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Der heute vorherrschende Konsens über unser Klima lässt wenig Raum für andere ökologische Anliegen. Taktiken und Ziele des Klimaschutzaktivismus folgen immer noch dem gleichen Muster, das überhaupt erst zu Klimawandel und Umweltzerstörung geführt hat: Probleme wie Genmanipulation, riesige Biosprit-Plantagen oder die Anlage von Staudämmen werden ignoriert oder sogar als Lösung angeboten, was zu einer weiteren Verschärfung der Entwicklungs- und Globalisierungsproblematik führt. In seinem neuen Buch Klima plädiert Charles Eisenstein dafür, dass wir uns wieder dem Wasser, dem Boden, den Wäldern, der regenerativen Landwirtschaft und dem Naturschutz zuwenden, denn vieles, was Treibhausgasen und globaler Erwärmung zugeschrieben wird, ist in Wahrheit unserem separatistischen Weltbild geschuldet, das zur Krise unseres Planeten geführt hat. In Klima kommt Eisenstein zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, lediglich neue Formen der Energiegewinnung oder des Konsums einzuführen, um eine "nachhaltige Entwicklung" zu ermöglichen. Vielmehr bedarf es eines radikalen Umdenkens im Sinne von "Interbeing", einem ganzheitlichen Fühlen und Handeln, das die Verbundenheit aller Menschen, aber auch die Verbundenheit von Mensch und Natur ins Zentrum stellt, um einen positiven Wandel zu ermöglichen. Wir alle müssen lernen, Verantwortung für unser Tun zu übernehmen, und zur Heilung unseres Ökosystems beitragen; denn nur so können wir eine Heilung unserer klimatischen und sozialen Systeme erreichen.
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Seitenzahl: 507
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Charles Eisenstein
Eine neue Perspektive
Aus dem Englischen übersetzt vonJürgen Hornschuh, Eike Richter und Nikola Winter
Die amerikanische Originalfassung Climate – A New Story wurde gesponsert und veröffentlicht von der Society for the Study of Native Arts and Sciences, einer gemeinnützigen pädagogischen Gesellschaft in Berkeley, Kalifornien, die mit Partnern an der Entwicklung interkultureller Perspektiven, an der Förderung ganzheitlicher Sichtweisen auf Kunst, Wissenschaft und Heilung und an der Entstehung persönlicher und globaler Transformation zusammenarbeitet, indem sie Schriften zur Beziehung zwischen Körper, Geist und Natur veröffentlicht.
1. eBook-Ausgabe 2019
© 2018 by Charles Eisenstein. Einige Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 Unported (Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung) erschienen. Für mehr Information siehe: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/
© der deutschsprachigen Ausgabe 2019 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Zürich · Wien
Covergestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Übersetzung: Jürgen Hornschuh, Eike Richter und Nikola Winter
Redaktion: Franz Leipold
Satz: Danai Afrati
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95890-272-5
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
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Gewidmet den bescheidenen Menschen,deren stille Hingabe die Welt zusammenhält.
Danksagung
Vorwort
Prolog: Verloren im Labyrinth
1. Eine Krise des Seins
Eine verlorene Wahrheit
Wer sind »die«?
Der Kampf
2. Fundamentalismus
Die absurden Konsequenzen des CO2-Reduktionismus
Das soziale Klima
Schnell eine Ursache finden
Die Ur-Ursache
Dort, wo das Engagement lebendig ist
3. Die Schein-Diversität der Klima-Meinungen
Auf welcher Seite stehe ich?
Ein Besuch in der Welt der Skeptiker
Das Ende der Welt
Die Institution Wissenschaft
Die falsche Diskussion
4. Wasser
Die Wälder und die Bäume
Gaias Organe
5000 Jahre Klimawandel
5. Kohlenstoff und Ökosysteme
Feuchtgebiete
Grasland
Wälder
Fixiert auf Emissionen
Geo-Engineering – eine Illusion
Der Kult um messbare Größen
6. Ein Pakt mit dem Teufel
Die Ursachen für unsere Untätigkeit
Warum sollte ich meinen Sohn lieben?
Die Kommerzialisierung der Natur
Rechte der Natur
7. In einem Nashorn die ganze Welt
Die Betonwelt
Unsere Entscheidungsgrundlagen
8. Regeneration
Weshalb blieb regenerative Landwirtschaft bisher weitgehend unbeachtet?
Einen hungrigen Planeten ernähren
Das Wasser heilen
Mensch und Planet brauchen einander
Das Wilde pflegen
9. Energie, Bevölkerung und Entwicklung
Was bedeutet Entwicklung?
Übergang zur Fülle
Bevölkerung
10. Eine Reise nach Jerusalem
Der Wachstumsimperativ
Entwicklung und Schulden
Heuchelei: Ein weiterer falscher Feind
Grundzüge einer ökologischen Ökonomie
11. Eine Herzensangelegenheit
Wissenschaft als Religion
Wenn wir wüssten, dass sie fühlen kann
Die Kräfte des Landes
12. Die Brücke zu einer lebendigen Welt
Literatur
Anmerkungen
Dieses Buch ist nur dank all der Freunde und Verbündeten möglich, die das Feld halten, aus dem ich schreibe, und die mich daran erinnern, dass ich nicht verrückt bin. Unter ihnen sind Bayo Akomolafe, Ben Phelan, Brad Blanton, Camila Moreno, David Abram, Frank Phoenix, Helena Norberg-Hodge, Gigi Coyle, Ian MacKenzie, Jodie Evans, Joshua Ramey, Kelly Brogan, Laurie Young, Lissa Rankin, Lynn Murphy, Manish Jain, Marie Goodwin, Matthew Monihan, Michael Lerner, Miki Kashtan, Orland Bishop, Pat McCabe, Polly Higgins, Satish Kumar und so viele mehr, von denen mir einige sehr teuer sind. Ich würde mich auch gern bei den nahezu Fremden bedanken, die mich mit Großzügigkeit und Ermutigung überschütten; bei den Förderinnen und Förderern, die mich in den Jahren des Schreibens finanziell unterstützt haben; und ganz speziell bei meiner Frau Stella für ihre Loyalität zu meinem besten Selbst, bei meinen Eltern für fünfzig liebevolle Jahre, bei meinen Kindern dafür, dass sie mir die Zukunft offenlegen, und bei meiner ersten Frau Patsy, die mir gezeigt hat, mit welcher Kraft das Leben heilen kann.
Wenn man Botschaften an das breite Publikum vermitteln will, kommt es auf das framing, den Denkrahmen, an. So fiel mir plötzlich auf, als ich die Linguistin Elisabeth Wehling in einem Radiointerview gehört hatte, dass ich falsch lag, vom »Klimawandel« zu sprechen. »Klimawandel« hört sich so harmlos an, alles wandelt sich, warum nicht auch das Klima? In der Tat, der Begriff ist ein klassischer Fall eines Euphemismus, ein beschönigender Begriff, so wie man etwa vom »Einschläfern« spricht, wenn man das geplante Vergiften von Tieren meint. Doch wenn vom »Klimachaos« die Rede ist, hat sich der Denkrahmen geändert. Die Warnlampen des Publikums gehen an, nach Ursachen wird gefahndet, und Schutzvorkehrungen werden gefordert. Das framing ist schon die halbe Miete der Debattierkunst.
Charles Eisenstein tritt für einen neuen Denkrahmen, für ein neues framing ein, um die Klimakrise begreiflich zu machen. Er misstraut der Standarderzählung von der Erderwärmung (schon wieder ein Euphemismus), wonach die Erdüberhitzung von den steigenden Emissionen im Industriezeitalter herrührt, die es in immer wieder erneuten Minderungszielen zu reduzieren gilt. Speziellen Argwohn hegt er gegenüber der zahlenorientierten Expertokratie des Klimawandels, der er vorwirft, das Monopol über alle ökologischen und sozialen Fragen anzustreben. Allzu häufig wird der Klimaschutz als oberste Priorität gesehen, wohingegen der Vogelschutz – etwa in der Verteidigung der Migrationsrouten gegen die Windturbinen – oder der Schutz der Menschenrechte in Ghana – etwa im Widerstand gegen die Plantagen für Biotreibstoffe – sich hintanstellen muss. Dabei gehört Eisenstein keinesfalls zum Camp der Klimaskeptiker in den USA, ganz im Gegenteil. Er ist ein Tiefenökologe, wie man wohl im Deutschen sagen würde; er steht in der Tradition von John Muir, dem Begründer der US-amerikanischen Naturschutzbewegung, wie auch von Edward Abbey, dem radikalen Umweltaktivisten und Schriftsteller, der die Schluchten und Bergstöcke im Südwesten der USA besungen hat. Schließlich hat Eisenstein einen Schlüsselsatz, den er immer wieder variiert: »Die größte Bedrohung für das Leben auf der Erde sind nicht die Emissionen der fossilen Brennstoffe, sondern der Verlust von Wäldern, Boden, Feuchtgebieten und marinen Ökosystemen. Das Leben erhält das Leben. Wenn diese Beziehungen zusammenbrechen, sind die Ergebnisse unvorhersehbar … dies ist eine Bedrohung, der wir ausgesetzt sind, und da sie von vielen Faktoren abhängt, die noch dazu nicht-linear sind, kann sie nicht durch einfache Reduzierung der CO2-Emissionen überwunden werden.«
Eisenstein plädiert dafür, das Klimachaos von der globalen Zerrüttung der Ökosysteme her zu denken, und nicht vom Anstieg der Klimagase im Zuge der Industrialisierung. Sein Imperativ lautet: Regeneration der Ökosysteme. In Deutschland und Europa hat man viel Aufhebens von der Energiewende gemacht, um in gut dreißig Jahren die vollständige Dekarbonisierung der Energieversorgung zu erreichen. Mit der Stromwende hin zu Wind und Sonne fing es an, dann setzte immerhin ein rasanter Ausbau der erneuerbaren Energien ein, bis zu 40 % des deutschen Strombedarfs im Jahr 2018. Aber die Stromwende ist in den letzten Jahren arg ins Stocken geraten. Außerdem gehört zur Energiewende auch die Wärmewende in den Gebäuden sowie die Verkehrswende für Autos und Flugzeuge, ansonsten kann man die flächendeckende Dekarbonisierung vergessen. Überhaupt sprechen alle Anzeichen dafür, dass sich die Atmosphäre der Erde wandelt, jedoch nicht die kapitalistische Ökonomie.
