Kleiner Mann, was nun? - Hans Fallada - E-Book

Kleiner Mann, was nun? E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Für die eBook-Ausgabe völlig neu überarbeitet und in aktualisierter Rechtschreibung || Nach dem Börsencrash in den USA im Oktober 1929 befindet sich die gesamte Weltwirtschaft im Niedergang, besonders in Deutschland, das es - noch immer hoch verschuldet aus dem Ersten Weltkrieg - am zweithärtesten trifft. In diesen schwierigen Zeiten erfahren der Buchhalter Johannes Pinneberg und seine Freundin Emma, genannt Lämmchen, dass sie schwanger ist. Als sie kurz darauf heiraten, tun sie das aber nicht zuvorderst aus Rücksicht auf die Konventionen, sondern aus Liebe. Für Johannes, von seiner Frau "Junge" genannt, wird das berufliche Fortkommen immer schwieriger. Das Geld geht zu Ende, die Wohnung kann nicht mehr bezahlt werden, alles ist aussichtslos. Nur Lämmchen, die sanfte und tapfere Frau, scheint noch genug Kraft zu haben, um das Leben zu meistern ... | © Redaktion eClassica, 2018

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Inhalt

Innentitel

Klappentext

Vorspiel – Die Sorglosen

Erster Teil – Die kleine Stadt

Zweiter Teil – Berlin

Nachspiel – Alles geht weiter

Zum Autor

Impressum

Fußnoten

Klappentext

Nach dem Börsencrash in den USA im Oktober 1929 befindet sich die gesamte Weltwirtschaft im Niedergang, besonders in Deutschland, das es – noch immer hoch verschuldet aus dem Ersten Weltkrieg – in Europa am härtesten trifft. Die Arbeitslosigkeit steigt bis 1933 auf über 30 Prozent. In diesen schwierigen Zeiten erfahren der Buchhalter Johannes Pinneberg und seine Freundin Emma, genannt ›Lämmchen‹, dass sie schwanger ist. Als sie kurz darauf heiraten, tun sie das aber nicht zuvorderst aus Rücksicht auf die Konventionen, sondern aus Liebe. Für Johannes, von seiner Frau ›Junge‹ genannt, wird das berufliche Fortkommen immer schwieriger: Er verliert seine Stelle als Buchhalter, später seine Arbeit als Verkäufer in einem Berliner Bekleidungsgeschäft. Das Geld geht zu Ende, die Wohnung kann nicht mehr bezahlt werden, alles ist aussichtslos. Nur Lämmchen, die sanfte und tapfere Frau, scheint noch genug Kraft zu haben, um das Leben zu meistern ...

© Redaktion eClassica, 2018

Über den Autor: Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen) (1883–1947) war der produktivste deutsche Schriftsteller der Vorkriegszeit. In der Zeit des Nationalsozialismus lebte Fallada als »unerwünschter Autor« zurückgezogen auf einem Anwesen in Mecklenburg. Einige seiner Bücher waren von den Nazis aber auch geduldet, weil sie die Weimarer Republik kritisierten, wodurch er persönlicher Verfolgung entging.

Lesen Sie mehr über den Autor im Anhang

Vorspiel – Die Sorglosen

Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und fasst einen großen Entschluss

Es ist fünf Minuten nach vier. Pinneberg hat das eben festgestellt. Er steht, ein nett aussehender, blonder junger Mann, vor dem Hause Rothenbaumstraße 24 und wartet.

Es ist also fünf Minuten nach vier, und auf drei Viertel vier ist Pinneberg mit Lämmchen verabredet. Pinneberg hat die Uhr wieder eingesteckt und sieht erst auf ein Schild, das am Eingang des Hauses Rothenbaumstraße 24 angemacht ist. Er liest:

DR. SESAM

Frauenarzt

Sprechstunden 9–12 und 4–6

Eben! Und nun ist es doch wieder fünf Minuten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zigarette anbrenne, kommt Lämmchen natürlich sofort um die Ecke. Lass ich es also. Heute wird es schon wieder teuer genug.

Er sieht von dem Schild fort. Die Rothenbaumstraße hat nur eine Häuserreihe, jenseits des Fahrdamms, jenseits eines Grünstreifens, jenseits des Kais fließt die Strela, hier schon hübsch breit, kurz vor ihrer Einmündung in die Ostsee. Ein frischer Wind weht herüber, die Büsche nicken mit ihren Zweigen, die Bäume rauschen ein wenig.

So müsste man wohnen können, denkt Pinneberg. Sicher hat dieser Sesam sieben Zimmer. Muss ein klotziges Geld verdienen. Er wird Miete zahlen … zweihundert Mark? Dreihundert Mark? Ach was, ich habe keine Ahnung. – Zehn Minuten nach vier!

Pinneberg greift in die Tasche, holt aus dem Etui eine Zigarette und brennt sie an.

Um die Ecke weht Lämmchen, im plissierten weißen Rock, der Rohseidenbluse, ohne Hut, die blonden Haare verweht.

»Tag, Junge. Es ging wirklich nicht eher. Böse?«

»Keine Spur. Nur, wir werden endlos sitzen müssen. Es sind mindestens dreißig Leute reingegangen, seit ich warte.«

»Sie werden ja nicht alle zum Doktor gegangen sein. Und dann sind wir ja angemeldet.«

»Siehst du, dass es richtig war, dass wir uns angemeldet haben!«

»Natürlich war es richtig. Du hast ja immer recht, Junge!« Und auf der Treppe nimmt sie seinen Kopf zwischen die Hände und küsst ihn stürmisch. »Oh Gott, bin ich glücklich, dass ich dich mal wiederhabe, Junge. Denke doch, beinahe vierzehn Tage!«

»Ja, Lämmchen«, antwortet er. »Ich bin auch nicht mehr brummig.«

Die Tür geht auf, und im halbdunklen Flur steht ein weißer Schemen1 vor ihnen, bellt: »Die Krankenscheine!«

»Lassen Sie einen doch erst mal rein«, sagt Pinneberg und schiebt Lämmchen vor sich her. »Übrigens sind wir privat. Ich bin angemeldet. Pinneberg ist mein Name.«

Auf das Wort »privat« hin hebt der Schemen die Hand und schaltet das Licht auf dem Flur ein. »Herr Doktor kommt sofort. Einen Augenblick, bitte. Bitte, dort hinein.«

Sie gehen auf die Tür zu und kommen an einer anderen, halb offenstehenden vorbei. Das ist wohl das gewöhnliche Wartezimmer, und in ihm scheinen die dreißig zu sitzen, die Pinneberg an sich vorbeikommen sah. Alles schaut auf die beiden, und ein Stimmengewirr erhebt sich: »So was gibt’s nicht!« – »Wir warten schon länger!« – »Wozu zahlen wir unsere Kassenbeiträge?!« – »Die feinen Pinkels sind auch nicht mehr wie wir.«

Die Schwester tritt in die Tür. »Seien Sie man bloß ruhig! Herr Doktor wird ja gestört! Was Sie denken, ist nicht. Das ist der Schwiegersohn von Herrn Doktor mit seiner Frau. Nicht wahr?«

Pinneberg lächelt geschmeichelt, Lämmchen strebt der anderen Tür zu. Einen Augenblick ist Stille.

»Nu bloß schnell!« flüstert die Schwester und schiebt Pinneberg vor sich her. »Diese Kassenpatienten sind zu gewöhnlich. Was die Leute sich einbilden für das bisschen Geld, das die Kasse zahlt …«

Die Tür fällt zu, der Junge und Lämmchen sind im roten Plüsch.

»Das ist sicher sein Privatsalon«, sagt Pinneberg. »Wie gefällt dir das? Schrecklich altmodisch, finde ich.«

»Mir war es grässlich«, sagt Lämmchen. »Wir sind doch sonst auch Kassenpatienten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns reden.«

»Warum regst du dich auf?« fragt er. »Das ist doch so. Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen …«

»Es regt mich aber auf …«

Die Tür öffnet sich, eine andere Schwester kommt. »Herr und Frau Pinneberg bitte? Herr Doktor lässt um einen Augenblick Geduld bitten. Wenn ich unterdes die Personalien aufnehmen dürfte?«

»Bitte«, sagt Pinneberg und wird gleich gefragt: »Wie alt?«

»Dreiundzwanzig.«

»Vorname: Johannes.«

Nach einem Stocken: »Buchhalter.«

Und glatter: »Immer gesund gewesen. Die üblichen Kinderkrankheiten, sonst nichts. – Soviel ich weiß, beide gesund.«

Wieder stockend: »Ja, die Mutter lebt noch. Der Vater nicht mehr, nein. Kann ich nicht sagen, woran er gestorben ist.«

Und Lämmchen …: »Zweiundzwanzig. – Emma.«

Jetzt zögert sie: »Geborene Mörschel. – Stets gesund. Beide Eltern am Leben, beide gesund.«

»Also einen Augenblick noch. Herr Doktor ist sofort frei.«

»Wozu das alles nötig ist«, brummt er, nachdem die Tür wieder zufiel. »Wo wir doch nur …«

»Gerne hast du es nicht gesagt: Buchhalter.«

»Und du nicht das mit der geborenen Mörschel!« Er lacht. »Emma Pinneberg, genannt Lämmchen, geborene Mörschel. Emma Pinne…«

»Bist du stille! Oh Gott, Junge, ich müsste noch einmal ganz unbedingt. Hast du eine Ahnung, wo das hier ist?«

»Also das ist doch immer dieselbe Geschichte mit dir …! Statt dass du vorher …«

»Aber ich bin, Junge. Ich bin wirklich. Noch auf dem Rathausmarkt. Für einen ganzen Groschen. Aber wenn ich aufgeregt bin …«

»Also Lämmchen, nimm dich doch einen Augenblick zusammen. Wenn du wirklich eben erst …«

»Junge, ich muss …«

»Ich bitte«, sagt eine Stimme. In der Tür steht Doktor Sesam, der berühmte Doktor Sesam, von dem die halbe Stadt und die viertel Provinz flüstern, dass er ein weites Herz hat, manche sagen auch, ein gutes Herz. Jedenfalls hat er eine volkstümliche Broschüre über sexuelle Probleme verfasst, und darum hat Pinneberg den Mut gehabt, ihm zu schreiben und sich und Lämmchen anzumelden.

