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»Einfach geist-reich!« Focus online Pascha, der prollige Autoknacker-Geist, widmet sich mit Hingabe dem Abhören des Polizeifunks und ist sofort bei einem schweren Unfall zur Stelle. Ein Auto ist abends von der Straße abgekommen. Vier Kinder wurden schwer verletzt, die Fahrerin ist verschwunden. Im Krankenhaus werden die Kinder ins künstliche Koma versetzt, sodass ihre Seelen munter durch die Gegend schweifen können. Die Kurzen erzählen Pascha, dass die Lehrerin entführt wurde. Pascha geht der Flohzirkus um ihn herum mächtig auf den Geist. Aber auch kriminalistisch ist er ziemlich in Anspruch genommen, denn gemeinsam mit den Kindern sucht er die verschwundene Lehrerin. Schließlich braucht er die Hilfe von Dr. Gänsewein, der eigentlich ganz anderes im Kopf hat: Er wird Vater!
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Seitenzahl: 383
Jutta Profijt
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2012
© 2012Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41310-7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21340-0
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EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
EPILOG
DANK
Dienstag, 19Uhr 43
Der Kangoo klebte an dem Brückenpfeiler wie ein Furunkel an der Sitzritze, aber der Fahrersitz war leer. Das war erstaunlich, denn die Faltschachtel sah nicht gut aus. Okay, so ein rollender Schuhkarton sah nie gut aus, aber was ich damit meine, dürfte klar sein: Die Karre war Schrott und der Fahrer hätte eigentlich schlaff im Gurt hängen sollen. Mindestens mit Schleuderhirn, vielleicht sogar einem Knick im Genick. Das käme auf die Geschwindigkeit an, mit der die Karre an den Pfosten gerauscht war. Aber nein, keine Spur vom Pfeilerküsser, nur die vier Beifahrer hingen in ihren Gurten. Und dann haute es mir die Füße weg– virtuell, natürlich: die vier leblosen Gestalten waren Kinder.
Innerhalb kürzester Zeit kamen die Bullen, die Sanis und– die Schaulustigen. Diese Glotzgeier finden jeden Unfallort, obwohl dieser hier wirklich ein Geheimtipp war, ebenso wie der unbeleuchtete, aber immerhin grob asphaltierte Weg an der stillgelegten Bahnstrecke entlang, von dem der Kangoo abgekommen war. Für Insider war das eine beliebte Abkürzung, wenn man mehrere große Kreuzungen mit mehreren Ampeln umgehen wollte.
An diesem nasskalten Abend Ende November war es schon nach sieben und der Autoverkehr daher eher sporadisch. Dafür gab es etliche Hundebesitzer, die nach Feierabend mit ihren Viechern über die Brücke dackelten, weil auf der südlichen Seite ein winziger Park die Funktion des örtlichen Hundeklos übernimmt. Die Brücke füllte sich also mit Gaffern. Immer, wenn es um Kinder geht, sind alle besonders angespannt, daher ging der Zoff gleich los.
»Verzieh dich, du krankes Arschloch!«, rief einer der Sanis einem besonders interessierten Sensationsspion zu, der mit seinem Touchscreendildo die Rettungsarbeiten filmte. Der Sani würde sich sicher noch am selben Abend auf YouTube bewundern können.
Mehr Bullen wurden angefordert, »um die Spanner auf Abstand zu halten«, wie der Uniformierte in sein Funkgerät brüllte. So laut, dass die Spanner es mithören mussten, wenn sie nicht völlig horchtot waren. Sie rührten sich trotzdem nicht vom Fleck.
Zwei weitere Blaulichtschaukeln kamen, die Streifenhörnchen stiegen aus, zwei schnappten sich eine Rolle Flatterband, um die Unfallstelle abzusperren, zwei stiegen die Treppe zur Brücke hoch.
»Ihre Ausweise, bitte«, sagte der Größere zu den Zuschauern, die sich lässig ans Geländer gelehnt hatten, um nur ja nichts zu verpassen.
»Was soll das?«, fragte der Dokumentarfilmer.
»Sie haben sicher alle etwas gesehen, das Sie uns mitteilen möchten, sonst gäbe es ja für Sie keine Notwenigkeit mehr, hier zu warten. Und die Namen von Zeugen werden selbstverständlich erfasst.«
Einige verpissten sich, andere, wie der Filmer, blieben und begannen eine Diskussion über Bürgerrechte und polizeiliche Willkür mit den Ordnungshütern. Ich wandte meine Aufmerksamkeit von den Hyänen ab und schaute nach den vier Unfallopfern.
Die Sanis hatten sie inzwischen aus dem Kangoo geholt und auf den Boden gelegt. Die Bonsais waren erschreckend still. Ich näherte mich vorsichtig.
Und dann hörte ich sie.
Bevor ich weiter berichte, muss ich diejenigen, die mich noch nicht kennen, mal schnell auf die Spur setzen. Mein Name ist Pascha, mein fünfundzwanzigster Geburtstag liegt ein paar Monate zurück, aber da war ich schon tot. Im Februar dieses gerade auf sein Ende zuschlitternden Jahres wurde ich ermordet. Meine Seele verließ den Körper, fand aber den Tunnel mit dem Licht nicht und hängt seitdem als Geistwesen hier auf der Erde herum. Es gibt einen einzigen Menschen, zu dem ich Kontakt aufnehmen kann, und das ist Herr Doktor med. Martin Gänsewein, gelernter und praktizierender Rechtsmediziner, und genau derjenige, der mich anlässlich meiner Obduktion vom Hals bis zum Sack aufschlitzte. Seitdem sind wir so eine Art Freunde. Von beiden Seiten eher unfreiwillig, aber von meiner Seite mangels Alternativen galaktisch loyal.
Andere Seelen kann ich hören und mich mit ihnen unterhalten– sofern sie die Freundlichkeit besitzen, auf meiner Ebene eine Zwischenstation einzulegen. Was sie selten tun. Die meisten Seelchen verlassen im Augenblick des Todes den Körper und rasen auf direktem Weg und ohne Umweg »ins Licht«. Eine kleine, dicke Nonne namens Marlene hatte mir im Frühjahr einige Zeit Gesellschaft geleistet, ansonsten war ich seit meinem Tod allein. Da das Alleinsein auf dieser Existenzebene genauso doof ist wie auf der körperlichen Normalebene, verbrachte ich viel Zeit damit, in Notaufnahmen von Krankenhäusern oder eben an Unfallschauplätzen herumzuhängen, in der Hoffnung, mal wieder eine Seele zu treffen, die mir Gesellschaft leistet.
Deshalb war ich hier.
Mit Kindern hatte ich allerdings nicht gerechnet. Ich habe mit solchen Rotznasen auch noch nie was im Sinn gehabt… Es gab da mal einen Cousin, der genau an meinem achtzehnten Geburtstag geboren wurde und von dem alle Welt annahm, dass ich ihn schon allein deswegen süß finden müsste. Wir zwei, durch ein Band des Schicksals miteinander verbunden. Ha! Ich hab ihm Band des Schicksals gegeben, als ich einmal auf ihn aufpassen musste. Hab ihn am Tischbein festgezurrt. Nackt auf dem Töpfchen, damit ich nicht noch den Kacksack wechseln musste. Hat ziemlichen Ärger gegeben, damals. Dabei war ich sicher, dass dem Knilch eine Nacht auf dem Topf nicht geschadet hat, zumal diese Teppichratten in jeder Haltung pennen können. Aber Eltern befinden sich einfach immer im Zustand höchster Hysterie, was ihren quengelnden Nachwuchs betrifft. Wenigstens musste ich mich nie mehr um den Cousin kümmern. Ziel erreicht.