Eisenstein bestreitet das nicht, er ist kein billiger Optimist, aber er hat zunächst ein anderes Thema. Er möchte den Haushalt des Lebens auf unserem Planeten in Ordnung bringen. So führt er zum Beispiel an, dass fast die Hälfte der Wälder, die einst die Erde bedeckt haben, im Laufe der Sesshaftigkeit des Menschen verschwunden sind, 60 % der Feuchtgebiete der USA sind in den letzten 300 Jahren verloren gegangen, und auch Ackerböden ohne chemische Düngung sind weltweit dezimiert. Das Klimachaos ist also das Ergebnis von zwei verhängnisvollen Entwicklungen: einmal dem steilen Anstieg der Emissionen und zum zweiten dem säkularen Niedergang der Aufnahmekapazität der Erde für CO2. Daher setzt sich Eisenstein nachdrücklich dafür ein, das Augenmerk auf Senken für Kohlenstoff zu richten. So ist beispielsweise eine massive Wiederaufforstung von artenreichen Wäldern in globalem Maßstab nötig, damit die Erde besser CO2 schlucken kann, vom Erhalt bestehender Wälder ganz zu schweigen. Dasselbe gilt für Meeresküsten: Mangroven, Seegras und Marschland binden Kohlenstoff noch besser als Wälder. Unversehrte Moore sind ein Hort der Artenvielfalt, sie dienen ebenso als Klimaschützer. Apropos Artenvielfalt: In humusreichen Böden stecken so viele Wurzeln, so viel Gestrüpp und Getier, dass die Landwirtschaft das Potenzial hat, zu einer globalen Senke für Kohlenstoff zu werden, nicht zu einer Mega-Quelle, wie es gegenwärtig der Fall ist. Ökologisch-regenerative Landwirtschaft, massiv betrieben, kann ein beträchtlicher Beitrag zum Klimaschutz sein.
So wird es Eisenstein gefallen haben, dass der Right Livelihood Award 2018, besser bekannt als »Alternativer Nobelpreis«, an zwei »Waldmacher« ging, an einen Bauern und einen Wissenschaftler. Der Bauer Yacouba Sawadogo aus Burkina Faso, berühmt als »der Mann, der die Wüste aufhielt«, demonstrierte, wie karges, unfruchtbares Land in einen landwirtschaftlich nutzbaren Wald verwandelt wird, und zwar mithilfe von Pflanzengruben, die kostbares Regenwasser besser speichern, sowie von Viehdung, der Schösslinge sprießen lässt. Genauso wie der Agrarwissenschaftler Anthony Rinaudo. Er entwickelte ebenfalls eine Methode, Wald aus Wüste wachsen zu lassen, durch die er imstande war, Bäume aus unterirdischen, oft noch intakten Wurzelsystemen in Trockengebieten zu ziehen. Er inspirierte eine ganze Bewegung von Landwirten, die ariden Landstriche in der Sahelzone wieder zu begrünen. »Agroforstwirtschaft« heißt das Zauberwort, eine Strategie, deren Früchte sich schon in Satellitenfotos ausmachen lassen: die Grüngürtel, die hin und wieder die Sahara eindämmen, kann man vom Weltraum aus sehen. Landwirtschaft, die auf der Symbiose mit Bäumen basiert, kennt im Grunde nur Gewinner: Sie sichert das Wasservorkommen, erzeugt Nahrungsmittel, stellt den Rohstoff Holz zur Verfügung und wirkt darüber hinaus der ländlichen Armut entgegen. Und vor allem ist sie ein Versuch, das Klimachaos zu überstehen, als Anpassung an Dürre wie auch als Senke für die globalen Emissionen.
Warum spielen diese Argumente in der Klimadebatte kaum eine Rolle? In Deutschland denkt man, wenn es um Klima geht, gleich an Braunkohle und Heizöl, Automotoren und Flugturbinen, an Windkraft- und Solaranlagen. Kurz, an die Reduzierung von Emissionen. So weit, so richtig. Aber warum haben Bäume, Humus und Moore so wenig Gewicht? Womöglich ist das der Ausdruck zweier Strömungen, die die Umweltbewegung seit Anbeginn im 19. Jahrhundert angetrieben haben: Gesundheitsschutz und Naturschutz. Die einen klagten ungesunde Städte und gefährliche Maschinen an, während die anderen sich um Flora und Fauna kümmerten und Naturschutzgebiete forderten. Im Jahre 1992 kristallisierten sich diese beiden Strömungen in zwei Konventionen der Vereinten Nationen heraus, den Konventionen über Klimawandel sowie über die biologische Vielfalt. Es sind demnach zwei Utopien, die gegenwärtig die Umweltszene beherrschen: das Solarzeitalter und das Zeitalter der Lebensvielfalt. Beide Utopien kreuzen sich, aber sie widersprechen einander auch. Man kann sich ein technisches Solarzeitalter mit digitalisierter Überwachung und künstlicher Intelligenz vorstellen, ein Zeitalter der Lebensvielfalt wohl nicht. Außerdem mobilisieren beide Utopien verschiedenes Wissen: das der Ingenieure und Physiker sowie das der Naturkundler und Biologen. Den einen steht das Kippen des Erdsystems drohend vor Augen, den anderen das Verstummen der Natur. Und die einen setzen auf erneuerbare Energien weltweit plus Kreislaufsysteme für Materialien, die anderen auf die Restauration der terrestrischen und marinen Ökosysteme, und zwar lokal wie auch global.
Charles Eisenstein schlägt vor, das Klimachaos in der Perspektive der biologischen Vielfalt zu sehen. Er empfiehlt, mit einem Wort, die Resilienz der Biosphäre zu erhöhen. In Klima breitet er seine Argumente aus. Aber er muss dafür tiefer ansetzen. Wenn man dieses Buch liest, dann kapiert man, dass es mit dem herkömmlichen instrumentellen Wissen nicht getan ist, sondern dass es ein neues Paradigma braucht. Begreifen kann man die Welt des Lebens nur, wenn man die Auffassung von René Descartes endgültig über Bord wirft, wonach der Mensch Herrscher und Besitzer der Natur sei. Stattdessen gilt es, den Menschen als einen Teilhaber der großen Lebensvielfalt der Natur zu betrachten, und nicht als Externen, der imstande ist, die Natur zu manipulieren. Die Natur vornehmlich als Ressource für die Menschen zu sehen und zu behandeln ist irrig. Das rührt von der Vorstellung her, die natürliche Welt sei eine Ansammlung von Objekten, die nichts Belangvolles fühlen oder gar denken. Doch die lebendige Natur hat auch Empfindungen und Bewusstsein, daher kann man sie als ein Netz von kommunizierenden Subjekten verstehen. Manche Pflanzen gedeihen besser mit Musik, Bäume tauschen über ihr Wurzelwerk (chemische) Mitteilungen aus, Tiere können Hilfe leisten oder Mitgefühl zeigen. Das alte Paradigma geht von der Trennung der Lebewesen aus, während das neue von der Interaktion allen Lebens ausgeht. Dementsprechend unterscheidet Eisenstein die Geschichte der Separation von der Geschichte des Interbeing.
Interbeing könnte man durchaus mit »Mitwelt« übersetzen. Der Begriff ist vom Naturphilosophen Klaus Michael Meyer-Abich in den 1980er-Jahren in den deutschen Sprachraum eingeführt worden. Im Gegensatz zur »Umwelt« legt »Mitwelt« mehr den Akzent auf die Verbundenheit aller Naturwesen mit dem Menschen, von der Bodenkrume bis zu den Berggipfeln, vom Plankton bis zum Pottwal, von den Elstern bis hin zu den Elefanten. Eisenstein will die Geschichte des Interbeing starkmachen, wobei er zum Ausdruck bringt, dass der Planet Erde ein lebendiger Organismus ist. Umweltkrisen hat man demzufolge zu verstehen als Verletzungen der Organe und Gewebe der Natur bis hin zu den Menschen. Alles hängt mit allem zusammen, die Auspuffrohre mit der Entwaldung, die Gletscher mit den Korallenriffen, die Tropenstürme mit den Hitzesommern. Es ist, als ob der Planet Erde Fieber bekommen hätte, wofür die Spezies Mensch – vielleicht: die Unterabteilung Kolonialismus wie Kapitalismus? – die Schuld trägt.
Auch die Naturwissenschaften haben dazugelernt, sie haben seit geraumer Zeit eine systemische Sicht auf das Leben. Die Natur wird nicht mehr als eine Maschine gesehen, sondern als ein Netzwerk von physikalischen, chemischen, mentalen und kommunikativen Beziehungen. Erst in den Relationen zwischen den Teilen der Natur wird die Natur als Ganzes fassbar. Deswegen ist die Geschichte der Separation eine Fiktion, und noch dazu eine gefährliche. Denn es führt den Menschen in eine Art von Autismus, der blind macht gegenüber den Folgen des menschlichen Handelns. Dagegen ist die Geschichte des Interbeing auf Empathie angelegt, es stellt den Menschen auf eine Stufe mit anderen Lebewesen und rechnet mit komplexen Rückkoppelungen, nicht nur physischer, sondern auch kommunikativer Art. Die Geschichte des Interbeing ist lebenstüchtiger als die Geschichte der Separation – und schöner.