Dieser Doktor Sesam steht also in der Tür und sagt: »Ich bitte.«

Doktor Sesam sucht auf seinem Schreibtisch nach dem Brief. »Sie haben mir geschrieben, Herr Pinneberg. Sie können noch keine Kinder brauchen, weil das Geld nicht reicht.«

»Ja«, sagt Pinneberg und ist schrecklich verlegen.

»Machen Sie sich immer schon ein bisschen frei«, sagt der Arzt zu Lämmchen und fährt dann fort: »Und nun möchten Sie einen ganz sicheren Schutz wissen. Ja, einen ganz sicheren …«

Er lächelt skeptisch hinter seiner goldenen Brille.

»Ich habe in Ihrem Buch gelesen«, sagt Pinneberg, »diese Pessoirs …«

»Diese Pessare«, sagt der Arzt, »ja, aber sie passen nicht für jede Frau. Und dann ist es immer etwas umständlich. Ob Ihre Frau das Geschick hat …«

Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein bisschen ausgezogen, nur so angefangen, die Bluse und den Rock. Mit ihren schlanken Beinen steht sie sehr groß da.

»Nun, gehen wir einmal rüber«, sagt der Arzt. »Die Bluse hätten wir nun dazu nicht auszuziehen brauchen, kleine junge Frau.«

Lämmchen wird ganz rot.

»Jetzt lassen Sie sie schon liegen. Kommen Sie. Einen Augenblick, Herr Pinneberg.«

Die beiden gehen in das Nebenzimmer. Pinneberg sieht ihnen nach. Der ganze Doktor Sesam reicht der »kleinen jungen Frau« nicht bis an die Schultern. Pinneberg findet wieder, sie sieht herrlich aus, das beste Mädchen von der Welt, das einzige überhaupt. Er arbeitet in Ducherow und sie hier in Platz, er sieht sie höchstens alle vierzehn Tage, und so ist sein Entzücken immer frisch und sein Appetit über alles Begreifen.

Nebenan hört er den Arzt ab und zu halblaut etwas fragen, gegen einen Schalenrand klappert ein Instrument, das Geräusch kennt er vom Zahnarzt, es ist kein angenehmes Geräusch.

Nun fährt er zusammen, diese Stimme von Lämmchen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schreiend, sehr hell: »Nein, nein, nein!« Und noch einmal: »Nein!« Und dann ganz leise, aber er hört es doch: »Oh Gott!«

Pinneberg macht drei Schritte gegen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon gehört, dass solche Ärzte schreckliche Wüstlinge sind … Aber nun spricht Doktor Sesam wieder, nichts zu verstehen, und nun klappert wieder das Instrument.

Und dann lange Stille.

Es ist ein Hochsommertag, etwa Mitte Juli, herrlichster Sonnenschein. Der Himmel draußen ist dunkelblau, ins Fenster reichen ein paar Zweige, sie bewegen sich im Seewind. Das ist ein altes Lied aus Pinnebergs Kinderzeit, es fällt ihm eben ein:

»Wehe-Wind, Puste-Wind,

Nimm den Hut nicht meinem Kind!

Sei gelind zu meinem Kind,

Wehe-Wind, Puste-Wind!«

Die im Wartezimmer reden. Denen wird die Zeit auch lang. Eure Sorgen möcht ich haben. Eure Sorgen …

Die beiden kommen wieder. Pinneberg wirft einen ängstlichen Blick auf Lämmchen, sie hat so große Augen, wie von einem Schreck erweitert. Sie ist blass, aber nun lächelt sie ihm zu, kümmerlich erst, und dann breitet sich das Lächeln voll aus über das ganze Gesicht und wird immer stärker und blüht auf … Der Arzt steht in der Ecke, er wäscht sich die Hände. Schräg schaut er hinüber zu Pinneberg. Dann sagt er eilig: »Ein bisschen zu spät, Herr Pinneberg, mit der Verhütung. Die Tür ist zu. Ich denke Anfang des zweiten Monats.«

Pinneberg ist ohne Atem. Das war wie ein Schlag. Dann sagt er hastig: »Herr Doktor, es ist doch unmöglich! Wir haben so aufgepasst! Ganz unmöglich ist das. Sag doch selbst, Lämmchen …«

»Junge!« sagt sie. »Junge …«

»Es ist so«, sagt der Arzt. »Irrtum ausgeschlossen. Und glauben Sie mir, Herr Pinneberg, ein Kind ist für jede Ehe gut.«

»Herr Doktor«, sagt Pinneberg, und seine Lippe zittert. »Herr Doktor, ich verdiene im Monat hundertachtzig Mark! Ich bitte Sie, Herr Doktor!«

Doktor Sesam sieht schrecklich müde aus. Was jetzt kommt, das kennt er, das hört er an jedem Tage dreißigmal.

»Nein«, sagt er. »Nein. Bitten Sie mich erst gar nicht darum. Kommt überhaupt nicht in Frage. Sie sind beide gesund. Und Ihr Einkommen ist gar nicht schlecht. Gar – nicht – schlecht.«

»Herr Doktor!« sagt Pinneberg fieberhaft.

Hinter ihm steht Lämmchen und streicht ihm über die Haare. »Lass, Junge, lass! Es wird schon gehen.«

»Aber es ist ganz unmöglich …«, bricht Pinneberg aus – und wird still. Die Schwester ist hereingekommen.

»Herr Doktor werden am Apparat verlangt.«

»Sie sehen«, sagt der Arzt. »Passen Sie auf, Sie freuen sich noch. Und wenn das Kind da ist, kommen Sie sofort zu mir. Dann machen wir das mit der Verhütung. Verlassen Sie sich nicht aufs Nähren. Also denn … Mut, junge Frau!«

Er schüttelt Lämmchen die Hand.

»Ich möchte gleich …«, sagt Pinneberg und zieht sein Portemonnaie.

»Ach ja«, sagt der Arzt, schon in der Tür, und sieht die beiden noch einmal an, schätzend. »Na, fünfzehn Mark, Schwester.«

»Fünfzehn …«, sagt Pinneberg gedehnt und sieht die Tür an. Doktor Sesam ist schon fort. Er holt umständlich einen Zwanzigmarkschein hervor, schaut mit gerunzelter Stirn zu, wie die Quittung ausgeschrieben wird, und nimmt sie in Empfang.

Seine Stirn hellt sich etwas auf. »Ich bekomme das von der Krankenkasse wieder, nicht wahr?«

Die Schwester sieht ihn an, dann Lämmchen. »Schwangerschaftsdiagnose, nicht wahr?« Sie wartet gar nicht erst auf die Antwort. »Doch nicht. Das ersetzen die Kassen nicht.«

»Komm, Lämmchen!« sagt er.

Sie steigen langsam die Treppe hinunter. Auf einem Absatz bleibt Lämmchen stehen und nimmt seine Hand zwischen die ihren. »Sei nicht so traurig! Bitte nicht! Es wird schon gehen.«

»Jaja«, sagt er, tief in Gedanken.

Sie gehen ein Stück Rothenbaumstraße, dann biegen sie in die Mainzer Straße ein. Hier sind hohe Häuser und viele Menschen, Autos fahren in Rudeln, die Abendzeitungen sind schon da, niemand achtet auf die beiden.

»Gar kein schlechtes Einkommen«, sagt der, »und nimmt mir fünfzehn Mark ab von meinen hundertachtzig, solch Räuber!«

»Ich schaffe es schon«, sagt Lämmchen. »Ich schaffe es schon.«

»Ach du!« sagt er.

Von der Mainzer Straße kommen sie in den Krümperweg, still ist das plötzlich hier.

Lämmchen sagt: »Jetzt versteh ich manches.«

»Wieso?« fragt er.

»Ach nichts, nur dass mir morgens immer schlecht ist. Und es war überhaupt so komisch …«

»Aber du musst es doch gemerkt haben?«

»Ich hab doch immer gedacht, es kommt noch. Wer denkt denn gleich an so was?«

»Vielleicht hat er sich geirrt!«

»Nein. Das glaube ich nicht. Es stimmt schon.«

»Aber möglich ist es doch, dass er sich geirrt hat?«

»Nein, ich glaube …«

»Bitte! Höre doch einmal zu, was ich sage! Möglich ist es doch!?«

»Möglich? Möglich ist alles!«

»Also vielleicht kommt morgen schon die Regel. Dann schreib ich dem aber einen Brief!« Er versinkt in Gedanken, er schreibt einen Brief.

Auf den Krümperweg folgt die Hebbelstraße, die beiden gehen fein bedachtsam durch den Sommernachmittag, in dieser Straße stehen schöne Ulmen.

»Meine fünfzehn Mark verlang ich dann aber auch zurück«, sagt Pinneberg plötzlich.

Lämmchen antwortet nicht. Sie tritt vorsichtig auf mit der ganzen Breite des Schuhs, und sie sieht genau, wohin sie tritt, es ist alles so anders.

»Wohin gehen wir eigentlich?« fragt er plötzlich.

»Ich muss noch mal nach Haus«, sagt Lämmchen. »Ich hab Mutter nichts gesagt, dass ich wegbleibe.«

»Auch das noch!« sagt er.

»Schimpf nicht, Junge«, bittet sie. »Aber ich will sehen, dass ich um halb neun noch mal runterkommen kann. Mit welchem Zug willst du fahren?«

»Um halb zehn.«

»Dann bring ich dich zur Bahn.«

»Und sonst nichts«, sagt er. »Sonst wieder mal nichts. Ein Leben ist das.«

Die Lütjenstraße ist eine richtige Arbeiterstraße, immer wimmelt es von Kindern da, man kann keinen richtigen Abschied nehmen.