Jetzt hing ich also in einigen Meter Höhe über dem Unfallschauplatz und konnte leises Weinen hören. Oder Wimmern. Keine Ahnung, wie man diese Geräusche, die mich umschwirrten, nennen soll. Erst dachte ich, es käme von den Gaffern, die sich auf ihrer Brückenloge ungefähr auf gleicher Höhe befanden wie ich, aber es kam eindeutig von den Kindern, deren Körper auf dem Asphalt vollkommen reglos nebeneinanderlagen. Ich erstarrte.
»Ruhe!«, rief ich laut und, wie ich fand, ziemlich autoritär.
Das Gewimmer verstummte.
»Wer seid ihr?« Hausmeistertonfall. Also so ziemlich die grässlichste Bedrohung, die Kinder in dem Alter kennen.
»Ich seh mich von oben«, jammerte plötzlich eine Stimme direkt neben mir.
»I-i-i-ich auch«, schluchzte eine zweite.
»Weil wir tot sind«, entgegnete eine dritte in einem relativ gefassten, eher etwas klugscheißerischen Tonfall. Eine Mädchenstimme. War ja klar.
Die vierte Stimme winselte einfach weiter.
»Ich will nach Hause«, jammerte die zweite Stimme.
»Ruhe!«, brüllte ich wieder.
Ich konnte spüren, wie die Seelchen zusammenzuckten.
Ich musste mich erst mal sortieren. Das Gejammer kam eindeutig von meiner Ebene, nicht vom Asphalt. Waren die Rotzlöffel etwa schon tot? Die Sanis schienen nicht der Meinung zu sein, denn sie gaben ihnen Spritzen. Tote Leute kriegen keine Spritzen, so viel ist klar, das wäre Verschwendung.
Und trotzdem hingen diese Bonsai-Seelen hier oben bei mir rum. Kapierte ich nicht. Also zurück auf Start und ganz von vorn anfangen.
»Jetzt mal der Reihe nach«, ordnete ich an. »Wer seid ihr und woher kommt ihr?«
»Wir sind aus der 3c. Ich heiße Edeltraud.«
»Edeltraud?«, fragte ich, dann brüllte ich los. Vor Lachen. So einen dämlichen Namen hatte ich ja noch nie gehört.
Ich spürte, dass sie schmollte, und gleichzeitig erschien ihr Gesicht wie ein Nebelschleier vor mir. Der Nebelschleier sah aus wie das feldkaninchenblonde Gör mit den zwei Zöpfen auf der Straße, nur konnte ich jetzt auch noch sehen, dass Ober- und Unterkiefer mit Blitzableitern vernagelt und die Augen hinter dem schiefen Brillengestell voll Wasser waren. Scheiße. Heulende Weiber bedeuten immer Stress.
»Sie mag ihren Namen auch nicht sehr«, murmelte eine Jungenstimme. »Deshalb sage ich Edi zu ihr.«
»Und wie heißt du?«, fragte ich in die Luft.
»Jo.« Der kleinste der drei Jungs tauchte als durchscheinende Gestalt vor mir auf. Geile Vorstellung. Die Kids nennen ihre Namen und dann kann ich sie auf Geisterebene sehen. »Eigentlich Johannes-Marius.«
»Mit abartigen Namen kennst du dich also aus«, stellte ich fest.
»Ich bin Bülent.« Aha, der dunkelhaarige Pummel.
»Niclas.« Größer als die anderen, spindeldürr und rothaarig. Ein Feuermelder. Ich hatte das Wort kaum gedacht, als Niclas auch schon in Tränen ausbrach. Na super. Eine besserwisserische Zahnspange, ein frauenverstehender Knirps, ein knödeldicker Türke und ein feuermelderroter Waschlappen. War die 3c die Ausschussklasse der Sonderschule?
Der kleine Geistertrupp ließ unglücklich und verwirrt die Köpfe hängen und beobachtete mit einer Mischung aus faszinierter Neugier und namenlosem Entsetzen die Vorgänge unten auf dem Asphalt.
»Und euer Fahrer war besoffen und hat sich aus dem Staub gemacht, nachdem er die Karre gegen die Wand gefahren hat«, stellte ich das Offensichtliche fest.
»Nein.« Natürlich kam der Widerspruch von der Zahnspange. »Frau Akiroglu, das ist unsere Lehrerin, wurde absichtlich von der Straße abgedrängt– und dann hat der Mann sie mitgenommen.«
»Welcher Mann?«, fragte ich verwirrt. »Ein Sanitäter?«
»Doch kein Sanitäter, die sind ja weiß! Es war ein schwarzer Mann mit einer Kapuze. Er hat sie entführt.«
Die Göre sah eindeutig zu viel ›Tatort‹. Da passieren solche Dinge. In echt nicht. In der Realität werden Autounfälle von mehreren Faktoren verursacht. Erstens, zweitens und drittens: Alkohol. Viertens: Sekundenschlaf. Fünftens: Suchen der Kippe im Fußraum des Beifahrersitzes oder Fummeln an der Person auf dem Beifahrersitz oder befummelt werden von der Person auf dem Beifahrersitz. Sechstens: Ach, was weiß ich. Die Liste lässt sich sicher fortsetzen, Tempolimitfetischisten werden irgendwann die berühmte unangepasste Geschwindigkeit aus der Fahrradtasche zaubern, aber nie, wirklich niemals, habe ich gehört, dass ein Lehrerinnenfräulein mit vier Blagen im Gepäcknetz von der Straße gedrängt und entführt worden ist.
»Was machen wir denn jetzt nur?«, flüsterte Jo nach einer Weile.
»Ich will nach Hause«, jammerte Niclas.
»Gute Idee«, sagte ich. »Und tschüss.«
Ich erwartete, dass die Zwerge verschwanden, aber sie waberten weiter um mich herum.
»Was?«, fragte ich genervt.
»Ich will richtig nach Hause«, jammerte Niclas. »In mir drin.«
»Na dann rein mit euch in eure Körper, die Sehdeckel hoch und ab nach Hause«, schlug ich vor.
Um mich herum entstand Bewegung, Drängeln, Stöhnen und dann enttäuschtes Kopfhängenlassen.
»Das geht nicht«, sagte Jo. »Ich kann zwar ganz nah ran, aber ich komme nicht rein.«
»Okay, das wird schon wieder. Hasta la vista«, sagte ich und drehte ab.
Um acht fingen im Kino die guten Filme an, da wollte ich dabei sein. Noch war ausreichend Zeit, also zockelte ich langsam in Richtung Popcorntempel in dem beruhigenden Bewusstsein, die Quengelgang abgehängt zu haben, aber dann merkte ich, dass sie an mir klebten wie Kaugummi unter den Schuhsohlen. Ich stoppte entnervt.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte ich.
»Bist du der liebe Gott?«, fragte Niclas.
Häh? Sah ich etwa so aus?
»Na ja, eigentlich nicht. Aber sonst ist ja hier keiner«, flüsterte er.
»Hör mal zu, du Nullchecker. Ich bin nicht der liebe Gott, den gibt es nämlich gar nicht. Hier bei mir gibt es auch sonst keine Spielverderber wie Lehrer, Bullen oder Mütter. Wir können also tierisch die Sau rauslassen– äh, damit meine ich nur die über achtzehn. Ihr Welpen geht zurück zu den Sanitätern. Die kümmern sich um euch.«
Ich spürte ihre Unentschlossenheit.