Schöner? Wer sich heute sich mit Klima und Energie beschäftigt, der wird sich über Zahlen und Statistiken, über Szenarien und Projektionen beugen. Das hat seine Berechtigung, aber es geht an der Motivation der meisten Umweltfreunde vorbei. Sie wollen mehr und vor allem anderes: Sie wollen Bienen retten und auch die Bäume, Braunkohle stoppen und auch den Plastikmüll, sie wollen Radfahrer sein und auch Veganer. Rettung, Widerstand und ebenso die Versuche, einen frugalen Wohlstand zu praktizieren, sind indes alles Protestformen gegen eine fortschreitende Verhässlichung der Welt. Was »Schönheit« heißt, ist Gegenstand immer neuer Debatten, von Alltagsgesprächen bis zu gelehrten Tagungen, doch das Gegenteil von »Schönheit« ist weit bekannt: Verarmung, Vergiftung, Gefährdung, Reizlosigkeit. Die Umweltbewegung, besser noch Mitweltbewegung ist von der Suche nach Leben und Schönheit angetrieben. Ihr diese Motivation auszutreiben wäre fatal.
Wolfgang Sachs
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
Es war einmal ein Mann, der sich in einem Labyrinth verirrt hatte. Wie und warum er hineingeraten war, ist eine andere Geschichte – vielleicht wollte er ein Geheimnis lüften oder einen Schatz finden. Wie dem auch sei, mittlerweile hat er das längst vergessen. Er hat noch eine vage Erinnerung an eine sonnenbeschienene Landschaft. Oder ist es die Erinnerung einer Erinnerung, die ihm sagt, das Labyrinth ist nicht die ganze Wirklichkeit? Irgendwie ist er da hineingeraten, doch muss es einen Weg nach draußen geben. Und in letzter Zeit ist es immer unangenehmer, drinnen zu sein. Im Labyrinth wird es heißer und heißer, und er weiß, er wird sterben, wenn er den Ausgang nicht findet. Was als aufregende Entdeckungsreise begonnen hat, ist zu einer monströsen Falle geworden.
Außer sich rast er immer im Kreis und sucht den Weg nach draußen. Bald rennt er nach rechts, bald nach links, dann wieder nach rechts, auf und ab, im Kreis herum; er gerät in Sackgassen, kehrt um und findet sich wieder und wieder an seinem Ausgangspunkt. Er beginnt zu verzweifeln – all die Anstrengung hat ihn nirgendwo hingeführt.
Ein Stimmentribunal in seinem Kopf mischt sich mit Ratschlägen ein, wie schneller zu rennen und schlauer zu entscheiden wäre. Er beherzigt zunächst den ersten Rat, dann einen weiteren, und ungeachtet, wie verschieden die Ratschläge auch sind, das Resultat ist immer dasselbe. Manchmal hört er inmitten des Stimmengewirrs auch eine andere, eine leisere Stimme, die ihm sagt: »Hör auf. So kommst du nirgendwo hin. Hör einfach auf.«
Die anderen Stimmen antworten wütend: »Du kannst nicht aufhören, du kannst nicht ruhen. Nur wenn du deine Beine nutzt, wirst du jemals hier rauskommen, und die Situation ist ernst, deshalb bewegst du die Beine besser schnell. Der Zug ist bald abgefahren. Jetzt ist die Zeit, etwas zu tun. Erst wenn du draußen bist, kannst du ausruhen.«
Und so rennt er immer schneller, den Kopf voller Strategien, und zwingt sich selbst zu größter Anstrengung. Und noch einmal, nach vielen Wendungen und Richtungswechseln, findet er sich wieder in der Mitte des Labyrinths.
Dieses Mal muss er stehen bleiben. Aus reiner Erschöpfung und Verzweiflung bricht er zu einem Elendshäufchen zusammen. Der Tumult der Ratschläge schwillt ab und lässt seinen Verstand auf einmal in Ruhe zurück, so wie es passiert, wenn jede Möglichkeit ausgeschöpft ist und man nicht mehr weiß, was zu tun ist. Nun hat er eine Gelegenheit, über seine Irrwege noch einmal nachzusinnen, und im leeren Raum seines stillen Geistes keimen neue Erkenntnisse. Er erkennt, dass seine Irrläufe einem Muster folgten. Vielleicht ließ er auf jedes Rechtsabbiegen ein Linksabbiegen folgen. Er erinnert sich auch, an kleinen, dunklen Gängen vorbeigelaufen zu sein, die er ignorierte, weil sie nicht vielversprechend erschienen. Er erinnert sich, Blicke auf Geheimtüren geworfen zu haben, die er aus Eile nicht untersucht hatte. In der Stille beginnt er, die Struktur des Territoriums zu verstehen, in dem er herumgerannt ist.
Mittlerweile sind auch sein Herzklopfen und sein Atem gemeinsam mit dem Verstand zur Ruhe gekommen, und ein anderes Geräusch bahnt sich den Weg in sein Bewusstsein. Es ist ein wunderschöner musikalischer Klang, der, wie er nun erkennt, die ganze Zeit schon da war, übertönt von all den hastigen Schritten und dem Keuchen. Er weiß, dass er die Verbindung zu diesem Klang nie mehr verlieren darf.
Der Mann beginnt wieder zu gehen, ganz langsam dieses Mal. Er weiß, sobald er in Panik gerät (was verständlich wäre, da er ja einer realen Krise zu entkommen versucht) und wieder losrennt, fällt er in die alten Gewohnheiten zurück. Geleitet von seiner neuen Einsicht, erforscht er die kleinen, dunklen Gänge, die er vorher verworfen hatte. Er nimmt sich die Zeit, die versteckten Türen zu öffnen und hindurchzutreten.
Manchmal führen diese neuen Türen und Gänge ebenfalls in Sackgassen, aber immerhin gibt es nun Hoffnung. Er ist auf neuem Territorium, unbekanntem Territorium. Jetzt findet er sich nicht mehr ständig wieder zurück am Ausgangspunkt. Nun bewegt er sich tatsächlich vom Fleck.
Als er die bekannten Pfade weiter hinter sich lässt, verliert sein zuvor gewonnenes Verständnis von der Struktur des Labyrinths immer mehr an Nützlichkeit. Er begegnet den Gabelungen ohne mentale Karte. Sollte er nun rechts oder links abbiegen? In solchen Momenten kommt er wieder zur Ruhe, lauscht und schwingt sich wieder ein auf den musikalischen Klang, zu dem er stets achtsam Kontakt wahrt. Aus welcher Richtung kommt der Klang am klarsten? Das ist die Richtung, die er wählt.
Wenn er der Musik folgt, scheint sie ihn manchmal in die falsche Richtung zu leiten. »Das kann unmöglich der Weg nach draußen sein«, denkt er. Aber dann macht der Weg wieder eine Biegung, und er lernt, dem Klang, der ihn ruft, mehr und mehr zu vertrauen.
Der Musik folgend, erreicht der Mann irgendwann den letzten Gang, an dessen Ende er den Schimmer von Tageslicht erkennt. Er tritt hinaus in die sonnenbeschienene Landschaft, von der er immer wusste, dass es sie gibt, und sie ist schöner, als er sich je vorzustellen gewagt hatte. Und dort findet er auch die Quelle der Musik.
Es ist seine Geliebte, die die ganze Zeit über für ihn gesungen hat.
Ich erinnere mich noch an das Ereignis, das mich zu einem umweltbewussten Menschen machte. Ich war sieben oder acht Jahre alt, als ich mit meinem Vater vor unserem Haus stand und eine große Schar Stare vorbeifliegen sah. »Das ist eine große Vogelschar«, sagte ich.
Mein Vater erzählte mir dann von der Wandertaube, deren Scharen einst so riesig waren, dass sie den ganzen Himmel füllten und sich über Stunden von Horizont zu Horizont erstreckten. »Sie ist heute ausgestorben«, erzählte er mir. »Die Menschen zielten mit ihren Flinten zufällig irgendwohin, und die Tauben fielen vom Himmel. Jetzt sind keine mehr übrig.« Ich hatte von den Dinosauriern gehört, aber nun wurde mir die Bedeutung des Wortes »ausgestorben« erst richtig klar.
In dieser Nacht weinte ich in meinem Bett, und auch so manche Nacht danach. Das war, als ich noch wusste, wie man weint – eine Fähigkeit, die, einmal ausgelöscht durch die Brutalität der Teenager-Zeit eines Jungen in den 1980er-Jahren, fast genauso schwer wiederzubeleben war wie die Wandertaube.
Diese beiden Arten des Aussterbens haben miteinander zu tun. Von was für einem Seinszustand gehen wir aus, wenn wir andere Arten ausrotten, Böden und Meere zerstören und die Natur als Ressourcenlager für den maximierten kurzfristigen Gewinn behandeln? Es kann nur an der Einengung, Betäubung und Zerstreuung unserer Fähigkeit liegen, Anteilnahme und Liebe zu spüren. Diese Betäubung ist nicht auf persönliches Fehlverhalten zurückzuführen, sondern untrennbar mit den tiefsitzenden Narrativen verbunden, den großen Erzählungen, die unsere Zivilisation legitimieren und lenken und ihre sozialen Strukturen stützen.
Entgegen dem Anschein ist es weder Verrücktheit noch Blindheit, die uns den Weg des kollektiven Ruins beschreiten lässt. Das sind nur Symptome einer tiefer sitzenden Krankheit. Denken Sie etwa, man müsse einem Alkoholiker nur zeigen, dass das Trinken seine Gesundheit, seine Beziehungen und seine wirtschaftliche Sicherheit schädigt, und dann würde er aus Angst vor so einer miserablen Zukunft aufhören? Natürlich nicht. Er opfert nicht aus Dummheit seine Zukunft für eine vorübergehende Linderung des inneren Schmerzes. Deshalb können Sie ihm vom bevorstehenden Leberschaden predigen, so viel Sie wollen, und vielleicht sagt er sogar: »Ja, Sie haben recht« und wird für ein paar Wochen etwas weniger trinken oder es zumindest mit gutem Vorsatz versprechen. Tatsächlich wird sich jedoch nichts ändern.