»Nimm es nicht so schwer, Junge«, sagt sie und gibt ihm die Hand. »Ich schaff es schon.«

»Jaja«, sagt er und versucht zu lächeln. »Du bist Trumpf-Ass, Lämmchen, und stichst alles.«

»Und um halb neun bin ich unten. Bestimmt.«

»Und keinen Kuss jetzt?«

»Es geht wirklich nicht, es wird gleich weitergetratscht. Tapfer. Tapfer!«

Sie sieht ihn an.

»Also gut, Lämmchen«, sagt er. »Nimm du es auch nicht so schwer. Irgendwie wird es ja werden.«

»Natürlich«, sagt sie. »Ich verlier den Mut schon nicht. Tjüs derweile.«

Sie huscht schnell die dunkle Treppe hinauf, ihr Stadtköfferchen schlägt gegen das Geländer: klapp – klapp – klapp.

Pinneberg sieht den hellen Beinen nach. Hunderttausend Mal ist ihm Lämmchen schon diese gottverdammte Treppe hinauf entschwunden.

»Lämmchen!« brüllt er. »Lämmchen!«

»Ja?« fragt sie von oben und sieht über das Geländer.

»Einen Augenblick!« ruft er. Er stürmt die Treppe hinauf, er steht atemlos vor ihr, er fasst sie bei den Schultern. »Lämmchen!« sagt er und keucht vor Aufregung und Atemnot. »Emma Mörschel! Wie wär’s, wenn wir uns heiraten würden …?«

Mutter Mörschel – Herr Mörschel – Karl Mörschel: Pinneberg gerät in die Mörschelei

Lämmchen Mörschel sagte nichts. Sie machte sich von Pinneberg los und setzte sich sachte auf eine Treppenstufe. Plötzlich waren ihre Beine weg. Nun saß sie da und sah zu ihrem Jungen hoch. »Oh Gott!« sagte sie. »Junge, wenn du das tätest!«

Ihre Augen wurden ganz hell. Es waren dunkelblaue Augen mit einer Schattierung ins Grünliche; jetzt strömten sie geradezu über von strahlendem Licht.

Wie wenn alle Weihnachtsbäume ihres Lebens auf einmal in ihr brennten, dachte Pinneberg und wurde ganz verlegen vor Rührung.

»Also geht in Ordnung, Lämmchen«, sagte er. »Machen wir. Und möglichst bald, was?«

»Junge, du brauchst es aber nicht. Ich komme auch so zurecht. Nur, da hast du recht, besser ist es schon, wenn der Murkel einen Vater hat.«

»Der Murkel«, sagte Johannes Pinneberg. »Richtig, der Murkel.«

Er war einen Augenblick still. Er kämpfte mit sich, ob er Lämmchen nicht sagen sollte, dass er bei seinem Heiratsantrag gar nicht an diesen Murkel gedacht hatte, sondern nur daran, dass es sehr gemein war, an diesem Sommerabend drei Stunden auf sein Mädchen in der Straße zu warten. Aber er sagte es nicht. Stattdessen bat er: »Steh doch auf, Lämmchen. Die Treppe ist sicher ganz dreckig. Dein guter weißer Rock …«

»Lass den Rock, lass ihn sausen! Was kümmern uns alle Röcke von der Welt. Bin ich glücklich! Hannes! Junge!« Nun war sie wirklich auf ihren Beinen und fiel ihm wieder um den Hals. Und das Haus war gütig: Von den zwanzig Parteien, die über diese Treppe aus und ein gingen, kam nicht eine, nachmittags nach fünfe in der Laufzeit, wo die Ernährer nach Haus kommen und alle Hausfrauen schnell noch eine vergessene Zutat fürs Essen holen. Keiner kam.

Bis Pinneberg sich frei machte und sagte: »Aber das können wir doch sicher oben auch – als Brautpaar. Gehen wir rauf.«

Lämmchen fragte bedenklich: »Gleich willst du mit? Ist es nicht besser, ich bereite Vater und Mutter vor, wo sie doch noch gar nichts von dir wissen …?«

»Was doch sein muss, tut man am besten gleich«, erklärte Pinneberg und wollte noch immer nicht auf die Straße. »Übrigens werden sie sich doch bestimmt freuen?«

»Na ja«, meinte Lämmchen nachdenklich. »Mutter sehr. Vater, weißt du, da darfst du dich nicht dran stoßen. Vater flachst gerne, der meint das nicht so.«

»Ich werd’s schon richtig verstehen«, sagte Pinneberg.

Lämmchen schloss die Tür auf: ein kleiner Vorplatz. Hinter einer angelehnten Tür klang eine Stimme: »Emma, komm gleich mal her!«

»Einen Augenblick, Mutter«, rief Emma Mörschel. »Ich zieh nur meine Schuh aus.«

Sie nahm Pinneberg bei der Hand und führte ihn auf Zehenspitzen in ein kleines Hofzimmer, wo zwei Betten standen.

»Leg deine Sachen dahin. Ja, das ist mein Bett, da schlaf ich drin. Im andern Bett schläft Mutter. Vater und Karl schlafen drüben in der Kammer. Nun komm. Halt, dein Haar!« Sie fuhr ihm schnell mit dem Kamm durch die Wirrnis.

Beiden klopfte das Herz. Sie nahm ihn bei der Hand, sie gingen über den Vorplatz, sie stießen die Tür zur Küche auf. Am Herde stand mit rundem, krummem Rücken eine Frau und briet etwas in einer Pfanne. Pinneberg sah ein braunes Kleid und eine große blaue Schürze.

Die Frau sah nicht hoch. »Lauf schnell mal in den Keller, Emma, und hol Presskohlen.2 Ich kann das dem Karl hundertmal sagen …«

»Mutter«, sagte Emma, »das ist mein Freund Johannes Pinneberg aus Ducherow. Wir wollen uns heiraten.«

Die Frau am Herd sah hoch. Es war ein braunes Gesicht mit einem starken Mund, einem scharfen gefährlichen Mund, ein Gesicht mit sehr hellen scharfen Augen und mit zehntausend Falten. Eine alte Arbeiterfrau.

Die Frau sah Pinneberg an, einen Augenblick, scharf, böse. Dann wandte sie sich wieder zu ihren Kartoffelpuffern. »Dumm Tügs«, sagte sie. »Schleppst du mir jetzt deine Kerle ins Haus?! Geh und hol Kohlen, ich hab keine Glut.«

»Mutter«, sagte Lämmchen und versuchte zu lachen, »er will mich wirklich heiraten.«

»Hol Kohlen, sag ich, Deern«, rief die Frau und fuhrwerkte mit der Gabel.

»Mutter …!«

Die Frau sah hoch. Sie sagte langsam: »Bist du noch nicht unten? Willst du einen Backs?!«

Ganz rasch drückte Lämmchen ihrem Pinneberg die Hand. Dann nahm sie einen Korb, rief, so fröhlich es ging: »Gleich bin ich wieder da!« – und die Flurtür klappte.

Pinneberg stand verlassen in der Küche. Er sah vorsichtig gegen Frau Mörschel hin, als könnte sein Hinsehen sie schon reizen, dann gegen das Fenster. Man sah nur einen blauen Sommerhimmel und ein paar Schornsteine.

Frau Mörschel schob die Pfanne beiseite und hantierte mit den Herdringen. Es klapperte und klirrte sehr. Sie stocherte mit dem Feuerhaken in der Glut, dabei murrte sie vor sich hin. Höflich fragte Pinneberg: »Wie bitte …?«

Es waren die ersten Worte, die er bei Mörschels sagte.

Er hätte nichts sagen sollen, denn wie ein Geier schoss die Frau auf ihn nieder. In der einen Hand hielt sie den Haken, in der anderen noch die Gabel vom Pufferwenden, aber das war nicht so schlimm, trotzdem sie damit fuchtelte. Schlimm war ihr Gesicht, in dem alle Falten zuckten und sprangen, schlimmer waren ihre grausamen und bösen Augen.

»Wenn Sie mir mein Mädchen in Schande bringen!« schrie sie außer sich.

Pinneberg trat einen Schritt zurück. »Ich will Emma ja heiraten, Frau Mörschel!« sagte er ängstlich.

»Sie denken wohl, ich weiß nicht, was ist«, sagte die Frau unbeirrt. »Seit zwei Wochen stehe ich hier und warte. Ich denke, sie sagt mir was, ich denke, sie bringt mir den Kerl bald an, ich sitze hier und warte.« Sie holte Atem. »Das ist ein gutes Mädchen, Sie Mann Sie, meine Emma, das ist kein Dreck für Sie. Die ist immer fröhlich gewesen. Die hat mir nie ein böses Wort gegeben – wollen Sie sie in Schande bringen?«

»Nein, nein«, flüstert Pinneberg angstvoll.

»Doch! Doch!« schreit Frau Mörschel. »Doch! Doch! Zwei Wochen stehe ich hier und warte, dass sie ihre Binden zum Waschen gibt – nichts! Wie haben Sie das gemacht, Sie?« Pinneberg kann es nicht sagen.

»Wir sind junge Leute«, sagt er sanft.

»Ach Sie«, sagt sie noch böse, »dass Sie mein Mädchen dazu gekriegt haben.« Plötzlich grollt sie wieder: »Schweine seid ihr Männer, alles Schweine, pfui!«

»Wir heiraten, sobald es mit den Papieren geht«, erklärt Pinneberg.

Frau Mörschel steht wieder am Herd. Das Fett brutzelt, sie fragt: »Was sind Sie denn? Können Sie denn überhaupt heiraten?«

»Ich bin Buchhalter. In einem Getreidegeschäft.«

»Also Angestellter?«

»Ja.«

»Arbeiter wäre mir lieber. – Was verdienen Sie denn?«

»Hundertachtzig Mark.«

»Mit Abzügen?«

»Nein, die gehen noch ab.«

»Das ist gut«, sagt die Frau, »das ist nicht so viel. Mein Mädchen soll einfach bleiben.« Und plötzlich wieder ganz böse: »Denken Sie nicht, dass sie was mitbekommt. Wir sind Proletarier. Bei uns gibt es das nicht. Nur das bisschen Wäsche, was sie sich selbst gekauft hat.«

»Das ist alles nicht nötig«, sagt Pinneberg.