»Ich bleibe bei dir«, sagte der Türke. »Du weißt, was abgeht.«
Auf gar keinen Fall, dachte ich. Die Mistkäfer rückten näher. War ich Säuglingsschwester, oder was? Jetzt musste ich mir etwas einfallen lassen.
»Das geht nicht«, rief ich. »Ihr müsst bei euren Körpern bleiben.«
Damit hatte ich die vier Fragezeichen vor mir.
»Ihr müsst bereit sein, jederzeit wieder in eure Körper zurückzukehren.«
»Häh?«, brummte Bülent.
»Pass mal auf, Kümmelchen«, sagte ich jetzt schon wirklich angenervt. Hoffentlich wachten die Kids unten auf dem Asphalt bald auf, damit ich meine himmlische Ruhe wiederbekam. »Ihr liegt da unten im Koma oder so was in der Art, jedenfalls seid ihr nicht tot.«
Das Wort tot schockte sie total, offenbar hatten sie diese Möglichkeit nicht einmal in Erwägung gezogen.
»Die Sanis kriegen das wieder hin, da bin ich mir ganz sicher, und dann müssen die Seelchen ruckzuck zurück in den Körper. Von null auf hundert in null Komma nix, wenn du kapierst, was ich meine.«
»Und wenn nicht?«, fragte Bülent.
»Dann bist du tot.«
Kurze Pause.
»So wie du?«, fragte das Edelfräulein.
Schnellmerkerin.
»Also warst du zu langsam«, trötete Jo.
Das ging jetzt aber zu weit. »Nee, ich wurde ermordet.«
Atemloses Schweigen.
Da waren sie baff, die kleinen Hosenscheißer. Damit hatten sie nicht gerechnet. Ich war ganz schön stolz auf mich. Ermordet zu werden ist nämlich was ganz Besonderes. Statistisch gesehen schaffen das die wenigsten. Die meisten Leute krepieren einfach als Motorradfahrer im Gegenverkehr, als Chemieunfall in der Krebsklinik oder als Pflegefall im Altenheim. Nur die wirklich Wichtigen werden umgebracht. So wie ich.
»Ihr bleibt einfach hier, und wenn es so weit ist, geht ihr in eure Körper zurück. Schönen Tag noch.«
Ich drehte wieder ab.
»Wie merken wir denn, wann das so ist?«, fragte Edeltrötchen.
»Äh–«
»Weiß der doch nicht, der hat’s ja nicht geschafft«, sagte Jo hämisch.
Das war ja einer von der ganz schlauen Truppe.
»Ich will nach Hause«, wiederholte der Rotschopf.
»Bleibt geschmeidig und vor allem: Bleibt bei euren Körpern«, rief ich über die Schulter. Ich wollte endlich ins Kino, dort lief der neue Film mit Bruce Willis. Für mich natürlich ohne Popcorn und Tussigriffeln, aber dafür kam ich gratis rein. Sogar Loge!
Ich war ein paar Sekunden unterwegs, bis ich riffelte, dass die Zwergenarmee mich schon wieder verfolgte.
»Hey, ihr sollt bei euren Körpern bleiben.«
»Aber da sind wir allein«, stammelte Edi.
»Blödsinn, Schneewittchen, da sind die Sanis und die Bullen und ganz viele Leute, die sich freiwillig für ihre Scheißjobs entschieden haben. Also noch mal: Bye-bye, Bonsais!«
Es nutzte nichts. Sie folgten mir. Zögernd und heulend, aber klebrig wie ausgelaufene Rum-Cola. Ich seufzte. Adios, Brucie-Baby, heute musst du die Welt ohne mich retten.
»Okay, Leute, ich begleite euch ins Krankenhaus. Da bleibt ihr dann aber schön neben euren Bettchen hocken, damit ihr da seid, wenn ihr wieder aufwacht.«
Die allererste Hilfe war offenbar inzwischen abgeschlossen, denn die Sanis machten die Patienten reisefertig, legten sie auf Rolltragen, Decke drüber, anschnallen und ab in die Siechenschaukeln, die mit Blaulicht parat standen. Die ganze Aktion hatte wohl gar nicht so lang gedauert, wie es mir vorgekommen war, denn die Einschüchterungsbullen stritten immer noch mit den Zeugen, während die Tatortbullen mit ihrem Messrädchen unterwegs waren, Bremsspuren fotografierten und mit starken Handlampen die Schlaglochpiste nach Hinweisen absuchten.
Die Bonsais und ich hingen noch über dem Ort des Geschehens herum, als ich das typische Wupp-Wupp-Wupp des Polizeihubschraubers hörte, der bei solchen Unfällen üblicherweise angeschraubt kommt, um Fotos aus der Vogelperspektive zu machen.
»Lasst uns abhauen«, sagte ich, aber das letzte Wort blieb mir im Hals stecken, als ich bemerkte, dass Niclas’ Gesicht sich gummiartig in die Länge zog.
»Hey, Feuermelder, halt dich von dem Hubschrauber fern«, brüllte ich ihn an, aber Niclas war völlig saft- und kraftlos und hatte den Wirbeln, die von den Rotorblättern verursacht wurden, nichts entgegenzusetzen. Er wurde langsam, aber sicher angesaugt.
Nun ist es ja nicht so, dass wir aus Materie bestehen, aber aus irgendwas bestehen wir schon, sonst gäbe es uns ja nicht. Ist ’ne komplizierte Kiste, die Sache mit der Physik, und wissenschaftlich auch noch nicht so richtig erforscht– mangels spezialisierter Experten. Einfacher gesagt: Ich kenne keinen toten Einstein, der in meiner Welt vorbeigeschaut hätte, um sich mit ein paar geist-reichen Experimenten über Geistwesen zwischen irdischem Jammertal und himmlischem Paradies einen Nobelpreis zu angeln. Daher kann ich die Anziehungskraft von Rotorblättern auf Geistwesen nicht erklären, aber ich konnte live und in Farbe zusehen, wie Niclas immer näher an die Rotorblätter geriet. Ich konnte nicht nach ihm greifen, um ihn wegzuziehen. Ich konnte ihn nicht schubsen und mich nicht dazwischenwerfen. Gut, das hätte ich vielleicht gekonnt, aber darauf hatte ich keinen Bock.
Niclas’ Freunde kreischten wie Schleifhexen auf Nirosta, nur er selbst war ganz still. Man kann sogar sagen, er war starr vor Entsetzen. Wie das Kaninchen vor der Schlange oder der Bräutigam vor dem Traualtar. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Rotor. Sein Gesicht sah aus wie im Schwarz-Weiß-Fernseher, während einer an der Antenne rumspielt. Mal büxten Nase und Ohren nach links aus, mal nach rechts. Das Gesicht wurde länger und länger und länger– dann wurde er vom Rotor ergriffen. Der Luftstrom verwirbelte das, was wir noch von ihm hatten sehen können, zu einem Strudel wie ablaufendes Wasser in der Badewanne.
Dann war er weg.
Die drei Kumpels schwiegen abrupt, dann setzte das Heulen ein. Greinende Gören sind so ziemlich das schlimmste Geräusch auf der ganzen Welt, aber mir fehlte die Kraft, sie anzuscheißen. Ich war geschockt. Bis ich das Würgen hörte.
»Niclas?«, fragte ich vorsichtig.
»Uaärgh«, war die Antwort.
»Niclas?«, schrie die Edeltröte in einer Tonlage, die mir fast die Birne sprengte.
Wir lauschten. Das Reihern kam von weiter hinten. Dort hing ein Wirbel in der Luft, der mit abnehmender Geschwindigkeit um sich selbst kreiselte.
»Ich will nach Hause«, jammerte der Wirbel.
Eindeutig Niclas’ Text.
»Noch so ’ne Nummer, und das war’s dann aber endgültig«, sagte ich.
Die anderen hingen erstarrt, aber wenigstens ohne Gejammer neben mir, bis Jo sagte: »Hey, die Krankenwagen sind weg.«
O Mann!
Auf mein Kommando sausten wir gemeinsam hinter den Krankenwagen her. Da die Knirpse die Feinheiten der Fortbewegung noch nicht so draufhatten, waren wir langsamer als ein Rasenmäher bergauf, aber in dieser Hinsicht ist Köln zuverlässig. Die Krankenwagen hatten zwar Blaulicht und Sirene eingeschaltet, aber zunächst bremste die perforierte Asphaltdecke des Schleichweges ihre Geschwindigkeit. Auch nach Erreichen der nächsten Hauptstraße ging es nicht viel schneller voran, denn der Kölner an sich macht noch lange nicht Platz, nur weil hinter ihm ein blaues Licht blitzt, also holten wir bald auf. Ich checkte die Krankenwagen, verteilte die Kids in die richtigen Kisten und folgte der letzten Sanikarre. Wenn einer von den Zwergen auf die Idee kam, vor der Krankenhauszufahrt auszusteigen, würde ich ihn gleich einfangen und an seinen Körper tackern.
Die Sanis hatten die Verletzten in die Uniklinik gebracht. Wir kamen ohne weitere Zwischenfälle dort an. Ich überwachte die Sortierung von je einem Geist zu je einem Körper, vergewisserte mich, dass nicht der Kümmelgeist bei der Zahnspangentussi herumhing, erlaubte großzügig gegenseitige Kurzbesuche, verbot ihnen strikt, die Station zu verlassen, und düste zum Kino.
Doch zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mich nicht auf einen Actionfilm konzentrieren. Ich überlegte sogar, ob ich noch mal im Krankenhaus nach dem Rechten sehen sollte. Aber darauf hatte ich auch keinen Bock. Eigentlich hasse ich Krankenhäuser, ich mag keine Kinder und ich war schon mal gar nicht für die Blagen verantwortlich. Also glotzte ich den Film weiter, obwohl ich inzwischen gar nicht mehr kapierte, wer oder was da eigentlich ablief, und verließ den Saal mit hundert anderen Zuschauern, von denen die meisten begeistert waren. Ich seufzte. Zum Glück konnte ich mir jeden Film so oft ansehen, wie ich wollte, denn ich musste ja keinen Eintritt zahlen. Ich würde also einfach am nächsten Tag noch mal dem Held der Helden bei seinen coolen Aktionen zusehen.
Ist es zu viel verraten, wenn ich gleich anmerke, dass natürlich nichts daraus wurde?
Den Rest der Nacht verbrachte ich bei Martin und Birgit. Für alle Frühdementen noch mal zur Erinnerung: Martin ist der Rechtsmediziner, mit dem ich gedanklich kommunizieren kann. Birgit ist seine Freundin. Seit dem ersten Oktober wohnen die beiden zusammen in einer Wohnung, die– natürlich– Birgit besorgt hat. Ich sage natürlich, weil Martin für solche Alltagsdinge nicht zu gebrauchen ist. Man würde ihn für vollkommen lebensuntauglich halten, was aber auch nicht stimmt, denn er existierte bereits, bevor er Birgit kennenlernte. Aber mit ihr existiert er deutlich besser.
Eigentlich habe ich so eine Art Hausverbot, seit ich Martin eine Woche zu früh verraten habe, was er von Birgit zum Geburtstag bekommt. Dabei hatte ich es nur gut gemeint, denn Martin wollte sich einen neuen Frotteeschlafanzug kaufen, wie ihn normalerweise Säuglinge tragen. Also ganz warm, ganz flauschig, mit breiten Strickbündchen an Ärmeln und Beinen, damit nur ja keine kühle Zugluft an den schlafenden Körper kommt. Er wollte sich also einen kaufen, obwohl Birgit ihm schon einen zum Geburtstag besorgt hatte. Das wusste er natürlich nicht. Aber ich. Und ich sagte es ihm, denn ich meinte es ja gut mit ihm.
Okay, ich wusste, was ich damit auslöste, aber Martin hatte mich genervt mit seinem üblichen Gewäsch von wegen Privatsphäre und so. Dafür hatte ich mich revanchiert. Er kann nämlich überhaupt nicht lügen und sah entsprechend dämlich aus, als er an seinem Geburtstag versuchte, Überraschung über den hellblauen Plüschfummel zu heucheln.
Die Einzige, die mir bei solchen Aktionen immer ein bisschen leidtut, ist Birgit. Aber sie hat sich schließlich diesen Oberproblemo als Freund ausgesucht.
Nachts konnte ich Martin leider nie stören, denn er schlief unter einem Schutznetz gegen Elektrosmog, das auch mich abhielt. Vermutlich hielt es in erster Linie und vor allem mich ab, denn zu diesem Zweck hatte Martin das Ding gekauft. Es sah aus wie ein Moskitonetz, also total verstrahlt, war aber leider sehr zweckdienlich.
Ich konnte Martin also nicht wecken und sein medizinisches Wissen über komatöse Zustände bei Schulmilchjunkies anzapfen, also schlüpfte ich stattdessen an meinen Lieblingsschlafplatz: Ich kuschelte mich zwischen Birgits wohlriechende Klamotten, die sie lässig auf den Stuhl in ihrer Ecke des Schlafzimmers geworfen hatte, und döste blöd vor mich hin.
Schlafen können wir Geister leider nicht.
Mittwoch, 04Uhr 32
Gegen halb fünf war es mit meiner Ruhe vorbei. Dieses untätige Herumschimmeln ist die reinste Folter, wenn das Hirn nicht abschaltet, und meins wollte einfach keine Ruhe geben. Ständig spukten mir die Blagen im Sinn herum, daher gab ich die Ruhephase auf und machte einen Streifzug durch die Stadt. Ich düste zum Unfallort, wo im Dunkeln nichts zu erkennen war, und schlenderte dann von dort aus in Fahrtrichtung des Kangoos weiter. Irgendwo in dieser Richtung hatte das Ziel der Fahrt gelegen.
Ich flog relativ hoch, um mich in dem Viertel zu orientieren. Hier hatte ich zu Lebzeiten wenig zu tun gehabt, denn für einen Dieb hochwertiger Nobelkarossen war diese Gegend nicht gerade der bevorzugte Arbeitsplatz gewesen. Die eine Hälfte der Bewohner fuhr Tret-Ferrari, oft noch mit Fähnchen verzierten Anhängern dran, in denen die Kinder mit den doppelten Vornamen, wie Leon-Pius, oder esoterisches Mineralwasser transportiert wurden, die andere Hälfte fuhr Mercedes 190D.Ja, immer noch.
Ich kannte mich also nicht gut aus. Statt aber einen geografischen Überblick zu gewinnen, sah ich nicht weit entfernt den Widerschein von Blaulichtern. Natürlich folgte ich dem Licht und erreichte schnell einen kleinen, ungepflegten Platz, in dessen Mitte ein großer Baum und mehrere Büsche standen. Unter einem dieser Büsche lag jemand. Und dieser jemand war, wenn ich das Absperrband, die Tatorttruppe und den Fotografen richtig interpretierte, tot.
In einem Streifenwagen saß eine zitternde Frau mit einem ebenfalls zitternden Dackel auf dem Schoß. Hundehalter sind doch immer noch die besten Helfer der Mordkommission, sowohl in städtischen Grünanlagen als auch auf dem platten Land. Ich sparte mir das Gestammel und Gestotter des Frauchens und das begeisterte Jagdhundgesabbere der Fellwurst und wandte meine ganze Aufmerksamkeit dem Opfer zu. Zum Glück konnte ich mich an der Tatortabsperrung vorbei, von Fotograf und Spusi unbemerkt, nah an die Leiche heranzoomen.
Mit dieser Art Leiche hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht mit einem Penner, der sich zu Tode gesoffen hat. Oder einem Hormonbomber, dessen brodelndes Blut ihn in ein offenes Messer hat laufen lassen. Vielleicht hatte ich auch einen Junkie erwartet, keine Ahnung. Aber bestimmt keine Tussi, deren Kleidung sie eindeutig als Nicht-Junkie und Nicht-Penner identifizierte. Enge Jeans in dicken Stiefeln, eng anliegender Rollkragenpullover mit breitem Gürtel darüber, leichte Steppjacke. Und auf dem ganzen Oberkörper verteilte Schlitze im Pulli und große, dunkle Blutflecken drumherum.
An ihrem Rollkragenpullover klebte etwas, das ich zuerst für ein Stück welkes Laub gehalten hatte, aber das war es nicht. Es war ein Stück Papier, das jemand mit Klebeband auf ihre spitzen Hupen geklebt hatte. Darauf stand das Wort paçavra.
Das Alter einer Leiche ist schwer zu schätzen. Natürlich kann man sehen, ob eine Schnecke eher unter dreißig oder jenseits der fuffzig ist, aber ob diese Gestalt hier eine gut entwickelte Jugendliche oder eine jugendliche Dreißigjährige war, hätte ich nicht einmal raten können. Sie hatte schwarzes Haar, schwarze Augenbrauen, lange schwarze Wimpern und eine dunklere Haut als die deutsche Durchschnittstante.
Vielleicht hatten wir es hier mit einer extrem glücklosen Lehrerin zu tun, die erst gegen eine Brücke gerast und dann auch noch abgestochen worden war.
Es gibt schon echt beschissene Tage im Leben.
Ich blieb noch einige Zeit bei der Tatortuntersuchung, die von Martins bestem Freund Gregor geleitet wurde. Er sah nach Schlafentzug aus und mindestens genauso angefressen. Gregor nimmt jede Leiche persönlich, besonders die jungen Frauen. Ab sofort würde er weder pennen noch vernünftig essen noch sich die Zeit nehmen, im Sitzen zu pinkeln, weil er Hummeln im Arsch haben würde, bis er den Mörder eindosen konnte.
Sobald die Spurenheinis grünes Licht gaben, schnappte Gregor sich den Zettel, der jetzt in einem Klarsichtbeutel steckte, und latschte damit zum Kiosk, der gerade aufmachte. Es war halb sechs Uhr morgens. Manche Leute haben selbst ohne Mordermittlung ganz schön unterirdische Arbeitszeiten.
»Was heißt das?«, fragte Gregor.
Der Mann glotzte darauf, runzelte die Stirn, blickte Gregor böse an und wandte sich ab.
»Verstehen Sie das?«, fragte Gregor.
Der Mann nickte.
»Was heißt es?«
Schulterzucken.
»Hören Sie…«
»Elmas!«, brüllte der Mann in einer Lautstärke, dass es mich fast zur Tür des Kiosks hinausgeweht hätte. Eine Frau in einer fettigen Schürze kam heran. Mit ihr der Duft von gebratenem Fleisch mit Zwiebeln und Knoblauch. Himmlisch.
Der Alte rief etwas, sie ging zögernd auf Gregor zu und warf einen Blick auf den Zettel. Dann schlug sie die Hand vor den Mund.
»Was heißt das?«, wiederholte Gregor.
Sie senkte den Kopf und sprach so leise, dass Gregor sich zu ihr herunterbeugen musste. »Schlampe.«
Spätestens jetzt wurde Gregor zu dem Mann, der rotsieht. Der Typ, der das Perlhuhn geschlachtet hatte, konnte sich verdammt warm anziehen– es würde ihm trotzdem nichts nützen.
Die Spurensicherer gaben Gregor ein Zeichen: Die Leiche durfte nun bewegt werden. Gregor untersuchte die Taschen der Steppjacke und der Hose, förderte aber nur ein benutztes Taschentuch, das er ohne weitere Untersuchung in einen Beweismittelbeutel steckte, und einen zusammengeknüllten Zettel zutage. Er faltete den Zettel auseinander. Eine Handynummer stand darauf. Gregor notierte sie, bevor er auch diesen Zettel ordnungsgemäß verpackte, nummerierte und auf die Liste setzte.
»Hat jemand ein Handy gefunden?«, fragte er in die Runde, erntete aber nur Kopfschütteln. Spätestens jetzt musste jedem klar sein, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Geschätzte zehn Messerstiche mochten ja noch als Unfall beim Brötchenschmieren durchgehen, aber ein Perlhuhn ohne Strippe– das gab es einfach nicht.
Gregor fummelte sein Handy aus der Hosentasche und rief die Nummer auf dem Zettel an. Die Bandansage leierte den üblichen Spruch über die Unerreichbarkeit des Teilnehmers, Gregor legte frustriert auf.
Als die Leiche abtransportiert wurde, machte auch Gregor sich auf den Weg ins Büro, um die Bürokratie ins Rollen zu bringen. Bis die Kripo sich sortiert hatte und die Ermittlung anlief, hatte ich locker ein bis zwei Stunden Zeit.
Ich düste zu Martin. Als ich ankam, war er bereits aufgestanden, obwohl sein Wecker üblicherweise erst eine Viertelstunde später klingelte. Sicher hatte Gregor ihn angerufen und um die sofortige Obduktion gebeten.
»Sag mal, was ist eigentlich ein Koma?«, fragte ich Martin. Er mahlte in der Küche glückliche Kaffeebohnen aus nachhaltig bewirtschafteten, urwaldfreundlichen Bioplantagen für Birgits Espresso, während sein grüner Tee aus einem sozioökologisch vorbildlichen, biodiversifizierten basisdemokratisch-kooperativen Teegarten an den nebelreichen Hängen irgendeines kulturhistorisch bedeutsamen Himalajastaates im Dauerfilter zog. Bei so viel Political Correctness muss ich normalerweise ganz unökologisch kotzen, aber heute interessierte mich die Weltenrettungsszenerie nicht, weil mir die seltsamen Geisterkids nicht aus dem Kopf wollten. Ich kapierte einfach nicht, warum die Typen mir die Birne vollschwafeln konnten, obwohl sie nicht tot waren. Da einer der Sanis das Wort Koma gemurmelt hatte, war das vielleicht die Erklärung. Sofern man erst mal kapierte, was ein Koma war, und dazu hatte ich ja mein medizinisches Lexikon im Doktor-Seltsam-Look.
»Guten Morgen«, erwiderte Martin unkonzentriert.
Würg. Diese Masche war relativ neu. Hatte was mit der Wohngemeinschaft zu tun, in der wir neuerdings lebten. Zu dritt. Mit einer Frau. Da galten plötzlich ganz neue Umgangsregeln, obwohl Birgit mich gar nicht hören konnte.
»Guten Morgen, lieber Martin, du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen, mit deinen Klamotten könntest du Anschauungsunterricht in Geschichte geben, und dein Scheitel wird auch immer breiter«, säuselte ich. Eine weitere neue Regel lautete nämlich, dass man nicht lügen sollte.
Die Kaffeemühle quietschte.
»Koma«, schrie ich, um das grässliche Geräusch zu übertönen.
»Ein Koma ist keine Krankheit, sondern ein Symptom, das meist nach Störungen der Großhirnfunktion auftritt, zum Beispiel nach einer Alkoholvergiftung…«
An dieser Stelle machte er eine Kunstpause, mit der er sicher auf meinen früher nicht unerheblichen Alkoholkonsum anspielen wollte, aber ich tat, als bemerkte ich nichts.
»…aber auch nach einem Schlaganfall, nach unfallbedingtem Schädel-Hirn-Trauma…«
»Unfall?«, fragte ich. »Wie schlimm ist so ein Koma nach einem Unfall?«
»Das kommt auf die ursächliche Störung, also die Erkrankung an.«
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen«, maulte ich.
»Denkst du an einen konkreten Fall?«, fragte er.
»Yep.«
»Wird der Patient künstlich beatmet? Dann ist es ziemlich schlimm. Vielleicht ist es aber gar kein Koma, sondern eine kurzfristige Ohnmacht, ein Kreislaufkollaps, was weiß ich. Das müsste man schon genauer untersuchen.«
Na toll. Das half mir auch nicht weiter.
Martin wunderte sich, warum ich mich plötzlich für komatöse Zustände interessierte. Er fragte mich aber nicht, weil er vermutlich wegen meines Tonfalls schmollte.
»Genau«, bestätigte er.
Ich erzählte ihm, dass es einen Unfall mit Fahrerflucht und vier Komakids gegeben habe. Von der Entführung erzählte ich ihm lieber nichts. Bei dem Wort Kinder ging gleich sein Betroffenheitslämpchen an, denn auch wenn Rechtsmediziner eine Art Hornhaut auf dem Mitleidssensor gebildet haben, gilt das natürlich nicht, wenn es um Kinder ging.
»Eine tragische Sache«, murmelte Martin, während er den Teefilter aus seiner Kanne nahm. Bevor ich dazu kam, zu berichten, dass die Seelchen nicht tragisch im Tran dösten, sondern putzmunter an meinen Nerven zerrten, tauchte Birgit in der Küchentür auf und fragte: »Was ist an so einem wunderschönen Morgen schon tragisch?«
Sie war frisch geduscht und gefönt, ihre langen blonden Haare glänzten wie fließendes Gold, sie trug einen dunklen Hosenanzug und strahlte über das ganze Gesicht. Das war aber auch das einzig strahlende an diesem dunklen, regnerischen Morgen im November.
Martin biss sich auf die Lippen. Birgit wusste zwar, dass er, ähnlich wie ein Medium, gelegentlich Stimmen aus dem Jenseits hörte (deshalb auch das Elektrosmognetz über dem Bett), aber von mir und meiner ständigen Anwesenheit in Martins Leben wusste sie nichts.
Ich ließ die beiden allein, denn schon allein der Anblick dämlichster Glückseligkeit auf Martins Gesicht machte mich wahnsinnig. Womit hatte dieser Oberproblemiker im Frotteeschlafanzug diese tolle Frau verdient? Warum erzählte er ihr nicht endlich von mir? Dann würde sie »Hallo, Pascha, alles klar?«, sagen, wenn sie von der Arbeit in der Bank nach Hause kam, und ich hätte mal wieder den Eindruck, wirklich dazuzugehören.
Statt also hier Martins ungastliche Stimmung aushalten zu müssen, konnte ich genauso gut in der Uniklinik nachsehen, ob die lieben Kleinen inzwischen wieder ordnungsgemäß tickten. Ich machte mich auf den Weg.
Ich wäre besser bei Birgit geblieben. Sie ist immer fröhlich, immer ein erquicklicher Anblick und sie riecht gut. In der Uniklinik hingegen war die Stimmung unterirdisch mies, und es stank nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, zerkochtem Gemüse und menschlichen Stinkdrüsen. Diese Geruchsbelästigung lag wie eine Dunstglocke über dem gesamten Komplex, also auch auf der Intensivstation.
An jedem der vier Betten mit den immer noch reglosen Bonsais saßen Erwachsene in unterschiedlichen Stadien emotionaler Auflösung. Die Zwergenseelen hingen jeweils heulend bei den Erwachsenen herum und waren verwirrt, verängstigt und frustriert, weil diese sie nicht bemerkten. Es war höllisch laut, jeder Geist brodelte nur so vor Rotz und Tränen, und alle vier sahen aus, als würden sie jeden Moment explodieren vor Anstrengung, die Großen auf sich aufmerksam zu machen und vor Wut, dass es ihnen nicht gelang.
»Ruhe«, brüllte ich mal wieder. Wenn das so weitergehen sollte, würde ich das Wort vermutlich noch oft gebrauchen.
Langsam ebbte das Schluchzen in dem Raum, in dem Edi und Jo lagen, ab.
»Kommt mit«, forderte ich die beiden auf. Sie rangen sichtlich mit sich. Wollten ihren Eltern nicht von der Seite weichen und wirkten insgesamt erschöpft und unentschlossen.
»Wir schalten uns nach nebenan, sammeln Bülent und Niclas ein und halten eine Lagebesprechung ab.«
Zögernd folgten sie mir in schlingernden Flugbahnen.
»Bülent, Niclas, mitkommen. Lagebesprechung.«
Wir zischten knapp unter der Decke des Klinikflurs in Richtung Kinderstation, wo das freundlichere Ambiente hoffentlich eine beruhigende Wirkung auf die Kurzen haben würde. Ich hatte richtig geraten. Sie entspannten sich spürbar, als wir in dem Spielzimmer eintrafen, in dem es bunte Bälle, Kuscheltiere, Bauklötze und Maltafeln gab. So früh am Morgen hielten sich keine anderen Kinder hier auf, was mir ganz recht war. Ich musste dringend ein ernstes Wörtchen mit meinen neuen Freunden reden.
»Äh–« Mist. Wie sollte ich sie überhaupt anreden. Hallo, Kinder? Wie beim Kaperletheater? Ging ja wohl gar nicht.
»Hauptsache nicht Rotznasen«, ertönte plötzlich Edis Stimme.
Verdammt, die Zahnspange war wirklich auf Zack.
Dazu muss man wissen, dass es gar nicht so einfach ist, auf Geisterebene zu kommunizieren. Muss man sich erst mal dran gewöhnen. Sie hatte den Bogen offenbar schon so gut raus, dass sie sogar meine Gedanken hören konnte.
»Also, Leute, warum hängt ihr noch bei mir rum, statt wieder in euren Körpern zu sein?«
»Ich habe versucht, reinzukommen, aber es ging nicht«, berichtete Edi ganz sachlich. Nur zwischendurch schniefte sie kurz. »Ich habe auch versucht, mit meiner Mami zu reden, aber«, schnief, schnief, »das ging auch nicht.«
Die anderen nickten.
»Was sagen die Ärzte?«, fragte ich.
»Künstliches Koma«, murmelte Jo. »Sie sagen, es ist gar nicht schlimm.«
»Das sagen sie immer«, entgegnete Edi. Altklug war das Mädel also auch noch. »Aber es stimmt nicht«, fügte sie flüsternd hinzu. Dabei tauchte das Gesicht eines Mannes in ihrem Gedächtnis auf, der sich mit weit geöffneten Armen und breit lachend zu ihr herunterbeugte. Sie fing an zu heulen.
Heiliges Ölkännchen, was für eine megaunterirdische Kacke! Wenn die Kleine nicht bald aufhörte, würde ich noch mitheulen. Die Jungs jedenfalls fielen gerade ein. Ich musste das Thema wechseln.
»Jetzt erzählt ihr mir noch mal ganz genau, wie der Unfall passiert ist. In allen Details«, forderte ich sie auf. Meine Stimme war vielleicht nicht ganz so fest, wie sie hätte sein sollen, aber das fiel den Flennzwergen sicher nicht auf.
»Wir waren im Museum. Lauter ausgestopfte Tiere. Würg«, begann Jo.
Ich musste grinsen. Ich fand ausgestopfte Tiere auch zum Würgen. Gebraten waren sie mir lieber. »Nur ihr vier?«
»Nö, die ganze Klasse.«
»Weiter.«
»Auf dem Rückweg ist der Bus kaputtgegangen. Wir haben über eine Stunde auf der Straße gestanden, bis der neue Bus kam. Da war es schon ganz spät, darum hat unsere Lehrerin in der Schule angerufen und gesagt, dass sie uns von der Schule dann nach Hause bringt. Wir wohnen nämlich nah zusammen.«
»Die Jungs haben hinten geschlafen«, übernahm Edi.
Die drei protestierten.
»Jawohl! Und ich durfte vorne sitzen, und da habe ich gesehen, dass plötzlich ein großes Auto von der Seite gekommen und ganz direkt vor uns gefahren ist, und sie musste ganz doll bremsen und lenken, und dann ist das Auto gegen die Brücke gekracht.«
Gut, so weit konnte ich mir das alles vorstellen. Die Lehrerin war müde, hat nicht aufgepasst, ein Auto hat sie überholt und dann hat sie auf der unbeleuchteten Schlaglochpiste die Kontrolle verloren. Kennt man ja, gerade bei Weibern, die nicht so viel Übung haben.
»Und dann kam der Mann aus dem großen Auto und hat sie mitgenommen. Er hat sie in das Auto gestoßen und ist weggefahren.«
Willkommen im Märchenland. »Du warst doch bestimmt von dem Unfall bewusstlos.«
»Nein, gar nicht«, protestierte Edi. Hätte sie in körperlicher Gestalt vor mir gestanden, hätte sie jetzt bestimmt die Hände in die Hüften gestützt und mit dem Fuß aufgestampft. So glotzte sie einfach nur grimmig.
»Die spinnt dauernd«, sagte Bülent.
Aha, das Kümmelchen sprach nicht viel, aber wenn, dann wie ein Mann.
»Warst du da noch in deinem Körper, als du gesehen hast, wie der Mann Frau Akopadzo mitgenommen hat?«
Niclas kicherte.
»A-ki-ro-glu«, sagte Jo.
»Ja«, sagte Edi.
»Und dann?«, fragte ich.
Jetzt ließ sie die Schultern und den Kopf hängen. »Dann weiß ich nichts mehr.«
Ich erlaubte ihnen, noch im Kinderzimmer zu bleiben, und düste zurück zur Station, um ein paar medizinische Details zu erfahren. Ich konnte mir die Sache mit dem Koma nicht erklären. Immerhin hatte Martin damals auch im Koma gelegen, nachdem er durch meine Schuld– äh, ist ja auch egal. Jedenfalls war seine Seele während des Komas im Körper geblieben. Oder vielleicht hatte sie in der Blumenvase auf seinem Nachttisch schwimmen gelernt, jedenfalls war sie mir nicht auf den Sack gegangen. Was war also mit den Bonsais los?
Ich kam gerade rechtzeitig zur Visite. Der Arzt hob die Augenlider seiner kleinen Patienten an, leuchtete in die Pupillen, kontrollierte alle Geräte, notierte irgendwelche Kringel, die kein Mensch lesen konnte, und versicherte den Eltern, dass alle Werte ihn sehr optimistisch stimmten.
Edis Mutter sah nicht sehr überzeugt aus, weshalb der Arzt ihr seine Hand auf die Schulter legte, ihr tief in die Augen blickte und sagte: »Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Das wird schon wieder.«
Sie nickte zwar, schien aber zu erschöpft zu sein, um mit ihm über Hoffnung zu diskutieren. Während bei den anderen Kindern mindestens zwei, bei Bülent sogar fünf Personen saßen, war sie allein an Edis Bett. Sie tat mir leid.
Ich düste zurück in Richtung Kinderstation, traf aber die quengelnde Meute bereits auf halbem Weg an. Sie hatten sich im Spielzimmer gelangweilt, da sie mit den ganzen schönen Spielsachen ja nicht spielen konnten. Dann hatte Niclas angefangen zu heulen, Bülent hatte ihn ein Muttersöhnchen genannt, Edi hatte schlichten wollen, war daraufhin von beiden Jungs gemeinsam angemotzt worden, und Jo hatte es irgendwie geschafft, den Streit zu schlichten und die Meute zusammenzuhalten. Man konnte die Kurzen aber auch keine Sekunde aus den Augen lassen. Ich brachte sie zurück zu ihren Verwandten, redete ihnen ins Gewissen und schaltete mich weg. Ich wollte wissen, wer Gregors neueste Kundin war.
Martin hatte mit der Obduktion schon begonnen. Das ist sein Job. Während meiner eigenen Obduktion haben wir uns quasi kennengelernt. Ich habe inzwischen viele miterlebt, aber trotzdem mag ich dieses Herumwühlen in menschlichen Körpern nicht. Ich gab mir also Mühe, nicht so genau hinzusehen, bemerkte dann aber doch, dass Martin gerade eine ziemlich zerfetzte Leber aus der Leiche hob.
»Ist die Leiche identifiziert?«, fragte ich.
Er war mal wieder ganz auf seine Arbeit konzentriert gewesen und erschrak, als ich ihn so unvermittelt anquatschte.
»Nein«, japste er etwas atemlos.
»Wie ist sie gestorben?«, fragte ich. Das Offensichtliche, in diesem Fall die Stichelei, ist nämlich nicht immer das Richtige, wie der aufmerksame Rechtsmediziner weiß.
»Hämorrhagischer Schock.«
»Hämo was?«
»Blutvolumenmangelschock«, murmelte er, während er ein Stückchen aus der Leber säbelte, das er später in ein Einmachglas legen und als histologische Probe aufheben würde.
»Martin, drück dich klar aus!«
»Sie ist verblutet. Nach mehreren Stichverletzungen.«
Bitte, geht doch!
»Wie alt ist sie?«
»Zwischen fünfzehn und Anfang zwanzig.«
Mist, das half mir auch nicht weiter. Gut, dann also doch zu Gregor. Vielleicht hatte der inzwischen ein paar neue Informationen.
Mittwoch, 07Uhr 55
Es war noch nicht einmal acht, als ich im Polizeipräsidium ankam. Gregor war gegen sechs Uhr vom Fundort der Leiche abgehauen und vermutlich direkt ins Präsidium gefahren. Er hockte mit geröteten Augen an seinem Computer und studierte die Fotos, die seine Kollegen gemacht hatten.
Es waren vermutlich Hunderte, etliche klickte er so schnell weiter, dass ich praktisch nichts erkennen konnte. Dann kamen die Detailaufnahmen der Leiche. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen, ein Bild wie von einer friedlich Schlafenden. Natürlich keine Überraschung, kein Entsetzen oder so etwas in ihrem Blick, denn im Moment des Todes erschlaffen alle Muskeln. Da gibt es keinen Gesichtsausdruck mehr, der dem Ermittler irgendeinen wichtigen Anhaltspunkt darüber gibt, was der oder die Tote im letzten Moment des zu Ende gehenden Lebens gedacht, gesehen oder empfunden haben könnte. Das ist alles Schwachsinn aus der Glotze oder aus Kriminalromanen, deren Schreiberlinge keine Ahnung von Rechtsmedizin haben und zu faul sind, sich zu informieren. Voll peino.
Ich hatte keinen Plan, was genau Gregor auf den Fotos suchte, und da ich Gregors Gedanken nicht lesen konnte (erinnern Sie sich, das funktioniert nur bei Martin!), kam ich auch nicht dahinter. Mist.
»Negativ«, brüllte plötzlich eine Stimme von der Tür her.
Ich hatte den Typ gar nicht bemerkt, Gregor offenbar auch nicht, denn er zuckte zusammen, als hätte ihm jemand ein Kabel an die Sitzfläche geklemmt.
»Was?«, fragte er irritiert.
»Die Vermisstenliste.«
»Danke.«
Der Türsteher verschwand.
»Wer bist du?«, flüsterte Gregor, während ein Pling auf seinem Bildschirm anzeigte, dass er eine Mail erhalten hatte. Aha, die Rechtsmedizin war fix gewesen, wie das bei anonymen Leichen sein muss, und hatte ein Foto von der Leiche mit offenen Augen geschickt. Gregor druckte das Bild aus, als Jenny im Türrahmen erschien.
»Worum geht’s?«, fragte sie.
»Hast du Frühstück mitgebracht?«
Kommissarin Jenny Gerstenmüller, Gregors noch relativ neue, junge Kollegin, die beim heiteren Beruferaten vermutlich als Bademeisterin, Floristin oder Saftschubse, aber bestimmt nicht als Bullentussi durchgehen würde, betrat das Büro mit zwei großen Kaffeebechern und einer riesigen Papiertüte. »Croissants, Frikobrötchen, Käsebrötchen, Eibrötchen und Schokomuffins.«
»Und was isst du?«, fragte Gregor. Das Lächeln, das er dazu probierte, rutschte ihm am linken Ohr vorbei in den Kragen. Er war wirklich in beschissener Verfassung.
»Du warst am Fundort?«, fragte Jenny, legte ihre Einkäufe auf den Tisch und fummelte einen Muffin aus der Tüte.
Gregor nickte.
»Und?«
»Ich denke, dass der Tatort ein anderer war. Identität unbekannt. Passt auf keine Vermisstenmeldung. Bisher haben wir wirklich gar nichts…«
Das Telefon klingelte, Jenny hob ab, hörte zu, angelte nach einem Stift, kritzelte etwas auf ein Stück Papier, gab ein Geräusch von sich, wie man es zustande bringt, wenn einem ein ganzer Schokomuffin die Sprachausgabe verstopft, und legte wieder auf. Dann griff sie mit rechts nach dem Zettel und ihrem Kaffeebecher, deutete mit dem linken Daumen über ihre Schulter und stürmte aus dem Zimmer.
»Was denn?«, rief Gregor, während er aufsprang, die Jacke von der Stuhllehne zog, das Foto in die Tasche steckte und hinter ihr herlief.
»Die Telefonnummer, die du angefragt hast…«, nuschelte Jenny um die Reste ihres Muffins herum, »…gehört einer gewissen Sibel Akiroglu. Ich hab die Adresse.«
»Das ist alles? Ein Name und eine Adresse?«
Jenny zuckte die Schultern.
Auch ich musste mich fürs Erste mit dieser Auskunft begnügen, was mir schwerfiel. War nun Sibel die Lehrerin? Ich hoffte auf baldige Aufklärung.
Sie fuhren über die Brücke, von der sie offensichtlich nicht wussten, dass sie im Leben der Lehrerin Akiroglu erst kürzlich eine dramatische Rolle gespielt hatte. Dann bogen sie ab, weiter ging es am Kioskplatz vorbei, über den Gregor eine Runde für Jenny drehte. Der Leichenfundort war noch mit Flatterband abgesperrt, die Umrisse des Opfers noch erkennbar. Sie stiegen nicht aus.
Die Adresse war ein Haus mit acht Parteien. Es war einer dieser Waschbetonkästen, von denen in der Straße noch ungefähr hundert andere standen. Auf dem Dach standen Satellitenschüsseln, deren Kabel außen an der Fassade entlang in die Wohnungen liefen.
»Akiroglu«, murmelte Jenny, während sie mit dem Finger an den Klingelschildern entlangfuhr. »Hier.«
»Hier und hier auch«, warf Gregor ein. Tatsächlich stand der Name dreimal an der Tür, auf einem Schildchen stand Akif dabei, auf einem ein S.Sie klingelten bei S.Keine Reaktion.
Gregor wählte Akif. Gleiches Ergebnis. Erst bei der dritten Klingel, auf der nur der Nachname stand, tat sich etwas. Der Türöffner summte.
Die beiden gingen in den zweiten Stock.
Der alte Mann, der die Tür öffnete, trug eine speckige Hose, ein kariertes Hemd mit abgestoßenem Kragen und eine Strickjacke darüber. Er war unrasiert und ungekämmt und blinzelte den Besuch aus rot geränderten Augen an. Er sagte keinen Ton.
»Herr Akiroglu?«, fragte Jenny.
Er nickte.
»Wir suchen Sibel Akiroglu.«
»Haben Sie sie gefunden?«, fragte er, plötzlich etwas wacher.
»Gefunden? Wird sie denn vermisst?«, fragte Jenny irritiert.
»Dürfen wir kurz hereinkommen?« Gregors Text.
Herr Akiroglu nickte müde, zeigte auf Jennys Schuhe und sagte: »Ausziehen, bitte.«
Sie zogen die Schuhe aus, stellten sie zu den ausgelatschten Herrenschuhen neben die Wohnungstür und traten ein.
Die Wohnung war im orientalischen Räuberhöhlenstil eingerichtet. Überall Nippes und Kitsch der grässlichsten Art. Hochkant im Regal stehende Teller mit wilden Mustern in bunten Farben und Gold. Megaschmalzige Bilder von blaugrünen Seen, von Frauen in schreiend bunten Trachten, die auf dem Boden hockten und Fladenbrote ausrollten, und von den berühmten Kalkschüsseln, die in jedem zweiten Dönerladen auf der ganzen Welt an der Wand hängen. Auf den Regalen standen tanzende Trachtenfigürchen, eine klitzekleine, von innen beleuchtete Plastikmoschee, Öllämpchen, Mokkakännchen und Krummsäbel aus billigem Blech.
Herr Akiroglu zeigte auf das Sofa, auf dem dicke Kissen lagen. Jenny und Gregor nahmen Platz. Herr Akiroglu verschwand, ich folgte ihm. Er ging in die Küche, wo er ein paar Worte zu einer kleinen, dicken Frau sagte, die sich gerade ein Kopftuch umband. Herr Akiroglu kehrte ins Wohnzimmer zurück, die Frau folgte kurz darauf. Sie trug ein Tablett mit drei Teegläsern und einem Schälchen mit Würfelzucker, stellte alles auf den Tisch und wollte wieder verschwinden.
»Es wäre schön, wenn Sie sich zu uns setzen würden«, sagte Jenny freundlich. Die Frau blickte ihren Mann an, und erst, als er genickt hatte, setzte sie sich auf die vordere Kante des zweiten Sessels. Herr Akiroglu verteilte die Teegläser und deutete auf den Würfelzucker.