Wie sehr ähnelt dieses Szenario dem Klimadiskurs. Wir geloben, den Ausstoß zu reduzieren – und ignorieren gleichzeitig die sozialen und ökonomischen Bedingungen, die eine Reduktion unmöglich machen. Der CO2-Ausstoß steigt nach drei Jahrzehnten der Klimagespräche und -abkommen weiter. Dieses Muster findet sich nicht nur im Klimadiskurs. Das Artensterben geht weiter, Fledermauskolonien und Bienenvölker sterben, Wälder schrumpfen, Korallenriffe bleichen aus, und Elefanten und Wale sterben. Niemand will auf einem kahlen, kranken oder sterbenden Planeten leben, und doch scheinen wir wie ein Suchtkranker unseren Kurs nicht ändern zu können.
Wie so manches Klischee birgt »unsere Sucht nach fossilen Brennstoffen« eine verlorene Wahrheit. Üblicherweise höre ich diese Floskel in einem aburteilenden oder empörten Tonfall geäußert (mit demselben Mangel an Empathie, der ein Teil des Problems ist). Aber wenn wir die Metapher der Sucht ernst nehmen, wäre unsere nächste Frage, was diese Abhängigkeit antreibt.
Einige im linken Spektrum würden sagen, es sei der Kapitalismus. Aber auch die Sowjetunion hat der Umwelt schwere Schäden zugefügt; außerdem ist der Kapitalismus (wie der Kommunismus) in fundamentalere Glaubenssysteme eingebettet, die größtenteils unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle liegen. Genau diese möchte ich in diesem Buch aufzeigen, und ich hoffe, von da aus Richtlinien und Strategien für die ökologische Heilung abzuleiten. Ich werde beschreiben, wie viele der Bemühungen, den Klimawandel zu bekämpfen oder die Umwelt zu retten, auf denselben Annahmen beruhen, die uns in den Ruin treiben. Ich werde grundlegende Probleme mit dem Standard-Narrativ zum Klimawandel, wie ich es nenne, aufzeigen und erläutern, inwiefern die Darstellung des Problems selbst ein Teil des Problems ist. Ich werde erklären, weshalb Lösungen, die aus diesem Narrativ abgeleitet werden, Gefahr laufen, die Probleme noch zu vergrößern. Nach dieser Offenlegung des Labyrinths werde ich die dunklen Gassen und geheimen Türen erkunden, die der dominante Diskurs ignoriert, die aus einer alternativen Geschichte über die Welt1 jedoch klar zutage treten.
Es sind nicht falsche Vorstellungen, die eine Sucht antreiben. Sucht entsteht, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Die Esssüchtige ist nicht eigentlich hungrig nach Nahrungsmitteln; sie ist hungrig nach Verbundenheit. Die Alkoholikerin versucht nur, sich für eine Weile gut zu fühlen. Der Spielsüchtige sehnt sich nach Befreiung aus einer wirtschaftlichen oder psychischen Einengung. Der Pornografie-Süchtige wünscht sich eigentlich Intimität und möchte sich angenommen fühlen. Diese (zugegebenermaßen pauschalisierenden) Beispiele vermitteln ein generelles Prinzip: Verlangen kommt von unerfüllten Bedürfnissen. Wenn das wahre Objekt des Verlangens nicht verfügbar ist, wird das Verlangen auf den am einfachsten erreichbaren Ersatz verlagert. Was ist nun das unerfüllte Verlangen hinter der Sucht nach fossilen Brennstoffen?
In der Suchttheorie gibt es das Konzept des Suchttransfers: Wenn der Süchtigen das Objekt ihrer Sucht mit Zwang entzogen wird, wird sie ihre Sucht auf etwas anderes verlagern. Menschen, die nach einer magenverkleinernden Operation nicht mehr übermäßig essen können, beginnen stattdessen oft mit dem Trinken oder mit zwanghaftem Glücksspiel. Übermäßiges Essen, Trinken und Spielen sind Symptome einer tieferen Verletzung. Gleichermaßen greift die gegenwärtige Obsession von Umweltaktivisten mit fossilen Energieträgern, wie ich darlegen werde, ebenfalls zu kurz. Es wäre rein theoretisch denkbar, dass wir eine neue, saubere Energiequelle entdecken und doch die Sucht nach einem weltverschlingenden Wirtschafts- und Produktionssystem aufrechterhalten.
Was ist es, das wir auf unserer Jagd nach dem Größer-Schneller-Mehr wirklich suchen? Die folgenden Kapitel zu Energie und Landwirtschaft werden klären, dass die Probleme der Menschheit ihre Wurzel nicht in einem quantitativen Mangel haben; Hunger ist beispielsweise fast immer ein Resultat von Verteilungsproblemen. Wir suchen durch Wachstum andere Bedürfnisse zu erfüllen, Bedürfnisse, die, weil sie qualitativer Natur sind, von Wachstum nie befriedigt werden können. Auf menschliche Grundbedürfnisse nach Verbundenheit, Gemeinschaft, Schönheit, Heiligkeit und Intimität wird mit Imitaten reagiert, die vielleicht vorübergehend betäuben, schlussendlich aber das Verlangen nur vergrößern. Das Trauma unserer Entbehrung treibt die kollektiven Süchte an. Ökologische Heilung verlangt deshalb von unserer Gesellschaft, ihre Mangelsymptome zu hinterfragen und sich in Richtung qualitativer Entwicklung umzuorientieren. Das erfordert ein erhebliches Umdenken, da die uns leitenden Narrative – vom ökonomischen bis zum wissenschaftlichen – auf quantitativem Denken beruhen.
Umweltzerstörung ist nur ein Aspekt einer Initiationsprüfung, die unsere Zivilisation vorantreibt in eine neue Geschichte, eine kommende Mythologie. Mit einer Mythologie meine ich die Narrative, aus denen wir unser Verständnis darüber zusammensetzen, wer wir sind, was real und möglich ist, warum wir hier sind, wie Veränderungen geschehen, was wichtig ist, wie wir unser Leben leben sollten, wie die Welt zu dem wurde, was sie ist, und was als Nächstes kommen soll. Umweltzerstörung ist die unausweichliche Konsequenz jener Mythologie – ich nenne sie die Geschichte von der Separation – welche die letzten paar Jahrhunderte dominiert hat (und in gewissem Umfang auch die letzten Jahrtausende). Um Einstein zu paraphrasieren, diese Mythologie wird nicht aus ihrem Inneren überwunden werden.
Die Essenz der Geschichte von der Separation ist das herausgelöste und abgetrennte Selbst in einer Welt, die das Andere ist. Da ich von dir getrennt bin, braucht sich dein Wohlergehen nicht auf meines auszuwirken. In ein objektives, äußerliches Universum geworfen, bedeutet mehr für dich faktisch weniger für mich; natürlich stehen wir dann in einem Wettbewerb miteinander. Gelingt es mir, den Wettbewerb zu gewinnen und dich zu beherrschen, werde ich besser und du wirst schlechter dran sein. Dasselbe gilt für die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Je mehr Kontrolle wir über die gesichtslosen Naturkräfte ausüben können, desto besser für uns. Je mehr wir einem gleichgültigen und sinnlosen Universum unsere Intelligenz aufprägen können, desto besser wird die Welt. Es ist also unsere Bestimmung, Herren und Meister der Natur zu werden, indem wir ihre ursprünglichen Grenzen überschreiten. Das Universum, so geht diese Geschichte weiter, besteht nur aus Atomen und Leere, und es besitzt keine der Eigenschaften eines Selbst, wie wir Menschen es haben: Intelligenz, Absicht, Empfindungsvermögen, Handlungskompetenz und Bewusstsein. Es steht uns daher frei, diese Eigenschaften auf die toten Bausteine des Universums, seine generischen Partikel und unpersönlichen Kräfte anzuwenden, um der unbelebten Welt menschliche Intelligenz aufzuprägen.
Alle Institutionen der modernen Welt sind von der Geschichte von der Separation geprägt. In anderen Büchern habe ich beschrieben, wie sie dem Geld, der Rechtsprechung, der Medizin, der Wissenschaft, der Technologie, der Erziehung usw. zugrunde liegt und wie diese Institutionen sich im Rahmen einer anderen Geschichte entwickeln könnten.
Dieses Buch zielt darauf ab, mit spezifischem Augenmerk auf den Klimawandel und die allgemeine Umweltkrise den Übergang in eine neue (und in vielen Aspekten uralte) Geschichte zu beschreiben und – wie ich hoffe – zu beschleunigen. Der Übergang zu einer anderen Mythologie ist mehr als ein rein verstandesmäßiger. In diesem Buch werde ich Argumente dafür liefern, dass die anstehenden äußeren Änderungen viel grundlegender sind, als bloß die industrielle Gesellschaft auf Energieressourcen ohne CO2-Ausstoß umzustellen. Jeder Aspekt der Gesellschaft, der Wirtschaft und des politischen Systems muss auf eine neue Geschichte ausgerichtet werden2.
Der Name, den ich für das neue Narrativ gern verwende, geht zurück auf Thich Nhat Hanhs Begriff »interbeing«. Dieses Wort hat zwar buddhistische Konnotationen, aber ich bin kein Buddhist, und man muss den Buddhismus auch nicht gutheißen, um die Einsichten wertschätzen zu können, die dieses Konzept ermöglicht.
Interbeing3 geht nicht so weit zu behaupten: »Wir sind alle eins«, aber es lockert die rigiden Grenzen des herausgelösten, abgetrennten Selbst durch die Feststellung, dass das Dasein Beziehung ist. Wer ich bin, hängt davon ab, wer du bist. Die Welt ist Teil von mir, so wie ich Teil von ihr bin. Was der Welt geschieht, geschieht in gewissem Sinne auch mir. Das kulturelle oder politische Klima beeinflusst das meteorologische Klima. Wenn eines sich ändert, muss alles andere sich auch ändern. Die Eigenschaften des Selbst (Empfindungsfähigkeit, Handlungskompetenz, Sinn und Seinserfahrung) sind nicht allein auf den Menschen beschränkt. Und die Ergebnisse unseres Handelns werden unausweichlich auf uns zurückfallen und uns beeinflussen.
