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Ein neues Abenteuer mit dem geistreichen Gespann Dr. Gänsewein und Pascha Dr. Martin Gänseweins Freund Gregor steht unter Mordverdacht. Alle Indizien sprechen gegen ihn und Gregor schweigt zu den Vorwürfen. Auf der Suche nach der Wahrheit stößt Pascha bald auf eine heiße Spur: Die Ermordete war Journalistin und recherchierte wegen mysteriöser Todesfälle in der Seniorenresidenz, in der ihr Vater lebt. Gleichzeitig geraten Gregors Kontakte zu einem zwielichtigen Nachtclubbesitzer in den Fokus der Ermittlungen. Martin ist bei der Aufklärung des Falls keine große Hilfe, denn der werdende Vater ist völlig ausgelastet mit Geburtsvorbereitungskursen, Kreißsaalbesichtigungen, Babyausstattungskatalogen und nicht enden wollender Namenssuche.
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Seitenzahl: 371
Jutta Profijt
KNAST ODERKÜHLFACH
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2014
© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41981-9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21506-0
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Artikel aus dem Kölner Stadtanzeiger vom 3. April 2010
Raubüberfall: Apotheker stirbt
Innenstadt – Wie erst jetzt bekannt wurde, starb bereits am Dienstag letzter Woche der Inhaber der Asterix-Apotheke in der Altstadt, Stefan Groscheck. Er erlag einem Bruch der Halswirbelsäule, der vermutlich von einem Sturz nach einem Handgemenge mit einem Einbrecher herrührte. Am Tattag hatte Groscheck abends die Apotheke geschlossen, hielt sich aber zur Tatzeit noch in seinem Geschäft auf. Wie die Polizei mitteilte, wurde um zweiundzwanzig Uhr vier aus der Apotheke ein stiller Alarm ausgelöst. Die vor Ort eintreffenden Polizeibeamten stellten Spuren eines Einbruchs fest und entdeckten den Toten im hinteren Bereich des Geschäfts. Ein Drogenabhängiger konnte kurz nach Entdeckung der Tat in der Nähe des Tatortes festgenommen werden. Die Polizei fand mehrere Packungen Betäubungsmittel bei ihm, die, wie die Apothekenhelferin am Folgetag feststellte, im Bestand der Asterix-Apotheke fehlten. Der Verdächtige sitzt zurzeit in Untersuchungshaft.
Stefan Groscheck war in Köln nicht nur als aktiver Karnevalist bekannt. Gemeinsam mit seinem Schwager, dem Pharmaunternehmer Bastian Weiz, rief er den Verein »Köln gegen Krebs« ins Leben. Anlass hierfür war der Tod von Bastian Weiz’ Ehefrau (und Schwester von Stefan Groscheck) Melina, die vor fünf Jahren an Darmkrebs gestorben war.
27. Juni
Es gab keine Vorwarnung, keinen Alarm, nicht einmal einen noch so kleinen Hinweis auf die bevorstehende Festnahme von Kriminalhauptkommissar Gregor Kreidler. Im Gegenteil. Alles war gerade total gechillt. Gregor saß mit seiner Liebsten Katrin, seinem besten Freund Martin und dessen Freundin Birgit in einem chinesischen Restaurant, das allen Anforderungen gerecht wurde: Katrin liebte Essen, das so scharf war wie sie selbst, Martin lebte grundsätzlich von Gemüse, das er vor dem Kompost bewahrte, und Birgit war schwanger. Als wenn das allein nicht schon reichte, hatte sie nun auch noch einen seltsamen Appetit auf eklige Dinge wie glibberige Pilzsalate und knorpelige Schweineohren entwickelt, also echte Ohren von echten Schweinen, die es nur in dem Restaurant gab, in dem die vier saßen. Gregor hatte sich wie immer mit allem einverstanden erklärt, denn wenn er überhaupt Ansprüche an das Essen stellte, dann nur diesen: Es musste satt machen.
Da ich seit über einem Jahr tot war und daher nicht mitessen konnte, waren meine Einwände ungehört geblieben. Ich hasste vegetarischen Fraß, ich hasste aber auch das Geräusch, wenn menschliche Zähne knorpelige Schweineohren durchbissen, und wäre sowieso nie im Leben auf die Idee gekommen, meine Ernährung von ein paar zwitschernden Schlitzaugen abhängig zu machen. Aber meine Meinung gilt ja nicht viel, zumal ich sie nur Martin mitteilen kann, dem einzigen Menschen, mit dem mir eine direkte Kommunikation möglich ist.
Nicht, dass Sie jetzt denken, ich würde ständig dem Snack-Flash der vier Freunde beiwohnen, aber heute hatten sie ein Namenslexikon dabei und wollten dem Bonsai in Birgits Bauch nun endlich, drei Wochen und einen Tag vor dem errechneten Geburtstermin, seine persönliche Note geben. Da galt es, dem Kevinismus vorzubeugen und pädophobe Strafnamen von vornherein zu vermeiden. Deshalb war ich hier.
Man war gerade mit der Vorspeise fertig und bei dem Buchstaben G angekommen.
»Gregor ist ja ein überaus heldenhafter Name, auch für ein kleines Mädchen«, sagte der werdende Patenonkel gerade, was ihm einen Klaps auf den Hinterkopf von Katrin, ein Kopfschütteln von Martin und ein Bäuerchen von Birgit einbrachte. »Der Name kommt aus dem Griechischen und bedeutet ›wachsam sein‹.«
»Und das Lateinische egregius bedeutet ›hervorragend‹«, fügte Martin an.
»Siehst du«, wandte Gregor sich an Katrin. »Kein Grund für körperliche Misshandlung. Ich erwarte eine Entschuldigung, sobald wir zuhause sind.«
Katrin grinste ihn lüstern an.
»Eine sehr ausführliche Entschuldigung«, fügte Gregor leise hinzu.
Birgit hickste.
»Gregoria wäre dann die weibliche Form«, erklärte Gregor gewollt oberlehrerhaft, was ihm erneut ein Augenrollen von Katrin, ein Kichern von Birgit und ein Seufzen von Martin einbrachte. In die allgemeinen Unmutsäußerungen hinein klingelte Gregors Handy.
Er meldete sich, hörte geschätzte drei Sekunden lang zu, runzelte die Stirn, knurrte: »Hey, was soll das heißen?«, und drückte die rote Taste, nachdem aus dem Hörer nur noch Tuten zu vernehmen gewesen war.
»Was war denn?«, fragte Katrin alarmiert. Als Häschen eines Kripobullen rechnet sie immer mit dem Schlimmsten.
»Keine Ah…«, sagte Gregor, aber der Rest ging in dem Sprachmüll unter, den die zwei Herren absonderten, die plötzlich rechts und links hinter Gregor aufgetaucht waren.
»Gregor Kreidler, Sie werden des Mordes an Susanne Hauschild verdächtigt. Wir müssen Sie bitten, uns zu begleiten.«
In der folgenden Stille hörten wir alle nur Birgits Bäuerchen, ein Zeichen von Nervosität, das sie – und mich – seit dem fünften Monat in zunehmendem Maße quälte.
»Das ist ja wohl totaler Schwachsinn«, brach es aus Katrin heraus. »Wer seid ihr Vögel überhaupt?«
Eigentlich kennt Katrin alle Kollegen von Gregor, aber die Anwesenden offenbar nicht. Ich auch nicht.