Plötzlich ist die Frau wieder böse. »Sie haben doch auch nichts. Sie sehen doch auch nicht nach Sparen aus. Wenn man mit solchem Anzug rumläuft, bleibt nichts übrig.«

Pinneberg braucht nicht zu gestehen, dass sie ziemlich das Richtige getroffen hat, denn Lämmchen kommt mit den Kohlen. Sie ist bester Stimmung. »Hat sie dich aufgefressen, armer Junge?« fragt sie. »Mutter ist ein richtiger Teekessel, sie kocht immer gleich über.«

»Sei nicht so frech, Ütz«, schilt die Alte. »Sonst kriegst du doch noch deinen Backs. – Geht in die Schlafstube und schleckt euch ab. Ich will mit Vater zuerst allein reden.«

»Na also«, sagt Lämmchen. »Hast du meinen Bräutigam auch schon gefragt, ob er Kartoffelpuffer mag? Heute ist unser Verlobungstag.«

»Weg mit euch!« sagt Frau Mörschel. »Und dass ihr mir nicht die Tür abschließt, ich sehe ein paarmal, dass ihr keine Dummheiten macht.«

Sie sitzen sich an dem kleinen Tisch auf den weißen Stühlen gegenüber.

»Mutter ist ’ne einfache Arbeiterin«, sagt Lämmchen. »Die ist so derb, sie denkt sich nichts dabei.«

»Oh, sie denkt sich schon was dabei«, sagt Pinneberg und grinst. »Deine Mutter weiß Bescheid, verstehst du, was uns der Doktor heute gesagt hat.«

»Natürlich weiß sie das. Mutter weiß immer alles. Ich glaub, du hast ihr gut gefallen.«

»Na, hör mal, so sah es aber nicht aus.«

»Mutter ist so. Mutter muss immer schimpfen. Ich hör’s schon gar nicht mehr.«

Einen Augenblick ist Stille, beide sitzen sich brav gegenüber, die Hände liegen auf dem Tischchen.

»Ringe müssen wir uns auch kaufen«, sagt Pinneberg gedankenvoll.

»Oh Gott, ja«, sagt Lämmchen rasch. »Sag schnell, welche magst du lieber, glänzend oder matt?«

»Matt!« sagt er.

»Ich auch! Ich auch!« ruft sie. »Ich glaube, wir haben in allem den gleichen Geschmack, das ist fein. – Was werden die kosten?«

»Ich weiß auch nicht. Dreißig Mark?«

»So viel?«

»Wenn wir goldene nehmen?«

»Natürlich nehmen wir goldene. Lass sehen, wir wollen Maß nehmen.«

Er rückt zu ihr. Sie nehmen einen Faden von einer Garnrolle. Es ist schwierig. Einmal schneidet das Garn ein, und einmal sitzt es zu lose.

»Hände besehen bringt Streit«, sagt Lämmchen.

»Aber ich besehe sie ja gar nicht«, sagt er. »Ich küsse sie ja. Ich küsse ja deine Hände, Lämmchen.«

Es klopft mit sehr hartem Knöchel gegen die Tür. »Rüberkommen! Vater ist da!«

»Gleich«, sagt Lämmchen und löst sich aus seinem Arm. »Schnell uns ein bisschen zurechtmachen. Vater flachst ewig.«

»Wie ist er denn, dein Vater?«

»Gott, du wirst ja gleich sehen. Ist ja auch egal. Du heiratest mich, mich, mich, ohne Vater und Mutter.«

»Aber mit dem Murkel.«

»Mit dem Murkel, ja. Nette unvernünftige Eltern bekommt er. Nicht eine Viertelstunde können sie vernünftig sitzen …«

Am Küchentisch sitzt ein langer Mann in grauen Hosen, grauer Weste und einem weißen Trikothemd, ohne Jacke, ohne Kragen. An den Füßen hat er Pantoffeln. Ein gelbes faltiges Gesicht, kleine scharfe Augen hinter einem hängenden Zwicker, ein grauer Schnurrbart, ein fast weißer Kinnbart.

Der Mann liest die »Volksstimme«, aber nun, da Pinneberg und Emma hereinkommen, lässt er das Blatt sinken und betrachtet den jungen Mann.

»Sie sind also der Jüngling, der meine Tochter heiraten will? Sehr erfreut, setzen Sie sich hin. Übrigens werden Sie es sich noch überlegen.«

»Was?« fragt Pinneberg.

Lämmchen hat sich auch eine Schürze umgebunden und hilft der Mutter. Frau Mörschel sagt ärgerlich: »Wo der Bengel nur wieder bleibt. Die ganzen Puffer werden zäh.«

»Überstunden«, sagt Herr Mörschel lakonisch. Und zu Pinneberg zwinkernd: »Sie machen auch manchmal Überstunden, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Pinneberg. »Ziemlich oft.«

»Aber ohne Bezahlung?«

»Leider. Der Chef sagt …«

Herrn Mörschel interessiert nicht, was der Chef sagt. »Sehen Sie, darum wäre mir ein Arbeiter für meine Tochter lieber; wenn mein Karl Überstunden macht, kriegt er sie bezahlt.«

»Herr Kleinholz sagt …«, beginnt Pinneberg von neuem.

»Was die Arbeitgeber sagen, junger Mann«, erklärt Herr Mörschel, »das wissen wir lange. Das interessiert uns nicht. Was sie tun, das interessiert uns. Es gibt doch ’nen Tarifvertrag bei euch, was?«

»Ich glaube«, sagt Pinneberg.

»Glaube ist Religionssache, damit hat ’n Arbeiter nischt zu tun. Bestimmt gibt es ihn. Und da steht drin, dass Überstunden bezahlt werden müssen. Warum krieg ich ’nen Schwiegersohn, dem sie nicht bezahlt werden?«

Pinneberg zuckt die Achseln.

»Weil ihr nicht organisiert seid, ihr Angestellten«, erklärt Herr Mörschel ihm den Fall. »Weil kein Zusammenhang ist bei euch, keine Solidarität. Darum machen sie mit euch, was sie wollen.«

»Ich bin organisiert«, sagt Pinneberg mürrisch. »Ich bin in ’ner Gewerkschaft.«

»Emma! Mutter! Unser junger Mann ist in ’ner Gewerkschaft? Wer hätte das gedacht! So schnieke und Gewerkschaft!« Der lange Mörschel hat den Kopf ganz auf die Seite gelegt und besieht seinen künftigen Schwiegersohn mit eingekniffenen Augen. »Und wie nennt sich Ihre Gewerkschaft, mein Junge? Nur raus damit!«

»Deutsche Angestellten-Gewerkschaft«, sagt Pinneberg und ärgert sich immer mehr.

Der lange Mann krümmt sich völlig zusammen, so stark überkommt es ihn. »Die DAG! Mutter, Emma, haltet mich fest, unser Jüngling ist ein Dackel, das nennt er ’ne Gewerkschaft! Ein gelber Verband, zwischen zwei Stühlen. Oh Gott, Kinder, so ein Witz …«

»Na, erlauben Sie mal«, sagt Pinneberg wütend. »Wir sind kein gelber Verband! Wir werden nicht von den Arbeitgebern finanziert. Wir zahlen unsern Bundesbeitrag selber.«

»Für die Bonzen! Für die gelben Bonzen! Na, Emma, da hast du dir ja den Richtigen ausgesucht. Einen DAG-Mann! Einen richtigen Dackel!«

Pinneberg sieht hilfesuchend zu Lämmchen, aber Lämmchen sieht nicht her. Vielleicht ist sie es gewöhnt, aber wenn sie es gewöhnt ist, für ihn ist es doch schlimm.

»Angestellter, wenn ich so was schon höre«, sagt Mörschel. »Ihr denkt, ihr seid was Besseres als wir Arbeiter.«

»Denk ich nicht.«

»Denken Sie doch. Und warum denken Sie das? Weil Sie Ihrem Arbeitgeber nicht ’ne Woche den Lohn stunden, sondern den ganzen Monat. Weil Sie unbezahlte Überstunden machen, weil Sie sich unter Tarif bezahlen lassen, weil Sie nie ’nen Streik machen, weil Sie immer die Streikbrecher sind …«

»Es geht doch nicht nur ums Geld«, sagt Pinneberg. »Wir denken doch auch anders als die meisten Arbeiter, wir haben doch andere Bedürfnisse …«

»Anders denken«, sagt Mörschel, »anders denken, Sie denken genauso wie ein Prolet …«

»Das glaub ich nicht«, sagt Pinneberg, »ich zum Beispiel …«

»Sie zum Beispiel«, sagt Mörschel und kneift die Augen ganz gemein ein und feixt. »Sie zum Beispiel haben sich doch Vorschuss genommen?«

»Wieso?« fragt Pinneberg verwirrt. »Vorschuss …?«

»Na ja, Vorschuss«, grinst der andere noch mehr. »Vorschuss, da, bei der Emma. Nicht sehr fein, Herr. Mächtig proletarische Angewohnheit …«

»Ich …«, fängt Pinneberg an und ist sehr rot und hat Lust, die Türen zu donnern und zu brüllen: Oh, so rutscht mir doch alle …!

Aber Frau Mörschel sagt scharf: »Ruhig bist du jetzt, Vater, mit deinem Flachsen! Das ist erledigt. Das geht dich gar nichts an.«

»Da kommt der Karl«, ruft Lämmchen, denn draußen klappte eine Tür.

»Also her mit dem Essen, Frau«, sagt Mörschel. »Und recht habe ich doch, Schwiegersohn, fragen Sie mal Ihren Pastor, unfein ist das …«

Ein junger Mensch kommt herein, aber jung ist nur eine Altersbezeichnung, er sieht völlig unjung aus, noch gelber, noch galliger als der Alte. Er knurrt: »’n Abend«, nimmt von dem Gast keinerlei Notiz und zieht Jacke und Weste aus, dann das Hemd. Pinneberg sieht es mit steigender Verwunderung.