Interbeing muss mehr sein als ein philosophisches Konzept, wenn sich irgendetwas verändern soll. Es muss eine Art zu sehen, ein Seinszustand, ein strategisches Prinzip und vor allem eine gefühlte Realität sein. Philosophische Argumente allein werden es genauso wenig hervorbringen, wie Appelle an die Vorausschau und die Vernunft die Umweltkrise lösen werden.
Nur wenn wir unser inneres Ökosystem in seiner Fülle – unsere ganze Empfindsamkeit und unsere Fähigkeit zu lieben – wiederherstellen, gibt es Hoffnung, auch das äußere Ökosystem wiederherzustellen. Heilung auf einer Ebene wirkt sich zügig auf alle anderen Ebenen aus, so wie aber auch jede Form der Auslöschung unsere innere Verödung spiegelt und umgekehrt. Damit will ich nicht anregen, dass wir mit dem äußeren Aktivismus aufhören, um uns nur mehr der Pflege unseres Innenlebens zu widmen. Liebe und Empathie sind die fühlbaren Dimensionen der Geschichte vom Interbeing, und wir können nur effektiv von dieser Geschichte aus handeln und ihr dienen, wenn wir uns von diesen Gefühlen leiten lassen. Sie sind das Lied, das uns aus dem Labyrinth führen wird. Um ihnen zu folgen, müssen wir wieder lernen zu lauschen – eine Fähigkeit, die durch Trauma und Ideologie abgestumpft und auf eine sehr schmale Bandbreite reduziert wurde.
Dann werden wir auch erkennen, wie wir die Systeme ändern, die die Separation verdinglichen, indem sie unsere Verbindungen zu Gemeinschaft, Pflanzen, Tieren, Land und Leben durchtrennen und durch technologie- und geldvermittelte, gleichförmige Beziehungen der Massengesellschaft ersetzen. (Dermaßen verarmt nimmt es nicht Wunder, dass wir stets nach »mehr« hungern.)
Liebe erweitert das Selbst, sodass es andere miteinbezieht. In der Liebe ist dein Wohlergehen nicht von meinem eigenen zu trennen. Dein Schmerz lässt mich leiden, und dein Glücklichsein macht mir Freude. Die Ideologie der Moderne begrenzt den Geltungsbereich unserer Liebe, indem sie dem Selbst eine enggefasste Identität und dem Nicht-Selbst den Status von stummen, gefühllosen Objekten oder von am Eigeninteresse orientierten Konkurrenten zuschreibt. Für andere über ihren Nutzen für uns hinaus zu sorgen wird damit zu einer Art Wahn, etwa so, als hielte man sich einen Ziegel als Haustier, den man liebt4. Vielleicht kommt es daher, dass für Umweltschutz so oft mit Warnungen vor all den schlimmen Dingen argumentiert wird, die zu befürchten sind, wenn wir nicht unsere Lebensweise ändern. Wir nennen Argumente »rational«, wenn sie einen Bezug zum Eigeninteresse haben. Dieses Buch wird begründen, weshalb rationale Überlegungen allein nicht genug sind und warum die Umweltkrise nach einer Revolution der Liebe verlangt.
Für das vereinzelte, getrennte Selbst in einer Welt des Anderen ist die Liebe irrational. Nach der Logik der Separation steht der Verstand immer in Konflikt mit dem Herzen. Nicht so in der Logik des Interbeing, weil ich dann erkenne, dass das, was den andern geschieht, allen Eingesperrten, allen Bombardierten, allen Verschleppten, allem Abgeholzten, allem Verschmutzten und Ausgerotteten, in gewissem Sinne genauso mir selbst geschieht. In der Geschichte des Interbeing sind Herz und Verstand wiedervereinigt, und die Wahrheit liegt dort, wo die Liebe ist.
Wenn Liebe die Wahrheit ist, dann wird unsere scheinbare Kurzsichtigkeit verständlich: Sie ist betäubte Liebe. Wir sehen nicht, dass das, was wir entwerten und zerstören, Teil von uns selbst ist. Wir sehen nicht, dass wir nicht bloß von den Meeren, Regenwäldern und allen lebenden Systemen der Erde bedingt abhängig sind, um zu überleben. Etwas viel Wichtigeres als das Überleben steht auf dem Spiel: unsere Menschlichkeit. Es ist unser ganzes Seinspotenzial. Ist die Liebe betäubt, glauben wir, wir könnten Schaden anrichten, ohne selbst Schaden zu leiden.
Natürlich würde ich kein Buch schreiben, das nur ein vages Versprechen abgibt, dass die Liebe die Welt retten wird. Wie setzen wir sie systematisch in die Tat um? Wie überwinden wir, was sie blockiert? Wie erwecken wir unsere betäubte Empathie? Wie übersetzen wir die Diagnose, die ich angeboten habe, in praktische Handlungen auf der Ebene von Politik und ökologischer Genesung? Diese Fragen sind Gegenstand dieses Buches.
Das Artensterben, wie Sie wissen, endete nicht mit dem 19. Jahrhundert. Das Schicksal der Wandertaube nahm das Unheil vorweg, welches das Leben auf unserem Planeten derzeit ereilt, eine Katastrophe, die nichts unberührt lässt. Die Katastrophe ist die Verarmung des Lebens, in jedem Sinne dieses Ausdrucks. Ausrottung ist eine Form von Verarmung; der ganz allgemeine Rückgang der Artenvielfalt ist ein anderer; und ebenso die sich ausbreitenden Wüsten an Land und in den Meeren und die allgemeine Erschöpfung des Leben, selbst dort, wo es noch grün ist. Auch wenn Arten nicht aussterben, verbleiben oft nur winzige Restpopulationen; sie schrumpfen auf einen kleinen Teil ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets, verlieren Unterarten und genetische Vielfalt und bewohnen stark verarmte Ökosysteme. Der Schwund biologischen Lebens geht mit der Verarmung des menschlichen Lebens und der kulturellen Vitalität einher. Das alles sind Aspekte derselben Krise.
Kürzlich machte ich die Bekanntschaft eines Bauern aus North Carolina. Ich nenne ihn Mike, ein schollenverbundener Mann, dessen Familie seit 300 Jahren dort lebt. Sein starker Dialekt, rar im Zeitalter der durch Massenmedien erzeugten sprachlichen Vereinheitlichung, ließ konservative »Südstaaten-Werte« vermuten. Er war in der Tat voller Bitterkeit, allerdings nicht gegen die üblichen andersfarbigen oder liberalen Verdächtigen; stattdessen ließ er eine Tirade über die Regierung, Chemtrails, die Banken, die 9/11-Verschwörung, die Apathie der unmündigen Leute und so weiter vom Stapel. »Wir, das Volk, müssen uns erheben und sie niederschmettern«, sagte er, aber es lag keine Inbrunst in seiner Stimme, nur bleierne Verzweiflung.
Vorsichtig eröffnete ich ihm die Idee, dass die Täter dieser Verbrechen selbst Gefangene seien in einer Welt-Geschichte, in der alles, was sie täten, notwendig, rechtens und gerechtfertigt sei; und dass wir uns ihnen zugesellten, wenn wir selbst auch glauben, das Böse müsse mit Gewalt bekämpft werden. Denn genau das ist die Ideologie, die unsere vermeintlichen Gegner dazu bewogen hat, Technologien der Kontrolle anzuwenden, ob nun sozialer, medizinischer, materieller oder politischer Art. Und ganz nebenbei, sagte ich, wenn es zum Krieg käme, um die Tyrannen zu stürzen, wenn es zu einem Kräftemessen käme, stünde es schlecht um uns. Sie sind die Meister des Krieges. Sie haben die Waffen: die Gewehre, die Bomben, das Geld, den Überwachungsstaat, die Medien und die politische Maschinerie. Wenn Hoffnung besteht, dann muss es einen anderen Weg geben.
Vielleicht ist das der Grund, warum so viele altgediente Aktivisten nach Jahrzehnten des Kampfes der Verzweiflung erliegen. Liebe Leserin, lieber Leser, denken Sie, dass wir den militärisch-industriellen-finanziellen-landwirtschaftlichen-pharmazeutischen-NGO-edukativen-politischen Komplex5 in seinem eigenen Spiel schlagen können? Die moderne Umweltbewegung, und speziell die Klimawandel-Bewegung, hat genau das versucht, und dabei hat sie nicht nur Niederlagen riskiert, sondern manchmal sogar eine Verschlechterung der Situation, selbst in ihren Siegen. Die ökologische Krise ist ein Aufruf zu einer tiefergreifenden Form von Revolution. Deren Strategie schließt ein, dass wir wiederherstellen, was die moderne Weltsicht und ihre Institutionen fast ausgerottet haben: unser gefühltes Verstehen der lebendigen Intelligenz und wechselseitigen Verbundenheit allen Seins. Das nicht zu fühlen heißt, nicht vollständig lebendig zu sein. Es heißt, in Armut zu leben.
Mike verstand mich nicht. Er ist ein intelligenter Mann, aber es schien, als wäre er von etwas besessen; ganz gleich, was ich sagte, immer pickte er ein oder zwei Schlüsselwörter heraus und schüttete mehr Bitterkeit aus. Offensichtlich konnte ich den »Gegner« nicht durch die Macht des Intellekts »besiegen« (das war ja genau die Denkweise, die ich kritisierte). Als ich mich dabei ertappte und erkannte, was ablief, hörte ich auf zu reden und begann, ihm zuzuhören. Ich lauschte nicht so sehr auf der semantischen Ebene, sondern auf die Stimme hinter den Worten und auf alles, was in dieser Stimme mitschwang. Schließlich wusste ich, was zu tun war. Ich fragte ihn genau dasselbe, was ich Sie fragen möchte: »Was hat Sie zu einem umweltbewussten Menschen gemacht?«
Das war der Moment, an dem Ärger und Bitterkeit der Trauer Platz machten. Mike erzählte mir von den Teichen und Bächen und Wildnissen, in denen er in seiner Kindheit gejagt und gefischt hatte, geschwommen und gestreunt war, und wie alles durch Erschließung zerstört wurde: eingezäunt, zur Verbotszone erklärt, planiert, abgeholzt, asphaltiert oder zugebaut.