»Kripo Düsseldorf, Kriminalkommissare Keller und Stein«, sagte der größere der beiden Vögel. »Und nein, das ist kein Schwachsinn. Herr Kreidler?«
»Kollege Kreidler«, hätten die Kripos normalerweise gesagt, wenn sie sich bei einer Ermittlung über den Weg gelaufen wären, danach hätte man sich recht schnell auf das kollegiale Du geeinigt. Ja, sogar mit denen aus Düsseldorf.
Von kollegialer Gemeinsamkeit war hier allerdings nichts zu spüren. Gregors Gesichtsfarbe hatte die Farbskala zwischen dunkelrot und kreidebleich durchlaufen und war jetzt bei einem gruseligen Grauweiß stehen geblieben. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich.
»Ich bin so weit«, sagte Gregor zu den Bullen. Seinen Freunden schenkte er keinen Blick mehr.
»Gregor!«, flüsterte Katrin und stand ebenfalls auf.
»Aber …«, stammelte Martin.
Birgit hickste.
Dann waren die Düsseldeppen mit Gregor weg.
Katrin ließ sich auf ihren Stuhl zurückfallen, Martin und Birgit hatten immer noch die Quatschklappen offen stehen und auch ich war noch einige Sekunden in einem Schockzustand gefangen. Dann reagierte ich gleichzeitig mit Martin. Er rief mir in Gedanken noch zu: »Hinterher!«, aber da war ich schon unterwegs.
Mein körperlicher Zustand war in diesem Fall von Vorteil, denn ich begleitete Gregor und die beiden Düsseldorfer Kripos unbemerkt. Logo, schließlich bin ich tot. Natürlich nicht ganz, sonst wäre ich ja gar nicht mehr da. Meine Seele fand, nachdem ich vor sechzehn Monaten ermordet worden war, den Tunnel mit dem Licht nicht, und so schimmele ich seitdem als Geistwesen zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten herum. Mein Körper ist schon lang verscharrt, aber meine Seele lebendiger als zu Lebzeiten. Will sagen: Ich kann nicht mehr pegeln und bin daher ständig nüchtern. Ich kann nicht mehr poofen und bin also immer wach. Und ich habe eine Menge gelernt von Gregor, dem einzigen Bullen, den ich für einen coolen Typen halte, und Martin, dem einzigen Menschen, zu dem ich Kontakt aufnehmen kann. Herausgefunden haben Martin und ich diese besondere Beziehung anlässlich meiner Obduktion, als nämlich Doktor med. Martin Gänsewein, Rechtsmediziner am Institut für Leichenfledderei der Uni Köln, mich vom Hals bis zum Sack aufschlitzte, ausweidete und sehr unschön wieder zusammennähte.
Ich kann die Welt der Irdischen hören und riechen, obwohl ich keine Ohren und Nase mehr habe. Ich kann elektromagnetische Wellen fühlen und manchmal auch beeinflussen, weil ich selbst eine bin. Ich kann also total viel, aber kommunizieren kann ich nur mit Martin. Was schon rein quantitativ eine herbe Einschränkung des sozialen Umgangs darstellt, von der Qualität ganz zu schweigen. Anders gesagt: Eine Bezugsperson allein ist schlimm genug, aber Martin ist eine Strafe für mich, wie ein Seifenkistenrennen für einen Formel-1-Piloten. Aber über das besondere Verhältnis zwischen dem Oberpeinologen Martin Gänsewein und dem coolsten Geist diesseits von Himmel und Hölle werden Sie im Laufe der Geschichte noch mehr lernen – vielleicht mehr, als Sie wollen.
Jetzt jedenfalls ging es erst mal nur um Gregor.
Düsseldorf und Köln sind wie Mercedes und BMW. Jeder hält sich für was Besseres. Natürlich ist das Quatsch. Die Düsseldorfer haben außer der historischen Fehlentscheidung, dieses Kaff am Unterlauf des Rheins zur Landeshauptstadt zu machen, nichts vorzuweisen. Deshalb hacken sie so gern auf den Kölnern herum. Die Kölner hingegen wissen, dass Kölsch und Altbier auf die gleiche Weise gebraut werden – die Frage, warum das Bier rheinabwärts so aussieht, als käme es aus dem Güllefass, müssen Sie sich selbst beantworten.
Auch was den Bullenbunker angeht, liegt Köln klar vorn. Die Kölner Kripo sitzt in einem coolen Neubau in Kalk, während die Düsseldorfer Kripo in einem fast hundert Jahre alten, hässlichen Backsteinbunker vor sich hin oxidiert. Dorthin wurde Gregor geschleift.
Von den beiden Bullen, die Gregor einkassiert hatten, machte der, der wie ein Chorknabe aussah, die Ansagen, der andere pulte Dreck unter seinen Fingernägeln hervor. Viel Dreck. Vielleicht war der Typ eigentlich Gärtner und nur zur Aushilfe bei der Bullerei. Keine Ahnung, wie die in Düsseldorf ihre Planstellen bemannen.
»Ich werde das Gespräch aufzeichnen. Würden Sie bitte Ihren Namen sagen?«, wandte sich der Chorknabe an Gregor.
Gregor schwieg.
»Was haben Sie am vergangenen Freitagabend nach achtzehn Uhr gemacht?«
Gregor schwieg.
Er schwieg auf diese und alle weiteren Fragen nach seinen Tagesabläufen der letzten Woche, nach seiner Beziehung zu Susanne Hauschild und nach dem Grund für ihre Verabredung. Er glotzte einfach eine gute Stunde lang auf die Tischplatte vor sich, bis er endlich die Denkschüssel wieder in die anatomisch vorgesehene Position hob und den Mund aufmachte:
»Kann ich einen Kaffee haben?«
Keller – oder war es Stein? – seufzte, quälte sich auf die Beine und holte Kaffee für alle. Danach gingen die Fragen weiter. Gregor allerdings trennte Ober- und Unterlippe nur noch, um das ekelhaft bitter und sauer riechende Gebräu runterzuschütten. Nicht mal Kaffee können die in Düsseldorf.
Da Gregor weiterhin nichts zur Unterhaltung beitrug und ich daher immer noch keinen Schimmer hatte, was hier eigentlich gespielt wurde, machte ich mich auf den Rückweg nach Köln. Martin, Katrin und Birgit hatten inzwischen den Standort gewechselt und hockten in Martins und Birgits Bude. Katrins rote Lackpumps standen einträchtig neben Martins Gesundheitstretern und Birgits Sneakers neben der Tür. Ein viertes Paar Schuhe sagte mir, bereits bevor ich im Wohnzimmer ankam, dass sich Gregors junge Kollegin Jenny dem Trio angeschlossen hatte.
»… nicht glauben, dass er einfach so mitgegangen ist«, sagte Jenny gerade.
Katrin explodierte wortlos, sprang auf und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.
»Jennymaus«, ätzte sie, als sie wieder ins Wohnzimmer kam, »könntest du jetzt bitte dein ungläubiges Kindergesicht gegen die sachliche Miene einer Kripobeamtin tauschen? Ich weiß, dass es unfassbar ist. Ich weiß auch, dass es ein Fehler sein muss. Aber mit diesem ewigen Ich-kann-es-einfach-nicht-glauben-Gesülze kommen wir nicht weiter.«
Im Normalfall hätte mich Katrins Wutanfall begeistert, denn wenn ihre Augen Laserstrahlen abschießen, ihre Wangen glühen und ihre Hupen zittern, sieht sie am geilsten aus. Allerdings hatte selbst mir der Anlass die Laune verdorben, so dass ich ihren Anblick nicht richtig genießen konnte.
