sagte ich schwach.

Aber dann gestatten Sie wenigstens, daß ich Ihren Umzug in das Palast-Hotel vorbereite? bat der Justizrat dringend. Sie können doch unmöglich  ... Eine Mansarde, überlegen Sie doch nur –! Sie sind doch jetzt ein Millionär, Herr Schreyvogel –!

Und wer soll packen?! rief Karla. Heute stelle ich mich unter keinen Umständen hin und ...

Packen –? fragte der Justizrat erstaunt. Aber doch der Packer des Spediteurs! Ich schicke meinen Bürovorsteher Fiete hin, unter seiner Aufsicht ...

Meine Sachen?! Ein Packer, Ihr Bürovorsteher – daraus wird nichts, Herr Justizrat! Meine Sachen packt keiner als ich!

Aber liebe, gnädige Frau! suchte der Justizrat meine zornige Karla zu beruhigen. (Aber die ›Gnädige Frau‹ machte schon gar keinen Eindruck mehr auf sie.) Sie haben jetzt unendlich viel Sachen, ich sagte schon, dreißig oder vierzig Zimmer voll, herrlich eingerichtet –! Kunstgegenstände, Original-Ölgemälde, teilweise mehrere Quadratmeter groß ...

Kunstgegenstände! rief Karla verächtlich. Von mir aus! Aber meine Wäsche rührt kein Packer von einem Spediteur an! Das sage ich Ihnen! Die habe ich als junges Mädchen Stück für Stück in meiner Hamsterkiste zusammengespart. Und überhaupt, Herr Justizrat, heute nacht wollen wir unbedingt noch in unserm alten Heim schlafen; was morgen wird, das werden wir ja morgen sehen –!

Sie blitzte ihn entschlossen an. Mit all ihrer Leidenschaft lehnte sie sich gegen das Joch auf, das er ihr auferlegen wollte.

Und jetzt adieu, Herr Justizrat. Ich muß nach meinem Kind sehen. Nach meinem Kind sehe ich auch allein, das soll mir kein Packer unter Aufsicht Ihres Bürovorstehers einpacken –!

Karla! bat ich, ganz erschrocken, daß meine Frau mit einem älteren, akademisch gebildeten Herrn so umsprang.

Aber der Justizrat lächelte nur. Sehr verehrte gnädige Frau, sagte er freundlich. Alles, wie Sie und Ihr Herr Gemahl – kurzer Blick auf mich – es wünschen! Ich will Ihnen doch nur behilflich sein! Und nun noch eine allerletzte Frage, ehe ich Sie endgültig gehen lasse: haben Sie Geld?

Geld? fragte ich und sah ihn etwas ängstlich an. Ich hatte mich schon eine ganze Weile davor gefürchtet, daß er von seinem Honorar reden würde.

Aber Karla verstand ihn besser. Geld! sagte sie stolz. Es ist doch grade erst Ultimo gewesen. Wir haben noch fünfundsechzig Mark, Herr Justizrat!

Fünfundsechzig Mark – hähä!

Diesmal war nun ich wirklich sehr nahe daran, wütend auf den Justizrat zu werden.

Aber sie können doch unmöglich ohne Geld herumlaufen ...

Von fünfundsechzig Mark haben wir einen ganzen Monat gelebt, fing Karla sehr scharf an.

Natürlich, natürlich! sagte der Justizrat eilig. (Er hatte Karla gegenüber keine glückliche Hand.) Sie werden in den nächsten Tagen Geld brauchen, auch kleinere Wünsche befriedigen wollen, trotzdem ich von größeren Anschaffungen abraten möchte, ehe Sie nicht gesehen haben, was alles Sie besitzen ... Aber vielleicht ein moderner Anzug für den Herrn Schreyvogel, ein Pelzmantel für die junge Frau ...

Wir sahen den listigen Verführer an wie die Kinder den Weihnachtsmann. Jetzt, jetzt legte er auch Karla das Joch auf den Nacken!

Wie gesagt, Sie brauchen Geld. Die Bankkonten Ihres Herrn Onkels werden erst nach Ausstellung des Erbscheins freigegeben. Aber ich bin Ihnen gerne behilflich ...

Ich habe noch nie Geld gepumpt –!

O Gott, kein Darlehen! Er hob flehend die Hände. Ich bin doch vorläufig noch Ihr Vermögensverwalter und – seine Stimme wurde sehr süß – hoffe es auch weiter zu sein, wenn ich Ihr Vertrauen erringen sollte ...

Wir sahen ihn atemlos an. Daß ein so würdiger alter Herr solche Verbeugung vor uns machen, uns so zwingend anlächeln würde – es war erstaunlich!