Mit anderen Worten: Er ist auf demselben Weg wie ich Naturschützer geworden, und – so würde ich vermuten – wie Sie auch. Er wurde zum umweltbewussten Menschen durch die Erfahrung von Schönheit und Verlust.
»Würden die Typen, die die Chemtrails machen lassen, es tun, wenn sie fühlen könnten, was Sie jetzt gerade fühlen?«, fragte ich ihn.
»Nein. Das könnten sie nicht.«
Die Wahrheit dieses Augenblicks, den Mike und ich gemeinsam erlebt haben, existiert parallel zu einer Wirklichkeit, in der sie es tatsächlich tun würden, und in der »die« in Wirklichkeit wir alle sind, die zur Zivilisation gehören. Ein einziger Moment der Ehrfurcht, Dankbarkeit oder Trauer, wie tiefgreifend er auch sein mag, reicht weder aus, um Generationen andauernde Programmierungen aufzulösen noch um uns aus einer Ökonomie und Gesellschaft des Ökozids zu befreien.
Können Sie in Ihr Auto steigen im Wissen um den Schadstoffausstoß, um Ölteppiche und die Geopolitik der Erdölförderung? Ich kann es definitiv, und Sie bestimmt auch. Sie mögen vielleicht eine Geschichte darüber erzählen, warum es okay ist, warum es in Ihrem Falle gerechtfertigt ist oder zumindest warum Sie es vertreten können. »Ich habe keine Wahl«, mögen Sie denken. Oder: »Immerhin habe ich ein schlechtes Gewissen. Immerhin bin ich eigentlich dagegen. Immerhin wähle ich Politiker und spende Geld an Organisationen, die versuchen, das System zu ändern. Und außerdem fahre ich mit Hybridantrieb.« Alle möglichen Gründe finden sich, warum es okay ist, jetzt gerade in Ihr Auto zu steigen. Oder vielleicht denken Sie auch überhaupt nicht darüber nach.
Mir geht es nicht darum, dass Sie sich etwas vormachen – Sie erbärmlicher, selbstgerechter Heuchler! Ich will damit unsere Urteilsfehler ans Licht bringen und das Kriegsdenken, das sie erzeugen. Und ich möchte damit nahelegen, dass wir normalerweise das, was Mike beschrieben hat, nicht fühlen, weil wir in einem System, mit einer Ideologie und wahrscheinlich mit einer verletzten Psyche leben, die das vollständige Fühlen nur sporadisch erlauben. Das System betäubt uns und ist auch abhängig von unserer Betäubung.
Ich möchte, dass wir die Ebene der Frage: »Ist es okay?« ganz und gar überwinden, und auch die darunter liegende: »Bin ich okay?«. Dies ist die Sprache des nach innen gerichteten Krieges. Wir wollen nicht nur den Feind, sondern auch dessen innere Projektion besiegen: den gierigen, heuchlerischen, unehrlichen, egoistischen, selbstgerechten Teil in uns. In diesem Kampf wird der Selbstekel als Verbündeter, als erstes Zeichen der Erlösung verstanden. Wir haben uns auf die gute Seite geschlagen und Teile von uns zum Feind erklärt. Indem wir uns von diesen Teilen lossagen, glauben wir, einen Fortschritt zu erzielen, um sie zu überwinden. Welch große Anstrengung, die wir da unternehmen, welch anerkennenswerter Fortschritt.
Machen wir aber jemals wirkliche Fortschritte? Oder liegen sie nur darin, unsere Entscheidungen zu entschuldigen, zu verhüllen und zu rationalisieren, damit sie in unser ethisches Bild passen?
Unternehmen und Regierungen machen genau das: Sie verhüllen, sie entschuldigen, sie leugnen und sie setzen kosmetische, selbstrechtfertigende Veränderungen, um ein grünes Image aufrechtzuerhalten. Wir könnten den Unternehmen vorwerfen, dass sie mit der Grünfärberei ein falsches Spiel spielen, und ihnen Gier anlasten. Das beschert uns einen Feind im Außen, den wir bekämpfen können, aber ich fürchte, dass das Problem (wie bei unseren eigenen Selbstrechtfertigungen) in etwas viel Tieferem wurzelt.
Wenn man moralisches Fehlverhalten, sei es auf individueller oder politischer Ebene, für die beängstigende Lage von Menschheit und Erde verantwortlich macht, ist das in jedem Fall ein gefährlicher Irrtum, der die Aufmerksamkeit von systemischen und weltanschaulichen Ursachen ablenkt. Das verschleiert ein Problem, das wir selbst geschaffen haben und von dem wir nicht wissen, wie wir es als Problem lösen können. Wir wissen zumindest theoretisch, wie man schlechte Menschen davon abhält, Schlechtes zu tun. Wir können sie abschrecken, sie überwachen, sie einsperren oder sie töten. Wir können sie bekämpfen, und wenn wir sie besiegt haben, ist das Problem gelöst.
Unser politischer Diskurs ist voll von Narrativen, in denen Gut gegen Böse steht. Jede Seite sieht selbstverständlich sich selbst als die gute und die andere als die böse (oder irgendeine Verschlüsselung dafür: krank, irrational, verdreht, unethisch, korrupt, »aus dem Reptiliengehirn handelnd« usw.). Darin sind sich beide Seiten einig. Deshalb stimmen auch beide Seiten in ihrer strategischen Blaupause für den Sieg überein: Errege so viel Wut und Empörung unter den Guten wie möglich, damit sie sich erheben und die Bösen niederwerfen. Kein Wunder, dass unser bürgerlicher Diskurs in solch polarisierte Extreme ausgeartet ist.
Das heißt nicht, dass ich keine Meinung darüber habe, welche Seite in heutigen politischen Fragen richtig liegt. Ich sage auch nicht, die Wahrheit sei eine Frage der Meinung oder dass wir unsere Realität selbst erschaffen. Es ist vielmehr so, dass in unserer Gesellschaft die Gründe für die Meinungen und Verhaltensweisen der anderen Seite üblicherweise missverstanden werden.
Das Böse verantwortlich zu machen wäre eine Fehldiagnose des Problems. Ich habe diese Idee in meinem letzten Buch gründlich behandelt; an dieser Stelle werde ich Sie nur bitten, sich in die Gesamtheit der Umstände eines leitenden Angestellten eines Fracking-Unternehmens hineinzuversetzen. Die »Gesamtheit der Umstände« könnte folgendes einschließen:
die Unternehmenskultur
die Kultur der Energiewirtschaft
Leistungsdruck
ökonomischen Druck auf das Unternehmen
Jahre feindseliger Attacken von »Ökos«, die Ihnen ignorant und fehlgeleitet erscheinen
die Propaganda von der Energie-Autarkie
Ideologien des Fortschritts, Wachstums und der Technologie
die eingefleischte Wahrnehmungsweise von der Erde als Ding
schon als Kind auf »Erfolg« getrimmt worden zu sein
Wie würden Sie unter solchen Bedingungen handeln? Wo würden Sie sich schwer tun, Entscheidungen zu treffen? Welches wären die schmerzhaftesten Kompromisse?
Was sind Ihre schwierigsten Entscheidungen und schmerzhaftesten Kompromisse jetzt, in diesem Augenblick? Fahren Sie ein Auto, das Benzin oder Diesel verbrennt? Sind Sie gestern, als es regnete, mit dem Auto gefahren, obwohl sie auch das Rad hätten nehmen können? Duschen Sie heiß und manchmal länger als nötig? Gehen Sie auf Bürgersteigen aus Beton? Nutzen Sie ein Handy, das problematische Mineralien enthält? Nutzen Sie Kreditkarten oder Banken, die die Plünderung der Natur finanzieren? Wenn ja, dann mag da draußen möglicherweise jemand denken, Sie seien ebenfalls böse. Ausbeuterin! Heuchler! Sie verbrauchen mehr, als Sie beitragen! Manchmal denken Sie das womöglich selbst über sich. Und zu anderen Zeiten werden Sie vielleicht Mitgefühl mit sich haben, weil Sie erkennen, dass Sie unter den gegebenen Umständen, Belastungen, Traumata und Begrenzungen so gut handeln, wie Sie können.
Soll das bedeuten, wir könnten ebenso gut aufhören, etwas verändern zu wollen? Nein. Wir müssen fragen: Welche Umstände bringen Entscheidungen hervor, die der Erde schaden? Wenn wir mit anderen Menschen zu tun haben, müssen wir die Frage stellen, die zu Mitgefühl führt: »Wie fühlt es sich an, du zu sein?« Je mehr wir verstehen, desto mehr leben wir in der Realität und desto weniger bewohnen wir eine Fantasiewelt, die von unseren Projektionen bevölkert ist. Sie können natürlich fortfahren, Ihre Gegner als verachtenswerte Bösewichte anzusehen, aber wenn sie das in Wirklichkeit gar nicht sind, dann leben Sie in einem Irrglauben. Wenn wir uns auf die Übeltäter konzentrieren, werden wir blind gegenüber den tieferen, systemischen Gründen und jagen endlos den falschen Lösungen nach, die im Grunde nur den Status quo aufrechterhalten.