Jenny zog eine Schnute und nippte am Kräutertee, den Martin zur Beruhigung der Nerven gebraut hatte. Birgit knabberte eine Möhre und starrte ins Leere. Die Tränen, die ihr langsam und gleichmäßig die Wange herunterliefen, schien sie nicht zu bemerken. Katrin atmete ein paarmal tief ein und aus, ließ sich dann neben Jenny in den Sessel fallen und legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Entschuldige.«
Jenny schluckte und nickte. Dann straffte sie die Schultern und zog ein Notizbuch aus der Handtasche. »Okay, jetzt mal von vorn.«
»Hey Martin, sie haben Gregor nach einem Alibi für Freitagabend gefragt!«, drängelte ich meine Erkenntnisse zwischen Martins Gedanken.
Martin winkte gedanklich ab.
»Das könnte eurer dämlichen Diskussion hier ein bisschen auf die Sprünge helfen«, schob ich nach.
»Ach, und wie soll ich den anderen meinen plötzlichen Erkenntnisgewinn erklären?«, fragte Martin. Dann ließ er die geistigen Jalousien herunter.
Na super, damit hatte er mich mal wieder mit dem klassischen Totschlagargument kaltgestellt, das da lautete: Wie soll ich den anderen erklären, dass ich plötzlich Dinge weiß, die ich eigentlich nicht wissen kann? Dabei wäre es in diesem Falle gar nicht so tragisch gewesen, sein Wissen in die Welt hinauszukrähen, denn zumindest Katrin weiß, ebenso wie Gregor übrigens, von meiner Existenz. Birgit wurde erzählt, dass Martin gelegentlich »Hinweise von Toten bekommt«, und Jenny ist immerhin mal Zeugin einer Situation geworden, in der sie sich einiges hätte denken können, wenn das in ihrem Naturell läge. Okay, das ist unfair – Jenny ist nicht wirklich doof. Nur jung, unerfahren, ein bisschen naiv und ein deutlich weniger helles Licht als die kesse Katrin oder die brillante Birgit.
Martin jedenfalls ignorierte mich völlig und servierte Jenny eine Zusammenfassung der Ereignisse im besten Profi-Tonfall, den er gern auch vor Gericht oder in einer Besprechung mit seinem Chef anschlägt.
»Weiß jemand, wer diese Susanne Hauschild ist?«, fragte Jenny, nachdem Martin geendet hatte.
Martin pustete in seinen Tee und schielte zu Katrin.
Katrin fing den Blick auf und zog die Augenbrauen hoch. »Du kennst sie?«
Martin nickte. Langsam. Zögerlich. Eindeutig extrem unglücklich.
»Und wer ist sie?«, fragte Jenny deutlich ungeduldig.
»Gregors Frau«, murmelte Martin.
Das haute selbst mich aus der Spur.
Nach Martins schmutziger Bombe herrschte einige Sekunden eine solche Stille, dass ich kurz an einen Hörsturz glaubte.
Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass ich einen bekommen könnte, also beruhigte ich mich bald wieder. Birgit hatte ihrem Karotinstängel eine Kaupause gegönnt, Jennys Stift schwebte reglos über dem Papier und Katrin klappte den Mund auf und zu, ohne einen Ton herauszubringen.
»Vielleicht sind sie ja auch geschieden«, flüsterte Martin nach einer gefühlten Ewigkeit. »Ich bin mir nicht ganz sicher …«
Nur zur Erinnerung: Martin ist Gregors bester Freund. Die beiden kennen sich aus der Schule. Und Martin wusste nicht, ob Gregor verheiratet oder geschieden ist? Beziehungsweise verwitwet oder was auch immer? Aber egal. Geschockt waren wir jedenfalls alle.
»Warum weiß ich nichts von ihr?«, stammelte Katrin endlich.
Martin zuckte die Schultern.
Birgit nahm das Mümmeln wieder auf.
Jenny notierte etwas. Ich flog rüber und las: Susanne Hauschild – Gregors verheimlichte (!) Ehe-oder-Exfrau!?!
Damit war der Zeiger auf der nach oben offenen Drama-Skala etliche Striche hochgeschossen, denn die meisten Gewaltverbrechen werden von Tätern aus dem direkten Umfeld begangen. Ehepartner stehen auf der Liste an erster Stelle.
Mit ein Grund, nie zu heiraten.
»Was haben die Kollegen denn gesagt …«
»Kollegenschweine!«, brummte Katrin.
»Katrin!«, mahnte Martin, der vermutlich noch freundlich und verbindlich bleibt, wenn ihn jemand auffordert, die Brieftasche rauszurücken und dann von der Brücke auf die A1 zu springen. Was übrigens nicht so gefährlich wäre, wie es sich anhört, weil auf dem Kölner Ring immer Stau ist. Überfahren wird man also nicht, höchstens landet man auf einem stehenden Fahrzeugdach und bricht sich ein Bein.
»Recht hat sie«, brüllte ich dazwischen. »Schweine!«
»Nichts haben sie gesagt«, murmelte Birgit. Es war ihr erstes Wort, seit die Diskussion über die Namensgebung ihres Nachwuchses so rüde unterbrochen worden war.
Eigentlich ist Birgit ein echter Kracher. Sie sieht mit ihren endlosen Beinen, ihren langen blonden Haaren und ihrem leicht nach oben gebogenen Lächelmund super aus, hat nicht nur was in der Bluse, sondern auch in der Denkschüssel und arbeitete bis zum Beginn ihres Mutterschutzes in einer Bank. Auch das hört sich schlimmer an, als es ist, denn es hat ihrem Charakter zumindest bisher nicht geschadet. Außerdem war sie immer ziemlich relaxed und gut drauf. Das änderte sich schlagartig, als sie von den Hühnerhormonen überschwemmt wurde. Je größer dort, wo sich früher ihre Taille befand, der Bonsaiballon anschwoll, desto stiller wurde sie. In sich gekehrt, sagte Martin immer. Wenn sie gelegentlich den Mund aufmachte, zickte sie herum, was ich gar nicht von ihr kannte und auch nicht mochte. Die Phase ging Gott sei Dank vorüber und sie bekam mehr und mehr Ähnlichkeit mit einem trägen Trabbi als mit dem BMW Cabrio, das sie sich mühsam zusammengespart hatte, das aber trotz des geilen Wetters seit Wochen ungenutzt herumstand. Schwangere sollten nicht Cabrio fahren, fand Martin. Gähn.
»Die zwei Typen sind von der Kripo Düsseldorf, heißen Keller und Stein und haben gesagt, dass Gregor mitkommen soll, weil er verdächtigt wird, Susanne Hauschild ermordet zu haben. Das war alles«, sagte Birgit.
Ich strahlte. Kam da meine alte Birgit zum Vorschein? Die ebenso präzise denken und sabbeln konnte wie Martin, aber – im Gegensatz zu ihm – nie oberlehrerhaft klang? Die so schnell Zusammenhänge begriff, dass manchmal selbst ich nicht hinterherkam? Manchmal, habe ich gesagt! Selten, um genau zu sein. Oder fast nie.