Ich habe hier einen kleinen Scheck. Er drückte mir das Papier in die Hand. Am Bankschalter einzulösen, Herr Schreyvogel. Gleich am Markt, die Landschaftliche Bank – ich habe Ihren Besuch schon angezeigt. Und jetzt – einen recht vergnügten Tag –!

Er zog seinen Hut mit unendlicher Höflichkeit, er lächelte uns an, es sollte wohl freundlich aussehen, aber er lächelte wirklich, als hätte eine Ziege Zahnschmerzen. Er ging. Wir starrten ihm nach, wir starrten ihm atemlos nach.

Dann sahen wir einander an.

Karla bewegte mit einem schwachen Lächeln die Lippen, aber sie sagte keinen Ton. Ich hob die linke Hand mit dem Scheck gegen das Gesicht, ließ sie dann aber entschlusslos wieder sinken.

Es war uns wie in einem Traum. Gleichzeitig wandten wir die Köpfe. Wir sahen die kleine, schwarze Gestalt des Justizrats durch den Nebel wie Rauch die Straße hinabgehen – eine Ecke, fort war er, wie aufgegangen in Rauch!

Gleichzeitig wandten wir einander die Gesichter wieder zu.

Es ist doch wirklich wahr –? flüsterte ich.

Zeig mal den Scheck, antwortete Karla leise.

Gemeinsam neigten wir uns über das grünliche Papier, den ersten, auf uns ausgestellten Scheck unseres Lebens ...

Fünftausend Mark, flüsterte ich atemlos nach einer langen Zeit.

Fünftausend Mark, klang ihr Echo.

Wir starrten weiter. Die Zahlen verschoben sich vor meinen Augen, die Nullen flossen ineinander, die Fünf griff über den Rand des Blattes, mein Herz fing rasend an zu pochen.

Dein Motorrad ... flüsterte ich.

Geld für Paul ... sagte sie.

Reisen ... nach dem Nordkap, nach Indien, in die Südsee ...

Abendkleider, ein Paddelboot ...

Ich sah sie an. Ich glaube, Karla, es ist wirklich wahr ...

Ja! nickte sie entschlossen. Da steht fünftausend Mark, wir sind richtige Millionäre ...

Sie schluckte. Dann, tapfer: Aber, nicht wahr, Maxe –?

Nicht wahr, Kerlchen –?

Es ändert nichts, für uns, meine ich ...

Es bleibt alles so, wie es ist ...

Zwischen uns, ja.

Und auch für die kleine Mücke.

Ja, für die natürlich auch.

Wir standen, hatten uns die Hand gegeben. Es war irgendwie feierlich, sehr groß. Größer als unsere Trauung damals. Als hätten wir uns erst jetzt endgültig und für immer einander versprochen ... Ich sehe uns da noch stehen, vor der häßlichen, geschwärzten Backsteinfassade des Amtsgerichts Radebusch. Es war neblig, naßkalt, ziemlich windig. Ich sehe uns da stehen, ich in meinem billigen, aber wunderbar gebügelten Sonntagsanzug von der Stange und mit dem rehbraunen Überzieherchen, der uns einmal äußerst schick vorgekommen war, der sich dann aber gar nicht gut getragen hatte. Und Karla mit ihren langen, schlanken Beinen, das blasse Gesicht mit den leuchtenden Augen über einem graumelierten, schmalen Kragen aus Lammfell, ein Filzhütchen schief aufgesetzt. Menschen gingen vorüber, aus und in das Amtsgericht, sie achteten nicht auf uns – auf uns junge, ahnungslose Hühner ...

Millionäre –! sagte ich, ganz überwältigt, und flüchtig kamen mir Bilder aus den illustrierten Blättern ins Gedächtnis mit smarten, reichen Leuten in Smoking und Frack, ungeheure Entscheidungen treffend und nachher tolle Orgien mit beunruhigend eleganten Damen feiernd ...

Ich weiß, ich fror, im Augenblick darauf war mir siedend heiß ...

Wir wollen sehen, daß wir recht viel Gutes mit dem Gelde tun, hörte ich Karlas Stimme von weither kommen. Ich gebe es Paulus wirklich gerne, auch mehr als fünfhundert, Maxe ...

Ja, das wollen wir, bestätigte auch ich. Für uns können wir es doch nie aufbrauchen.

Ahnungslose Hühner –!

6. Kapitel

Die Nachbarschaft macht sich bekannt – Lächelnder Bankkassier – Flucht eines Millionärs

Niemand, der eine richtige Frau Gemahlin zur Frau hat, kann ihr höflicher und eifriger eine Tür öffnen, als ich für Karla die Drehtür der Landschaftlichen Bank in Bewegung setzte. Natürlich hatte ich als Kontorist der Vira schon viele Male zur Bank gehen müssen, aber eben immer als Angestellter, nie in eigener Sache. Außerdem hatte ich stets zur Handelsbank gemußt, die das Institut der Gewerbetreibenden und des Handels ist. Die Landschaftliche Bank mit ihrer weißgoldenen Schalterhalle kam mir viel imposanter vor.

Ich hängte den Rehbraunen auf einen Haken neben einen veritablen Pelz, den Fahrpelz eines Rittergutsbesitzers – wie ich einer war. Karla nickte mir mit leicht zugekniffenen Augen Mut machend zu, und ich trat, den grünlichen Scheck in der Hand, an den Kassenschalter. Mein Weib blieb mir zur Seite und sah gespannt zu.

Vor uns war nur ein dicker Herr mit langem weißgelblichen Vollbart, wahrscheinlich die Füllung für den veritablen Fahrpelz. Er hatte eine etwas angreiferisch burschikose Art, mit dem blassen, ernsten Kassierer zu reden: Nee, junger Mann, drehen Sie mir bloß keine Hunderter an! Was glauben Sie, was ich mit Hundertern auf meiner Klitsche anfange?! Kein Aas wechselt die, kein Aas hat je einen Hunderter besessen, kein Aas kann mit einem Hunderter was anfangen. Immer klein machen, junger Mann, klein machen wird bei mir groß geschrieben!

Keine Miene verzog sich in dem Gesicht des Kassierers, weder Beifall noch Missbilligung war darauf zu lesen. Mit unglaublicher Schnelligkeit zählte er Scheine auf, schob Geldrollen durch das Fenster – Bitte sehr! sagte er schon zu mir.

Ich murmelte etwas wie ein Guten Tag, das ohne Antwort blieb, und reichte ihm meinen Scheck durch das Fenster. Der alte Herr neben mir stopfte sein Geld in eine Aktentasche und sah mich dabei flüchtig an.

Der Kassierer blickte auf den Scheck, ich fühlte förmlich, wie es ihm einen Ruck gab. Er warf einen Blick auf mich, dann wieder auf den Scheck, nun zurück auf mich – und lächelte ...! Das ganze ernste, blasse Kassierergesicht war ein höfliches, gewinnendes Lächeln ...!

Herr Schreyvogel! sagte er und reichte mir die Hand durch das Fenster. Gestatten Sie, daß ich Ihnen unser herzlichstes Beileid ausspreche – zu dem schweren Verluste ... Ihr Herr Onkel ... Er sah mich gehalten traurig an, ich sah ihn gehalten traurig an, von der Seite sahen uns Karla und der alte Herr zu ...

Schon lächelte der Kassierer wieder.

Gestatten Sie, daß ich Sie im Namen unseres Institutes als Kunde begrüße ... Unser Herr Direktor Kunze hat auch den Wunsch, Ihnen vorgestellt zu werden ...

Mit lauter Stimme: Herr Lehmann, Herr Schreyvogel-Gaugarten ist soeben gekommen ... Wollen Sie bitte Herrn Direktor Kunze benachrichtigen ...

Alle Gesichter, an allen Pulten, aus allen Schalterfenstern sahen zu mir hin. Ich glaube – aber hier übertreibt vielleicht meine Erinnerung –, es gab sogar welche, die aufstanden, um mich besser sehen zu können. Ich schämte mich schrecklich, ach, ich wäre am liebsten ausgerissen! War ich denn ein anderer geworden, seit heute früh elf Uhr, oder seit Karla den Namen Eduarda gerufen hatte? Nie hatte sich ein Mensch auf der Straße nach mir umgedreht, nie einer von mir besonders Notiz genommen. Und jetzt starrten sie mich alle an wie das große Wundertier, nein, wie den Menschenaffen im Zoo – ekelhaft! Aber doch so respektvoll –!

Gnädige Frau, gestatten Sie, daß ich auch Ihnen unser allerherzlichstes Beileid, hörte ich den Kassierer noch sagen – da hatte sich der alte Rauschebart schon meiner bemächtigt.

Was, Sie sind der Erbe vom Onkel Eduard?! rief er schallend. Mensch, das ist ja ein Witz –! Gott, wenn ich das meiner Frau erzähle –! So ein Witz! Der olle eingetrocknete Hering und Sie junger Mann ...

Er lachte, daß er blaurot und atemlos wurde, Tränen traten ihm in die Augen.

Ich wurde wirklich sehr ärgerlich. Ich bitte doch sehr –! sagte ich fest.

Der Dicke besann sich sofort. Entschuldigen Sie bloß, sagte er noch atemlos vom Lachen. Haben Sie denn den Eduard Schreyvogel gekannt? Nee? Natürlich nicht! Sie würden selber lachen, wenn Sie sich als Erben von dem ollen Geizkragen sähen! So ein verschrumpelter oller Hering – ja, selbstverständlich: de mortuis nil nisi bene. Latein gehabt? Nee, natürlich nicht! Ich bin auch in Untertertia kleben geblieben – was brauchen wir Landwirte auch Latein? Die Hauptsache, wir verstehen was von der Landwirtschaft!

Davon verstehe ich auch nichts, sagte ich fest und ärgerlich. Dieser Herr war mir höchst unsympathisch.

Nee, natürlich nicht, habe ich mir gleich gedacht! Brauchen Sie auch gar nicht! Sie haben ja einen ausgezeichneten Administrator, Herrn Kalübbe. Werde ihm auf der Rückfahrt gleich erzählen, daß ich Sie kennengelernt habe. Ist natürlich gespannt wie ein Flitzbogen, wer der neue Herr ist ...

Ich glaube, ich muß wirklich, sagte ich ratlos.

Gnädige Frau ...!

Wahrhaftig, der Dicke bückte sich, fischte Karlas Hand und hielt sie in seinen Bart hinein; nach den Bildern hatte ich mir einen Handkuss eleganter und appetitlicher vorgestellt. (Ach, ich hatte mir so manches Feine viel feiner vorgestellt, als ich es dann kennenlernte!)

Gnädige Frau, auch Ihnen mein herzlichstes Beileid! Ich erzähle Ihrem Gatten grade, wir werden Nachbarn sein. Von Kanten-Escheshof –, aber mein Hof ist bloß eine Klitsche gegen Ihr Gaugarten! Meine Töchter werden glücklich sein über eine so reizende junge Nachbarin ... Reiten Sie –?

Karla verneinte empört.

Nee, natürlich nicht, habe ich mir gleich gedacht! Aber das kommt schon, haben ein paar vorzügliche Schinder im Stall! – Wann werden Sie denn nach Gaugarten übersiedeln, Herr Schreyvogel, hoffe auf recht angenehmen nachbarlichen Verkehr. Gottlob, daß wir junges Blut in die Gegend kriegen! (Er brabbelte immer weiter.) Wir haben da auch so eine kleine Sache zu besprechen, Herr Schreyvogel, Grenzregulierung, Ihr Onkel wollte immer nicht ran, aber jetzt, wo ein vernünftiger junger Mann regiert ...

Direktor Kunze, flüsterte ein kleiner fetter Mann mit bleichem Gesicht mir zu. Ich freue mich, Herr Schreyvogel, Sie im Namen meiner Bank ... Es ist zwar ein höchst trauriger Anlass, der Sie zu uns führt, gestatten Sie, mein herzlichstes Beileid ...

In meinem Kopf drehte sich das bekannte Mühlrad immer schneller. Ich spähte entschlossen, fest entschlossen nach der Drehtür. Ich wußte nicht, ob es üblich ist, daß Millionäre von ihren Bankdirektoren und Gutsnachbarn weglaufen, aber wenn es auch nicht üblich war, ich war fest entschlossen, der erste Millionär zu werden, der entlief ...

Ich sah nach der Drehtür. Ich winkte Karla mit den Augen. Karla hörte auf den dicken Herrn von Kanten, er erzählte ihr immer noch was von unserer Grenze ... Der Direktor Kunze redete von Pfandbriefen, die niedrig verzinslich seien, von sehr empfehlenswerten Industriepapieren mit einer viel höheren Rendite ... Der Kassierer steckte mir einen Haufen Geldscheine in die Hand ...

Ich sah wieder nach der Drehtür ... Draußen schienen sich wahrhaftig Menschen anzusammeln, ich sah wohl schon Gespenster ...

Ich muß wirklich, sagte ich. Karla, wir müssen fort!

Sie beantwortete den Blick.

Ich nahm mir nicht die Zeit, das Geld einzustecken. Ich riß den Rehbraunen vom Haken, daß der Aufhänger platzte, im gleichen Käfterchen der Drehtür flüchtete ich mit Karla aus der Bank. Wir liefen hinaus –

Und liefen direkt in die Linse eines Fotoapparates! Licht flammte auf ...

Der Millionär! riefen ein paar. Der lachende Erbe!

Wir liefen über den Markt, es war uns nicht nach Lachen zumute. –

Am nächsten Morgen sahen wir schon unser Bild im Radebuscher Kurier, unserm Heimatblatt. Darunter stand: ›Herr Max Schreyvogel und Gattin, unsere Mitbürger. Bisher einfacher Kontorist des Vira-Versicherungs-Konzerns, jetzt Erbe eines Millionenvermögens und des Rittergutes Gaugarten mit den Vorwerken Trassenheide, Schafstall und Kleinschönchen‹.