Wenn wir uns dem Irrglauben ergeben, erschaffen wir ihn immer wieder neu, spielen wiederholt die vorgesehenen Rollen und erzeugen ihre Dramen, rennen immer wieder auf denselben alten Pfaden des Labyrinths. Selbst wenn wir vorübergehende Siege gegen die Schurken erringen, scheint sich die Gesamtlage nicht zu ändern. Wir kommen dem Ausgang einfach nicht näher. Statt einen Sieg zu erringen, bestärken wir in der Regel lediglich unsere Überzeugung, dass wir tatsächlich die Guten sind. Diese polarisierte Sicht ist eines der Dinge, die wir aufgeben müssen, wenn wir eine Ära der ökologischen Heilung beginnen möchten. Sind Sie willens, auf das Sieger-sein zu verzichten? Sind Sie bereit, auf den Tag zu verzichten, an dem sich herausstellt, dass Sie recht gehabt haben? Sind Sie bereit aufzuhören, sich selbst in der Mannschaft der Guten im Kampf gegen die Mannschaft der Bösen zu sehen? Denn das glaubt jede Seite in jeder beliebigen Debatte normalerweise von sich selbst, und dieses Muster, etwas zum Anderen zu machen, steht beispielhaft für die Kluft zwischen Mensch und Natur und vertieft sie.
Ich stelle diese Fragen absichtlich. Ich werde in diesem Buch geltend machen, dass alle Positionen im Spektrum der Meinungen zum Klimawandel, vom Skeptizismus bis zum Klimapessimismus, falsch sind. Wie jene, die böse Menschen für das Böse in der Welt verantwortlich machen, operieren sie in einem zu flachen kausalen Rahmen. Die Gesamtheit der Umstände, die Umweltzerstörung und Klimaveränderung antreiben, ist größer, als man landläufig zu begreifen meint.
Nichts von dem oben Gesagten soll in Abrede stellen, dass dem Leben auf diesem Planeten schreckliche Dinge widerfahren. Jemand walzt Bäume mit dem Bulldozer um, legt Feuchtgebiete trocken, fängt Fische mit dem Schleppnetz, verschmutzt Wasser, Luft und Boden. Dieser Jemand ist stets ein Mensch.
Da die meisten dieser Zerstörungen auf Geheiß von großen Unternehmen geschehen, scheint es vernünftig, diese als den Feind zu identifizieren. Entlarvt ihr unmoralisches Verhalten! Zieht sie zur Verantwortung! Schreckt sie durch empfindliche Strafen von ihren Verbrechen ab! Haltet ihr Geld von der Politik fern! So können wir wenigstens ihre schlimmsten Exzesse eindämmen.
Diese Herangehensweise ist unter den gegenwärtigen Bedingungen vernünftig, aber damit akzeptierten wir genau jene Dinge als unveränderlich, die wir verändern müssen. Ich werde später noch spezifischer auf dieses Thema eingehen; für jetzt nur etwas Allgemeines: Den Feind zu bekämpfen ist aussichtslos, wenn wir in einem System leben, das endlos neue Feinde erzeugt. Das ist ein Patentrezept für endlosen Krieg.
Wenn sich das ändern soll, dann müssen wir eine unserer Süchte aufgeben, eine viel grundsätzlichere als die nach fossilen Energieträgern, nämlich unsere Kampfeslust. Dann können wir die Grundbedingungen untersuchen, die einen unerschöpflichen Nachschub an zu bekämpfenden Feinden produzieren.
Die Kampfsucht nährt sich aus der Vorstellung, die Welt bestehe aus lauter Feinden: gleichgültigen Naturgewalten mit der Tendenz zur Entropie und feindseligen Konkurrenten, die nur ihre reproduktiven oder ökonomischen Eigeninteressen auf Kosten unserer eigenen durchzusetzen suchen. In einer Welt voller Konkurrenten muss man Sieger sein, damit es einem gut geht. In einer Welt zufälliger Naturgewalten führt Kontrolle zu Wohlergehen. Krieg ist die Mentalität der Kontrolle in ihrer extremsten Form. Töte den Feind – das Unkraut, das Ungeziefer, die Terroristen, die Bakterien – und das Problem ist ein für alle Mal gelöst.
Doch es ist niemals gelöst ist. Auf den Ersten Weltkrieg – »den Krieg, der alle Kriege beenden wird« – folgte schon bald danach ein weiterer, noch schrecklicherer Krieg. Und das Böse verschwand auch nicht nach der Niederlage der Nazis oder dem Fall der Berliner Mauer. Der Zusammenbruch der Sowjetunion stürzte allerdings eine Gesellschaft in die Krise, die sich vor allem durch ihre Feinde definiert hatte; deshalb folgte eine verzweifelte Suche nach einem neuen Feind in den frühen 1990er-Jahren. Zunächst fiel die Wahl auf einen schwächlichen Kandidaten, die »kolumbianischen Drogenbosse«, bevor man sich schließlich für den »Terror« entschied.
Der Krieg gegen den Terror hauchte der auf Kriegführung basierenden Kultur neues Leben ein; er schien in der Tat sogar permanenten Krieg zu ermöglichen. Zum Bedauern des militärisch-industriellen Komplexes scheint die Öffentlichkeit immer weniger vom Terror terrorisiert zu sein, was eine Serie neuer Bedrohungen nötig macht, mit denen ein Klima der Angst aufrechterhalten wird. Es ist schwer zu sagen, ob die Angstkampagnen der letzten Jahre – russische Hacker, islamischer Terror, Ebola, das Zika-Virus, Assads Chemiewaffen, das iranische Atomwaffenprogramm, um nur einige zu nennen – gewirkt haben. Die Medien zumindest lassen die Alarmglocken schrillen, und die Öffentlichkeit scheint mit den politischen Maßnahmen einverstanden, die durch diese Kampagnen gerechtfertigt werden, etwa mit dem massiven Pestizid-Einsatz in Florida im »Kampf gegen Zika«. Allerdings – und das mag zum Teil meinen gegenkulturellen sozialen Kreisen geschuldet sein – habe ich keine wirkliche Furcht vor diesen Dingen gesehen, jedenfalls nicht vergleichbar mit der greifbaren Furcht vor der Sowjetunion, die in meiner Kindheit allgegenwärtigwar. Die Öffentlichkeit nimmt fast alles, was die Behörden sagen, einschließlich der Angstmache, nicht mehr so ernst.
Die öffentliche Apathie erlaubt den regierenden Eliten, ihre Kontrollprogramme zu verfolgen, aber es gelingt ihnen nicht mehr, mit echter Furcht Druck zu machen. Hat irgendwer außerhalb der politischen Kreise tatsächlich Angst vor dem Iran, Baschar al-Assad oder Wladimir Putin? Man könnte den Verdacht hegen, dass selbst die Politiker keine Angst haben, auch wenn sie den Anschein der Aufgeregtheit als politische Pose zur Schau stellen.
Ich bringe hier die schwindende Macht von Angstmacherei ins Spiel, weil oft genau diese Strategie im Bemühen, den ökologischen Kollaps aufzuhalten, angewendet wird. Das gängige Narrativ über den Klimawandel lautet im Grunde so: »Glauben Sie uns, schlimme Dinge werden geschehen, wenn wir uns nicht beeilen und große Veränderungen vornehmen. Es ist fast schon zu spät; der Feind steht vor den Toren!« Ich möchte die Annahme infrage stellen, dass wir die Öffentlichkeit mit angstbasierten Appellen ans Eigeninteresse motivieren können und sollen. Wie wäre es mit dem Gegenteil? Wie wäre es mit Appellen an die Liebe? Ist das Leben auf der Erde kostbar oder heilig an sich, oder nur, wenn es für uns nützlich ist?
Der Klimawandel-Aktivismus ist voller Kriegsnarrative, Kriegsmetaphern und Kriegsstrategien. Der Grund dafür liegt – neben den tief sitzenden Gewohnheiten aus der Geschichte von der Separation – in dem Wunsch, eine Inbrunst und Selbstverpflichtung hervorzurufen, wie Menschen sie in Kriegszeiten zeigen. Dem Muster der Kriegsrhetorik folgend, beschwören wir eine existenzielle Bedrohung herauf.
Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Ich zögere, den Begriff »Klimawandel« in den Titeln meiner Aufsätze zu verwenden. Das letzte Mal, als ich das tat, schrieb mir jemand: »Ich hätte Ihren letzten Beitrag fast nicht gelesen, denn er hatte das Wort Klimawandel im Titel, und ich bin es einfach leid, immer und immer wieder dasselbe zu hören.«
Vielleicht werden wir kriegsmüde. Braucht es mehr und mehr Brandreden, um Sie dazu zu bringen, in eine weitere Schlacht zu ziehen? Fühlen Sie sich ausgebrannt, wenn kein neues Entsetzen Sie mehr zum selben Engagement animieren kann, das Sie noch vor ein paar Jahren gezeigt haben? Das Ausbrennen scheint für einen Aktivisten das Ende zu sein; folgt man aber der Geschichte vom Mann im Labyrinth, kann es sogar der notwendige Ausgangspunkt für eine völlig andere Herangehensweise an Engagement sein.
Meine gute Freundin Pat McCabe, eine Frau der Diné (Navajo) und langjährige Schülerin des Lakota-Wegs, drückt es so aus: »Wenn du ans Ende deiner Kräfte kommst, dann geschehen Wunder.« Wenn wir ausschöpfen, was wir wissen, dann wird das, was wir nicht wissen, möglich.
Wenn man voller Kummer über die Vernichtung des Lebens auf Erden ist, mag es verständlich erscheinen, wenn man jeden Vorschlag, »den Kampf aufzugeben«, als Affront ansieht. Für jemanden, der von der Kriegsmentalität durchdrungen ist, bedeutet den Kampf aufzugeben zugleich jegliches Handeln aufzugeben. Ich schlage vor, den Kampf in einem anderen Sinne aufzugeben: als Orientierungsprinzip für unsere Bemühungen, die Erde zu heilen. Es mag weiterhin Konflikte geben, aber wir werden Zugriff auf viel größere Heilkräfte bekommen, wenn wir das Thema innerhalb eines friedlichen Rahmens angehen.