»Haben sie gesagt, wann dieser Mord passiert sein soll?«, fragte Jenny.
Alle schüttelten den Kopf.
»Freitagabend«, brüllte ich, aber Martin reagierte nicht.
»Und Gregor …«
»Ist aufgestanden und mitgegangen. Ohne ein Wort«, sagte Katrin noch immer fassungslos.
»Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, sagte Jenny, stand auf und ergriff die Flucht. Jedenfalls wirkte ihr Abgang so auf mich.
Katrin stand kurz nach Jenny auf, murmelte, dass sie allein sein müsse, und verschwand. Martin und Birgit blieben wie schockgefrostet auf dem Sofa sitzen. Martin allerdings bat mich in Gedanken, ihm doch jetzt bitte schön meine neuesten Erkenntnisse zu servieren. Pah! Als ob ich ein Flaschengeist wäre, den man freilässt, wenn er gerade gebraucht wird, oder verkorkt, wenn nicht. Aber nicht mit mir. Da Martin mich eben so rüde abserviert hatte, wollte ich noch ein bisschen schmollen und schaltete mich stattdessen wieder nach Düsseldorf.
Gregor war natürlich nicht verhaftet, denn für eine Verhaftung benötigt man einen richterlichen Haftbefehl. Der Richter stellt so ein Papier nicht aus, nur weil irgendjemand meint, statistisch gesehen wäre sowieso der Ehemann der Mörder. Für einen Haftbefehl muss es eine gute Begründung geben.
Festhalten darf die Bullerei einen Verdächtigen natürlich trotzdem, allerdings nur bis zum nächsten Tag. Dann muss entweder eine Verhaftung erfolgen oder die Freilassung. Insofern war es auch noch kein allzu schlechtes Zeichen, als Keller – oder war es Stein? – zu Gregor sagte: »Sie bleiben erst einmal hier, Kollege.«
Eben hatte mich das Fehlen des Wörtchens Kollege noch betrübt, jetzt klang es zynisch.
Gregor reagierte nicht. Er starrte in den leeren Kaffeebecher und schwieg.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich meine, abgesehen davon, dass Gregor seine Ex verschrottet haben sollte. Natürlich könnte Gregor einen Menschen killen, wenn es sein müsste – genau wie jeder andere auch. Aber wir reden hier von Gregor, dem abgebrühtesten Kommissar diesseits des Atlantiks. Wir reden von Katrins Lover und Martins bestem Freund. Wir reden von dem Mann mit Intuition, der öde Polizeiarbeit ebenso beherrscht wie einen blitzschnellen Zugriff und der dabei noch einen coolen Spruch auf den Lippen hat.
Ich glaubte nicht, dass dieser Gregor die Alte ausgeknipst hatte. Aber was ich überhaupt nicht kapierte, war sein Schweigen. Warum sagte er nicht, dass er es nicht war, und fertig?
Warum forderte er Keller und Stein nicht freundlich auf, weiter im Keller ihres grottigen Präsidiums kekswichsen zu üben, statt gestandenen Kollegen ans Bein zu pinkeln?
Warum stand er nicht einfach auf und verschwand?
Gut, das ging jetzt nicht mehr, weil es da diese sogenannte Ingewahrsamnahme gab. Aber auch die konnte es doch nur geben, weil Gregor sich zierte wie der Bräutigam auf dem Standesamt. Nur dass hier nicht die Regel galt: Wer schweigt, gewinnt.
Diese Gedanken ließen mich nicht los, während ich Gregor in das Überstellungsfahrzeug, zur JVA, durch den Eingangscheck und in seine Zelle begleitete. Die JVA war ziemlich neu und die Zelle wenigstens kein Sammelbunker, aber richtig gemütlich wirkten die zehn Quadratmeter mit Bett, Tisch, Stuhl und Klo nicht. Gregor sah sich nicht einmal alles an, sondern warf sich auf das Bett, legte die Hände hinter den Kopf und stellte jede weitere Bewegung ein. Da er leider auch nicht anfing, laut mit sich selbst zu quatschen, drehte ich nach einer Weile mangels Unterhaltung frustriert ab. So eine stumme Depri-Nummer brachte mich nicht weiter, also beschloss ich, umgehend mit meinen eigenen Ermittlungen zu beginnen.
Ich verließ den Knast und düste zu Martin und Birgit. Sie lagen im Bett, wo Martin ein Massageöl in Birgits Bauch zwickte. Echt jetzt. Er massierte nicht, rieb nicht, sondern zwickte das Zeug in die Haut. Das sollte gegen Schwangerschaftsstreifen helfen und für Intimität zwischen den werdenden Eltern sorgen. Zumindest hatte die Geburtshelferschachtel im Geburtsvorbereitungskurs das behauptet. Ich persönlich finde eine Runde Zipfeln irgendwie intimer, aber Martin zupfte mit Leidenschaft – unter dem Elektrosmogschutznetz. Das Ding sieht aus wie ein Moskitonetz und hält unerwünschte, elektromagnetische Impulse von den Schlafenden fern. Also mich. Na toll. Von Martin war also keine Hilfe zu erwarten. Ich musste mit meinen Ermittlungen offenbar schon mal ohne ihn anfangen, denn wie jeder weiß, sind in einer Mordermittlung die ersten Stunden und Tage die wichtigsten, wobei der Mord bereits vor achtundvierzig Stunden geschehen war. Wenn nach dieser Zeit Gregor der einzig Verdächtige war, hatten die Bullen zwei Tage lang ins falsche Klo gefasst.
Eine Mordermittlung beginnt immer mit dem Opfer, weil man am Anfang sonst nix hat. Ich düste also in meinen Schrank auf dem Speicher, in dem Martin mir einen Computer installiert hatte, und googelte Susanne Hauschild. Nach einiger Suche bekam ich ein Foto von ihr präsentiert, bei dem in meiner Denkschüssel alle möglichen Glöckchen losklingelten. Ich hatte die Tussi erst vor wenigen Tagen gesehen. Lebend. Mit Gregor.
Ich beschloss, Gregors Aktivitäten in der Woche vor dem Mord an Susanne Hauschild zu rekonstruieren. Das würde mir nicht allzu schwerfallen, denn seit Martin und Birgit nur noch über Kindernamen, Kinderzimmerdekoration, Kindererziehung, Kinderkrankheiten, Kinderkotze und verwandte Themen redeten, hatte ich immer seltener Lust, mich in ihrer Nähe aufzuhalten. Natürlich brauchte ich Martin weiterhin als Gesprächspartner, aber wenn es nur darum ging, den Tag zu vertrödeln, hatte ich mich in letzter Zeit verstärkt an Gregor gehalten.