»Überstunden gemacht?« fragt der Alte.

Karl Mörschel knurrt nur etwas.

»Lass doch jetzt die Scheuerei, Karl«, sagt Frau Mörschel, »komm essen.«

Aber Karl lässt schon das Wasser am Ausguss laufen und fängt an, sich sehr intensiv zu waschen. Bis zu den Hüften ist er nackt, Pinneberg geniert sich etwas, Lämmchens wegen. Aber die scheint nichts dabei zu finden, es ist ihr wohl selbstverständlich.

Pinneberg ist vieles nicht selbstverständlich. Die hässlichen Steingutteller mit den schwärzlichen Anschlagstellen, die halb kalten Kartoffelpuffer, die nach Zwiebeln schmecken, die saure Gurke, das laue Flaschenbier, das nur für die Männer dasteht, dazu diese trostlose Küche, der waschende Karl …

Karl setzt sich an den Tisch, sagt brummig: »Nanu, Bier?«

»Das ist der Bräutigam von Emma«, erklärt Frau Mörschel. »Sie wollen bald heiraten.«

»Hat sie doch einen abgekriegt«, sagt Karl. »Na ja, einen Bourgeois. Ein Prolet ist ihr nicht fein genug.«

»Siehst du«, sagt Vater Mörschel, sehr befriedigt.

»Du zahl man lieber dein Kostgeld, eh du hier den Mund aufreißt«, erklärt Mutter Mörschel.

»Was heißt ›siehst du‹«, sagt Karl gallig zu seinem Vater. »Ein richtiger Bourgeois ist mir noch immer lieber als ihr Sozialfaschisten.«

»Sozialfaschisten«, antwortet der Alte böse. »Wer wohl Faschist ist, du Sowjetjünger!«

»Na klar«, sagt Karl, »ihr Panzerkreuzerhelden …«

Pinneberg hört mit einer gewissen Befriedigung zu. Was der Alte ihm gesagt hatte, bekam er jetzt vom Sohn mit Zinsen.

Nur, die Kartoffelpuffer gewannen nicht sehr dadurch, es war kein nettes Mittagessen, er hatte sich seine Verlobungsfeier anders gedacht.

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Geschwätz in der Nacht von Liebe und Geld

Pinneberg hat seinen Zug sausen lassen, er kann auch morgens um vier fahren. Dann ist er immer noch rechtzeitig im Geschäft.

Die beiden sitzen in der dunklen Küche. Drinnen in der einen Stube schläft Herr, in der anderen Frau Mörschel. Karl ist in eine KPD-Versammlung gegangen.

Sie haben zwei Küchenstühle nebeneinander gezogen und sitzen mit dem Rücken nach dem erkalteten Herd. Die Tür zu dem kleinen Küchenbalkon steht offen, der Wind bewegt leise den Schal über der Tür. Draußen ist – über einem heißen, radiolärmenden Hof – der Nachthimmel, dunkel, mit sehr blassen Sternen.

»Ich möchte«, sagt Pinneberg leise und drückt Lämmchens Hand, »dass wir es ein bisschen hübsch hätten. Weißt du« – er versucht es zu schildern –, »es müsste hell sein bei uns und weiße Gardinen und alles immer schrecklich sauber.«

»Ich versteh«, sagt Lämmchen, »ich versteh, es muss schlimm sein bei uns für dich, wo du es nicht gewöhnt bist.«

»So meine ich es doch nicht, Lämmchen.«

»Doch. Doch. Warum sollst du es nicht sagen, es ist doch schlimm. Dass sich Karl und Vater immer zanken, ist schlimm. Und dass Vater und Mutter immer streiten, das ist auch schlimm. Und dass sie Mutter immer um das Kostgeld betrügen wollen, und dass Mutter sie mit dem Essen betrügt … alles ist schlimm.«

»Aber warum sind sie so? Bei euch verdienen doch drei, da müsste es doch gut gehen.«

Lämmchen antwortet ihm nicht. »Ich gehör ja nicht rein hier«, sagt sie stattdessen. »Ich bin immer das Aschenputtel gewesen. Wenn Vater und Karl nach Haus kommen, haben sie Feierabend. Dann fang ich an mit Aufwaschen und Plätten und Nähen und Strümpfestopfen. Ach, es ist nicht das«, ruft sie aus, »das täte man ja gerne. Aber dass das alles ganz selbstverständlich ist und dass man dafür geschubst wird und geknufft, dass man nie ein gutes Wort bekommt, und dass der Karl so tut, wie wenn er mich miternährt, weil er mehr Kostgeld zahlt als ich … Ich verdien doch nicht viel – was verdient denn heute eine Verkäuferin?«

»Es ist ja bald vorbei«, sagt Pinneberg. »Ganz bald.«

»Ach, es ist ja nicht das«, ruft sie verzweifelt, »es ist ja alles nicht das. Aber, weißt du, Junge, sie haben mich immer richtig verachtet, ›du Dumme‹ sagen sie zu mir. Sicher, ich bin nicht so klug. Ich versteh vieles nicht. Und dann, dass ich nicht hübsch bin …«

»Aber du bist hübsch!«

»Du bist der erste, der das sagt. Wenn wir mal zum Tanz gegangen sind, immer bin ich sitzengeblieben. Und wenn dann Mutter zum Karl gesagt hat, er soll seine Freunde schicken, hat er gesagt: ›Wer will denn mit so ’ner Ziege tanzen?‹ Wirklich, du bist der erste …«

Ein unheimliches Gefühl beschleicht Pinneberg. Wirklich, denkt er, sie sollte mir das nicht so sagen. Ich hab immer gedacht, sie ist hübsch. Und nun ist sie vielleicht gar nicht hübsch …

Lämmchen aber redet weiter: »Siehst du, Jungchen, ich will dir ja nichts vorjammern. Ich will es dir nur dieses einzige Mal sagen, dass du weißt, ich gehör hier nicht her, ich gehör nur zu dir. Zu dir allein. Und dass ich dir ganz furchtbar dankbar bin, nicht nur wegen des Murkels, sondern weil du das Aschenputtel geholt hast …«

»Du«, sagt er. »Du!«

»Nein, jetzt noch nicht. – Und wenn du sagst, wir wollen es hell und sauber haben, du musst ein bisschen geduldig sein, ich hab ja nie richtig kochen gelernt. Und wenn ich etwas falsch mache, dann sollst du es mir sagen, und ich will dich nie, nie belügen …«

»Nein, Lämmchen, nein, es ist ja gut.«

»Und wir wollen uns nie, nie streiten. Oh Gott, Junge, was wollen wir glücklich sein, wir beide allein. Und dann der dritte, der Murkel.«

»Wenn es aber ein Mädchen wird?«

»Er ist ein Murkel, sage ich dir, ein kleiner süßer Murkel.«

Nach einer Weile stehen sie auf und treten auf den Balkon. Ja, der Himmel ist da über den Dächern und seine Sterne in ihm. Sie stehen eine Weile schweigend, jedes die Hand auf der Schulter des andern.

Dann kehren sie zu dieser Erde zurück, mit dem engen Hof, den vielen hellen Fensterquadraten, dem Jazzgequäk.

»Wollen wir uns auch Radio anschaffen?« fragt Pinneberg plötzlich.

»Ja, natürlich. Weißt du, ich bin dann nicht so mutterseelenallein, wenn du im Geschäft bist. Aber erst später. Wir müssen uns so furchtbar viel anschaffen!«

»Ja«, sagt er.

Stille.

»Junge«, fängt Lämmchen sachte an. »Ich muss dich was fragen.«

»Ja?« sagt er unsicher.

»Aber sei nicht böse!«

»Nein«, sagt er.

»Hast du was gespart?«

Pause.

»Ein bisschen«, sagt er zögernd. »Und du?«

»Auch ein bisschen«, und ganz rasch: »Aber nur ein ganz, ganz, ganz klein bisschen.«

»Sag du«, sagt er.

»Nein, sag du zuerst«, sagt sie.

»Ich …«, sagt er und bricht ab. »Sag schon!« bittet sie.

»Es ist wirklich nur ganz wenig, vielleicht noch weniger als du.«

»Sicher nicht.«

»Doch. Sicher.«

Pause. Lange Pause.

»Frag mich«, bittet er.

»Also«, sagt sie und holt tief Atem. »Ist es mehr als …«

Sie macht eine Pause.

»Als was?« fragt er.

»I wo«, lacht sie plötzlich. »Soll ich mich genieren! Hundertdreißig Mark hab ich auf der Kasse.«

Er sagt stolz und langsam: »Vierhundertsiebzig.«

»Au fein!« sagt Lämmchen. »Das wird grade glatt. Sechshundert Mark. Junge, was ein Haufen Geld!«

»Na …«, sagt er. »Viel finde ich es ja nicht. Aber man lebt schrecklich teuer als Junggeselle.«

»Und ich hab von meinen hundertzwanzig Mark Gehalt siebzig Mark für Kost und Wohnung abgeben müssen.«

»Dauert lange, bis man so viel zusammengespart hat«, sagt er.

»Schrecklich lange«, sagt sie. »Es wird und wird nicht mehr.«

Pause.

»Ich glaub nicht, dass wir in Ducherow gleich ’ne Wohnung kriegen«, sagt er.

»Dann müssen wir ein möbliertes Zimmer nehmen.«

»Da können wir auch für unsere Möbel mehr sparen.«

»Aber ich glaube, möbliert ist schrecklich teuer.«

»Also lass uns mal rechnen«, schlägt er vor.

»Ja. Wir wollen mal sehen, wie wir hinkommen. Wir wollen rechnen, als ob wir nichts auf der Kasse hätten.«

»Ja, das dürfen wir nicht angreifen, das soll ja mehr werden. Also hundertachtzig Mark Gehalt …«

»Als Verheirateter kriegst du doch mehr.«

»Ja, weißt du, ich weiß nicht.« Er ist sehr verlegen. »Nach dem Tarifvertrag vielleicht, aber mein Chef ist so komisch …«

»Darauf würde ich keine Rücksicht nehmen, ob er komisch ist.«

»Lämmchen, lass uns erst mal mit hundertachtzig rechnen. Wenn’s mehr wird, ist es ja nur schön, aber die haben wir doch erst mal sicher.«

»Also schön«, stimmt sie zu. »Nun erst mal die Abzüge.«

»Ja«, sagt er. »An denen kann man ja nichts ändern. Steuern sechs Mark und Arbeitslosenversicherung zwei Mark siebzig. Und Angestelltenversicherung vier Mark. Und Krankenkasse fünf Mark vierzig. Und die Gewerkschaft vier Mark fünfzig …«

»Na, deine Gewerkschaft, das ist doch überflüssig …«

Pinneberg sagt etwas ungeduldig: »Das lass man erst. Ich hab von deinem Vater genug.«

»Schön«, sagt Lämmchen, »macht zweiundzwanzig Mark sechzig Abzüge. Fahrgeld brauchst du nicht?«

»Gott sei Dank nein.«

»Bleiben also erst mal hundertsiebenundfünfzig Mark vierzig. Was macht die Miete?«

»Ja, ich weiß doch nicht. Zimmer und Küche, möbliert. Sicher doch vierzig Mark.«

»Sagen wir fünfundvierzig«, meint Lämmchen. »Bleiben hundertzwölf Mark vierzig. Was denkst du, brauchen wir fürs Essen?«

»Ja, sag du mal.«

»Mutter sagt immer, eine Mark fünfzig braucht sie für jeden am Tag.«

»Das sind neunzig Mark im Monat«, sagt er.

»Dann bleiben noch zweiundzwanzig Mark vierzig«, sagt sie.

Die beiden sehen sich an.

Lämmchen sagt ganz schnell: »Und dann haben wir noch nichts für Feuerung. Und nichts für Gas. Und nichts für Licht. Und nichts für Porto. Und nichts für Kleidung. Und nichts für Wäsche. Und nichts für Schuhe. Und Geschirr muss man sich auch manchmal kaufen.«

Und er sagt: »Und man möchte doch auch mal ins Kino. Und am Sonntag ’nen Ausflug machen. Und ’ne Zigarette rauch ich auch ganz gerne.«

»Und sparen wollen wir doch auch was.«

»Mindestens zwanzig Mark im Monat.«

»Dreißig.«

»Aber wie?«

»Rechnen wir noch mal.«

»An den Abzügen ändert sich nichts.«

»Und billiger kriegen wir kein Zimmer und Küche.«

»Vielleicht fünf Mark billiger.«

»Na ja, ich will mal sehen. ’ne Zeitung möcht man sich aber auch halten.«

»Sicher. Können wir nur am Essen sparen, nun gut, zehn Mark vielleicht ab.«

Sie sehen sich wieder an.

»Dann kommen wir noch immer nicht aus. Und an Sparen ist auch nicht zu denken.«

»Du«, sagt sie sorgenvoll, »musst du immer Plättwäsche tragen? Die kann ich nicht selber plätten.«

»Doch, das verlangt der Chef. Ein Oberhemd kostet sechzig Pfennig plätten und ein Kragen zehn Pfennig.«

»Macht auch wieder fünf Mark im Monat«, rechnet sie.

»Und Schuhe besohlen.«

»Auch das, ja. Das ist auch gemein teuer.«

Pause – »Also, rechnen wir noch mal.«

Und nach einer Weile: »Also streichen wir vom Essen noch mal zehn Mark ab. Aber billiger als für siebzig kann ich es nicht.«

»Wie machen es denn die andern?«

»Ja, ich weiß auch nicht. Furchtbar viele haben doch noch ’ne ganze Ecke weniger.«

»Ich versteh das nicht.«

»Da muss irgendwas nicht richtig sein. Lass uns noch mal rechnen.«

Sie rechnen und rechnen, sie kommen zu keinem anderen Ergebnis. Sie sehen sich an. »Weißt du«, sagt Lämmchen plötzlich, »wenn ich heirate, kann ich mir doch meine Angestelltenversicherung auszahlen lassen?«

»Au fein!« sagt er. »Das gibt sicher hundertzwanzig Mark.«

»Und deine Mutter«, fragt sie. »Du hast mir nie von ihr erzählt.«

»Da ist auch nichts zu erzählen«, sagt er kurz. »Ich schreib ihr nie.«

»So«, sagt sie. »Ja dann.«

Wieder Stille.

Sie kommen nicht weiter, also stehen sie auf und treten auf den Balkon. Es ist fast alles dunkel geworden im Hof, auch die Stadt ist still geworden. In der Ferne hört man ein Auto tuten.

Er sagt in Gedanken verloren: »Haarschneiden kostet auch achtzig Pfennige.«

»Oh du, lass«, bittet sie. »Was die andern können, werden wir auch können. Es wird schon gehen.«

»Hör noch mal zu, Lämmchen«, sagt er. »Ich will dir auch kein Haushaltsgeld geben. Zu Anfang des Monats tun wir alles Geld in einen Topf, und jeder nimmt sich immer davon, was er braucht.«

»Ja«, sagt sie. »Ich hab einen hübschen Topf dafür, blaues Steingut. Ich zeig ihn dir noch. – Und dann wollen wir furchtbar sparsam sein. Vielleicht lerne ich noch Oberhemden plätten.«

»Fünfpfennigzigaretten sind auch Unsinn«, sagt er. »Es gibt schon ganz anständige für drei.«

Aber sie stößt einen Schrei aus: »Oh Gott, Junge, den Murkel haben wir doch ganz vergessen! Der kostet ja auch Geld!«

Er überlegt. »Was kostet denn solch kleines Kind? Und dann gibt es Entbindungsgeld und Stillgeld, und Steuern zahlen wir auch weniger … Ich glaub immer, die ersten Jahre kostet der gar nichts.«

»Ich weiß nicht«, sagt sie zweifelnd.

In der Tür steht eine weiße Gestalt.

»Wollt ihr nicht endlich ins Bett?« fragt Frau Mörschel. »Drei Stunden könnt ihr noch schlafen.«

»Ja, Mutter«, sagt Lämmchen.

»Es ist schon alles gleich«, sagt die Alte. »Ich schlaf heute bei Vater. Der Karl bleibt heute Nacht auch weg. Nimm ihn dir mit, deinen …« Die Tür schrammt zu, ungesagt bleibt, welchen deinen …

»Aber ich möchte wirklich nicht«, sagt Pinneberg etwas pikiert. »Das ist doch wirklich nicht angenehm hier bei deinen Eltern …«

»Oh Gott, Junge«, lacht sie. »Ich glaub, der Karl hat recht, du bist ein Bourgeois …«

»Aber keine Spur!« protestiert er. »Wenn es deine Eltern nicht stört.« Er zögert noch einmal. »Und wenn Doktor Sesam sich nun geirrt hat, ich habe nichts da.«

»Also setzen wir uns wieder auf die Küchenstühle«, schlägt sie vor. »Mir tut schon alles weh.«

»Ich komm ja schon, Lämmchen«, sagt er reumütig.

»Ja, wenn du nicht willst …?«

»Ich bin ein Schaf, Lämmchen! Ich bin ein Schaf!«

»Na also«, sagt sie. »Dann passen wir ja zueinander.«

»Das wollen wir gleich sehen«, sagt er.

Erster Teil – Die kleine Stadt

Die Ehe fängt ganz richtig mit einer Hochzeitsreise an, aber – brauchen wir einen Schmortopf?

Der Zug, der um vierzehn Uhr zehn an diesem August-Sonnabend von Platz nach Ducherow fährt, befördert in einem Nichtraucherabteil dritter Klasse Herrn und Frau Pinneberg, in seinem Packwagen einen »ganz großen« Schließkorb mit Emmas Habe, einen Sack mit Emmas Betten – aber nur ihr Bett, »für sein Bett kann er selber sorgen, wie kommen wir dazu« – und eine Eierkiste mit Emmas Porzellan.

Der Zug verlässt eilig die große Stadt Platz, am Bahnhof war keiner, die letzten Vorstadthäuser bleiben zurück, nun kommen die Felder. Eine Weile noch geht es an dem Ufer der glitzernden Strela entlang, und nun Wald, Birken an der Bahn lang.

Im Abteil sitzt außer ihnen nur noch ein grämlicher Mann, der sich nicht entschließen kann, was er nun eigentlich tun soll: Zeitung lesen, die Landschaft besehen oder das junge Paar beobachten. Überraschend geht er von einem zum anderen über, und immer, wenn die beiden sich gerade ganz sicher glauben, werden sie von ihm erwischt.

Pinneberg legt ostentativ seine rechte Hand aufs Knie. Der Reif schimmert freundlich. Jedenfalls sind es vollständig legitime Dinge, die dieser Grämling beobachtet. Er sieht aber nicht den Ring an, sondern die Landschaft.

»Macht sich gut, der Ring«, sagt Pinneberg zufrieden. »Kann man überhaupt nicht sehen, dass er nur vergoldet ist.«

»Weißt du, ein komisches Gefühl ist es doch mit dem Ring, ich fühl ihn immerzu und muss ihn ewig ansehen.«

»Bist ihn eben noch nicht gewöhnt. Alte Eheleute spüren ihn überhaupt nicht. Verlieren ihn, merken es gar nicht.«

»Das sollte mir passieren«, sagt Lämmchen entrüstet. »Ich werd ihn merken, immer und immer.«

»Ich auch«, erklärt Pinneberg. »Wo er mich an dich erinnert.«

»Und mich an dich!«

Sie neigen sich gegeneinander, immer näher, immer näher. Und fahren zurück, der Grämliche starrt geradezu schamlos.