Es wurde oft gesagt, dass der letzte große Krieg, der unzweideutig seine Ziele erreicht hat, der Zweite Weltkrieg war. Seitdem endeten militärische Konflikte für die stärkere Seite gewöhnlich in Pattsituationen, im Morast oder in einem Debakel. Dass beispielsweise der Krieg in Afghanistan ein Fehlschlag war, liegt nicht an minderwertigen Waffensystemen. Die Waffensysteme sind für die angestrebten Ziele unzureichend, denn diese können nicht erzwungen werden. Gewehre und Bomben können meist keine Stabilität bringen, »Herz und Verstand erobern« oder ein Land pro-amerikanisch machen, außer es handelt sich eindeutig um die Rettung eines Volkes vor Despoten und Aggressoren6. Um Krieg zu rechtfertigen, müssen wir jede Situation in dieses Schema hineinzwingen, und die Medien haben dies bei jedem Konflikt seit Vietnam versucht.
Dasselbe gilt für nicht-militärische Kriege. Zu meinen Lebzeiten wurden ein Krieg gegen die Armut, einer gegen den Krebs, einer gegen Drogen, einer gegen den Terror, einer gegen den Hunger und nun einer gegen den Klimawandel ausgerufen. Und bis jetzt haben wir mit ihnen auch nicht mehr erreicht als mit dem Krieg im Irak.
Wenn der »Kampf« gegen den Klimawandel ein Krieg ist, ist klar, welche Seite gewinnt. Die Treibhausgasemissionen haben unablässig zugenommen, seit sie in den späten 1980ern das erste Mal von einer größeren Öffentlichkeit als Problem erkannt wurden. Das Waldsterben hat sich seitdem ebenfalls fortgesetzt und in manchen Gebieten sogar beschleunigt. Es hat auch keinen Fortschritt bei der Umstellung der grundlegenden Infrastrukturen unserer Gesellschaft von fossilen auf erneuerbare Energieträger gegeben. Wäre Krieg die einzige Handlungsmöglichkeit, dann müssten wir noch heftiger kämpfen. Wenn es einen anderen Weg gibt, wird die Gewohnheit zu kämpfen zum Hindernis für den Sieg.
Im Falle der totalen Umweltzerstörung ist die Kriegsmentalität nicht nur ein Heilungshindernis, sondern ein integraler Teil des Problems. Krieg basiert auf einer Art Reduktionismus: Er reduziert komplexe, wechselseitig verflochtene Ursachen – uns selbst eingeschlossen – auf eine einfache, externe Ursache, genannt Feind. Dieser wird oft entwertet, karikiert und entmenschlicht dargestellt. Die Dämonisierung und Entmenschlichung des Feindes unterscheidet sich nur wenig von der Entweihung der Natur, die die Voraussetzung für deren Zerstörung ist. Die Natur zum Anderen zu machen, zu etwas, das weder Ehrfurcht noch Respekt verdient, zum Objekt, das dominiert, kontrolliert und unterworfen werden muss, gleicht der Entmenschlichung und Ausbeutung von anderen Menschen.
Respekt für die Natur kann nicht vom Respekt für alle Wesenheiten – einschließlich der Menschen – getrennt werden. Das eine bedingt das andere. Der Klimawandel ruft uns deshalb zu einer tiefer greifenden Transformation auf, es geht nicht nur um den Austausch unserer Energieträger. Er fordert dazu auf, die grundlegende Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen zu transformieren, einschließlich, aber nicht ausschließlich der Beziehung zwischen dem kollektiven Selbst der Menschheit und der Natur als dem Anderen.
Die philosophisch geneigte Leserin mag protestieren, das Selbst und das Andere seien in Wahrheit nicht getrennt, oder die Mensch-Natur-Unterscheidung sei ein künstlicher, falscher und schädlicher Gegensatz, eine Erfindung des modernen Denkens. In der Tat legt die »Natur« als separate Kategorie nahe, dass wir Menschen unnatürlich und deshalb potenziell über die Naturgesetze erhaben wären. Welche Metaphysik dem auch immer zugrunde liegen mag, was sich ändert, ist unsere Mythologie. Wir waren nie von der Natur getrennt und werden es auch nie sein, aber die dominante Kultur auf der Erde hat sich lange Zeit als getrennt von der Natur begriffen. Sie meinte sich dazu bestimmt, sie eines Tages zu transzendieren. Wir haben in einer Mythologie der Separation gelebt.
Teil der Mythologie der Separation ist der Glaube an eine verdinglichte Natur; mit anderen Worten: der Glaube, dass nur die Menschen volles Bewusstsein besitzen. Das erlaubt uns, die Wesen der Natur für unsere eigenen Zwecke auszubeuten, so wie die Entmenschlichung anderer Ethnien den hellhäutigen Menschen erlaubte, diese zu versklaven.
Die Auffassung der dominanten Kultur darüber, wer als volles Subjekt gilt, als bewusst und würdig, ein Selbst zu besitzen, hat sich in den letzten paar hundert Jahren erweitert. Vor zwei oder drei Jahrhunderten galten nur besitzende weiße Männer als vollwertige Subjekte. Dann wurde diese Kategorie auf alle weißen Männer ausgedehnt. Schließlich wurden auch Frauen und Menschen anderer Hautfarbe aufgenommen. Dann kam die Tierrechtsbewegung mit der Forderung, dass auch Tiere Bewusstsein, Subjektivität und ein inneres Leben haben und daher nicht als bloßes Vieh oder als Fleisch-Maschinen behandelt werden dürfen. Auch zur Intelligenz von Pflanzen, Myzelien, Böden und Wäldern sind unlängst wissenschaftliche Entdeckungen gemacht worden und sogar über die Fähigkeit des Wassers, komplexe dynamische Informationsmuster zu übermitteln. Diese Entdeckungen nähern sich anscheinend der allen indigenen Völkern gemeinsamen Überzeugung an, dass alles lebt und Bewusstsein hat.
Fanatismus und Umweltzerstörung beruhen auf der Entmenschlichung oder der »Ent-Selbstung« des Anderen. Die gegenteilige Sichtweise führt zu einer Geschichte vom Interbeing. Noch einmal, dieser Begriff geht über bloße wechselseitige Vernetzung und Abhängigkeit hinaus und meint, dass wir existenziell mit allen anderen Wesen und mit der Welt insgesamt verbunden sind. Mein ureigenes Sein hat Teil an Ihrem Sein und dem Sein der Wale, der Elefanten, der Wälder und der Meere. Was ihnen geschieht, geschieht auf einer gewissen Ebene auch mir. Wenn eine Art ausstirbt, stirbt auch etwas in uns; wir können der Verarmung der Welt, in der wir leben, nicht entrinnen.
Dies trifft in gleicher Weise auf das ökologische, ökonomische und politische Wohlergehen zu. Die Tage des Kolonialismus und Imperialismus, in denen der Wohlstand einer Nation auf der Plünderung von anderen beruhte, sind gezählt. Die Ära des Glaubens, dass der Wohlstand der Menschen auf der Plünderung der Natur aufgebaut werden kann, ist ebenfalls fast vorüber. Sicherlich erscheinen beide Formen von Plünderung äußerlich so robust wie eh und je – oder gar schlimmer denn je zuvor. Allerdings ist ihr ideologischer Kern ausgehöhlt. Die konvergierenden Krisen sind eine Initiation für die Menschheit in die neue und gleichzeitig uralte Mythologie des Interbeing.
Später werde ich zu zeigen versuchen, dass die Klimakrise eigentlich etwas anderes ist als das, was wir uns im Allgemeinen darunter vorstellen. Doch Vorstellungen sind wichtig. Klimawandel bedeutet im Kern, dass wir am Ende einer Ära angelangt sind. Wir sind am Ende des Zeitalters der Separation. Es ist ein Übergang, der nun schon seit drei Generationen in Gang ist. Er wurde durch die Anwendung der extremsten aller möglichen Kontrolltechnologien auf dem Höhepunkt des Totalen Krieges ausgelöst. Ich spreche natürlich von der Atombombe.
Das Zeitalter des Krieges kam 1945 zu seinem passenden Ende, als die Menschen zum ersten Mal in der Geschichte eine Waffe entwickelt hatten, die zu schrecklich war, um sie zu anzuwenden. Es brauchte zwei Grauen erregende Einsätze der Atombombe, um den Boden für Jahrzehnte eines »Gleichgewichts des Schreckens7« zu bereiten, ein Aufglimmen der evolutionären Einsicht, dass das, was wir dem Anderen antun, uns selbst antun. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein totaler Krieg zwischen den Supermächten unmöglich. Heutzutage wird bis auf eine uneinsichtige Minderheit niemand mehr erwägen, Atomwaffen zu verwenden, selbst in Situationen, wo Vergeltung unwahrscheinlich ist. Radioaktive Verstrahlung macht einen Einsatz im großen Maßstab undenkbar, aber es gibt auch einen anderen Grund, der uns zurückhält. Wir könnten es vielleicht Gewissen oder Ethik nennen, aber die Geschichte macht auf tragische Weise deutlich, dass Gewissen und Ethik allein nicht ausreichen, um Dummheit und Grauen zu unterbinden. Nein, etwas anderes hat sich verändert.
Was sich nach meinem Dafürhalten geändert hat, ist das beginnende Aufkeimen eines Bewusstseins des Interbeing in der vorherrschenden Zivilisation. Was wir dem Anderen antun, tun wir uns selbst an. Diese Einsicht wird prägend sein für die nächste Zivilisation – wenn es eine nächste Zivilisation geben sollte. Und jetzt steht für uns (für gewöhnlich spreche ich in diesem Buch von »wir«, wenn ich die dominante Kultur auf diesem Planeten meine) Lektion zwei in Sachen Interbeing an. Lektion eins war die Atombombe. Lektion zwei ist der Klimawandel.
»Eines Tages wirst du dich entscheiden müssen, Charles, ob du relevant sein möchtest oder nicht.«
Das sagte einmal ein einflussreicher Umweltaktivist zu mir, nachdem er mich über meine verschiedenen Interessen und Aktivitäten reden gehört hatte. Er meinte damit ungefähr Folgendes: