Klimawechsel - Johanna Domek - E-Book

Klimawechsel E-Book

Johanna Domek

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Beschreibung

"Viel geht, wenn Vertrauen geht." Franz Meurer Die Kirche steckt in der Klemme – lokal, national, global. Nöte, Krisen und Vertrauensverlustsind offensichtlich. Zehn Autor*innen aus verschiedenen Positionen der Kirche haben sich mit der Frage beschäftigt, wie ein geistlicher Kulturwandel gelingen kann. Ihr Fazit: Vertrauen wird die Kirche erst dann wiederbekommen, wenn sie durch eine Haltung überzeugt, die sich in der gesamten Praxis als ehrlich und dem Evangelium gemäß erweist – sprich: eine Umkehr. Wie diese aussehen kann und wie ein Klima wieder gedeiht, in dem Menschen sich mit ihren Lebensfragen zu Hause fühlen, darüber schreiben sie in diesem Buch. Sie geben praktische Werkzeuge, aus christlichen Haltungen geschmiedet, an die Hand, die helfen wollen, froh machende Botschaften des Evangeliums als Ortskirche zu leben. Damit Kirche wieder zu dem wird, wozu sie gedacht ist: Zur Hoffnung für die Welt. Mit Beiträgen u.a. von Sr. Johanna Domek, Benediktinerin; Werner Höbsch, Vorsitzender der Karl-Rahner-Akademie; Klaus Nelißen, stellvertretender Rundfunkbeauftragterder NRW-Diözesen beim WDR; Peter Otten, Pastoralreferent der Pfarrei St. Agnes in Köln.

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Franz Meurer, geb. 1951 in Köln, ist seit 1992 Pfarrer der katholischen Kirchengemeinden in Köln-Höhenberg und -Vingst. Zu seiner Seelsorge gehört untrennbar auch die soziale Sorge mit vielen Projekten für die Menschen in den beiden als arm geltenden Stadtvierteln. 2002 wurde der Pfarrer als erster mit dem Titel „alternativer Ehrenbürger“ von Köln ausgezeichnet. Er spricht regelmäßig im Hörfunk und hat mehrere Bücher verfasst. An seiner durch und durch katholischen Identität besteht kein Zweifel, auch nicht, wenn er seine Kirche um der Menschen willen kritisiert. 2018 berief ihn der Erzbischof im Rahmen des „Pastoralen Zukunftswegs im Erzbistum Köln“ zum Leiter des Arbeitsfeldes „(Geistlicher) Klimawandel und Vertrauensaufbau“.

Franz Meurer (Hg.)

KLIMAWECHSEL

Notwendige Haltungenund Werkzeuge für die Kirche,die wir uns wünschen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2022 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com

Umschlagmotiv: Max Zimmermann

Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

eISBN 978-3-89710-979-7

Weitere Informationen zum Verlag:www.bonifatius-verlag.de

Viel gehtwenn Vertrauengeht

Markus Roentgen

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

I. Zwischen Trümmern

1.Damit Kirche eine Zukunft hat, muss sich einiges ändern – Franz Meurer

2.Warum ich in der Kirche bleibe – Werner Höbsch

3.Wenn die Gebäude zerbrechen – Markus Roentgen

II. Aufräumarbeiten und Neubau

4.Viel geht, wenn Vertrauen geht – Kristell Köhler

5.Wie werden wir, die wir sind? – Peter Otten und Markus Roentgen

6.Zweihundertzweiunddreißig – Peter Otten

7.Ein Programm zur Umkehr – Johanna Domek

8.Kulturwechsel: Die großen Fragen gemeinsam lösen – Klaus Nelißen

9.Versöhnungsakte in der Gemeinschaft – Johanna Domek

10.Macht und Demokratie – Franz Meurer

11.Dialog, der Weg zum Anderen – Werner Höbsch

12.Gebet für den Wandel in der Kirche – Markus Roentgen

III. Türen auf

Menschen hören

13.Willkommenskultur und Gastfreundschaft – Franz Meurer

14.Verlorene Heimat Kirche – Werner Höbsch

15.Mein Weg fort vom Glauben und zurück – Christoph L.

16.Der Sinn in allem – Markus Roentgen

17.Die Anschaffung eines spirituellen Toolkoffers – Johanna Domek

18.Gemeinschaft und Abenteuer – Susanne Breyer

19.Gott vertrauen in der Zeit der Pandemie – Markus Roentgen

20.Anpacken und Mitmachen – Susanne Breyer

21.Seelsorgender Mensch – Markus Roentgen

EINLEITUNG

„Ein Gesellschaftsvertrag beginnt damit, dass die Menschen entscheiden, in welchem Klima sie leben wollen“, schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk. Goethe sagt es noch kürzer: „Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.“

„(Geistlicher) Klimawandel und Vertrauensaufbau“ lautete die Überschrift unserer Arbeitsgruppe für den „Pastoralen Zukunftsweg“ des Erzbistums Köln. Fünf Männer und fünf Frauen waren zwei Jahre lang unterwegs. Schnell wurde uns klar, dass in der Überschrift etwas falsch war. Vertrauen kann man nicht aufbauen. Es wird geschenkt.

Frau und Mann erhalten es vielleicht als Geschenk, wenn das Klima stimmt. Das Klima ist okay, wenn die Haltung stimmt. Die Haltung ist okay, wenn das richtige Werkzeug zur Hand ist.

Als passionierter Radfahrer kommt mir der holländische Griff in den Sinn, um das zu erklären. Das meint, als Autofahrer immer die linke Tür mit der rechten Hand zu öffnen. Dabei schaut die Fahrerin automatisch nach hinten und blickt in den ansonsten toten Winkel. Segensreich für die Radfahrer! Allein in Köln gab es in einem Jahr mehr als 100 schwere Unfälle, als Menschen auf dem Fahrrad gegen sich plötzlich öffnende Autotüren fuhren. Das Werkzeug ist der holländische Griff. Die Haltung ist die Rücksichtnahme aufeinander. Das Klima ist eine Verkehrsgestaltung in gegenseitiger Solidarität, oder emotionaler formuliert: in Harmonie.

In diesem Buch geht es nicht um Fahrradfahren, sondern um Werkzeuge und Haltungen, die ein Klima in der Kirche bewirken, in dem es sich frei und froh atmen lässt. Warum dies gerade jetzt angesagt ist, beschreibe ich nicht, weil es wohl alle wissen – nach den Skandalen von sexueller Gewalt und misslungener Aufarbeitung, angesichts der anschwellenden Austrittszahlen.

Wie bei den Anstrengungen gegen den Klimawandel viele einzelne Werkzeuge zugleich in einer so umfassend noch nie versuchten konzertierten Aktion zum Einsatz kommen müssen, um ausreichend zu wirken, ist auch der notwendige „Klimawechsel“ in der Kirche mit nur einer Maßnahme durch ein paar „Spitzenleute“ nicht erreichbar. Der Meister kann einen Hammer noch so geschickt einsetzen, ein ganzes Haus wird er damit nicht bauen. Allein mit dieser oder jener Reform in der Kirche, und sei sie noch so erstrebenswert, wird die Kirche sich nicht gründlich wandeln. Das muss sie aber. Keine Angst: Es geht dabei nicht um die Herrichtung des alten Gebäudes mit modischem Schnickschnack. Es geht um Umkehr. Um den Zu- und Anspruch Jesu. Um das Evangelium. Das, allerdings, muss Menschen im Heute verstehbar mitgeteilt und von ihnen heute als lebensrelevant in Freiheit angenommen werden können. Mit der Handwerkskunst des vorletzten Jahrhunderts kann man den Dachstuhl von Notre Dame nach der Brandkatastrophe wieder fast genauso wie damals errichten, aber nicht die Wohnungsnot der Menschen in der Stadt lösen.

Nun, wie auf der Baustelle in Paris die Architekten, Ingenieure und Handwerker die Schäden nach dem Feuer begutachten, und wie die Wissenschaftler, Politiker und Klimaschutzbewegungen die messbaren Schäden der Erderwärmung beobachten, schauen wir in der Kirche auf die herumliegenden Trümmerstücke in der menschengemachten Katastrophe seit 2010 (das heißt, da wurde sie – Gott sei Dank – offenbar, der Brand schwelte ja schon lange). Dann erwägen wir verschiedene Maßnahmen aus einer gemeinsamen Haltung und bitten die vielen Fachleute, die Getauften, mit zu arbeiten, denn sie haben die Werkzeuge in den Händen. Schließlich reißen wir die Fenster auf, um gegen den Brandgeruch frische Luft hereinzulassen, und die Türen, damit Menschen wieder hereinkommen können – und wir raus zu ihnen.

Wir Autor*innen haben uns zwei Jahre lang ziemlich ernsthaft Gedanken um einen Kulturwandel – den Klimawechsel – in der Kirche gemacht. Dabei haben wir eben nicht den einen Tipp als die große Lösung für alles gefunden, sondern uns der notwendigen Haltung angesichts der Herausforderungen vergewissert und dann Werkzeuge benannt, mit denen die Arbeit zu bewältigen sein könnte. Das sind gewiss noch nicht alle, aber genug, um anzufangen. Beim Anpacken tragen die Karikaturen von Max Zimmermann im Buch dazu bei, dass der Spaß an der Freud wieder wächst. Auch davon, glaube ich, gibt es beim gemeinsamen Aufbau dann noch einiges mehr.

Franz Meurerfür das Autor*innenteam

I.

ZWISCHEN TRÜMMERN

Ehrlich sagen, was ist – das gehört als erstes zur Haltung des kirchlichen „Klimawechsels“. Dies nicht nur im sehr internen Kreis zu tun, ist das Werkzeug, mit der die Haltung zum Ausdruck kommt. In einer „Blase“ fällt es leicht, die Wahrheit nur bruchstückhaft zu sagen und sich und anderen über die Situation weiterhin in die Tasche zu lügen. Nun ist es einerseits mutig, sich ehrlich auch mit unangenehmen Aussagen gegenüber den „Eigenen“ zu äußern. Andererseits bedeutet es ein gutes Zeichen für eine bereits sich ändernde Haltung, wenn die Leitung der „Eigenen“ die offenen und kritischen Worte für die Öffentlichkeit vervielfachen lässt. Das folgende Interview wurde im Juni 2021 in einem Magazin des Erzbistums Köln kostenfrei an mehr als eine Million Haushalte geliefert.

1

Franz Meurer

Damit Kirche eine Zukunft hat, muss sich einiges ändern

Ein Interview

Herr Meurer, Sie haben ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Viel geht, wenn Vertrauen geht“ (Markus Roentgen). Warum ist Ihnen dieser Satz so wichtig?

Meurer: Das ist eines meiner Lieblings-T-Shirts und dieser Satz einer meiner Lieblingssätze, weil er stimmt: Vieles ist möglich, wenn Vertrauen da ist. Ich hab aber später auch kapiert, dass der Satz ja auch negativ gemeint sein kann im Sinne von: Viel geht auch verloren, wenn das Vertrauen weg ist.

Die Kirchenaustritte in diesem Jahr in Köln werden einen neuen Rekordwert erreichen, sagen Experten. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Meurer: Zurzeit kreisen wir in der Wahrnehmung der Menschen zu 90 Prozent um uns selbst. Die haben den Eindruck, in dieser Kirche komme ich nicht vor. Der Soziologe Hartmut Rosa hat mal gesagt: Die Kirche hat das gleiche Problem wie die Politik. Die Menschen spüren keine Resonanz und fragen sich: Komme ich da überhaupt noch vor? Bin ich da erwünscht? Das ist sehr, sehr schlimm. Umso wichtiger ist, ihnen zu sagen: „Ich loss dich net em Riss“, auf Hochdeutsch: Ich lasse dich nicht allein, ich lasse dich nicht hängen. Und das Sich-Kümmern um andere passiert ja auch zum Glück nach wie vor in unserer Kirche. Papst Franziskus macht es uns vor, wenn er immer wieder selbst zu den Menschen an den sogenannten Rändern geht, zu denen, die die Gesellschaft oft vergessen hat.

Dennoch haben viele Gläubige ein großes Problem mit der Hierarchie in der katholischen Kirche und den daraus resultierenden Machtverhältnissen. Was sagen Sie denen?

Meurer: Du kannst heute nichts mehr „von oben nach unten“ anordnen, das ist vorbei, sondern man muss um Verständnis werben. Das gilt für die Kirche genauso wie für jede Firma. Der Kabarettist Jürgen Becker erzählt doch immer, dass der Vater ihm auch mal eine gescheuert hat. Dann hat aber seine Mutter ihm gesagt: „Heinrich, das macht man heute nicht mehr.“ Und er hat geantwortet: „Ach so“, und dann hat er das nie mehr getan. Auch die Kirche muss ihr Verhalten ändern. Gegen Fremdbestimmung haben viele etwas – und zu Recht. Gegen Mitbestimmen hat keiner was. Wir brauchen mehr Demokratie.

Wie setzen Sie dieses Mitbestimmen, diese Demokratie bei Ihnen in der Gemeinde um?

Meurer: Ich kann mich wunderbar raushalten. Das ist schon mal wichtig. Ich will und muss nicht alles wissen. Wer Verantwortung hat, entscheidet, und das muss eben nicht der Pfarrer sein. Kardinal Walter Kasper hat mal auf die Frage „Was ist die Kirche?“ gesagt: Keiner kann alles. Nicht jeder kann jedes. Alles können nur alle sein und die Einheit aller nur ein Ganzes. Das ist die Idee der katholischen Kirche. Da hat der Mann recht, und jeder kann zustimmen.

Also muss mehr Verantwortung von Priestern an Laien abgegeben werden?

Meurer: Die muss nicht abgegeben werden, die Verantwortung, und schon gar nicht delegiert. Die Getauften der Kirche haben sie längst schon. Die sind das Volk. Die sind Priester, Propheten und Heilige. Sie haben die Würde qua Taufe, nicht qua Kirchensteuer.

Wie stehen Sie zu Forderungen, Frauen den Zugang zu Weiheämtern zu ermöglichen?

Meurer: Es geht auf Dauer nicht, dass Frauen nicht in Ämter der Kirche kommen. Das wird kommen müssen, sonst ist die Kirche am Ende, weil das die Leute nicht verstehen. Dann sind wir irgendwann ’ne kleine Sekte. Wir brauchen Gleichberechtigung, und wir können uns an keiner Stelle in der Gemeinde etwas Klerikales erlauben. Das Ganze funktioniert ohne Frauen ja gar nicht. Wir haben hier acht Katechetinnen, die alles organisieren. Die haben eine Videokonferenz mit Weihbischof Steinhäuser organisiert. Da habe ich gefragt, ob ich teilnehmen darf, und zum Glück durfte ich. Sie hätten aber auch Nein sagen können, dann wäre das auch in Ordnung gewesen.

Was muss sich ändern?

Meurer: Damit die Kirche eine Zukunft hat, müssen sich Dinge ändern, die für die Leute vor Ort längst klar sind. Völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sexuelle Orientierungen spielen keine Rolle mehr, Generationengerechtigkeit muss gelebte Praxis werden. Das sind Themen, die unsere Leute bewegen, und wenn sich da nichts tut, sind die Menschen weg. Es ist einfach, nicht kompliziert, zugleich ist es schwer und nicht leicht.

Wie sieht Ihre Vision für die katholische Kirche im Erzbistum im Jahr 2030 aus?

Meurer: Im Jahr 2030 sind wir bescheidener geworden, aber nach wie vor rheinisch. Viele werden sich weiter beteiligen. Menschen treten wieder in die Kirche ein, weil sie spüren, dass es jetzt eine Chance zur Veränderung gibt. Es wird das, was geistlich ist, nicht nur Behauptung sein, sondern Realität.

Das Interview führteMartin Mölderim April 2021, es erschien im Magazin „SommerZeit“ des Erzbistums Köln im Juni 2021, Seiten 10 u. 11.

Die Überschrift des folgenden Beitrags enthält ein ungeschriebenes, aber deutlich vernehmbares „trotzdem“. Man muss sich die Lage in Frühjahr und Frühsommer 2021 vor Augen halten, als dieses Buch entstand: Aus Kanada kommen, wie schon früher aus Irland, Berichte über klandestine Kinderfriedhöfe bei einst katholischen Heimen für indigene Kinder. Im Vatikan beginnt der Prozess gegen Geistliche, darunter ein Kardinal, und deren Mitarbeiter*innen, wegen Veruntreuung, Betrug und Korruption mit Millionenverlusten in einem Immobiliengeschäft. Die römische Glaubenskongregation verbietet die Segnung homosexueller Paare. Der Papst weist das Rücktrittsgesuch, ein „Zeichen der Verantwortung“, des Münchner Erzbischofs Kardinal Marx zurück, während die päpstliche Entscheidung über die Leitung im Erzbistum Köln – nach mehr als einem Jahr verheerender Offenbarungen, undurchsichtiger Steuerung und Vertrauensverlust – noch aussteht. Das Thema sexueller Missbrauch von Kindern durch Priester und Ordensleute: unbewältigt und immer noch nicht transparent behandelt, und das ganze elf Jahre nach der ersten Eruption durch das Bekanntwerden von Kindesmissbrauch durch Priester und Ordensleute in Berlin. Darüber geraten frühere „Aufregungen“ – Mixa, Tebartz-van Elst, Finanzskandal Eichstätt … – fast in Vergessenheit, aber sie haben über Jahre hinweg einen Eindruck von der Kirche begründet, der durch den Missbrauchsskandal eine unüberbietbare Bestätigung fand. Katholisch bleiben? Trotzdem! Diese Haltung bedarf einer Rechtfertigung. Vor den „anderen“. Und sich selbst.

2

Werner Höbsch

Warum ich in der Kirche bleibe

Ein Versuch, Rechenschaft zu geben

Die Zahl der Menschen, die in den ersten Monaten des Jahres 2021 die katholische Kirche verlassen haben, ist enorm hoch. Darunter befindet sich auch eine beträchtliche Zahl treuer Katholikinnen und Katholiken. Als Gründe für einen Kirchenaustritt werden genannt: Verbrechen des Missbrauchs, Vertuschung von Straftaten, eine rückständige Sexualmoral, der Umgang mit Frauen, die Zulassungsbedingungen zu den Weiheämtern, der Umgang mit Macht – um nur einige zu nennen.

Aber gibt es auch Gründe, in der Kirche zu bleiben in einer Zeit, da viele Katholik*innen wie auch mich Zorn und Trauer, Wut und Entsetzen packen? Diese Frage kann ich nur persönlich beantworten. Auf keinen Fall ist es Gewohnheit, die mich hält: „Ich war ja Zeit meines Lebens katholisch.“ Vielmehr frage ich mich ernsthaft, gibt es einen inhaltlichen Grund zu bleiben und eine Hoffnung, die mich trägt und von der ich mir selbst gegenüber Rechenschaft ablegen kann?

Die katholische Kirche zeigt sich aktuell in einem selbst verschuldeten desaströsen Zustand, der ohnmächtige Traurigkeit auslöst. Es ist bitter zu erfahren, welches Leid in der und durch die Kirche ihr Anvertrauten angetan wurde, größer und bitterer ist der Schmerz der Opfer. Das Gutachten der Kanzlei Gercke & Wollschläger zum Missbrauch spricht von systemisch bedingten Ursachen der Pflichtverletzungen von Amtsträgern. Die Reputation der Kirche war Verantwortlichen wichtiger als der Schutz der Opfer, das Ansehen der Kirche wurde höher eingestuft als eine konsequente, schonungslose Aufdeckung und Aufarbeitung der Verbrechen.

Jedes Jahr in den Kartagen stellt die Kirche die Passion Christi in den Mittelpunkt der Betrachtung. Jesus wurde auf Befehl von Pilatus gegeißelt und schwer verwundet. Heute heißt das: Die schrecklichen Taten des Missbrauchs waren und sind Geißelhiebe an Leib und Seele von Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen. „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Die Geißelung Christi erfolgte in unserer Zeit nicht auf Befehl eines außenstehenden Statthalters, sondern durch Geistliche, die mit ihrer Weihe die Sendung und die Vollmacht erhalten haben, in persona Christi zu handeln.

Das Vertrauen und der Glaube zahlreicher Menschen wurden schwer beschädigt oder gar zerstört. Sicherlich ist es notwendig, die Verbrechen und das schuldhafte Versagen juristisch aufzuarbeiten und Konsequenzen zu ziehen. Aber das reicht nicht. Soll das Wort „ecclesia semper reformanda“ nicht eine bloße Phrase sein, sind radikales Umdenken und nicht nur formal-juristische Schritte erforderlich.

Vor mehr als 50 Jahren äußerte der christliche Philosoph Marcel Légaut (1900-1990) die Auffassung, dass diese Kirche (nicht die Kirche) sterben muss. Davon bin ich heute überzeugt, Sterbeprozesse erleben wir in dieser Zeit. Ich gehöre zu einer Kirche, die nicht von außerhalb, sondern aus ihrer Mitte heraus schwer beschädigt, wenn nicht tödlich verwundet wurde. Warum also in dieser Kirche bleiben? Welche Hoffnung trägt mich und lässt mich trotz alledem bleiben?

Meine Hoffnung kann ich nur radikal, von der Wurzel her, begründen. Ich traue – mal mit größerer, mal mit kleinerer Zuversicht – dem Wort Gottes und seinen Verheißungen. Das Wort, das mir in den biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments begegnet, grabe ich immer und immer wieder um und meditiere es, um mich seiner inspirierenden Kraft zu öffnen. Christ bin ich, weil ich dem Mann aus Nazareth und seinem „Programm“, der Bergpredigt, traue, weil sein Leben in Gewaltlosigkeit bis zum Kreuz, ja bis zum Tod am Kreuz die unwiderrufliche Barmherzigkeit Gottes offenbart, der dem Hass und dem Tod nicht das letzte Wort lässt, der den Gekreuzigten vom Tod erweckt hat. Ich traue der Botschaft von der Gottesherrschaft, die Christus verkündete und in seinem Leben bezeugte. Eine Orientierung an dieser Botschaft lässt sich inner- und außerkirchlich nicht mit dem Streben nach Macht vereinbaren, das weltliche Herrscher antreibt. „Bei euch soll es nicht so sein!“ (Mk 10,43)

Ja, das könnte doch alles auch außerhalb einer kirchlichen Einbindung geglaubt und gelebt werden. Stimmt. Es gibt überzeugte und überzeugende Glaubende, die sich außerhalb der Kirche am Wort Gottes orientieren und vorbildlich Nächstenliebe üben. Warum also bleiben?

Ich persönlich habe das Wort Gottes und die Beziehung zu Christus durch die Kirche kennengelernt – da waren zuerst meine Eltern, später Kapläne sowie Lehrerinnen und Lehrer der Theologie. Durch sie habe ich einen Zugang zum Beten gefunden, Gemeinschaft erfahren, den Ort für ein Engagement für Frieden und Gerechtigkeit gefunden. Die Kirche begleitet mein Leben von Kindheit an. Einen bedeutenden Impuls für meinen religiösen Weg gab das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) mit dem Ruf zum Aggiornamento. Es beflügelte den Geist der Erneuerung und weckte auch bei mir Hoffnung auf Veränderung, auf eine glaubwürdige Kirche in den Kontexten ihrer Zeit. Die Hoffnung, die trägt, ist kein Beruhigungsmittel, vielmehr versetzt sie in Unruhe. Wer heute Hoffnung leben will, muss widerspenstig sein – dort, wo äußere Ordnungen wichtiger sind als Inhalte, das Aufrechterhalten von überkommenen Strukturen vor Wegen der Erneuerung steht. Widerspenstigkeit sehe ich als Christenpflicht an. Um des Evangeliums und der Glaubwürdigkeit der Kirche willen brauchen wir einen offenen, ehrlichen Dialog.

Heute setze ich mich in und für die Karl Rahner Akademie in Köln mit ihrem Leitwort „katholisch – offen – frei“ ein. Diese ist ein Ort des Vor- und Nachdenkens in Kirche und Gesellschaft, ein Ort des Dialogs, den wir so dringend benötigen. Andere engagieren sich ebenfalls bewusst innerhalb der Kirche.

Die Kirche ist nicht erst in unserer Zeit mit Schuld beladen, Versagen und Verrat am Evangelium sind nicht nur Kennzeichen unserer Zeit. Das schmerzt. Die Kirche ist aber auch eine Gemeinschaft von aufrichtigen Männern und Frauen, die in der Geschichte der Kirche für ihre Erneuerung eintraten und widersprachen. Diese Aufrichtigen begegnen mir auch heute in der Kirche. Sie setzen sich mit ihrem Lebenszeugnis für die Weitergabe des Evangeliums ein, gestalten Orte spirituellen Lebens, engagieren sich für Arme und Entrechtete und versuchen – aus der Mitte ihres Glaubens heraus – mit ihrer Kraft das zu tun, was Frieden schafft.

Ich bleibe in der Kirche, weil ich in und durch sie die heilsame und frohe Botschaft Jesu kennengelernt habe, die mir auch heute nahegebracht wird. Ich bleibe in der Kirche, weil ich in der Feier des Gottesdienstes, besonders in der Eucharistiefeier, die göttliche Gegenwart als lebensförderlich erfahre. Ich bleibe, weil ich in meiner Gemeinde Frauen und Männern begegne, denen das Wort Gottes Weisung für ihren Weg und ihr Handeln ist. Dafür bin ich dankbar.

„Es geht. Anders“ – so lautete das Motto der Misereor-Fastenaktion 2021. Ja, es geht anders und muss anders gehen – in der Gesellschaft wie auch in der Kirche. Von Theodor W. Adorno stammt der Satz: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“ (Minima Moralia, Nr. 34). Das gilt auch mit Blick auf die Kirche.

Ich bleibe dabei.

Der Dichter drückt auf seine Art Wirklichkeit und vielleicht Wahrheit – „im Schutt“ – aus. So ist sie jedenfalls zumutbar.

3

Markus Roentgen

Wenn die Gebäude zerbrechen

abbrechen

auch

Denkgebäude

auch

Glaubensgebäude

zerbrechen

brechen ab

dann

vielleicht

entdecke

im Schutt

das zart blühende

Fragment

des Anfangs

zum Ende

wieder

II.

AUFRÄUMARBEITEN UND NEUBAU

Das eine ist, was die Arbeitsgruppe im Erzbistum Köln zum „(Geistlichen) Kulturwandel“ für die Kirche an Ergebnissen erarbeitet hat. Das andere, ebenso ein nützliches Werkzeug, ist wie. Dazu gehören die Erfahrung und die Einsicht, dass es in der Kirche keinen Klimawechsel geben wird, ohne dass die Kirchlichen selbst sich verändern, verwandeln. Das alte, leicht spöttische Gedicht von Lothar Zenetti, „Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Kirche“, verweist hier noch einmal und ernsthaft darauf, worum es eigentlich geht. Wir glauben an die Wandlung. Aber natürlich ist sie nur „an ihren Früchten“ zu erkennen.

4

Kristell Köhler

Viel geht, wenn Vertrauen geht

Wie wir einen Kulturwandel „ausprobierten“

Es ist der 17. September 2018, ein Montagmorgen. In einem Besprechungsraum der Kirchengemeinde St. Elisabeth in Köln-Höhenberg ist der Tisch reichlich gedeckt – Kaffee und Wasser, Kuchen und belegte Brötchen, Schokolade und Obst. Drum herum blicken zehn Augenpaare gespannt, erwartungsfroh, zum Teil auch skeptisch in die Runde. Die fünf Männer und fünf Frauen wissen, dass sie von nun an für zwei Jahre eng verzahnt miteinander arbeiten werden. Sie sind aufgerufen, den pastoralen Erneuerungsprozess im Erzbistum Köln mitzugestalten, und sollen eines von fünf thematischen Arbeitsfeldern aufbereiten. Was das bedeuten kann und soll, welcher Beitrag von ihnen erwartet wird und welche Expertise sie einbringen können – all das erwarten sie nun zu erfahren. Nur wenige kennen sich gut, die meisten eher flüchtig. Einige haben voneinander gehört, andere haben eine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun bekommen. Den meisten aber drängt sich wohl die Frage auf, warum genau sie in dieser Konstellation aufeinandertreffen.