18. Juni, 9 Tage vor Gregors Verhaftung
An dem Tag, an dem Gregor Susanne Hauschild treffen sollte, kam ich gegen zehn Uhr in Gregors Büro. Es war ein warmer, sonniger Freitag und ich hatte nichts Besonderes zu tun. Freitagsmorgens ist in den Krankenhäusern und Notaufnahmen, in denen ich gern herumhänge, nicht viel los. Nicht, dass Sie jetzt denken, ich sei blutrünstig oder weide mich am Leid von Leuten, die sich mit dem Motorrad um einen Laternenpfahl wickeln oder denen beim Holzhacken die Axt im Schienbein stecken geblieben ist. Ganz und gar nicht. Ich warte dort auf geistige Gesellschaft. Immerhin ist mein Dasein eine ganz schön einsame Kiste. Es gibt keine andere Seele in meiner Zwischenwelt, denn meist läuft es so: Im Moment des Todes verlässt die Seele den Körper, sagt vielleicht noch kurz Hallo und verschwindet dann in den Himmel oder die Hölle. Zurück bleibt nie eine. Manchmal allerdings rufe ich noch »Grüß Marlene« hinterher, denn diese kleine, dicke Nonne war die Einzige, die mir für längere Zeit hier auf meiner Zwischenebene Gesellschaft geleistet hat. Später hat sie sich dann auch ins Licht verabschiedet. Aber ich bin sicher, dass sie noch gelegentlich nach mir sieht.
Auch sonstige Einrichtungen, in denen ich gern Zeit verbringe, haben freitagvormittags wenig zu tun, da werden sogar die Betten im Nagelstudio gelüftet und die Swingerclubs entlaust. Ich schaute also bei Gregor nach dem Rechten, weil ich wusste, dass er heute einen wichtigen Termin hatte. Wenn sonst nix los war, begleitete ich ihn gelegentlich ins Gericht.
Gregor band sich gerade eine Krawatte um. Das ist etwas, das er üblicherweise vermeidet, aber heute musste er als Zeuge auftreten, daher beugte er sich dem Druck der Erwartung und zog so genervt an dem Strick herum, dass ich mir Sorgen um seine Luftzufuhr machte. Jenny stand grinsend in der Tür, was Gregor noch mehr anpisste, aber endlich hatte er es geschafft und der Knoten war vielleicht nicht gerade für die Hochzeit von Willi Windsor geeignet, aber fürs Gericht reichte es locker.
Der Auftritt des großen Kriminalhauptkommissars Kreidler war ein voller Erfolg. Er antwortete präzise auf alle Fragen, konnte die Beweise gegen den Angeklagten lückenlos erklären und stotterte nicht einmal an der Stelle, an der die Frage kam, wie er denn überhaupt auf den Angeklagten aufmerksam geworden sei. Er konnte ja schlecht sagen, dass sein bester Kumpel, der Schlitzer, mal einen Autoknacker obduziert hatte und seitdem vom Geist desselben gelegentlich heiße Tipps aus dem Reich der Toten bekam. Daher tat er das, was er in solchen Fällen immer zu tun pflegt, und dehnte die Wahrheit. Sie war an dieser Stelle bereits labberig wie das Hosengummi eines Dreizehnjährigen, aber zum Glück wurde die Frage nur in seltenen Fällen gestellt, nämlich nur dann, wenn der Anwalt des Übeltäters damit auf einen verfahrenstechnischen Fehler hinauswollte, was ihm in diesem Fall nicht gelang. Gregor verließ den Zeugenstand aufrecht und ernst. Das gehässige Grinsen zeigte er erst im Flur, als Jenny fragte, wie es gelaufen sei.
»Der sieht Frauen ab sofort nur noch auf fleckigem Papier.«
Die Genugtuung war ganz auf meiner Seite, denn auch wenn ich zu Lebzeiten mit mehr als einem Gesetz in Konflikt gekommen bin, gibt es einige Sorten Krimineller, die ich nicht ausstehen kann, und das sind alle, die ihren Zipfel zur Waffe machen und andere Leute damit quälen. Wenn diese Opfer dann auch noch Kinder oder Frauen sind, wird es ganz eng. Der Angeklagte, dem Gregor gerade zu einer lebenslangen Karriere im Café Viereck verholfen hatte, gehörte dazu. Der Typ war ein Vergewaltiger, der sein letztes Opfer zwischen (!) mehreren sexuellen Attacken getötet hatte. Versehentlich, wie er behauptete. Keine Ahnung, wie man bei einer extra reißfesten Plastiktüte über dem Kopf und einhundertsiebenundneunzig Zentimeter Duct-Tape von Versehen reden konnte. Mit dem Klebeband haben wir damals ganze Baureihen von Opel repariert. Wer zu dem Zeug greift, weiß, was er tut.
Gregor fummelte noch an seiner Krawatte, diesmal allerdings schwungvoll in Abwärtsrichtung, als sein Handy klingelte. Eine Selbstmörderin war auf dem Speicher ihres Hauses gefunden worden. Bei Selbstmord gehen die Kripos nachschauen, ob es wirklich einer war. Gregor und Jenny machten sich also auf den Weg und ich folgte ihnen.
Wenn jemand die Seele baumeln lassen will, gibt es mehr Möglichkeiten, als der Durchschnittsbürger weiß. Die Falltür-auf-und-tot-Methode kennt jeder, der schon mal einen Western gesehen hat. Das ist nicht nur schwungvoll und dynamisch, sondern auch ziemlich erfolgreich, weil das Genick ein lautes Knacksen von sich gibt – und Schluss. Keine Zweifel, kein langes Leiden, eine schöne, runde Sache. Die unangenehmste Version ist das Erhängen an der Heizung oder am Abflussrohr des Waschbeckens. Ja, das geht. Allerdings stirbt der Selbstmordwillige bei diesen, sagen wir mal, erdnahen Selbsttötungen meist ziemlich langsam. Wichtig ist dabei, dass der Zug auf der Schlinge erhalten bleibt, der Typ sich also nicht, sobald es eng wird, wieder aufrappelt. Das ist nur etwas für besonders Willensstarke.
Die Frau, die Gregor und Jenny in einem Mehrfamilienhaus älterer Bauart unter dem Dach trafen, hatte sich selbst entweder die nötige Willensstärke nicht zugetraut oder sie hatte einfach die vorhandene Infrastruktur genutzt, die eine First-Class-Genickbruch-Gelegenheit bot. Sie hing an einem offen liegenden Dachbalken. Gregor und Jenny betrachteten sie erst mal aus einiger Entfernung durch die Speichertür vom Treppenabsatz aus.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Gregor als Erstes.
Der Uniformierte, der die Tür bewachte, deutete auf eine kleine Frau in geblümter Kittelschürze, die in einen labberig feuchten, strahlend weißen Kissenbezug heulte. Den hatte sie offenbar aus dem Wäschekorb genommen, mit dem sie in eindeutiger Absicht auf den Speicher gestiegen war. Drei der vier für die Bettwäsche gedachten Plastikleinen hingen noch waagerecht, die vierte kringelte sich um den Hals der Toten.
»Alle informiert?«, fragte Gregor.
Die Uniform nickte. Über kurz oder lang würden also die Schlitzer und die Nummerngirls erscheinen.
Gregor wandte sich an die heulende Schürze. »Kennen Sie die Frau?«
»Das ist Paulina Pleve«, schluchzte die Frau halb erstickt in ihre Kissenhülle.
»Wohnt sie hier im Haus?«
»Sie ist meine Nachbarin.«
»Wann haben Sie sie zuletzt lebend gesehen?«
Die Schürze schnäuzte geräuschvoll in den Kopfkissenbezug und zuckte unsicher die Schultern. »Gestern? Aber vielleicht war es auch vorgestern. Ich weiß nicht …«
Gregor bat Jenny, die Personalien der Schürze aufzunehmen und sie dann in ihre Wohnung zu begleiten. Er selbst blieb vor der Speichertür stehen und blickte sich aufmerksam um.