»Keiner aus Ducherow«, flüstert Pinneberg. »Müsste ihn kennen.«

»Kennst du denn alle bei euch?«

»Was so in Frage kommt, natürlich. Wo ich früher bei Bergmann Herren- und Damenkonfektion verkauft habe. Da kennt man alles.«

»Warum hast du denn das aufgegeben? Das ist doch eigentlich deine Branche.«

»Hab mich verkracht mit dem Chef«, sagt Pinneberg kurz.

Lämmchen möchte weiterfragen, sie spürt, hier ist noch ein Abgrund, aber lieber lässt sie es. Alles hat Zeit, jetzt, wo sie richtig standesamtlich getraut sind.

Er hat anscheinend auch gerade daran gedacht. »Deine Mutter sitzt nun längst wieder zu Haus«, sagt er.

»Ja«, sagt sie. »Mutter ist böse, deswegen ist sie auch nicht mit zur Bahn gegangen. ’ne Hundehochzeit ist das, hat sie gesagt, wie wir weggegangen sind vom Standesamt.«

»Soll ihr Geld sparen. So ’ne Festfresserei, wo alle nur dreckige Witze reißen, ist mir grässlich.«

»Natürlich«, sagt Lämmchen. »Mutter hätte es nur Spaß gemacht.«

»Haben nicht geheiratet, damit Mutter Spaß hat«, sagt er kurz angebunden.

Pause.

»Du«, fängt Lämmchen wieder an, »ich bin so schrecklich gespannt auf die Wohnung.«

»Na ja, hoffentlich gefällt sie dir. Viel Auswahl ist nicht in Ducherow.«

»Also, Hannes, beschreib sie mir noch mal.«

»Schön«, sagt er und erzählt, was er schon öfter erzählt hat. »Dass sie ganz draußen liegt, hab ich schon gesagt. Ganz im Grünen.«

»Das finde ich grade so fein.«

»Aber es ist ein richtiger Mietskasten. Maurermeister Mothes hat ihn da draußen hingesetzt, hat gedacht, da kommen noch mehr. Aber keiner kommt und baut da.«

»Warum nicht?«

»Weiß ich nicht. Ist den Leuten zu einsam, zwanzig Minuten von der Stadt. Kein gepflasterter Weg.«

»Also die Wohnung«, erinnert sie ihn.

»Ja, also, wir wohnen ganz oben, bei der Witwe Scharrenhöfer.«

»Wie ist sie denn?«

»Gott, was soll ich sagen. Sie tat ja sehr fein, sie hat auch mal bessere Tage gesehen, aber die Inflation … Na, sie hat mir tüchtig was vorgeweint.«

»Oh Gott!«

»Sie wird ja nicht immer weinen. Und überhaupt, das ist ausgemacht, nicht wahr, wir sind schrecklich reserviert! Wir wollen keinen Verkehr mit andern Leuten haben. Wir sind für uns genug.«

»Natürlich. Aber wenn sie aufdringlich ist?«

»Glaube ich nicht. Ist ’ne richtige feine alte Dame mit ganz weißen Haaren. Und sie hat schreckliche Angst um ihre Sachen, es sind doch noch die guten Sachen von ihrer Mutter selig, und wir sollen uns immer langsam auf das Sofa setzen, weil das noch die gute alte Federung hat, die verträgt keine plötzliche Belastung.«

»Wenn ich da man nur immer dran denke«, sagt Lämmchen bedenklich. »Wenn ich mich freue oder wenn ich schrecklich traurig bin und rasch mal heulen möchte, und ich setz mich hin, dann kann ich doch nicht an die gute alte Federung denken.«

»Musst du«, sagt Pinneberg streng. »Musst du eben. Und die Uhr unter dem Glassturz auf dem Vertiko, die sollst du nicht aufziehen und ich auch nicht, das kann nur sie allein.«

»Soll sie sich ihre olle eklige Uhr rausholen. Ich will in meiner Wohnung keine Uhr, die ich nicht aufziehen darf.«

»Es wird schon alles nicht so schlimm werden. Schließlich sagen wir, das Schlagen stört uns.«

»Aber gleich heute Abend! Ich weiß ja nicht, solch vornehme Uhren, vielleicht müssen die nachts aufgezogen werden. – Also, sag endlich, wie ist es: Man kommt die Treppe rauf und da ist die Flurtüre. Und dann …«

»Dann kommt der Vorplatz, den haben wir gemeinsam. Und links gleich die erste Tür, das ist unsere Küche. Das heißt, ’ne ganz richtige Küche ist es nicht, früher ist es wohl nur so ’ne Dachkammer gewesen unter dem schrägen Dach, aber ein Gaskocher ist da …«

»Mit zwei Flammen«, ergänzt Lämmchen traurig. »Wie ich das machen soll, das ist mir noch schleierhaft. Auf zwei Flammen kann doch kein Mensch ein Essen kochen. Mutter hat vier Flammen.«

»Aber natürlich geht es mit zweien.«

»Nun pass doch mal auf, Junge!«

»Wir wollen ganz einfach essen, da reichen zwei Flammen vollkommen.«

»Wollen wir auch. Aber ’ne Suppe willst du doch haben: erster Topf. Und dann Fleisch: zweiter Topf. Und Gemüse: dritter Topf. Und Kartoffeln: vierter Topf. Wenn ich dann zwei Töpfe auf den beiden Flammen warm habe, sind unterdes die beiden andern kalt geworden. Bitte!«

»Ja«, sagt er gedankenvoll. »Ich weiß doch auch nicht …«

Und plötzlich, ganz erschrocken: »Aber dann brauchst du ja vier Kochtöpfe!«

»Brauch ich auch«, sagt sie stolz. »Damit komm ich noch nicht einmal aus. Einen Schmortopf muss ich auch haben.«

»Oh Gott, und ich hab nur einen gekauft!«

Lämmchen ist unerbittlich. »Dann müssen wir eben noch vier dazu kaufen.«

»Aber das geht doch nicht vom Gehalt, das geht doch schon wieder vom Ersparten!«

»Das hilft aber nichts, Junge, sei schon vernünftig. Was sein muss, muss doch sein, wir brauchen doch die Töpfe.«

»Das hab ich mir ganz anders gedacht«, sagt er traurig. »Ich denke, wir kommen vorwärts und sparen, und nun fangen wir gleich mit Geldausgaben an.«

»Aber wenn es sein muss!«

»Der Schmortopf ist ganz überflüssig«, sagt er erregt. »Ich ess nie Geschmortes. Nie! Nie! Wegen so ein bisschen Schmorbraten einen ganzen Topf kaufen! Nie!«

»Und Rouladen?« fragt Lämmchen. »Und Braten?«

»Also die Wasserleitung ist auch nicht in der Küche«, sagt er verzweifelt. »Wegen Wasser musst du immer in die Küche von Frau Scharrenhöfer gehen.«

»Oh Gott!« sagt sie wieder einmal.

Von weitem sieht eine Ehe außerordentlich einfach aus: Zweie heiraten, bekommen Kinder. Das lebt zusammen, ist möglichst nett zueinander und sucht vorwärtszukommen. Kameradschaft, Liebe, Freundlichkeit, Essen, Trinken, Schlafen, das Geschäft, der Haushalt, sonntags ein Ausflug, abends mal Kino! Fertig.

Aber in der Nähe löst sich die ganze Geschichte in tausend Einzelprobleme auf. Die Ehe, die tritt gewissermaßen in den Hintergrund, die versteht sich von selbst, ist die Voraussetzung, aber beispielsweise: Wie wird das nun mit dem Schmortopf? Und soll er gleich heute Abend noch Frau Scharrenhöfer sagen, dass sie die Uhr aus dem Zimmer nimmt? Das ist es.

Dunkel fühlen es die beiden. Aber das sind noch keine dringenden Probleme, jeder Schmortopf wird über der Feststellung vergessen, dass sie jetzt allein im Abteil sind. Der Grämliche ist irgendwo ausgestiegen. Sie haben es gar nicht gemerkt. Schmortopf und Stutzuhr bleiben hinten, sie nehmen sich in die Arme, der Zug rattert. Ab und an holen sie einmal Atem, und dann küssen sie sich wieder, bis der langsamer fahrende Zug verrät: Ducherow.

»Oh Gott, schon!« sagen beide.

Pinneberg wird mystisch und Lämmchen bekommt Rätsel zu raten

»Ich hab ein Auto bestellt«, sagt Pinneberg hastig, »der Weg zu uns raus wäre doch zu viel geworden für dich.«

»Aber wieso denn? Wo wir sparen wollen! In Platz sind wir doch erst vorigen Sonntag zwei Stunden gelaufen!«

»Aber deine Sachen …«

»Die hätte uns auch ein Dienstmann bringen können. Oder jemand aus deinem Geschäft. Ihr habt doch Arbeiter …«

»Nein, nein, das mag ich nicht, das sieht dann so aus …«

»Na schön«, sagt Lämmchen ergeben, »wie du meinst.«

»Und noch eins«, sagt er eilig, während schon die Bremsen angezogen werden. »Wir wollen nicht so verheiratet tun. Wir wollen so tun, wie wenn wir uns nur ganz flüchtig kennen.«

»Aber warum denn?« fragt Lämmchen erstaunt. »Wir sind doch ganz richtig verheiratet!«

»Weißt du«, erklärt er verlegen, »es ist wegen der Leute. Wir haben doch keine Karten verschickt, überhaupt nichts angezeigt. Und wenn sie uns nun so sehen, sie könnten doch beleidigt sein, nicht wahr?«

»Das versteh ich nicht«, sagt Lämmchen verblüfft. »Das musst du mir noch mal erklären. Wieso können die Leute beleidigt sein, wenn wir verheiratet sind?«

»Ja, ich erzähl dir das alles noch. Aber jetzt nicht. Jetzt müssen wir … Nimmst du deinen Stadtkoffer? Also bitte, tu so ein bisschen fremd.«

Lämmchen sagt nichts mehr, sondern sieht ihren Jungen nur zweifelhaft von der Seite an. Der entwickelt eine vollendete Höflichkeit, hilft seiner Dame aus dem Wagen, sagt verlegen lächelnd: »Also dies ist der Hauptbahnhof Ducherow. Wir haben nämlich auch noch die Kleinbahn nach Maxfelde. Bitte, hier.« Und er geht voran, die Treppe vom Bahnsteig hinunter, wirklich ein bisschen zu rasch für einen so besorgten Ehemann, der sogar ein Auto bestellt hat, damit seiner Frau das Gehen nicht zu viel wird, immer zwei, drei Schritte vorweg. Und dann durch einen Seitenausgang. Da hält das Auto, ein geschlossener Wagen.

Der Chauffeur sagt: »Guten Tag, Herr Pinneberg. Guten Tag, Fräulein.«

Pinneberg murmelt hastig: »Einen Augenblick, bitte. Vielleicht schon einsteigen …? Ich besorge unterdes das Gepäck.« Und ist fort.

Lämmchen steht da und sieht den Bahnhofsplatz an, mit seinen kleinen zweistöckigen Häusern. Gerade gegenüber ist das Bahnhofshotel.

»Liegt hier auch das Geschäft von Kleinholz?« fragt sie den Chauffeur.

»Wo Herr Pinneberg arbeitet? Nee, Fräulein, da fahren wir nachher vorbei. Grade am Marktplatz, neben dem Rathaus.«

»Hören Sie«, sagt Lämmchen. »Können wir das Verdeck nicht aufmachen vom Wagen? Es ist doch heute ein so schöner Tag.«

»Tut mir leid, Fräulein«, sagt der Chauffeur. »Herr Pinneberg hat ausdrücklich geschlossen bestellt. Sonst hab ich das Verdeck doch auch nicht oben, diese Tage.«

»Na schön«, sagt Lämmchen. »Wenn es Herr Pinneberg so bestellt hat.« Und steigt ein.

Sie sieht ihn kommen, hinter dem Gepäckträger, der Koffer, Bettsack und Kiste auf einer Karre heranschiebt. Und weil sie ihren Mann seit fünf Minuten mit ganz anderen Augen ansieht, fällt ihr auf, dass er die rechte Hand in der Hosentasche hat. Das ist sonst seine Art nicht, so was macht er sonst gar nicht. Aber jetzt hat er jedenfalls die rechte Hand in der Hosentasche.

Dann fahren sie los.

»So«, sagt er und lacht ein wenig verlegen. »Nun bekommst du ganz Ducherow im Fluge zu sehen. Ganz Ducherow ist eigentlich eine lange Straße.«

»Ja«, sagt sie, »du wolltest mir auch noch erklären, warum die Leute beleidigt sein könnten.«

»Nachher«, sagt er. »Es redet sich wirklich schlecht jetzt. Das Pflaster ist miserabel bei uns.«

»Also nachher«, sagt sie und schweigt auch. Aber wieder fällt ihr etwas auf: Er hat den Kopf ganz in die Ecke gedrückt, wenn jemand ins Auto sieht, kann er ihn sicher nicht erkennen.

»Da ist dein Geschäft«, sagt sie. »Emil Kleinholz. Getreide, Futter- und Düngemittel. Kartoffeln en gros und en détail. – Da kann ich ja meine Kartoffeln bei dir kaufen.«

»Nein, nein«, sagt er hastig. »Das ist ein altes Schild. Wir haben Kartoffeln nicht mehr im Detail.«

»Schade«, sagt sie. »Ich hätte mir das so hübsch gedacht, wenn ich zu dir ins Geschäft gekommen wäre und hätte von dir zehn Pfund Kartoffeln gekauft. Ich hätte auch gar nicht verheiratet getan, du.«

»Ja, schade«, sagt auch er. »Es wäre wunderhübsch gewesen.«

Sie tippt mit der Fußspitze sehr energisch auf den Boden und tut einen empörten Schnaufer, aber sie sagt nichts weiter. – Gedankenvoll fragt sie später: »Haben wir hier auch Wasser?«

»Wieso?« fragt er vorsichtig.

»Nun zum Baden! Was heißt da wieso?« sagt Lämmchen ungeduldig.

»Ja, Badegelegenheit gibt es hier auch«, sagt er.

Und sie fahren weiter. Aus der Hauptstraße müssen sie heraus sein. Feldstraße liest Lämmchen. Einzelne Häuser, alle in Gärten.

»Du, hier ist es hübsch«, sagt sie erfreut. »Die vielen Sommerblumen!«

Das Auto macht förmlich Sprünge.

»Jetzt sind wir im Grünen Ende«, sagt er.

»Im Grünen Ende?«

»Ja, unsere Straße heißt das Grüne Ende.«

»Das ist eine Straße?! Ich dachte schon, der Mann hat sich verfahren.«

Links ist eine stacheldrahtbewehrte Koppel, besetzt mit ein paar Kühen und einem Pferd. Rechts ist ein Kleeschlag, der Rotklee blüht gerade.

»Mach doch jetzt das Fenster auf!« bittet sie.

»Wir sind schon da.«

Wo die Koppel zu Ende ist, hört auch das flache Land wieder auf. Hierhin hat die Stadt ihr letztes Denkmal gepflanzt – und was für eines! Schmal und hoch steht der Spekulationskasten des Maurermeisters Mothes im Flachen, braun und gelb verputzt, aber nur von vorn, die Seitenmauern sind unverputzt und warten auf Anschluss.

»Schön ist es nicht.« Lämmchen sieht an ihm hoch.

»Aber drinnen ist es wirklich nett«, ermutigt er sie.

»Also gehen wir rein«, sagt sie. »Und für den Murkel wird es natürlich herrlich sein hier, so gesund.«

Pinneberg und der Chauffeur fassen den Korb an, Lämmchen nimmt die Eierkiste, der Chauffeur erklärt: »Den Bettsack bring ich nachher.«

Unten im Parterre, wo der Laden ist, riecht es nach Käse und Kartoffeln, im ersten Stock wiegt der Käse vor, im zweiten herrscht er unumschränkt, und ganz oben unter dem Dach riecht es wieder nach Kartoffeln, dumpfig und feucht.

»Erklär mir das, bitte! Wie ist der Geruch am Käse vorbeigekommen?«

Aber Pinneberg schließt schon die Tür auf.

»Wir wollen gleich in die Stube, nicht wahr?«

Sie gehen über den kleinen Vorplatz, er ist wirklich sehr klein, und rechts steht eine Garderobe und links eine Truhe. Die Männer kommen kaum mit dem Korb durch.

»Hier!« sagt Pinneberg und stößt die Tür auf.

Lämmchen tritt auf die Schwelle.

»Oh Gott«, sagt sie verwirrt. »Was ist denn hier …?«

Aber dann wirft sie alles, was sie in Händen hat, auf ein umbautes Plüschsofa – unter der Eierkiste schreien die Federn auf –, läuft zum Fenster, es sind vier große, strahlend helle Fenster in dem langen Zimmer, reißt es auf und lehnt sich hinaus.

Unten, unter ihr, das ist die Straße, der zerfahrene Feldweg mit Sandgleisen und Gras und Melde und Saudisteln. Und dann ist das Kleefeld da, und jetzt riecht sie es, nichts riecht so herrlich wie blühender Klee, auf den einen ganzen Tag lang die Sonne geschienen hat.

Und an das Kleefeld schließen sich andere Felder, gelbe und grüne, und auf ein paar Roggenschlägen ist auch schon die Stoppel geschält. Und dann kommt ein ganz tiefgrüner Streifen – Wiesen –, und zwischen Weiden und Erlen und Pappeln fließt die Strela, schmal hier, ein Flüsschen nur.

Nach Platz, denkt Lämmchen. Nach meinem Platz, wo ich geschuftet habe und mich gequält, und allein gewesen bin, in einer Hofwohnung. Immer Mauern, Steine … Hier geht es immer weiter.

Und nun sieht sie im Fenster neben sich das Gesicht ihres Jungen, der den Chauffeur mit dem Bettsack abgefertigt hat, und er strahlt sie selig und selbstvergessen an.

Sie ruft ihm zu: »Sieh doch nur dies alles! Hier kann man leben …«

Sie reicht ihm aus ihrem Fenster die rechte Hand, und er nimmt sie mit seiner Linken.

»Der ganze Sommer!« ruft sie und beschreibt einen Halbkreis mit ihrem freien Arm.

»Siehst du das Zügel? Das ist die Kleinbahn nach Maxfelde«, sagt er.

Unten taucht der Chauffeur auf. Er ist wohl im Laden gewesen, denn er grüßt mit einer Flasche Bier. Der Mann wischt sorgfältig den Flaschenrand mit der Innenfläche der Hand ab, legt den Kopf zurück, ruft: »Ihre Gesundheit!« und trinkt.

»Prost!« ruft Pinneberg und hat Lämmchens Hand losgelassen.

»So«, sagt Lämmchen. »Und nun wollen wir die Schreckenskammer betrachten.«

Selbstverständlich ist so was ein Unding: Man dreht sich von der Betrachtung des schlichten, klaren Landes um und sieht einen Raum, in dem … Nun, Lämmchen ist wirklich nicht verwöhnt. Lämmchen hat höchstens einmal in einem Schaufenster an der Mainzer Straße in Platz schlichte, gradlinige Möbel gesehen. Aber dies …

»Bitte, Junge«, sagt sie. »Nimm mich bei der Hand und führe mich. Ich hab Angst, ich stoß was um oder ich bleib wo stecken und kann nicht mehr vor und zurück.«

»Na, so schlimm ist es doch auch nicht«, sagt er etwas gekränkt. »Ich finde, hier sind sehr gemütliche Winkel.«

»Ja, Winkel«, sagt sie. »Aber erzähl mir um Gottes willen, was ist das? Nein, sag kein Wort. Wir wollen hingehen, das muss ich in der Nähe betrachten.«

Sie machen sich auf die Wanderschaft, aber wenn sie auch meistens hintereinander gehen müssen, Lämmchen lässt ihren Hannes nicht los.