Der Uniformierte räusperte sich. »Ich musste die Tür aufbrechen. Sie war von innen versperrt.«
Gregor seufzte. »Die Nachbarin hat die Polizei gerufen, weil die Tür von innen versperrt war?«
»Natürlich nicht.« Die Uniform drückte die Tür vorsichtig zu. Gregor konnte durch das uralte Fenster mit geätztem Eisblumenmuster den Umriss der im lauen Luftzug schwingenden Leiche erkennen.
»Sie sagen den Spusis bitte ganz genau, wie Sie die Tür vorgefunden haben und was Sie getan haben, um sie zu öffnen.«
»Natürlich.«
Es dauerte weitere zehn Minuten, bis die Schlitzer kamen – in Person von Katrin. Sie drückte Gregor einen flüchtigen Kuss auf den Mund, zog sich die Schuhschoner und den Overall an, stopfte ihr schönes, langes Haar unter die Kapuze und ging durch die Tür. In dem Overall herrschte jetzt vermutlich eine Temperatur von fünfundneunzig Grad. Katrin ist die Lauteste, wenn es um Beschwerden über die Arbeitsbedingungen in den grässlichen Ganzkörpertüten geht, aber in ihrer Professionalität lässt sie sich davon nicht abschrecken. Sie wird nie diejenige sein, die vor dem Richter sitzt und gestehen muss, dass der Tatort von ihr oder ihren Kollegen verunreinigt wurde, weil die Overalls im Sommer zu warm oder im Winter zu kalt sind. Zu kalt deshalb, weil keine vernünftige Jacke unter so ein Teil passt, von Katrins Daunenmantel ganz zu schweigen. In dieser Konsequenz ist sie sich mit Martin absolut einig – vermutlich die einzige Gemeinsamkeit, die die beiden haben.
Katrin notierte die gemessene Umgebungstemperatur von zweiunddreißig Grad Celsius, maß die Öffnungen der beiden Dachfensterchen, bestimmte die Himmelsrichtung der Dachfenster und knipste ein paar Bilder als Gedächtnisstütze. Sie benötigte diese Informationen zur Berechnung des Todeszeitpunktes, denn eine Leiche kühlt auf einem heißen Dachboden nicht so schnell aus wie in einem feuchten Keller – logo, oder? Wenn bei offenen Fenstern allerdings Luftzug ins Spiel kam, würde Katrin sogar die Temperatur der Nachtluft recherchieren, um eine möglichst genaue Todeszeitangabe machen zu können. Ja, Katrin ist nicht nur die heißeste Maus im Schlitzerteam, sondern auch noch eine der besten.
Aus meiner Perspektive, also ungefähr zwei Meter über dem Fußboden und ebenso weit von der Tussi am Strick entfernt, sahen die beiden Perlhühner sich erstaunlich ähnlich, denn auch Paulina Pleve war ganz in Weiß gekleidet. Als Engelchen ging sie in Jeans, T-Shirt und Tennissocken trotzdem nicht durch. Wahrscheinlicher war, dass die Tussi einem Zahnarzt den Saugrüssel hielt oder einem Allgemeinmediziner beim Spritzen half. Vielleicht war sie auch selbst die Zahnfee, Kinderärztin oder Orthopädin, das konnte ich allein an der Qualität der Tennissocken nicht erkennen.
Katrin schenkte der Leiche zunächst wenig Beachtung. Dafür schaute sie sich umso genauer die alte Holzklappleiter an, die zu Füßen der Toten lag. Sie zog ein Maßband aus der Tasche, maß die Höhe der Leiter und den Abstand der baumelnden Füße zum Fußboden. Passte.
Die Nummerngirls der Spusi, heute in der Mehrzahl männlich, kamen ebenfalls in ihren weißen Overalls hereingewuselt, scheuchten Katrin kurz hinaus, suchten auf dem leicht staubigen Boden nach Fußspuren, stellten ihre Nummernkärtchen an der Leiter und an einer Wäscheklammer auf, maßen Entfernungen, machten Fotos und riefen Katrin dann wieder hinein.
»Die lebte noch, als man sie hingehängt hat«, brummte eins der Nummerngirls in tiefstem Bass.
»Woran erkennt der Fachmann das?«, fragte Katrin.
»Schau dir doch an, wie die die Zunge rausstreckt.«
»Die Zunge kommt auch bei einem Toten raus«, erwiderte Katrin mit hörbarer Schadenfreude. »Aber der starke Speichelfluss spricht dafür, dass sie noch lebte.«
Ein Nummerngirl schlug einem anderen freundschaftlich auf die Denkschüssel, mehrere brummten mehr oder weniger hämisch, aber trotzdem ließen sie sich keine Sekunde von ihrer Arbeit ablenken. Tief gebückt und teils mit Lupen vor den Sehkugeln untersuchten sie den Boden. Die ganze Veranstaltung sah aus wie eine Performance Moderner Kunst, bei der gesichtslose Typen durcheinanderwimmeln, um so wichtige Menschheitsfragen zum Ausdruck zu bringen. Habe ich mal in der Glotze gesehen. Mich erinnerte es eher an eine Truppe Karosserielackierer mit einem Kontaktlinsenproblem.
Nachdem sie alles abgegrast hatten, halfen die Spusis Katrin, die Leiche abzunehmen. Katrin sicherte die Spuren an der Toten, während die Nummerngirls mit dem weiteren Umfeld des Tatortes weitermachten. Sie ließen sich von dem Kollegen in Uniform erklären, wie er versucht hatte, den innen steckenden Schlüssel aus dem Türschloss zu rütteln, dieser aber nicht auf den unter der Tür durchgeschobenen Tapetenrest gefallen war. Daraufhin hatte er einen Säbel, den die Schürze ihm gebracht hatte, zwischen Türblatt und Pfosten geschoben und die Tür aufgehebelt.
»Einen Säbel?«, fragte Gregor, der den Schluss mitgehört hatte.
»Erbstück«, sagte die Uniform und zeigte auf ein mit Bommeln und Troddeln verziertes, schartiges Stück Metall, das am Rand des Treppenabsatzes lag.
Die Tür einschließlich Rahmen wurde vermessen, wobei sich herausstellte, dass ein Kartoffelschälmesserchen zum Aufbruch vermutlich auch gereicht hätte, so verzogen war das alte Ding.
Endlich hatten alle genug gesehen, Paulina Pleve wurde abtransportiert und Katrin nickte Gregor zu.
»Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Selbstmord. Es stimmt alles: Die Höhe der Leiter für die Füße, Art und Sitz des Knotens …«
»… die verschlossene Tür …«, fügte Gregor hinzu.
»Dann hoffe ich, dass wir uns heute Abend sehen, bevor ich dich verlasse.« Nicht nur Gregor starrte Katrin an, als sie sich aus der weißen Pelle schälte. Der Schweiß hatte ihre luftige Bluse durchsichtig gemacht und die Härchen im Nacken gekringelt. Wenn überhaupt noch möglich, schoss die Temperatur auf dem Treppenabsatz um etliche Grad nach oben.
Katrin fuhr ins Institut und führte die Obduktion gemeinsam mit Martin durch. Martin schnippelte, Katrin sabbelte die Erkenntnisse ins Diktiergerät.
»Wenn ich mich umbringen wollte, würde ich keine quietschgrüne Wäscheleine nehmen, auf der die Nachbarn jahrelang ihre Unterhosen aufgehängt haben«, erklärte ich Martin, der gerade das Seil aus dem geschwollenen Halsgewebe herauslöste. »Ich würde mir ein schönes Seil kaufen. Eins, das angenehm auf der Haut liegt. Also auch kein Hanf, Sisal oder Jute. Weich müsste es sein, wie …«
»Es wäre nichts dagegen einzuwenden, dass du dich endlich richtig umbrächtest«, konterte Martin in Gedanken. »Allerdings hilft ein Seil in deiner Situation leider nicht.«
»Aber findest du das nicht komisch? Eine Wäscheleine? Wie sperrig!«
Martin wehrte sich zwar gegen die Erkenntnis, gab mir aber insgeheim recht, wie ich seinen ungeschützten Gedankenwirbeln entnehmen konnte.
Katrin bekam von unserer Unterhaltung natürlich nichts mit, sondern operte die Befunde ins Mikro. »Der Knoten ist unfachmännisch, aber zweckdienlich. Er sitzt seitlich am Hals, die Strangmarke stellt sich als Gewebeeinziehung mit Hautvertrocknung dar, zum Knoten hin ansteigend ausgebildet …«
Zum Knoten hin ansteigend heißt, dass die Leiche hing, als es eng wurde. Hätte sie gelegen oder jemand hinter ihr gestanden und ihr das Seil um den Hals gezogen, läge der Verlauf der Strangmarke schön auf einer Höhe um den Hals. Ja, ich habe von den Schlitzern schon viel gelernt.
Dass sich die üblichen Stauungsblutungen fanden, war nicht weiter erstaunlich und wurde entsprechend unaufgeregt, aber nicht weniger sorgfältig dokumentiert.
»An den Händen finden sich Reste von Talkum.«
»Talkum?«, fragte ich.
»Dieses Zeug in Einmalhandschuhen, damit sie nicht verkleben«, erklärte Martin.
»Sie hat sich vor dem Aufhängen also nicht die Hände gewaschen«, schlussfolgerte ich.
Martin stutzte. »Nein.«
Katrin schaltete das Diktiergerät aus und murmelte: »Ich kann mich nicht erinnern, dass am Fundort Handschuhe herumgelegen hätten. In der Kleidung war auch nichts – also, wo sind die Dinger geblieben?«
»Dafür ist dein Liebster zuständig«, sagte Martin streng.
Ach, mein Martingsgänschen, seit ich ihn immer wieder in Ermittlungen hineinziehe, hat er eine Aversion gegen jeden Gedanken entwickelt, der auch nur einen Millimeter neben seinem rein medizinischen Fachgebiet liegt.
Katrin schaltete das Gerät wieder an. »An den Händen finden sich keine Hinweise auf Selbstrettungsversuche, auch an der Halshaut sind derartige Spuren nicht zu finden.«
»Die war aber ungewöhnlich entspannt«, stellte ich fest.
»Ich stelle Tatsachen fest, die Kripo zieht die Schlüsse«, sagte Martin stoisch.
»Wo ist die Kripo eigentlich?«
Keine Antwort ist auch eine Antwort. Normalerweise ist nämlich meist der Ermittler, manchmal sogar der Staatsanwalt bei der Obduktion dabei, damit er alle Informationen so schnell wie möglich aus erster Hand erfährt. Hier waren die Freunde und Helfer – also Gregor, der Freund, und Jenny, sein Helferlein – aber offenbar von vornherein der Meinung, es handele sich um einen Selbstmord.
Ich kürze die Sache mal ab: Am Ende der Obduktion stand die Erkenntnis, dass die Sache mit den Talkumspuren an den Händen und das Fehlen von Hinweisen auf Selbstrettungsversuche zwar ungewöhnlich war, es aber keinen eindeutigen Hinweis auf ein Fremdverschulden gab.
Die Leiche lag kaum in ihrem Kühlfach, als Katrin erneut nervös zur Uhr sah.
»Ich mache den Rest«, bot Martin an. »Schönen Urlaub.«
Am nächsten Morgen frühstückten Martin und Birgit gegen neun Uhr. Genauer gesagt frühstückte Birgit zum dritten Mal. Sie war bereits um halb fünf und um viertel nach sechs auf gewesen und hatte jedes Mal die Gelegenheit genutzt, eine Kleinigkeit zu essen. Das erste Mal waren es sechs Schnitten Toastbrot mit Butter und englischer Orangenmarmelade gewesen, beim zweiten Mal nur etwas Obst: zwei Bananen und eine Honigmelone. Dieses ständige Herumgezappel und Aufstehen, Hinlegen, Aufstehen, Hinlegen sei eine ganz normale Begleiterscheinung einer Schwangerschaft, hatte Martin mir erklärt, aber mich machte es trotzdem wahnsinnig. Mal drückte der Bonsaiballon auf Birgits Blase, dann auf den Rücken, dann wurde ihr heiß oder kalt oder die Beine waren unruhig oder der Bonsai übte Kickboxen oder … irgendwas war immer. Total ungemütlich.
Früher war Birgit völlig entspannt und konnte megamäßig chillen. Im Bett frühstücken, nach dem Kaffee die Decke noch mal über die Denkschüssel ziehen und eine Zugabe poofen. Seit sie immer weiter anschwillt, hat sie sich von Martin den Kaffee ausreden lassen und isst jetzt zum gemeinsamen Frühstück Müsli, wie Martin. Und seit sie nicht einmal mehr arbeiten geht, ist sie total träge geworden. Martin redet ihr jede sinnvolle Tätigkeit aus, weil er meint, Birgit müsse sich schonen. Er mag sie kaum noch allein aus der Wohnung lassen, aus Angst, dass ihr etwas passieren könnte. Ich hoffte, dass die alte Birgit spätestens dann wieder zum Vorschein käme, wenn der Bonsai endlich auf der Welt war, denn die Valium-Variante gefiel mir überhaupt nicht.
»Ich finde, dass wir noch mal über Liam nachdenken sollten«, sagte Martin mit irgendwelchen dunklen Körnchen zwischen den Zähnen. »Und Roger finde ich auch schön.«
Natürlich sprach er beide Namen deutsch aus.
»Die Namen findet er aber kacke«, informierte ich Martin.
Dieser Er war in den vergangenen Monaten mein Schlüssel zu Martins Aufmerksamkeit gewesen, denn mit ihm meinte ich Martins Sohn. Ich konnte nämlich mit dem Nachwuchs reden. Das glaubte zumindest Martin. Besser gesagt: Ich hatte das behauptet und der Naturwissenschaftler in Martin glaubte es natürlich nicht. Aber eben dieser glaubte ja auch nicht, dass der Geist eines Menschen nach seinem Tod weiterhin anderen Leuten auf den Sender gehen würde. Das allerdings musste Martin aus eigener Erfahrung bestätigen, also glaubte er auch, dass ich mit seinem Nachwuchs wirklich plauderte. Zumindest manchmal. Und in diesen Momenten war ich der wichtigste Mensch in Martins Umgebung, weil ich ihm sagen konnte, ob der Nachwuchs sich wohlfühlte, obwohl Birgit sich immer mal wieder die Seele aus dem Leib reiherte. Ich antwortete je nach Laune und Bedarf und hatte so einige Zugeständnisse erstritten. Zum Beispiel freien Zugang zu meinem bereits erwähnten Computer. Aber dazu später mehr.
Die Geburt war übrigens für den neunzehnten Juli errechnet, also genau eine Woche nach meinem eigenen Geburtstag. Ich hoffte stark, dass sowohl Birgit als auch der Bonsai sich daran hielten und nicht etwa meinen Geburtstag für ihre Zwecke missbrauchen würden. Es war schwer genug, meinen eigenen Geburtstag zu feiern, weil ja außer Martin niemand mit mir feiern konnte und unsere Vorstellungen von einer angemessenen Sause nicht wirklich deckungsgleich waren. Umso weniger wollte ich in Zukunft meinen G-Day inmitten einer Horde lärmender Milchzahnterroristen verbringen.
»Das sagst du von jedem Namen, den wir bisher in die engere Wahl gezogen haben«, erwiderte Martin genervt.
»Weil ihr so bescheuerte Namen wie Linus, Titus oder Jörgen-Malte aussucht. Da muss man einfach kotzen.«
»Ach, halt doch endlich mal die Klappe«, maulte Martin.
»Ich glaube, ich platze gleich«, maulte Birgit und ließ ein lautes Bäuerchen folgen.
Ich machte die Biege. Hier waren eindeutig zu viele bad vibrations.
Im Bullenbüro traf ich Gregor und Jenny, die sich zunächst einige Becher Kaffee und den Bericht der Rechtsmedizin reinzogen, bevor sie sich auf den Weg in das Altenasyl machten, in dem Paulina gearbeitet hatte.
Ich wunderte mich, denn der Bericht der Schlitzer hatte keinen Hinweis auf Fremdverschulden gegeben. Im Gegenteil, eigentlich stimmte alles. Strangulationsmerkmale, Leiterhöhe, der Winkel, in dem sie umgefallen war, und die Wucht, mit der die Frau in die Wäscheleine geknallt war. Auch die von innen abgeschlossene Tür war doch ein ziemlich gutes Indiz für einen Selbstmord. Ich suchte also noch nach einer Erklärung, warum die Kripos nicht nur auf dem Weg zu Paulinchens Arbeitsplatz waren, sondern das auch noch an einem Samstag durchzogen, aber dann löste Jenny das Rätsel, indem sie ungebremst über die Schürze herzog.
»Die alte Schachtel hat doch tatsächlich offiziell Anzeige wegen Mordes erstattet. Weil Paulina sich ›niemals nimmer nicht‹ aufgehängt hätte. Das sei gegen das Gebot vom Herrgott.«
»Herrgott noch eins«, brummte Gregor grinsend.
»Genau«, ereiferte sich Jenny.
»Und warum genau bist du nun so stinkig«, fragte Gregor nach einer Weile.
Jenny errötete. »Ich hatte eine Verabredung, aber nachdem mich die blöde Kuh so lange aufgehalten hat …«
Wenn Jenny errötet, sieht sie noch mehr nach Schulmädchen aus als sowieso schon. Sie ist gerade mal eins siebzig und füllt leider ihre Blusen nicht so richtig aus. Ihre Haut ist blass, die Haare nix Besonderes und die Kulleraugen puppengroß. Eigentlich sieht sie gar nicht so schlecht aus, kommt aber meist ziemlich langweilig rüber, weil sie mit seriösen Klamotten versucht älter zu wirken, als sie ist. Jenny war mit zweiundzwanzig als fertige Kommissarin von der Bullenuni gekommen, musste aber, wie alle anderen Kripo-Clowns auch, erst mal bei der Einsatzhundertschaft Demonstranten und Hooligans vermöbeln. Ich kannte Jenny damals noch nicht, konnte sie mir aber beim besten Willen nicht in einer ordentlichen Keilerei vorstellen. Immerhin überlebte sie die Zeit, denn nach zwei Jahren Fronterfahrung war sie mit vierundzwanzig die mit Abstand jüngste Kommissarin in Köln.
»Und wer ist der Glückliche?«, fragte Gregor.
Jenny und Gregor kamen als Team gut miteinander aus, auch wenn sie nicht ihre Freizeit miteinander verbrachten. Eventuell auch, weil sie nicht ihre Freizeit miteinander verbrachten. Gregor war außerdem keine Klatschtante, daher wusste er vermutlich nicht allzu viel über Jennys Privatleben. Ich hätte ihm erzählen können, dass es auch nichts Interessantes zu wissen gab, denn Jenny lebte wie eine Nonne. Welcher halbwegs normale Kerl lässt eine Bullenbraut an sein bestes Stück? Eben. Daher war auch ich jetzt ansatzweise neugierig, ob in Jennys Bett neuerdings Leben gekommen war.
»Andy kam vorbei, als ich mit der renitenten Nachbarin im Büro das Protokoll gemacht habe. Ich hatte meine liebe Not mit der Frau, weil sie ständig Geschichten von Paulina als Kleinkind, Paulina in der Grundschule und Paulina beim Krippenspiel erzählte. Andy hat dann mühsam herausgefunden, was sie über den Selbstmord wirklich weiß.«
»Und was weiß sie?«
»Nichts. Bis auf die Sache mit dem Gebot vom lieben Herrgott.«
»Herrgott noch eins«, brummte Gregor wieder. »Und wer war die Verabredung?«
»Na, Andy halt.« Jenny verdrehte die Augen, als sei Gregor schwer von Begriff. »Wir wollten zusammen essen gehen.«
»Wir reden über den Andy? Kollege Offermann?« Wenn Gregor sich darüber wunderte, dass Kollege Andy auf dem Weg ins Wochenende einen Zwischenstopp einlegte, um Jennymaus mit einer umständlichen Zeugin zu helfen, konnte man es zumindest nicht hören.
Jenny wurde wieder rot. »Genau. Da es mit der Zeugin aber immer später wurde und Andy noch zum Junggesellenabschied seines besten Freundes musste, wurde nichts daraus.«
Gregor schüttelte den Kopf. Vielleicht wunderte er sich also doch. Oder er fragte sich, ob ein Junggesellenabschied wirklich besser als eine Runde zipfeln war. Oder er wunderte sich darüber, dass er von Andys Interesse an Jenny noch nichts bemerkt hatte, oder er hatte es bemerkt und wunderte sich nun, dass der Kollege so lange gebraucht hatte, es zu zeigen. Vielleicht hatte er aber auch nur einen steifen Hals, den er mit dem Kopfschütteln lockern wollte – erinnern Sie sich, ich kann Gregors Gedanken leider nicht lesen.
Im Altenheim erfuhren Gregor und Jenny von der Heimleiterin Dr. Wenger, dass Paulina eine höchst zuverlässige Mitarbeiterin gewesen war. Die Schichtführerin erklärte unter Tränen, dass sie selten eine so gute und umsichtige Pflegekraft gehabt hätte, und die Kolleginnen, die im Pausenraum zusammengerufen worden waren, bestätigten die Aussagen. Die Kripos räumten Paulinchens Spind leer und wollten gerade das Heim verlassen, als eine laute Stimme sie zurückhielt.
»Gregor, bist du das?«
Das war das erste Mal, dass ich Susanne Hauschild sah.
Sie kam mit kleinen Trippelschritten auf Gregor zu und blieb in fast zwei Metern Abstand vor ihm stehen. »Wenn das kein Zufall ist – ich habe in den letzten Tagen oft an dich gedacht.«
Gregor nickte ihr zu.